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WISSENSCHAFTLICHE FORSCHUNGSBERICHTE
GEISTESWISSENSCHAFTLICHE REIHE
HERAUSGEGEBEN VON PROFESSOR DR. KARL HÖNN

Band 3

MAX WEHRLI
Professor an der Universität Zürich


ALLGEMEINE
LITERATURWISSENSCHAFT


Zweite, durchgesehene Auflage
FRANCKE VERLAG BERN UND MÜNCHEN

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WISSENSCHAFTLICHE FORSCHUNGSBERICHTE
GEISTESWISSENSCHAFTLICHE REIHE
HERAUSGEGEBEN VON PROFESSOR KARL HÖNN

BAND 3

MAX WEHRLI
Professor an der Universität Zürich


ALLGEMEINE
LITERATURWISSENSCHAFT


Zweite, durchgesehene Auflage
FRANCKE VERLAG BERN
UND MÜNCHEN

|#f0008 : E2|

©
A. Francke AG. Verlag Bern, 1951
Zweite, durchgesehene Auflage 1969
Alle Rechte, insbesondere Übersetzungsrecht, vorbehalten

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INHALT

Vorbemerkung4
Bibliographische Hilfsmittel und Handbücher7
I. Allgemeines
1. Zur Situation der Literaturwissenschaft9
2. Systematik der Literaturwissenschaft25
3. Geschichte der Literaturwissenschaft30
II. Textkritik und Editionstechnik33
III. Poetik
1. Die Dichtkunst
a) Ästhetik und Poetik40
b) Die Dichtung im Kreis der Künste43
c) Literatur und Sprache45
d) Poesie, Literatur, Nichtpoesie51
2. Das dichterische Kunstwerk
a) Allgemeines53
b) Stil und Werk57
c) Typen und Gattungen71
d) Einzelprobleme von Gattungen und Arten77
e) Die Aspekte des dichterischen Werks93
f) Die Wertung107
IV. Werk, Dichter, Gesellschaft
1. Leben und Existenz des Dichters114
2. Psychologische Erschließung des Werks119
3. Soziologie der Literatur123
V. Literarhistorie
1. Literarhistorie und Poetik132
2. Stilgeschichte136
3. Die Periodisierung139
4. Literaturgeschichte nach einzelnen Aspekten144
5. Nationale, europäische, universale Literatur
a) Allgemeines149
b) Weltliteratur und vergleichende Literaturwissenschaft153
c) Die Einheit der literarischen Tradition156
Register163
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VORBEMERKUNG

Arbeiten wie die folgende sind vielleicht notwendig, aber für den Verfasser
wie für den Leser unerfreulich, denn sie können weder umfassend und
gründlich sein noch sich einer fruchtbaren Einseitigkeit verschreiben. Zudem
hat es der Verfasser gewagt, zwei Herren zu dienen: er sucht einen auswählenden,
kommentierenden bibliographischen Bericht zu geben und hofft
zugleich, es möge daraus eine Art bescheidener Einführung in die Wissenschaft
und ihre Probleme werden, soweit dies bei dem chaotischen Zustand
dieser Wissenschaft überhaupt sinnvoll ist. Er glaubt aber, daß ein solcher
Kompromiß, bei der ohnehin bestehenden Notwendigkeit einer Auswahl und
Stellungnahme einerseits und der Unmöglichkeit einer runden Systembildung
andererseits, der Sachlage der Wissenschaft und den Bedürfnissen des Lesers
am besten entspricht. Wenn so unser Referat einen geordneten Gedankengang
innehalten wird, so kann doch nur eine Einführung in die Problemlage
und nicht deren Ausführung und Lösung beabsichtigt sein, nicht einmal
die Zukunftsvision einer Synthese.


  Unter Allgemeiner Literaturwissenschaft wird im Folgenden
die Wissenschaft von Wesen, Ursprung, Erscheinungsformen und
Lebenszusammenhängen der literarischen Kunst verstanden; sie ist dadurch,
in einem engern Sinn, speziell die Wissenschaft von den Prinzipien und
Methoden der wissenschaftlichen Literaturbetrachtung. Die Grenzen sollen
weit und nicht scharf gezogen sein. Fester, greifbarer Anhaltspunkt ist zunächst
das Phänomen des sprachlichen Kunstwerks. Als ein geradezu konstitutives
Element des kulturmenschlichen Daseins reicht aber das Problem
des Gestaltens weit hinein in die Probleme jeder sprachlichen und jeder
künstlerischen Äußerung und betrifft schließlich das Menschsein, als einzelnes
wie als kollektives, in seinem Wesen wie in seiner Geschichte, überhaupt.
Wir rechnen also ausdrücklich zur Literaturwissenschaft auch die
Methodenprobleme der Literatur geschichte (Historik der Literatur)
und halten es für einen irreführenden und unsachlichen Sprachgebrauch,
wenn Literaturwissenschaft bloß der Poetik gelten soll und der Literaturhistorie
gegenübergestellt wird.


  „Es wird dem modernen Literarhistoriker nicht leicht, seine Aufgabe zu
erfüllen, ohne überall in methodischer Hinsicht Anstoß zu erregen“ ─ dieser
rührende Stoßseufzer eines Germanisten (Neophilologus 1938, 319) deutet
auf die fast neuralgische Empfindlichkeit der Literaturwissenschaft in Dingen |#f0011 : 5|

der Methode, speziell in der deutschen Literaturwissenschaft. Das ist
anormal und hängt mit den speziellen deutschen Gegebenheiten zusammen;
Forschung kann auch ohne explizite Methodologie fruchtbar sein, und diese
kann nur vom realen Widerstand ihres Gegenstandes her bestimmt werden.
Anderseits ist Wissenschaft Begriffsbildung, sowie sie mitteilbar und verbindlich
sein will. So vollzieht sich auch Literaturwissenschaft als dialektisches
Geschehen zwischen Vorentwurf, konkreter Begegnung mit dem Gegenstand
und methodischer Besinnung. Wenn aber Methodologie nicht im leeren
Raum sich entwickelt, so müßte unser Referat nicht nur die reine Literaturtheorie,
sondern auch die in jeder praktischen Arbeit wirksamen Leitgedanken
und -vorstellungen berücksichtigen. Hiefür sind aber natürlich enge
Grenzen gezogen.


  Die Literaturwissenschaften und überhaupt die Geisteswissenschaften mit
ihrer philosophischen Begründung wie ihrer gelehrten Tradition sind zu
einem guten Teil eine Schöpfung der klassischen Periode des deutschen Geistes;
bis in die neueste Zeit hinein sind ihre Grundfragen am lebhaftesten
in Deutschland diskutiert worden. Und innerhalb der deutschen Geisteswissenschaften
war naturgemäß die Wissenschaft von der muttersprachlichen
Literatur, also die Germanistik, das Feld der meisten Auseinandersetzungen.
So ist es wohl bei der unumgänglichen Not der Beschränkung nicht am ungünstigsten,
wenn der Bearbeiter dieses Forschungsberichtes in deutscher
Sprache ein Germanist ist und besonders bei den angewandten Beispielen
die germanistische Literaturwissenschaft in den Mittelpunkt stellt. Er hofft
dabei, den Blick auf die andern Kulturkreise und die andern Wissenschaften
der Literatur soweit offenzuhalten, als es ohne die Aufgabe eines einigermaßen
zusammenhängenden Gedankenganges möglich ist. Und er glaubt,
es sei kein großes Übel, wenn naheliegenderweise dabei die schweizerische
Forschung häufig zu Worte kommt.


  Die Epoche, über die zu berichten ist, sind die Jahre seit Kriegsausbruch.
Da diesem aber bereits ein kalter Krieg und eine Blockierung des wissenschaftlichen
Gesprächs innerhalb Deutschlands und zwischen den Nationen
schon lange voranging und die Aktualität wissenschaftlicher Arbeiten sich
nicht nach dem Kalender richtet, so wurde z. T. weit in die 1930er Jahre
zurückgegriffen. Das Manuskript wurde im Sommer 1950 abgeschlossen; auf
seither erschienene Publikationen konnte nur in wenigen Fällen Rücksicht
genommen werden.


  Zu den Schwierigkeiten prinzipieller Natur kamen schließlich noch die
technischen Hindernisse, die der Beschaffung wissenschaftlicher Literatur aus
dem Ausland oft entgegenstehen und bei der notwendigerweise kurz bemessenen
Frist in vielen Fällen unüberwindbar waren.

|#f0012 : 6|

  So muß der Verfasser die vergessenen oder übergangenen Autoren um
Nachsicht bitten ─ und erst recht die erwähnten Autoren, wo er in Referat
und Urteil ungerecht gewesen sein sollte.


  Anregungen und Beistand mannigfacher Art hat der Verfasser von verschiedenen
Seiten erfahren. Zu herzlichem Dank verpflichtet ist er besonders
dem allzu früh verstorbenen Werner Milch (Marburg), den Herren Hermann
Boeschenstein (Toronto), Karl J. Hahn (Bilthoven), Julius Schwietering
(Frankfurt a. M.), Fritz Ernst, Heinrich Straumann und Fritz
Wehrli (Zürich), der Leitung der Zürcher Zentralbibliothek und dem Assistenten
des deutschen Seminars der Universität Zürich, Herrn Josef Keller.


M. W.

|#f0013 : E7|

BIBLIOGRAPHISCHE HILFSMITTEL UND HANDBÜCHER

I. Zeitlich umfassende Bibliographien:


1. Ferdinand Baldensperger und Werner P. Friederich, Bibliography
of Comparative Literature. Chapel Hill 1950.


(Vgl. unten S. 151 f.) Gibt in seinen allgemeinen Abschnitten eine umfassende
Auswahl von Titeln.


2. Josef Körner, Bibliographisches Handbuch des deutschen Schrifttums.
3. Aufl. Bern 1949.


Unentbehrliches Werk für die germanistische Einzelforschung, gibt in seinem
„allgemeinen Teil“ eine ausgezeichnete auswählende Bibliographie, vor allem
deutscher Schriften, zur allgemeinen Literaturwissenschaft.


3. Rene Wellek and Austin Warren, Theory of Literature. New York
1948.


(S. unten S. 28) In Text, Anmerkungen und Bibliographie reiche Auswahl aus
der internationalen Literatur.


4. Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die
Literaturwissenschaft. Bern 1948.


(S. unten S. 55 ff.) Enthält ausführliche Bibliographie zu den Fragen der Poetik.


5. Dictionary of World Literature. Criticism ─ Forms ─ Technique. Edited
by
Josef T. Shipley. New York 1943.


(S. unten S. 29 f.) Reallexikon literaturwissenschaftlicher Begriffe und ihrer Erforschung.
Artikel wechselnder Qualität und Ausführlichkeit, je mit Bibliographie.


6. Wilhelm Kosch, Deutsches Literaturlexikon. Biographisches und bibliographisches
Handbuch.
2. Auflage, Bern 1949 ff.


Lexikon nach Namen (auch von Gelehrten) und z. T. auch Sachen mit ausführlicher
Bibliographie.


II. Zeitlich begrenzte Bibliographien


1. Deutsche Bücher 1939─1945. Eine Auswahl. Unter Mitwirkung zahlreicher
Fachgelehrter herausgegeben von
Hanns W. Eppelsheimer. Frankfurt
a. M. 1947.


2. Deutsche Nationalbibliographie. Verzeichnis der Schriften, die infolge
von Kriegseinwirkungen vor dem 8. Mai 1945 nicht angezeigt werden
konnten. Leipzig 1949. ─ Verzeichnis der Schriften, die 1933─45 nicht
angezeigt werden durften. Leipzig 1949.


3. Clair Baier, German Literary and Linguistic Publications during the
War Years 1939─1944. „Modern Language Review“ 42 (1947) 82 ff.


4. Otto Springer, Germanic Bibliography 1940─1945. „Journal of English
and Germanic Philology“ 1946, 251 ff.

|#f0014 : 8|

5. Henry C. Hatfield and Joan Merrick, Studies of German Literature
in the United States 1939─1946. „Modern Language Review“ 43 (1948),
353 ff.


III. Fortlaufende Literaturberichte in Zeitschriften (Auswahl)


Abkürzungen


Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur.Afda
Berlin 1876─1944. Wiesbaden 1948 ff.


Deutsche Literaturzeitung. Berlin 1880─1944, 1947 ff.

DLZ


Dichtung und Volkstum. Stuttgart 1934─1944

DuV


Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft undDV
Geistesgeschichte. Halle 1923─1944; Tübingen 1949 ff.


Erasmus. Speculum scientiarum. Bruxelles usw. 1947 ff.

Erasmus


Etudes Germaniques. Paris, Lyon 1946 ff.

Etudes


Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Bamberg 1894;Euphorion
Stuttgart 1933; Marburg 1950 ff. (Vgl. DuV)


The Germanic Review. New York 1926 ff.

GR


Helicon. Revue internationale des problèmes généraux de laHelicon
littérature. Amsterdam und Leipzig 1939 ff.


The Journal of (English and) Germanic Philology. UrbanaJournal
Ill. 1897 ff.


Literaturblatt für germanische und romanische Philologie.Lbl
Leipzig 1880─1944.


Modern Language Notes. Baltimore 1886 ff.

MLN


The Modern Language Review. Cambridge 1906 ff.

MLR


Publications of the Modern Language Association of Ame-PMLA
rica. New York 1886 ff.


Revue de littérature comparée. Paris 1921 ff.

Revue


Trivium. Schweizerische Vierteljahresschrift für Literatur-Trivium
wissenschaft (und Stilkritik). Zürich 1942 ff.


Zeitschrift für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft.ZfAesth
Stuttgart 1906─1943.


Zeitschrift für deutsche Philologie. Halle 1869─1945; Stutt-ZfdPh
gart 1947─48 ff.

|#f0015 : E9|

I. ALLGEMEINES

1. zur situation der literaturwissenschaft

Literaturwissenschaft ist als Geisteswissenschaft und speziell als Wissenschaft
von der sublimsten Form menschlicher Gestaltung, der Gestaltung mit
dem dichterischen Wort, nicht eine bloße Sonder- und Fachwissenschaft. Sie
gedeiht nur in der engsten Wechselwirkung mit den Nachbarwissenschaften
und darüber hinaus mit dem bewußten oder unbewußten Bild, das sich der
Mensch von sich selbst und der Welt macht, im Handeln, im Erkennen und
vor allem auch im künstlerischen Gestalten selbst. Da ihre Fragestellung
immer unter der Frage nach dem Wesen des Menschen steht, ja eine implizite
Antwort immer schon im Ansatz der Frage gegeben hat, so ist ihre Geschichte
wesentlich nicht die Geschichte eines internen Fortschritts und einer
Perfektion der Methoden, sondern zum guten Teil die Geschichte von Funktionen
und Reaktionen geistiger Ereignisse außerhalb ihres engeren Bereichs.
Sie hat selber zu der Einsicht entscheidend beigetragen, daß jede wissenschaftliche
Methode bereits von allgemeinen Vorentscheiden, Vorurteilen
bestimmt ist.


  Das Schicksal der deutschen Literaturwissenschaft ist weithin von ihrem
Ursprung im Idealismus der deutschen Klassik bestimmt. Daß dieser die
Dichtung als höchste Manifestation der schöpferischen Vernunft oder Vernunft-Natur
begriff, teilte der Literaturwissenschaft den Charakter einer
Schlüsselstellung mit und ließ jede spätere Selbstbesinnung immer wieder
zu einer Besinnung auf jene erste glänzende Position in der Zeit von Kant
und Herder werden. Seit diesem Ursprung ist umgekehrt die Literaturwissenschaft
in Deutschland gesegnet und belastet mit philosophischen Voraussetzungen
und Ansprüchen, die immer wieder die sachliche Wissenschaft
in Theorie, in Methodologie und Metaphysik übergehen ließ. So scheint es
mindestens dem angelsächsischen Blick, wenn etwa amerikanische Gelehrte
davon sprechen, die deutsche Wissenschaft neige dazu, „an inverted pyramid
of theory on a pin-point base of reality“ zu konstruieren (R. H. Fife) oder
„grandiose theories and pretentious verbalisms“ zu produzieren (Wellek-
Warren). Wogegen der Deutsche wohl mit Recht und wieder einiger Theorie
auf die Fragwürdigkeit dieses reality-Begriffs hinweisen würde.


  Das Bild vom Menschen als dem Träger der freien schöpferischen Vernunft
strahlte tief ins 19. Jahrhundert hinab, ja wurde im Raum der Geistes- |#f0016 : 10|

und Geschichtswissenschaft durch Hegel zum imponierenden System verfestigt.
Von allen Seiten aber regten sich auch die Kräfte, die es unterhöhlten,
erschütterten und schließlich ins Unabsehbare sprengten, so sehr,
daß nach zwei Weltkriegen nicht gesagt werden kann, ob sich das nach allen
Seiten ins Offene zerfahrene Antlitz des Menschen in neuen Linien finden
wird. Der Naturalismus, als symmetrische Gegenform dem Idealismus seit
dem 18. Jahrhundert verbunden, übernimmt immer mehr die Rolle, den
Menschen zu entlarven und ihm den Charakter des freien Vernunftwesens
zu nehmen. Die mächtigen wirtschaftlichen, sozialen, technischen Umwälzungen
drängen dieses jedenfalls in die Defensive, machen es zur Funktion
unkontrollierbarer Mächte und lassen die Idee als Ideologie erscheinen. Mit
Nietzsche tritt an die Stelle der Vernunft das „Leben“ und eine entsprechende
Umwertung der Werte, eine Verdächtigung des historischen Horizontes
als ideologisch oder lebenshemmend und die forcierte Vision eines
Übermenschen. Wenn schon Nietzsche in der menschlichen Seele eine Wirklichkeit
sieht, die Vernunftsgesichtspunkten entrückt ist, so hat die Tiefenpsychologie
durch die Entdeckung des Unbewußten und vor allem der niemals
abgetanen, schichtenhaft in der Tiefe gelagerten und jederzeit wirksamen
kollektiven, primitiven Welten des Seelischen die Grenzen des Wesens
Mensch ins Unabsehbare ausgeweitet. Von entgegengesetzter Seite her,
aber gegen das selbe Zentrum, stellt schließlich der Existentialismus Kierkegaards
und seiner theologischen und philosophischen Nachfolger den Menschen
in Frage, stellt ihn in die Bedrohung des Todes und des Nichts; sie
sehen sein Wesen nicht im vernünftigen Erkennen oder schönen Gestalten,
sondern in der Aktualität des sich einsam entscheidenden Daseins. Auch hier
zerbricht die Geschichte als sinnvoller, objektiver Zusammenhang der Tradition,
zerbricht Wahrheit als objektives geistiges System zugunsten einer
nur im Gelebtwerden sich ereignenden Wahrheit; an Stelle der Tradition
tritt die „Wiederholung“. Der Mensch findet seine Wirklichkeit nur in der
Not des Augenblicks, in die er geworfen ist: hier aber bleibt der Weg
offen, einerseits vielleicht in eine neue Glaubens- und Personlehre, anderseits
in einem Nihilismus z. B. Jüngerscher Prägung, wo der Geist, auf dem
„magischen Nullpunkt“, sich selbst in die Luft sprengt.


  Im Drama dieser Entdeckungen und Entwertungen bedeutet der Zerfall
der idealistischen wie der positivistischen Erkenntnissysteme allerdings nicht
nur ein Negatives: Der Weg wird frei für neue Erkenntnismöglichkeiten,
sei es im Sinn einer phänomenologischen Wesensschau im Allgemeinen, sei
es in der konkreten Erfahrung und Begriffsbildung der angewandten
Wissenschaften. Die alte Kluft von Natur- und Geisteswissenschaften beginnt
sich zu schließen; Begriffe wie Gestalt oder Symbol werden hier wie
dort fruchtbar; hier wie dort wird der Standortbedingtheit des Erkennens |#f0017 : 11|

ein neuer, positiver Sinn abgewonnen; nicht zuletzt sind es Soziologie und
Psychologie, die mannigfache Brücken schlagen. Wenn seit Lebensphilosophie,
Phänomenologie und Existenzphilosophie der Glaube an den großen
Systembau in Philosophie und Geisteswissenschaft Schiffbruch litt, so ergeben
sich doch neue Möglichkeiten, wenn nicht des logisch-systematischen
Denkens, so doch des Sehens und Beschreibens, und es kann an Stelle kausaler
Ergründung der menschlichen Lebens- und Kulturerscheinungen ein
physiognomisches Erkennen treten, wenn etwa bei Rudolf Kassner die
Lehre von der Einbildungskraft zum Schlüssel einer umfassenden Erkenntnisweise
eigener Art entwickelt wird1.


  Wie steht in diesen revolutionären Wandlungen des Menschenbildes und des
menschlichen Lebens die Dichtung selbst? Sie ist ja nicht nur Illustration
und Beleg zur Geistes- und Philosophiegeschichte, sondern zeigt in ihren Stilwandlungen
mindestens gleich ursprünglich die Veränderungen an. Daß der
klassische, idealistische Stil, der noch die Dichtung der großen Realisten des
19. Jahrhunderts, ihre „Grundtrauer“ und ihr innerstes Bedrohtsein überglänzt,
sich im naturalistischen Dichten tumultuarisch auflöst, bedarf keiner
Worte. Dem forcierten Sich-Versichern der Wirklichkeit, das der Dichtung
immerhin noch ein gewisses soziales Pathos läßt, folgt in den dekadenten,
impressionistischen oder neuromantischen Bewegungen zunächst ein Rückzug
der Dichtung vom Leben. Sie ist mißtrauisch geworden gegen die
Kraft des Wortes und kann nur noch hoffen, sich selbst wie die entgleitende
Welt wenigstens im schwebenden Hinhören auf die Empfindungen
und Gefühle zu wahren und durch diese Rücknahme der Front wenigstens
das Wort reinzuhalten und ihm die Möglichkeit einer Wiedergeburt von
innen zu sichern. Wenn demgegenüber eine ─ künstlerisch nicht allzufruchtbare
─ Bewegung im Sinne Nietzsches oder Spittelers dem Kult des
starken Lebens, der trotzigen Persönlichkeit oder gar der entfesselten Triebe
frönte, so vermochte diese Überkompensation die fortschreitende Auflösung
der menschlichen Person und allgemein ein pessimistisches Grundgefühl
nicht zu verbergen. In den Explosionen des Expressionismus, der im
ersten Weltkrieg seine äußere Bestätigung findet, ist beides: die Berufung
auf die Ursprünglichkeit einer rational nicht mehr kontrollierbaren dichterischen
Aussage wie auch der Aufweis einer in alle Elemente chaotisch
zerstobenen Welt, in beidem die Rücknahme auf die dichterische Existenz
als alleinige Wirklichkeit. Die großen dichterischen Werke der Zeit sind zu
einem guten Teil Darstellungen von Untergängen, Höllenfahrten ins Reich

1
Eva Siebels, Sprache und Dichtung im physiognomischen Weltbild Rudolf
Kassners. DV 19 (1941) 218 ff. ─ Theodor Wieser, Die Einbildungskraft bei
Rudolf Kassner. Studie mit Abriß von Leben und Werk. Diss. (Zürich) Lausanne
1949.
|#f0018 : 12|

des Todes, des Unterbewußten, des Kollektiven, des Zeitlosen, der religiösen
Abgründe ─ von Th. Mann und Hesse bis zu Rilke und Kafka, von
Proust zu Joyce ─ und doch überall zugleich in der verbissenen Hoffnung
auf einen „Umschlag“, eine „Transzendenz der Verzweiflung“, im
Glauben, daß die Tiefenfahrt zugleich eine Initiation bedeute und eine
neue Integration des Menschen im Einzelnen und Ganzen einleiten könnte.
Die Dichtung bringt sich vor unendliche neue Möglichkeiten und traut sich
selbst hermetische, totenführerische Kräfte zu. Walther Rehm1 hat das
Symbol vom Totenführer Orpheus in seinem Zusammenhang mit der
Geschichte des dichterischen Selbstverständnisses beschrieben; die Beziehung
des Dichters zum Tode ist nicht mehr ein „Problem“ stofflich-gedanklicher
Art, sondern für die moderne Dichtung ─ seit 1800 ─ unmittelbar konstitutiv,
soweit diese sich selbst zum Gegenstand wird, sich selbst absolut
setzt und damit ihre Größe wie ihre krisenhafte Grenze enthüllt. Wir sind
damit schließlich hingewiesen auf einen innersten Kreis dichterischer Betätigung
seit dem späteren 19. Jahrhundert, der sich vor allem in der Lyrik
auftut: die Idee der poésie pure, der absoluten Poesie, die in exklusivster,
strenger Arbeit die alchemistische Läuterung und Verwandlung der dichterischen
Sprache und damit des Menschen unternimmt2. Sie lebt ja nicht
nur im Symbolismus, auch in der Kunst der Neuromantik, im Kult der
Georgeleute, bei Rilke, in der Wortakrobatik des Expressionismus, im Surealismus.
Und sie weiß um die Entdeckungen der Psychoanalyse vom
offenbarenden Wesen des Symbols wie um die Einsamkeit der Existentialisten.
Es entstehen dichterische Werke, die weder von der Idee noch von
der Natur aus gerechtfertigt werden können, sondern nur „phänomenologisch“
zu umschreiben sind als Manifestationen einer neuen Wirklichkeit,
als neue „Welt“. Der Anspruch, daß das Werk ein absolut in sich selber
ruhendes Phänomen sei, reine „Form“, ohne den Willen zu einer Aussage
oder einer Wirkung, „nur mit sich allein“ (Rilke), in der Spiegelung seiner
selbst, als Rückzug auf die „Poesie der Poesie“, ist zweifellos ein Symptom
für die Grenz- und Krisensituation eines weltlos gewordenen Geistes,
1
Walther Rehm, Orpheus. Der Dichter und die Toten. Selbstdeutung und
Totenkult bei Novalis, Hölderlin, Rilke. Düsseldorf 1950.
2
Paul Valéry, Introduction à la poétique. Paris 1938, u. a. ─ Werner Günther,
Über die absolute Poesie. Zur geistigen Struktur neuerer Dichtung. DV 23
(1949) 1 ff. ─ Dazu Carl Augstein und Replik Günthers a. a. O. 24 (1950)
144 ff. ─ Ernst Howald, Das Wesen der lateinischen Dichtung. Erlenbach-Zürich
1948. ─ Thierry Maulnier, Introduction à la poésie française. Paris 1939. ─
Pierre Beausire, Essai sur la poésie et la poétique de Mallarmé. Lausanne 1942. ─
Claude Roulet, Eléments de poétique Mallarméenne. Neuchâtel 1947. ─ Claude-
Louis Estève, Etudes philosophiques sur l'expression littéraire. Paris 1939.
|#f0019 : 13|

in tiefer dialektischer Beziehung zum Nicht-Sein, zur Ohnmacht, zum
Schweigen. Aber es ist auch unbestreitbar, daß damit die Aufgabe, Dichtung
angemessen zu verstehen, radikal neu gestellt worden ist und der
Literaturbetrachtung ganz neue Perspektiven eröffnet wurden.


  So hat, zwischen den Wandlungen des allgemeinen Welt- und Menschenbildes
einerseits und den neuen dichterischen Sprach- und Gestaltungsformen
andererseits, auch die Literaturwissenschaft als Vermittlerin
zwischen dem theoretischen und dem gestalterischen Bereich einen weiten
Weg zurückgelegt. Die moderne deutsche Literaturwissenschaft sieht sich
immer wieder zurückverwiesen auf den Gründer einer neuen, ihrer selbst
bewußten Geisteswissenschaft, Wilhelm Dilthey1. Sie orientiert sich am
Gegensatz zu einer als positivistisch, empiristisch, kausalitätsgläubig verstandenen
Naturwissenschaft. Gegen die positivistische Schererschule mit
ihrer mechanischen Formel des „Erlebten, Erlernten, Ererbten“ beharrt sie
auf der Eigenart des geschichtlichen Geistes und klärt das Wesen historischen
Verstehens als eines im fruchtbaren Kreislauf von Einfühlen und
Auslegen erfolgenden, selbst geschichtlichen Prozesses. Dichtung wird im
Sinne Goethes als Auslegung des „Lebens“ aus ihm selbst verstanden, und
das „Erlebnis“ im weitesten Sinne erscheint als ihr eigentlicher, nicht mehr
reduzierbarer Quellpunkt. Die Literarhistorie hat in sorgsamer Betrachtung
der Werke und ihrer Entstehung im Zusammenhang der Lebensgeschichte
des Dichters wie seiner Zeit die zentrale Erlebnisweise zu formulieren,
ja schließlich auch gewisse Typen des Erlebens und der Weltanschauung
herauszustellen und ihre Geschichte im Lauf der Jahrhunderte
zu schreiben. Diltheys Rückgriff auf die Positionen der Goethezeit und
des Idealismus wurde für die Literaturwissenschaft schicksalhaft. Der mysteriöse
Begriff des Erlebnisses, zunächst nur ein Name für den Einheits-
und Beziehungspunkt eines Werks oder eines Stils, verlockte zu einer unhaltbaren
Systematisierung (z. B. Ermatingers Stoff-, Gedanken- und
Formerlebnis, Gundolfs Ur- und Bildungserlebnis) oder verführt zum Abgleiten
in rein biographische „Erklärung“. Anderseits liegt es nahe, die
dichterische Äußerung zum Beleg von Weltanschauungen, die Dichtungsgeschichte
zur bloßen Illustration einer an sich abstrakten Bewegung des
objektiven Geistes, d. h. zu Ideen- und Problemgeschichte (Rudolf Un-
ger, August Hermann Korff) werden zu lassen. Trotz des Versuchs, das
Geschehen durch eine weltanschauliche Typologie zu organisieren, bleibt
ein gewisser Wertrelativismus und Historismus bestehen und wird vor allem

1
O. F. Bollnow, Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie. Leipzig 1936.
─ Wolfgang Erxleben, Um Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften.
„Kant-Studien“. N. F. Bd. 42 (1942/43) 217 ff.
|#f0020 : 14|

auch das eigentliche ästhetische Phänomen nach Art und Rang vernachlässigt.
So hat man das harte Wort sprechen können, die geistesgeschichtliche
Richtung der Literaturwissenschaft ─ die man außerhalb Deutschlands
oft als spezifisch deutsch und „metaphysisch“ empfunden hat ─ sei
„das letzte Aufflackern eines senilen Idealismus“ (K. Vietor)1 gewesen,
und es werden nun dieser stolzen deutschen Wissenschaftstradition von
existentialistischer (E. Lunding)2 wie von „philologischer“ (E. R. Cur-
tius) Seite aus Steine nachgeworfen.


  Während die Dilthey-Schule durch den Neukantianismus nur gestärkt
werden konnte, wurde die Literaturwissenschaft von anderer Seite her betroffen
von den Entdeckungen und Wandlungen, die das idealistische
Menschenbild sprengten und damit auch das Dichtwerk in neue Zusammenhänge
rückten. Damit sind die mannigfachen Tendenzen gemeint, die
weniger die Vernunftidee hinter dem Kunstwerk erblicken als vielmehr
Mächte kollektiver Art. Es wurde zum Exponenten sozialer Zusammenhänge
im Einzelfall wie auch in der geschichtlichen Entwicklung gemacht,
im Grenzfall schließlich, allerdings erst in neuerer Zeit, gar im marxistischen
Sinn. Das Gegenüber einer empiristisch-naturwissenschaftlichen und
einer geisteswissenschaftlichen Psychologie wurde durch die Tiefenpsychologie
(Literatur siehe unten) überwunden. Auch wenn die schulmäßige Psychoanalyse
mit ihren literaturwissenschaftlichen Anwendungen (z. B. O.
Rank) mindestens in Deutschland wenig erfolgreich war, so wurde doch
gerade im Zusammenhang mit dem Expressionismus das Gewicht auf die
anonymen, primitiven, kollektiven Gründe gelegt. Entweder wird der
Dichter selbst zum Ekstatiker, zum Mystiker oder Magier gemacht (etwa
bei Muschg) oder der Einzelne sinkt zurück zur bloßen Oberfläche eines
Kollektivs fast biologischer Art, wie bei Nadler oder gewissen Formen
volkhafter Literaturwissenschaft. Fruchtbarer wurden die Ansätze der
Schule C. G. Jungs mit ihrer Lehre von den Archetypen und dem Individuationsprozeß.



  Auch bei diesen Methoden ist die Gefahr gegeben, daß nun wiederum
der eigentliche Gegenstand: das dichterische Werk und die Gesamtheit der
dichterischen Werke, im Grunde verfehlt, d. h. mit kunstfremden Kategorien
betrachtet wird. Der wohl entscheidende Anstoß dazu, die Dichtung
wieder an sich und in sich selbst ernst zu nehmen, kam aus der Literatur

1
Karl Viëtor, Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. PMLA 60
(1945) 899 ff.
2
Erik Lunding, Kierkegaard und die existentielle Literaturwissenschaft. Im
Anhang zu: Adalbert Stifter (Studien zur Kunst und Existenz Bd. I). Kjobenhavn
1946.
|#f0021 : 15|

selber. Die Schule Stefan Georges1 (Friedrich Gundolf, Ernst
Bertram, Max Kommerell u. a.) kam einerseits vom französischen Symbolismus,
anderseits von der antihistorischen Lebensphilosophie Nietzsches
her, fühlte sich aber, über Dilthey, auch dem Idealismus verpflichtet. Sie
erwarb sich das Verdienst, mit dem größten Nachdruck hinzuweisen auf
die Unbedingtheit der reinen dichterischen Gestalt, ihre maßgebende, werthafte
Bedeutung. In Konzentration auf verhältnismäßig wenige, aber z. T.
neu entdeckte monumentale Figuren gibt sie ihre Darstellung von einem
„archimedischen Punkt außerhalb des Zeitalters“ her, ja deklariert sie sogar
schließlich als „Mythus“. So überspringt sie das Problem der Historie. In
ihren monumentalen, von „innen“ geschriebenen Biographien werden allerdings
Werk und Person, als die eine Gestalt, kaum getrennt. Sie läuft
zwar Gefahr, im Stil ihrer Darstellung Wissenschaft und dichterischen
Mythus zu verwischen, aber hat dafür bis auf weiteres der literaturwissenschaftlichen
Sprache eine neue Würde und ein neues Verantwortungsgefühl
mitgeteilt.


  Inzwischen wirkten innerhalb der Wissenschaft selbst andere Kräfte in
ähnlicher Richtung. Hatte die Dichtung selber versucht, die Urspünglichkeit
und Unersetzbarkeit des Kunstwerks zu legitimieren, so trat dieses
auch dem Betrachter als Gebilde eigenen Rechts entgegen. Es war zuerst
in der Kunstgeschichte der Fall, wo der Werkcharakter des Kunstgebildes
sich unmittelbarer aufdrängte als in der Literaturwissenschaft, die dem
Wesen des Wortes entsprechend eher dazu neigen mußte, das Mitgeteilte
anstelle der Mitteilung, den Dichter anstelle des Werks und die Idee anstelle
der Form zu betrachten. So waren es Wölfflins Grundbegriffe, die
zu Analogien literaturwissenschaftlicher Art verlockten, sei es zu einer entsprechend
entwickelten Typologie der Stile (Strichs Klassik und Romantik),
sei es überhaupt zur Parole einer „wechselseitigen Erhellung der
Künste“ (O. Walzel). Ein neues Sehen-Können, einen Sinn für das
Kunstgebilde der dichterischen Gattung und die „Gehörgröße“ des Verses
hatte inzwischen ein Andreas Heusler gleichsam in aller Stille praktisch
bewährt. Eine bloße Übertragung literaturfremder Kategorien aus der
Kunstgeschichte konnte allerdings auch zur Verwirrung, d. h. einer bloß
metaphorischen Terminologie führen; auch hat die Dichtung andere Formen
der geschichtlichen Tradition als die bildende Kunst (worüber neuerdings
E. R. Curtius handelt). So war der eigene Werkstoff der Dichtung,
d. h. die Sprache, mit ihren spezifischen Leistungen und Gesetzmäßigkeiten
in Untersuchung zu ziehen; stilistische Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie
(Bally, Vossler, Cassirer) wurden zur Grundlage auch der Literaturkritik.

1
H. Rössner, Georgekreis und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1938.
|#f0022 : 16|

Darüber hinaus wurde das Problem der dichterischen Gattungen
und Arten wieder aktuell, sei es, daß man historisch das Walten morphologischer
Gesetzmäßigkeiten in Gattungsgeschichten aufzuzeigen suchte
oder eine solche Morphologie systematisch erstrebte. Daß dabei Goethes
naturwissenschaftliche Morphologie und Typenlehre ─ so bei Ermatinger
und neuerdings wieder bei G. Müller ─ zu Gevatter stand, war für die
Germanistik naheliegend, aber doch eine Art Rückfall in den Idealismus.


  Stärkere Anstöße gingen wohl von den modernen philosophischen Bewegungen
aus. Die phänomenologischen Untersuchungen über die Seinsweise
des Dichtwerks und des dichterischen „Gegenstandes“ (z. B. Roman
Ingarden) oder überhaupt über die Struktur des personalen, objektiven
und objektivierten Geistes (Nicolai Hartmann) zeigten, welche Problemfülle
hier verborgen lag. Der Existentialismus schließlich hat nicht nur zu
einer politisch-volksmäßigen Aktualisierung geführt, sondern auch zu legitimeren
Ergebnissen. Entscheidend geworden ist hier die Wendung, die
Martin Heidegger1 seit den Dreißigerjahren von der Metaphysik zur
Interpretation des Phänomens Dichtung geführt hat, in seinen Erläuterungen
zu Hölderlin als dem „Dichter des Dichters“ wie in seiner Abhandlung
zum Ursprung des Kunstwerks. Die Dichtung erhält selbst eine Schlüsselstellung
in der Auslegung des menschlichen Daseins; jenseits idealistischer
oder psychologisch-historischer Ansätze wird Dichtung wieder radikal als
ursprunghaftes Geschehen, als „worthafte Stiftung des Seins“ und nicht
nur als Ausdruckserscheinung oder Kulturleistung unter anderen begriffen.
Die phänomenologische Beschreibung des Kunstwerks erhält damit eine
neue Begründung, traditionelle literaturwissenschaftliche Termini wie Stil,
Gattung, Stimmung erhalten im Rahmen der Existentialphilosophie einen
neuen Inhalt. Diesen zu umschreiben war die Leistung verschiedener selbständig
fortschreitender Gelehrter, die innerhalb der Literaturwissenschaft
selbst eine neue poetische Stilkritik begründeten, die über die bisherige
kunstgeschichtliche oder linguistische Stilistik hinausging (J. Pfeiffer, Kom-
merell, Staiger u. a.). Es fehlte auch nicht an Versuchen, das Problem
einer existentialistischen Ästhetik wieder direkt von Kierkegaard aus zu
stellen2. Schließlich muß auch J. P. Sartre erwähnt werden. Wenn hier

1
Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt a. M.
(1944). ─ Ders., Holzwege. Frankfurt a. M. (1950). ─ Martin Heideggers Einfluß
auf die Wissenschaften. Festschrift aus Anlaß seines sechzigsten Geburtstages.

Bern 1949.
2
Erik Lunding, Kierkegaard und die existentielle Literaturwissenschaft. Im
Anhang zu: Adalbert Stifter (Studien zur Kunst und Existenz Bd. I). Kjobenhavn
1946. ─ Willi Perpeet, Kierkegaard und die Frage einer Ästhetik der Gegenwart.
Halle 1940.
|#f0023 : 17|

an die Stelle der absoluten Poesie die „littérature engagée“ tritt, als Tun
des sich jederzeit aus dem Nichts selbst verwirklichenden Menschen, so
rückt doch auch von hier aus der Gedanke des Stils und der Stilkritik in
den Vordergrund1.


  Daß es die Dichtung zu tun hat „mit dem Grundvorgang des menschlichen
Daseins selbst“ (Th. Spoerri), ist heute wohl zu einer fast allgemeinen
Überzeugung oder doch zu einer allgemeinen Arbeitshypothese geworden.
Daß Dichtung verstehen auch sich selbst zu verstehen heißt, ist wohl nirgends
so energisch betont worden wie eben bei Spoerri2, der ausgehend
von Kierkegaard, Kassner, Heidegger sein Programm einer interpretatorischen
Methode in unmittelbarer Bezugnahme auf die religiöse und kulturelle
Krise der Gegenwart erhebt und das Kunstwerk als Schlüssel, Vorbild
und Anruf zur Selbstverwirklichung des Menschen deutet. Er trifft
sich darin mit Gaston Bachelards3 Bestimmung der Einbildungskraft,
der Imagination als menschliche Existenz selbst, als force d'unité de l'âme,
als principe totalisant du monde. Bachelard entwickelt daraus eine geistreich-dichterische
cosmologie du rêve, indem er die Materialisation der Einbildungskraft
in den dichterischen Bildwelten der vier Elemente Feuer,
Erde, Wasser und Luft verfolgt. Diese Bücher sind kennzeichnend für den
nicht mehr systematischen, sondern physiognomischen, dichterisch-dynamischen
Charakter, den die moderne Kunstinterpretation in vielen Fällen
annimmt. Einbildungskraft muß als ein Geschehen nachvollzogen werden,
ist nicht als ein Sein zu begreifen.


  Auch wo die Literaturwissenschaft als Schultradition nicht soweit ging,
folgte sie doch im allgemeinen dem Ruf, zu „den Sachen selbst“ zurückzukehren,
und widmete sich in steigendem Maß einer interpretierenden, stilkritischen
Werkbetrachtung. Sie bleibt freilich meistens nicht bei der bloßen
Werkerhellung stehen, weniger als sie es gelegentlich wahrhaben will; es
werden Kategorien entdeckt und erprobt, die für die Erkenntnis des poetischen
Gebildes überhaupt und damit für eine grundsätzliche neue Poetik
wesentlich sind.


  Eine gewisse Begriffsverwirrung ist hier allerdings bei den verschiedenartigen
Existentialismen der Gegenwart offensichtlich, wenigstens dort,

1
Erich Brock, Zum Problem der Stilkritik. Trivium III (1945) 72 ff. (Zu
„L'être et le néant“). ─ J. P. Sartre, Qu'est-ce que la littérature. 10. Auflage. Paris
1948.
2
Theophil Spoerri, Die Formwerdung des Menschen. Berlin 1938. ─ Die Struktur
der Existenz.
Zürich 1951.
3
Gaston Bachelard, L'eau et les rêves. Essai sur l'imagination de la matière.
Paris 1942. ─ Ders., La Psychanalyse du feu. Paris 1938. ─ Ders., L'air et les
songes. Essai sur l'imagination du mouvement. Paris 1943.
|#f0024 : 18|

wo es sich um abstrakte Programme und nicht um die konkrete Arbeit an
der Dichtung selbst handelt. Horst Oppel1 hat 1939 die verschiedenen
methodischen Positionen der Literaturwissenschaft im Rahmen einer allgemeinen
Wissenschaftslehre beredet und diskutiert, ohne allerdings ein
eigenes System zu entwickeln. Er orientiert sich ähnlich wie Pongs am Begriff
einer existentialistischen Forschung, d. h. „der Erforschung der symbolischen
Existenz des Dichtwerks“, also gleicherweise einer Untersuchung
des „Lebens der künstlerischen Form“, wie der darin zu findenden Gestaltung
von „Mensch und Menschenwelt in ihren tragenden Kräften, von der
unaufhebbaren Verzweiflung des Einzelnen bis zur richtenden und ordnenden
Gewalt des in Volk und Staat verkörperten Miteinanderseins“2.
Es ist amüsant zu sehen, wie dies von nazistischer Seite3 als überwundener
Standpunkt eines neugierigen Individualismus abgelehnt wurde, wogegen
E. Lunding darin einen Verrat am echten Kierkegaardschen Existenzbegriff
feststellte.


  Hier ist nun auch der Ort, auf das Schicksal der deutschen Literaturwissenschaft
zwischen 1933 und 1945
einzugehen.
Vor allem in der germanistischen Wissenschaft ist hier von außen durch
staatliche Gewalt und von innen durch eine Art Psychose das freie Spiel
der Kräfte gelähmt worden. Innerhalb einer seit der Neufundierung der
Geisteswissenschaften besonders im Laufe der 1920er Jahre reich und verwirrend
entwickelten Fülle der Gesichtspunkte und Methoden bildet sich
eine mehr oder weniger offizielle, der politischen Macht konforme Richtung
immer stärker aus. Die Suggestion einer „volkhaften“ oder „politischen“
Orientierung als Gebot der Stunde bemächtigt sich auch ehrenwerter
Gelehrter; die problematisch gewordene Vielfalt der Gesichtspunkte, die
in Deutschland typische Überlastung der Geisteswissenschaften mit Metaphysik
verführt zu einer Überkompensation: man findet im volksmäßigen
Gedanken den Ausweg und setzt „anstelle des wissenschaftlichen Selbstzwecks
den Dienst an der Nation“ (Heinz Kindermann). Der freiwillige
„Abbau der Kultur“ wird durch äußere Eingriffe verstärkt. Entlassungen,
Emigration, Drohung, physische Vernichtung zerstören und verfälschen das
Leben der Wissenschaft vollends.


  Bei dem nun einsetzenden Zwischenspiel einer „volkhaften Literaturwissenschaft“
oder wie immer sie sich nennt, handelt es sich um zwei

1
Horst Oppel, Die Literaturwissenschaft in der Gegenwart. Methodologie und
Wissenschaftslehre. Stuttgart 1939.
2
Hermann Pongs, Neue Aufgaben der Literaturwissenschaft. DuV 38 (1937)
1 ff., 273 ff.
3
ZfdPh 65 (1940) 194 ff.
|#f0025 : 19|

mannigfach verquickte und oft sich widersprechende Haupttendenzen, die
den beiden ideologischen Hauptrichtungen des Nationalsozialismus entsprechen.
Die eine ist mehr romantischer Art (Stamm und Landschaft,
Blut und Boden, Rasse), die andere ist mehr politisch-aktivistisch und
macht auch die Wissenschaft zur Waffe im imperialistischen Kampf.


  Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften1
war zunächst, als ein Repertorium der Obskuren, als Enthüllung
vergessener Zeiten, Zonen und Mächte, scheinbar das Zeugnis eines katholisch-romantisch
orientierten Föderalismus. Bei aller Fragwürdigkeit der
Prinzipien ─ Mythologie statt Wissenschaft, Geopolitik statt Literaturgeschichte,
Verlust jedes Wertstandpunktes, trügerische Zirkelschlüsse im
Verhältnis von Einzelerscheinung und Stammes- oder Landschaftsgeist ─
verlieh es doch dem Geschehen der Literaturgeschichte einen neuen Zauber,
eine neue Atmosphäre und Dynamik, die selbst einen Hofmannsthal fesselten.
Die Verschwommenheit der Prinzipien und die Willkür der Synthese
machten es aber möglich, daß die zweite Auflage mit verändertem
Titel nun plötzlich den politischen Aspekt enthüllen konnte. Jetzt ist vom
„Weltvolk der Deutschen“, seinem Weg zum Staat die Rede, ein Judenkapitel
kommt hinzu, und es ist „versäumte Welt“, was wie die Schweiz
nicht mitmachen wollte. So gleitet, was sich zunächst als Erbe großer Herderscher
Konzeptionen zeigen mochte, ab in Rassenlehre und Biologie und
wird zum Handlanger der totalitären Ideologie. Nachdem schon früher,
u. a. von Muschg2, die Schwächen Nadlers enthüllt worden sind, ist neuerdings
ein heftiges Strafgericht erfolgt3.


  Als Vertreter einer fast biologischen Mystik des Volkstums und seines
„Plasmas“ tritt ein E. G. Kolbenheyer in den Vordergrund. Sein weltanschaulicher
Jünger Franz Koch4 bezieht den weit wirkenden Berliner
Lehrstuhl und organisiert eine Reihe von literaturwissenschaftlichen
Unternehmungen, die dem „Deutschen“ der deutschen Dichtung gelten, wobei
schon die Unterscheidung von „deutsch“ und „artgemäß deutsch“ alles
besagt. Einer Deutschen Literaturgeschichte folgt ein nicht mehr vollendetes

1
Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes (= 4. Aufl.),
4 Bände. Berlin 1939─1942. ─ Gisela von Busse, Auch eine Geschichte des deutschen
Volkes.
DV 16 (1938) 258 ff.
2
Walter Muschg in „Basler Nachrichten“ 1937 Nr. 359.
3
Otto Nickel, Literaturgeschichte hintenherum etc. „Die Wandlung“ I
(1945/46) 383 ff. ─ Kurt Rossmann, Über nationalistische Literaturgeschichte.
a. a. O. 870 ff.
4
Franz Koch, Geschichte deutscher Dichtung. Hamburg 1937.
|#f0026 : 20|

Handbuch des deutschen Schrifttums1 und das große Sammelwerk Von
deutscher Art in Sprache und Dichtung2, mit dem Auftrag, dem Erz
„unserer Sprache und Dichtung, dieser Selbstoffenbarung der deutschen
Seele, deutscher Art, das reine Gold ihres Wesens abzugewinnen“. Der
Anblick gehört zum Bemühendsten, wie hier nicht nur die neue Garde,
sondern auch beste Namen und mit ehrlich-wissenschaftlichen Mitteln sich
an der großen petitio principii beteiligen. Daß somit in diesen Bänden
auch beste Tradition steckt, gilt ebenso vom „Handbuch“.


  In programmatischen Erklärungen und Darstellungen ─ auf deren
Titelangabe hier verzichtet sei ─, haben gleichzeitig u. a. Walther Lin-
den, Helmut Langenbucher, K. J. Obenauer und vor allem Heinz
Kindermann den „volkheitlichen“ Gedanken für die Literaturwissenschaft
propagiert. „Völkische Lebenswissenschaft“ heißt das Schlagwort Kin-
dermanns, des Leiters des großen Sammelwerks Deutsche Literatur in
Entwicklungsreihen, welches seinerseits zeitgemäß umorganisiert wurde. Es
ist unverkennbar, wie gefährlich hier der Begriff „Lebenswissenschaft“
ausgeweitet wird. Er geht weit über das hinaus, was bisher im Gefolge
Diltheys oder selbst Nietzsches als Wissenschaft vom geschichtlich-seelischen
Leben verstanden war, denn „Leben“ ist hier Leben der Nation und nicht
als Gegenstand, sondern als Zweck der Wissenschaft begriffen. Literaturwissenschaft
wird ideologische Begleitmusik zur Politik. Ebenso ist die vom
Expressionismus herkommende lebenswissenschaftliche Theorie Herbert
Cysarz'3 in diesem Sinne radikalisiert; der Barock- und Schillerdarsteller
huldigt einem geradezu ekstatischen Einsgefühl zwischen geschichtlichpolitischem
Leben und wissenschaftlichem Erkennen und hier wieder zwischen
Natur- und Geisteswissenschaft, zwischen Ich und Gemeinschaft; die
Sprache der Wissenschaft selbst wird unkontrollierbar und enthusiastisch
verzückt.


  Auch bei dem existentialistischen Ansatz freilich war bei dem zunächst
rein formalen Ruf nach einer Literaturwissenschaft, die ihren Nachdruck
von einem „selbst in die Entscheidung gerissenen Tun“ (Fritz Dehn)

1
Handbuch des deutschen Schrifttums, herausgegeben von Franz Koch, Ludwig
Wolff, Clemens Lugowski, J. Obenauer. Potsdam 1939 ff.
2
Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Herausgegeben von Gerhard
Fricke, Franz Koch u. Clemens Lugowski. 5 Bde., Stuttgart 1941.
3
Herbert Cysarz, Das Unsterbliche. Die Gesetzlichkeiten und das Gesetz der
Geschichte. Halle 1940. ─ Ders., Das deutsche Schicksal im deutschen Schrifttum.
Leipzig (1942).
|#f0027 : 21|

empfangen sollte, die Gefahr eines Sprungs in die völkische Dynamik naheliegend.
Die Zeitschrift Dichtung und Volkstum, zeitgemäß und eilig umgetauft
aus dem ehrwürdigen Euphorion (wie er inzwischen von neuem
heißt), widmete 1937 mehrere Aufsätze den „neuen Aufgaben der Literaturwissenschaft“.
Hermann Pongs setzt da der krisenhaften Einsamkeit
der dichterischen Existenz die Geborgenheit des Dichters im „Existenzgrund“
gegenüber, der sich zeigt „als gewachsenes Gefüge, das den Einzelnen
trägt, Sippe, Stamm, Volk“, und er will damit der existentialistischen
Literaturforschung einen volkhaften Sinn verleihen. Es eröffneten
sich hier die gleichen Gefahren und Mißverständnisse, denen die Heideggersche
Philosophie und ihr Schöpfer selber anheimfielen. Was Pongs betrifft,
so spricht Werner Richter1 nicht ganz zu Unrecht von „seiner
tragikomischen Vergewaltigung, seinem totalen Mißverstehen des ,Existentiellen‘“,
und das beträfe zum Teil auch den genannten Horst Oppel.


  Es ist klar, daß sich die Kritik am Volkstumsgedanken nur gegen einen
unwissenschaftlichen oder böswilligen Mißbrauch einer an sich durchaus legitimen
Fragestellung richtet; die Bemühung um Wesen und Art des gemeinschaftlichen
Geistes, speziell des Volkstums und seiner Beziehung zum Einzelnen,
wird durch ideologische Verabsolutierung nicht prinzipiell als Irrweg
erwiesen, sowenig wie mit einer marxistischen Literaturbetrachtung auch
schon die legitime Frage nach sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen
der Kunst abgelehnt ist. Im übrigen ist festzuhalten, daß trotz
der geräuschvollen Proklamation einer offiziellen Literaturwissenschaft, trotz
aller Eingriffe in die Lehrfreiheit und trotz aller Hindernisse die methodologische
und sachliche Forschung zum Teil fortgehen konnte, innerhalb
Deutschlands und außerhalb, wo manche Vertriebene, z. B. Richard Alewyn,
Karl Viëtor, Erich Auerbach, Werner Richter, Leo Spitzer, Werner
Milch, die Tradition deutscher Wissenschaft fortsetzen und neue Verbindungen
mit der außerdeutschen Forschung knüpfen konnten.


  Es ist nicht ganz unrichtig, wenn für das Debakel der deutschen Literaturwissenschaft
deren allzu „geistes“-wissenschaftliche Tendenz verantwortlich
gemacht wurde und selbst Linien von Herder zur nazistischen
Literatur gezogen werden konnten. Die eingetretene Ernüchterung kann
nun umgekehrt eine größere Offenheit und methodische Unbefangenheit
gegenüber den wissenschaftlichen Traditionen anderer Länder befördern.
Um so mehr, als diese ihrerseits, vor allem im angelsächsischen
Bereich, eine lebendige und vielfältige Forschung gerade in den letzten
20 Jahren entwickelt haben.

1
Werner Richter, Strömungen und Stimmungen in den Literaturwissenschaften
von heute.
GR XXI (1946) 81 ff.
|#f0028 : 22|

  Ein Blick in das noch zu besprechende Buch von Hyman1 zeigt die erfrischende
Originalität und metaphysische Unbelastetheit der angelsächsischen
Forschung2, die sich nicht scheut, dem lebendigen menschlichen
Phänomen der Literatur von allen, auch den nichtliterarischen Seiten her,
auf den Leib zu rücken. Als die grundlegenden Mächte werden dabei von
Hyman die vier Namen Darwin, Freud, Marx und Frazer genannt (mit
welcher Ansicht er freilich kaum repräsentativ sein dürfte). Aber trotzdem
geht es dabei nicht um eine Auslieferung der Literaturwissenschaft an einen
Soziologismus und Psychologismus, sondern gerade um die Erfassung der
Literatur als lebendiger Realität in dem immer sozialen Ganzen der menschlichen
Kultur. Unter dem von R. C. Ransom geprägten Begriff eines
„New Criticism“ festigt sich das Bewußtsein einer Literaturwissenschaft, die
mit exakten, aber nicht mehr positivistischen Methoden ihren eigenen Gegenstand,
die Dichtung als solche, erforscht und zwar in unmittelbarer
Beziehung zu den neuen Aspekten der zeitgenössischen Dichtung selber.
Auch in Amerika besteht ein Konflikt zwischen Criticism und Scholarship,
d. h. einer Arbeit, die kritisch-pädagogisch den Werten lebendiger
Literatur gewidmet ist, interpretieren, verstehen, werten will, und einer
akademisch-historischen Forschung im engeren Sinne. Über diesen Gegensatz
und das methodologische Malaise, das damit verbunden ist, orientieren
u. a. Lange-Boeschenstein3 und das von Norman Foerster herausgegebene
Werk4. Große Gestalten der deutschen Dichtung haben auch in
englischer Sprache ihre moderne, werknahe Interpretation gefunden, vor

1
Stanley Edgar Hyman, The Armed Vision. New York 1948. (vgl. unten
S. 27 f.)
2
Literary History of the United States. Edited by Robert E. Spiller, Willard
Thorp (u. a.) 3 vols. New York 1948 (Bibliographie!). ─ Fred B. Millett, Contemporary
American authors. A critical survey
(Kapitel über Criticism). New
York 1940. ─ J. H. O'Leary, English Literary History and Bibliography. London
1928. ─ Max Ertle, Englische Literaturgeschichtsschreibung. Ästhetik und
Psychologie in ihren Beziehungen. Ein Beitrag zur Methodik der englischen Literaturwissenschaft.
Diss. Berlin 1936. ─ H. W. Häusermann, Studien zur englischen
Literaturkritik
1910─1930 (Kölner anglistische Arbeiten 34). Bochum-
Langendreer 1938.
3
Victor Lange und Hermann Boeschenstein, Kulturkritik und Literaturbetrachtung
in Amerika. Sprache und Kultur der germanisch-romanischen Völker.

B. Germanistische Reihe XXIX, Breslau 1938.
4
The Study of Letters. Literary Scholarship. Its Aims and Methods. By Norman
Foerster, John C. Mc Galliard, R. Wellek, A. Warren, W. R. Schramm.
Chapel Hill 1941.
|#f0029 : 23|

allem Goethe durch Barker Fairley, dann Stifter durch Blackall oder
Hölderlin durch Peacock1.


  In Frankreich2 blieb die methodologische Diskussion im allgemeinen
im Hintergrund, aber eine schulmäßige Tradition der stilistischen
„explication des textes“ und ein hoher Stand der freien und unmittelbaren
literarischen Kritik hat die Forschung trotz aller positivistischen
Erbschaften in der sachnahen Beschäftigung mit dem Werk und der lebendigen
Dichtung gehalten. Die theoretische Diskussion der symbolistischen
und surrealistischen Dichtung bat ihrerseits den Boden zum Verständnis des
absoluten Wortes bereitet, und Bergson und der Existentialismus sind die
Voraussetzung einer geistreichen Interpretation mit modernen Kategorien,
wie sie z. B. Gaston Bachelard vertritt. Im historischen Bereich ist es der
Komparatismus, der die Sprachgrenzen offenhielt und ein für die Zukunft
wesentliches Programm begründete. Wenn schließlich in Italien3 wohl
die Schule B. Croces die große Dominante ist, bleibt damit auch hier die
Kritik auf die unersetzbare Eigenleistung der Poesie gerichtet.


  So ist es wohl kein Wunschdenken, wenn man im allgemeinen4, trotz
aller Katastrophen der letzten 15 Jahre, eine gewisse Konvergenz der
literaturwissenschaftlichen Forschung in den verschiedenen Ländern feststellen
kann. Es ist, vorsichtig umschrieben, eine gefestigte Überzeugung
von der Eigengesetzlichkeit und der Aktualität der Dichtung; es ist der
Wille, in enger Fühlung mit der zeitgenössischen Dichtung selbst Dichtung
um ihrer selbst willen zu begreifen und doch den Blick für ihre Funktion
im ganzen menschlichen Dasein offenzuhalten, und es ist das Bewußtsein
von der Notwendigkeit, Ideologien irgendwelcher Art zu vermeiden und
vor allem auch das bloß nationale Denken in der Organisation der Wissenschaft
selbst zu überwinden.


  Wenn heute die Theorie der Literatur zweifellos mehr dem Wesen als
der Geschichte der Dichtung gilt und Literarhistorie in den Hintergrund

1
Barker Fairley, Goethe as revealed in his Poetry. London-Toronto 1932; ─
A Study of Goethe. Oxford 1947. ─ Ronald Peacock, Hölderlin. London 1938.
─ E. A. Blackall, Adalbert Stifter. Cambridge 1948.
2
Fernand Baldensperger, La critique et l'histoire littéraire en France au 19e
et au début du 20e siecle. New York 1945. ─ Philippe van Tieghem, Petite
histoire des grandes doctrines littéraires en France: de la Pléjade au surréalisme.
Paris 1946.
3
Luigi Russo, La critica letteraria contemporanea. 3 vol. Bari 1942 f.
Giovanni Getto, Storia delle Storie Letterarie. Milano 1942. (Idee Nuove XVI).
4
Vgl. auch die Artikel French Criticism, Italian Criticism usw. in Shipleys
Dictionary of World Literature.
|#f0030 : 24|

getreten ist, so ist damit das Problem einer historischen „Synthese“
keinswegs überholt. Gewiß sind Begriffe wie Fortschritt oder Entwicklung
für die Literaturgeschichte fragwürdig geworden; die geschilderten Wandlungen
im Bild des Menschen, die neue Fassung des Begriffs der Zeit und
die Relativierung des Bewußtseins lassen keine schön konstruierte „Geistesgeschichte“
mehr zu. Aber die Existenz eines höheren Zusammenhangs, zu
welchem sich die dichterischen Werke in zeitlichen Verläufen und zusammengehörigen
Gruppen vereinigen, ist damit nicht widerlegt; die geschichtliche
Dimension des Einzelwerks selbst ist nicht zu übersehen. Von der
bloßen „Geschichtlichkeit“ der geworfenen Einzelexistenz ist wieder zur
Geschichte selbst vorzudringen. Ein Neuaufbau der höheren geschichtlichen
Einheiten wird erfolgen müssen, sowahr dieser Neubau auch in den übrigen
Bereichen des menschlichen Lebens erstrebt wird. Als negativer Anstoß
dazu wird wirken, daß die traditionellen Ordnungsprinzipien der
nationalen Literaturhistorien nicht nur auf Grund politischer Erfahrungen,
sondern im Lauf der Forschung selbst zweifelhaft geworden sind. Positiv
aber die Einsicht, daß die Literatur eine ist, Weltliteratur ist und mindestens
europäische Literatur nicht nur eine Idee, sondern eine konkrete
geschichtliche Wirklichkeit bedeutet. Die beiden Aspekte des Kunstwerks,
seinen unerklärlichen Ursprung und sein Angewiesensein auf die soziale
Welt und auf seinen geschichtlichen Traditionszusammenhang, seinen
Werk- und seinen Wirkungscharakter zusammenzusehen als Dauer und
Wechsel, Sein und Werden zugleich, das ist höchste einheitliche Aufgabe
der Literaturwissenschaft.


  In diesem Sinne bedeutet auch die folgende Einteilung der Probleme bloß
die Entfaltung einer einzigen Literaturwissenschaft nach verschiedenen
Aspekten, die aber zusammengehören, so wie beim Menschen Leib, Seele
und Leben zusammengehören.


  Literaturwissenschaft ist erstens bewahrender und rettender Dienst am
konkreten Text, d. h. Philologie im engeren Sinne von Textkritik und
Editionstechnik (II).


  Sie ist zweitens Wissenschaft von der Entstehungs- und Seinsweise, von
den Strukturen und Erscheinungsformen des dichterischen Werks, d. h.
Poetik (III).


  Sie ist drittens Wissenschaft von den Zusammenhängen der Werke unter sich,
von ihrer zeitlichen und räumlichen Gruppierung, d. h. Literarhistorie (V).


  Zwischen das dritte und fünfte Kapitel stellen wir die Betrachtungsweisen,
die das Werk auf seine persönlichen und kollektiv-seelischen und
sozialen Funktionen hin erkennen und damit teilweise über den Rahmen
der Literaturwissenschaft im strengen Sinne hinausführen, aber auch, da
sie den Träger der Dichtung, den Menschen, ins Auge fassen, sowohl die |#f0031 : 25|

Poetik wie die Historie der Dichtung auf einen gemeinsamen Hintergrund
beziehen (IV).


2. systematik der literaturwissenschaft

Die moderne Literaturwissenschaft ist als einer der wichtigsten Exponenten
des geschichtlichen geistigen Lebens in steter Bewegung und Offenheit
nach allen Seiten. Sie hat dies selbst gerechtfertigt durch den Aufweis ihres
existentiellen Charakters. Aber wenn sie auch auf eine Systembildung verzichten
zu müssen meint, so ringt sie doch immer um den Begriff ihrer
selbst und organisiert sich mit einem Programm immer wieder praktisch
im Betrieb von Studium, Lehre und Forschung. So darf zunächst die Frage
nach einer Gesamtdarstellung ihrer Prinzipien und Ziele, ihrer
Methoden und Hilfsmittel erhoben werden. Ohne weiteres nützlich und
möglich sind Gesamtdarstellungen als Übersicht über die wissenschaftliche
Literatur, als Charakteristik wissenschaftlicher „Schulen“ oder als lexikalisches
Verzeichnis ihres Fachvokabulars und seiner Inhalte; problematischer
aber ist es nun eben, eine umfassende und systematische
Synthese
der verschiedensten Gesichtspunkte und Methoden der Literaturforschung
zu unternehmen. Selbst die Beschränkung auf die philosophischen
Voraussetzungen der Literaturwissenschaft ist nur möglich im
Rahmen einer bestimmten Philosophie; so unternimmt die Dissertation von
H. Schweizer1 zwar den löblichen Versuch, die Gesamtheit der literaturwissenschaftlichen
Probleme des Werks, des Schaffens, der Geschichte einheitlich
zu klären, bewegt sich aber im Bereich der geisteswissenschaftlichen
Schule von Dilthey bis Ermatinger und bleibt damit doch wohl zurück
hinter den heute aktuellen Problemstellungen.


  Der Berliner Ordinarius Julius Petersen hat als Abschluß eines reichen
Lebenswerkes, das nicht zuletzt der Organisation der deutschen Literaturwissenschaft
gewidmet war, den bisher umfassendsten Versuch eines solchen
Systems vorgelegt2. Es ist im Ziel nur vergleichbar Ernst Elsters
zweibändigen Prinzipien der Literaturwissenschaft (1897 u. 1911), einem
Werk, das von der Psychologie Wundts her einen umfassenden Aufriß
der Wissenschaft geben wollte, sich allerdings dann im engeren Rahmen
einer psychologischen Poetik und Stilistik halten mußte. Andere methodologische
Werke griffen zur Form einer Behandlung ausgewählter Probleme

1
Hans Schweizer, Die theoretischen Grundlagen der Literaturwissenschaft.
Diss. Zürich 1944.
2
Julius Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre
der Literaturwissenschaft.
Bd. 1: Werk und Dichter. Berlin 1939.
|#f0032 : 26|

durch verschiedene Fachleute (Emil Ermatingers Philosophie der
Literaturwissenschaft, 1930) oder gaben bloß eine Orientierung über die
Lage durch eine Diskussion der aktuellen Strömungen und einen historischen
Rückblick (so Werner Mahrholz, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft,
Leipzig 1932). Petersens monumentales Werk ist nicht zu Ende
gekommen; dem ersten Band, der nach einem historischen Rückblick die
Probleme des Werks und des Dichters behandelt, sollte ein zweiter folgen,
dessen drei Hauptteile den „Ordnungen“ (Raum, Zeit, Gesellschaft,
Geist), dem Problem „Völker und Zeiten“ (nationale Literaturgeschichte,
Geistesgeschichte und Stilgeschichte, Literaturvergleichung, Weltliteratur)
und schließlich den Fragen der Darstellung (Standort, Einfühlung und Intuition,
Aufbau, Sinn der Literaturwissenschaft) gewidmet sein sollten.
Petersens Tod hat die Vollendung des Werks verhindert.


  In seinem Buch Wesensbestimmung der deutschen Romantik hatte Pe-
tersen an einem Beispiel unternommen, die verschiedensten Erkenntnisse
und Methoden der Forschung zum harmonischen Ausgleich zu bringen. Auf
breitester Front wird jetzt versucht, dies für die Literaturwissenschaft überhaupt
zu leisten: „Klärung der wissenschaftlichen Grundbegriffe“, „Ausgleich
zwischen den vielfach widerstreitenden Richtungen“, „Kritischer
Überblick über alle Methoden“, in einer Verbindung von „Rückschau, Umschau
und Ausschau“, so heißt das Programm. Ein ungeheures Material
ist scharfsinnig und glänzend in wohlproportionierten Teilen und Stufen
geordnet, von den einzelnen technischen Fragen der Textherstellung über
Werk und Dichter zu den großen historischen Ordnungen, worauf im letzten
Abschnitt „Darstellung“ die Wissenschaft gleichsam in sich selbst zurückkommen
sollte. Historische Darstellung, Referat der verschiedenartigen
Forschungen, Diskussion der Widersprüche und eigener Systembau sollen
in Einem gegeben werden.


  Eine systematische Bibliographie hat Petersen zwar nicht beabsichtigt.
Dennoch liegt der unmittelbarste Nutzen des Werks im Erschließen der
Hilfsmittel und im gewonnenen Überblick über die Möglichkeiten literaturwissenschaftlicher
Forschung überhaupt. Problematischer ist die systematische
Seite, denn Handbuch und System sind nicht dasselbe. Auch wenn
keine Wissenschaft möglich ist ohne Gespräch, ohne Ausgleich und Verständigung,
so ist doch die Vorstellung eines Systembaus, in welchem auch
noch das abgelegenste Steinchen seinen Platz fände, zweifelhaft geworden.
Ein solcher Kosmos der Methoden bleibt eine Abstraktion, ja eine
Illusion; es ist eine rein formale Kombinatorik, der die vorliegenden Methoden
und Ergebnisse gleichsam post festum unterworfen werden, ohne
auf eine gemeinsame Mitte bezogen zu werden; manche Positionen und
Begriffe werden durch ihre Einordnung ins System geradezu um ihren |#f0033 : 27|

Sinn gebracht (z. B. Existenz, Stil). Wenn Petersen von den Begriffen
der Ermatingerschen Poetik meint, es sei möglich, „beinahe den ganzen
Schaffensvorgang an diesen Anhaltspunkten wie einen Rosenkranz herunterzubeten“,
so erweckt er selbst wohl dasselbe Mißverständnis ─ als
ob die vollkommene wissenschaftliche Arbeit im sukzessiven Anwenden
aller stufenweise geordneten Gesichtspunkte geleistet wäre. Das Buch läßt
ratlos, sowie es über das ─ an sich hervorragende ─ Referat hinausgeht:
denn es muß diesem nachträglichen System der Einheits- und Mittelpunkt
fehlen. Das Werk ist so schließlich das letzte Monument einer Wissenschaftsgesinnung,
die dem 19. Jahrhundert zugehört, jetzt aber merkwürdig
entleert wirkt: idealistisch im Glauben an das harmonische und universale
System, positivistisch im Verzicht auf Spekulation zugunsten eines
„undogmatischen Aufbaus“ aus den Elementen (z. B.: „Aus der Analyse
der Einzelwerke sind die Fäden gesponnen, mit denen das Gewebe großer
Darstellungen zusammengewirkt werden kann“).


  Petersens Werk zieht zwar auch nichtdeutsche Forschungen heran, lebt
aber doch im wesentlichen ganz aus der deutschen, der germanistischen Forschungstradition.
Eine völlig andere Luft weht in dem glänzenden Buche
Stanley Edgar Hymans, der überragenden Darstellung angelsächsischer
Literaturwissenschaft1. Hyman scheint einerseits die deutsche Literatur
und Literaturwissenschaft kaum zu kennen, aber in seinem Bereich gibt er
nicht nur eine äußerst reichhaltige, sondern auch eine sprühende, kluge und
witzige Diskussion der verschiedensten modernen Methoden der Literaturkritik
(„Literary Criticism“ wird dabei abgegrenzt einerseits gegen „Reviewing“,
anderseits gegen „Aesthetics“). In zwölf, je mit einem Schlagwort gekennzeichneten
Kapiteln charakterisiert er je einen führenden Kritiker oder
Wissenschafter in der ganzen Breite seiner Werke, um dann von hier nach
den verschiedensten Seiten vorzustoßen. Ist so durch ein lockeres und der
Intention der verschiedenen Forschungsrichtungen angepaßtes Verfahren jeder
Systemzwang vermieden, so versucht Hyman in einem Schlußkapitel
doch eine Art Synthese zu geben, zunächst im ironischen Ausmalen des
idealen Wissenschafters, der sämtliche Methoden eklektisch verbinden und
mit einem Literaturwerk alles nur Denkbare unternehmen würde, also
über ein lyrisches Gedicht mehrere Bände und über eine Novelle ein Lebenswerk
zu schreiben hätte, dann aber ernsthaft mit dem Programm
einer planmäßigen Zusammenarbeit der verschiedenen Spezialisten in echtem
dialektischen Kampf und Wettkampf. So wird vom amerikanischen Gelehrten
der Gedanke der Kooperation ausgespielt gegen eine deutsche Forschung,

1
Stanley Edgar Hyman, The Armed Vision. A Study in the Methods of Modern
Literary Criticism.
New York 1948.
|#f0034 : 28|

die sich entweder im irrealen Systembau oder in der existentialistischen
Vereinzelung verliert. Hier liegt auch die Begründung dafür,
daß Hyman zwar eine Erkenntnis der Literatur als solcher erstrebt, aber
gerade von nicht-literarischen Wissenschaften die wesentlichen Aufschlüsse
erwartet, vorab von den Sozialwissenschaften und der modernen Psychologie.
Wenn das dem Adepten deutscher Wissenschaft fragwürdig vorkommt,
so wird er sich doch gerne angesichts der Offenheit und Unbefangenheit
der hier entwickelten Haltung der großen Gefahren eigener
wissenschaftlicher Inzucht bewußt werden.


  Vorsichtiger, schulmäßiger ist die Theory of Literature von Wellek
und Warren1, die zweifellos die beste und umfassendste Orientierung
über moderne Prinzipienlehre bietet und jedenfalls David Daiches2 einfachere
Einführung in die Probleme weit übertrifft. Ihr großer Wert liegt
darin, daß hier zur angelsächsischen auch die kontinentaleuropäische Forschung,
selbst die Rußlands, einbezogen ist und sich so die Traditionen
alter und neuer Welt fruchtbar begegnen. Das spiegelt sich nicht zuletzt
in der ausgezeichneten Bibliographie ausgewählter Werke. Der Aufbau erfolgt
weder in strenger Systematik noch von einzelnen Forscherpersönlichkeiten
aus, sondern nach einer mehr oder weniger systematischen Folge
von Problemkomplexen, unter den nicht unbedingt überzeugenden zwei
Hauptgruppen des „Extrinsic Approach“ (biographische, psychologische,
soziologische, ideengeschichtliche, kunstgeschichtliche Methoden) und des
„Intrinsic Approach“ (Poetik und Literaturgeschichte). Eine „Synthese“
wird nicht gegeben, es sei denn die Forderung, den Atomismus, Positivismus
und Relativismus der alten Schule einerseits, den „verbalism“ der abstrakten
Geisteswissenschaft anderseits zu verlassen zugunsten einer übernationalen
sachnahen Wissenschaft der Literatur, angeregt und geleitet
von moderner Kritik und zeitgenössischer Literatur selbst, „from participating
in literature as a living institution“. Wir werden im Folgenden die
klugen und umsichtigen Erörterungen von Wellek und Warren immer wieder
heranziehen müssen. Nur für elementare Bedürfnisse bestimmt ist die
kleine Einführung Richard Newalds3.


  Den systematischen Schwierigkeiten enthoben und für den praktischen
Gebrauch oft geeigneter ist die lexikalische Anordnung der Begriffs-
und Methodenlehre. 1925─1931 hatten Paul Merker und Wolfgang

1
Wellek-Warren s. oben S. 7.
2
David Daiches, A Study of Literature. For Readers and Critics. Ithaca N. Y.
1948.
3
Richard Newald, Einführung in die deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft.
Lahr 1947.
|#f0035 : 29|

Stammler ihr Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte (4 Bände) herausgegeben.
Dieses noch heute unentbehrliche Werk brachte auf Grund der
neuen Gesichtspunkte der allgemeinen Literaturwissenschaft eine nach
Schlagworten alphabetisch geordnete Darstellung der Gattungen, Formen,
Sachkomplexe und Probleme wenigstens des deutschen Literaturbereichs
und seiner Wissenschaft. Die Beschränkung auf verhältnismäßig wenige,
aber umfassende Stichworte und dafür deren systematische und wissenschaftlich
selbständige Bearbeitung samt reichhaltiger Bibliographie führte
zu einer in hohem Grad gleichmäßigen, geschlossenen und repräsentativen
Zusammenfassung des damaligen Standes der deutschen Literaturwissenschaft.
Diese Vorteile sind in einem neuern amerikanischen Werk zugunsten
einer unendlich reicheren Fülle und Vielfalt preisgegeben: das Dictionary
of World Literature,
das Joseph T. Shipley 1943 mit Hilfe von
260 Fachleuten (meist amerikanischen) herausgab, ist nicht in erster Linie
ein Nachschlagewerk zur Weltliteratur als solcher; im Vordergrund steht
die Literaturtheorie und Prinzipienwissenschaft mit ihren Begriffen und
Problemen samt deren Geschichte. Es will eine Darstellung sein der „Kritiker
und der Kritik, der literarischen Schulen, Bewegungen, Formen,
Techniken ─ mit Einschluß von Drama und Theater ─ in der östlichen
und westlichen Welt seit den frühesten Zeiten, von literarischen und wissenschaftlichen
Begriffen und Ideen, mit anderem Material ...“ Der Überreichtum
der Stichwörter und Gesichtspunkte, die in einem Band zusammengedrängt
sind, kann nur gehen auf Kosten der Vollständigkeit im einzelnen
und bringt manche Willkür und Ungleichmäßigkeit mit sich. Schon
in jeder einzelnen nationalen Literaturwissenschaft ist die Terminologie
ein Bestand aus geschichtlich völlig heterogenen, sich überschneidenden,
halb konventionellen, halb individuellen Namen oder Definitionen, niemals
das eindeutige Instrumentarium einer bestimmten wissenschaftlichen
Technik. Wo sich das Material aus sämtlichen Literaturen und Literaturwissenschaften
zusammenfindet, wird die Sprachverwirrung potenziert oder
wird die Übersicht erst recht lückenhaft (spezifische Begriffe der deutschen
Literaturwissenschaft kommen z. T. gar nicht vor ─ z. B. „Idee“, „Weltanschauung“
─ oder unzulänglich unter deutschem Titel ─ „als ob“,
„Stimmung“ ─ oder werden im übersetzten Titel bedeutungslos und kaum
gewürdigt ─ z. B. „experience“ = „Erlebnis“). Dennoch bietet das Werk
eine solche Fülle von leicht erreichbaren Auskünften sachlicher und bibliographischer
Art, daß es für die allgemeine Literaturwissenschaft und speziell
auch eine Weltliteratur-Wissenschaft ein überaus nützliches Handbuch
bleiben wird. Daß es bewußt auf praktische und allseitige Verwendbarkeit
angelegt ist, entzieht dieses erstaunliche Wörterbuch weithin dem
Vorwurf einer unsystematischen Kompilation von Materien und Gesichtspunkten.


|#f0036 : 30|

  Für die deutsche Literatur mag stellenweise die zweite Auflage des deutschen
Literaturlexikons von Kosch zu Rate gezogen werden; obwohl die
Absichten dieses Namenlexikons durchaus biographisch-historisch gerichtet
sind, sind zahlreiche Artikel über literaturwissenschaftliche Begriffe eingestreut,
die vor allem mit ihrer Bibliographie wichtig sind. Daß schließlich
ein Kleines literarisches Lexikon1 nur den elementarsten Bedürfnissen
genügen kann, ist selbstverständlich2.


3. geschichte der literaturwissenschaft

Ein Lexikon wie das von Shipley zeigt eindrücklich, wie im Querschnitt
des Wörterbuchs ein Wirrwarr heterogener Begriffe und Theorien erscheint,
die aus den verschiedenartigsten sprach- und wissenschaftsgeschichtlichen
Prozessen hervorgegangen sind und somit ihre geschichtliche Dimension
nicht verleugnen können.


  Wissenschafts geschichte als historische Entfaltung der möglichen
Methoden kann selber Methodologie sein, wird dann aber doch eine umfassend
geschichtsphilosophische Besinnung voraussetzen. Auch ohne solch
hohen Anspruch kann sie zur Bestimmung und Abklärung des eigenen
Standorts beitragen, zur Einsicht führen in die zeitliche und räumliche Bedingtheit
der jeweiligen wissenschaftlichen Positionen und Vorsicht lehren
im Gebrauch einer immer geschichtlich vorbelasteten Terminologie. In diesem
Sinne gibt Petersen zu Eingang seiner Methodenlehre eine wertvolle
Übersicht über die „geschichtliche Entwicklung der Aufgaben.“


  Die Literaturwissenschaft ist selbst so jungen Datums, daß sie noch
kaum das Bild einer geschlossenen Tradition bieten kann. Bis ins 19. Jahrhundert
hinein hat sie „jahrhundertelang ihr Dasein als Anhängsel zu anderen
Wissenschaften gefristet“ (Lempicki). Literaturkundliches Wissen
wurde zunächst im Rahmen einer allgemeinen Bücherkunde (Bibliographie,

1
Kleines Literarisches Lexikon. (Bd. 3: Literarisches Sachwörterbuch) 3 Teile.
Bern 1946─48.
2
Nicht mehr berücksichtigt werden konnte Deutsche Philologie im Aufriß,
herausgegeben von Wolfgang Stammler, Berlin-Bielefeld-Leipzig 1951 ff. Darin
für unser Thema wichtig: 1) Sp. 39 ff. Horst Oppel, Methodenlehre der Literaturwissenschaft
(d. h. eine kurze Übersicht über die Probleme des Schaffens, des
Werks, des Verstehens ─ ohne Berücksichtigung der methodologischen Probleme
der Literarhistorie) und 2) Sp. 215 ff. Fritz Martini, Poetik (mit historischer Entwicklung
der Probleme). Das Werk gilt der deutschen Philologie, meist nur im
deutschen Sprachgebiet, mit einer Auswahl bibliographischer Angaben.
|#f0037 : 31|

„Historia litteraria“) gepflegt. Die Philologie im engern Sinn fand ihre
Entwicklung an den Texten des klassischen Altertums seit den textkritischen
und editorischen Unternehmungen der Alexandriner. Literaturkritik
gibt es seit je als lebendige Praxis und, systematisch vertieft, in Form von
Rhetoriken und Regel-Poetiken; der Übergang zu einer philosophischen
Ästhetik und einer wissenschaftlichen, eventuell historischen Literaturbetrachtung,
wird wesentlich erst im 18. Jahrhundert angebahnt. Geschichtswissenschaft
und Geschichtsphilosophie helfen schließlich zu einer systematischen
Literarhistorie. Zugleich mit dem Zusammenfluß dieser Traditionen
seit 1800 erfolgt aber teilweise eine neue Aufspaltung in nationale
Literaturwissenschaften. So ergeben sich für Wissenschaftsgeschichten die
verschiedensten Möglichkeiten der Auswahl und Begrenzung. S. v. Lem-
pickis noch unübertroffene Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (1920)1 schließt Philologie, Kritik und
Poetik aus, verfolgt aber auch die Beiträge der deutschen Wissenschaft zur
allgemeinen europäischen Literatur, während umgekehrt etwa G. Getto's
(s. oben S. 23, Anm. 3) Darstellung sich auf Geschichten der italienischen
Literatur beschränkt, aber auch außeritalienische Beiträge heranzieht. Im
allgemeinen wird eine Darstellung der neueren Epochen sich eher auf strenge
Wissenschaftsgeschichte konzentrieren können als etwa eine Darstellung zum
Mittelalter, wo in erster Linie die Lehrbücher und die Praxis des poetischen
Unterrichts und allgemein die Auffassungen vom Wesen der Dichtung und
des Dichters zur Sprache kommen werden. Eine umfassende Geschichte von
dem, was man das Bewußtsein des Dichters von sich selbst (beim Dichter
und beim Publikum) nennen kann, wäre eine der höchsten Aufgaben, die
u. W. noch nicht gelöst ist. Immerhin führt Böckmanns Stilgeschichte
auf sie hin (unten S. 137 f.).


  Was die neuere Geschichte der Literaturwissenschaft betrifft, so können
wir hier auf die in unserem einführenden Abschnitt genannte Literatur
verweisen, und für die Einzelprobleme werden unten jeweils auch historische
Arbeiten zitiert. Wir beschränken uns auf zwei eindrückliche Werke
zur Poetik früherer Epochen (die hier mit Literaturwissenschaft zusammenfällt).
Ein ganz neu aus den Quellen gearbeitetes Werk ist Bruno
Markwardts2 Geschichte der deutschen Poetik, die in ihrem ersten Band

1
Vgl. inzwischen die ausführliche Darstellung von Joseph Dünninger: Geschichte
der deutschen Philologie,
in Deutsche Philologie im Aufriß, herausgegeben
von Wolfgang Stammler, Berlin-Bielefeld-München 1951 ff. Sp. 79 ff., sowie
den oben S. 30 zitierten Beitrag von Fritz Martini, Poetik, a. a. O. Sp.
215 ff.
2
Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik. Bd. I. Barock und Aufklärung
(Grundriß der germanischen Philologie 13/I) Berlin und Leipzig 1937.
|#f0038 : 32|

den großen Bestand an poetischen Lehrbüchern sichtet und durch sachliche
und alphabetische Register übersichtlich erschließt. Dabei wird die Entwicklung
von der alten „Anweisungs- und Lehrpoetik“ (samt Metrik und
Rhetorik) zu einer „Wirkungsästhetik“ und schließlich zu Schöpfungs- und
Gestaltungsästhetik, zu Literaturwissenschaft und Literaturphilosophie
sichtbar gemacht.


  Wenn schon hier überall der größere, seinerzeit von Borinski maßgebend
untersuchte Zusammenhang einer allgemeinen antiken, mittel-
und neulateinischen Poetik zugrundeliegt, so gilt das erst recht für die
mittelalterliche Auffassung von Poesie und poetischer Praxis. Hier sind
die Ansätze von E. Faral und H. Brinkmann systematisch erweitert worden.
Die Literarästhetik des Mittelalters hat 1937 H. H. Glunz1 in einem
kühnen Buch zu charakterisieren versucht, das vor allem auf dem Zusammenhang
der mittelalterlichen Dichtung und ihrer Selbstauffassung
mit der Theorie der Bibelexegese, d. h. der theologischen Lehre von der
Bibel als dem vollkommensten Kunstwerk, insistiert. Vor allem fällt damit
Licht auf die seit dem 12. Jahrhundert sich verstärkt entwickelnde allegorische
Dichtkunst, die erst mit Dante transzendiert wurde. E. R. Cur-
tius hat in einer ausführlichen Kritik (Zfrom Phil. 58, 1─50) den konstruktiven
und einseitigen Charakter des Buches scharf kritisiert und anschließend
Arbeiten zur mittelalterlichen Poetik publiziert, die seither in
sein zusammenfassendes Buch (s. unten S. 156 ff.) eingegangen sind. Die Geschichte
der Allegorie und mit ihr die Geschichte der mittelalterlichen Literatur
und Poetik überhaupt gehört danach in das umfassende Thema des
Nachlebens der Antike und damit des jahrtausendelangen europäischen
Literaturzusammenhangs. Eine Zusammenstellung und Interpretation der
mittelhochdeutschen Äußerungen zur dichterischen Theorie bietet Bruno
Boesch2.

1
H. H. Glunz, Die Literarästhetik des Mittelalters. Wolfram-Rosenroman-
Chaucer-Dante. Bochum-Langendreer 1937.
2
Bruno Boesch, Die Kunstanschauung in der mittelhochdeutschen Dichtung
von der Blütezeit bis zum Meistergesang. Bern 1936.
|#f0039 : E33|

II. TEXTKRITIK UND EDITIONSTECHNIK

Man kann sich streiten, ob Philologie, im engen Sinn von Bewahrung,
Restauration und editorischer Darstellung dichterischer Texte, eine ─ mehr
technische ─ Hilfswissenschaft zur Literaturwissenschaft im weiteren Sinne
sei, oder ob diese selbst ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel in der Arbeit
am Text finde. Für die erste Meinung spricht, daß Textkritik und Editionstechnik
nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern jeder mit überlieferten
schriftlichen Dokumenten arbeitenden Wissenschaft ─ Historie,
Theologie, Jurisprudenz usw. ─ den Weg bereitet, und zweitens, daß,
wenn irgendwo, so hier gewisse Aufgaben mehr oder weniger gelöst werden
können, worüber dann die Forschung zur Tagesordnung übergeht:
große wissenschaftliche Gesamtausgaben können und sollen nicht alle 30
Jahre neu gemacht werden. Anderseits ist Arbeit an dichterischen Texten
nur möglich aus dem Gesamthorizont der Literaturwissenschaft in allen
ihren Disziplinen heraus und wird sie durch den ästhetischen Charakter
ihres Gegenstandes, der nicht nur Dokument, sondern Kunstwerk ist, komplizierter
und zentraler. Hier zeigt sich am konkretesten die Kreisstruktur
der literaturwissenschaftlichen Erkenntnis: das Gesamtwissen beruht
auf den einzelnen Texten und Textstellen, diese aber werden nur aus dem
Gesamten deutlich. Gegenüber schöngeistiger Verachtung textkritischer
Kärrnerarbeit ist neuerdings eine deutliche Aufwertung einer exakten, umsichtigen
Philologie festzustellen; eine ästhetisch-kunstwissenschaftliche Interpretation
bedarf erst recht des sicheren Buchstabens und hat oft feststellen
müssen, wie fragwürdig manchmal die Unterlagen sind. Selbst die wissenschaftlichen
Leistungen des „philologischen“ 19. Jahrhunderts werden im
Licht einer erweiterten Literaturwissenschaft gelegentlich bedenklich ─
z. B. einzelne Bände der Sophienausgabe von Goethes Werken ─, ganz
zu schweigen von älteren, völlig unzulänglichen Ausgaben etwa im Fall
Hölderlins, Brentanos, Gotthelfs usw. Daß auch neuere und neueste Dichter
selbst in guten und angesehenen Händen sehr rasch von textlicher Verderbnis
befallen werden, dafür bieten ein gutes Beispiel die Werke Rilkes:
Ernst Zinn, ein Altphilologe, hat an den Ausgaben von Rilkes Werken
die erstaunlichsten Mängel feststellen können1. Aber auch bei mehrfach
edierten, ehrwürdigen Texten der älteren Literatur kann es Überraschungen
geben; so, als Friedrich Ranke im altbekannten Codex neue

1
Ernst Zinn, DuV 37 (1936), 137 ff., 40 (1939) 119 ff.
|#f0040 : 34|

Fragmente des ältesten deutschen Dramas entdeckte und damit auch für
das Bekannte eine neue und sicherere Grundlage schuf1.


  So ist es denn auch zu begrüßen, wenn Petersen und Kayser in ihren
Gesamtdarstellungen je eine ausführliche Übersicht den Problemen der
Textphilologie widmen. Darauf und speziell auf die beigefügten Literaturangaben
darf hier nochmals verwiesen werden. Hier können nur ein
paar beispielhafte Probleme und Leistungen der jüngsten Zeit erwähnt
werden, unter Ausschluß paläographischer, bibliothekarischer, bibliographischer,
druckgeschichtlicher u. ä. Probleme.


  Was die Textkritik betrifft, so ist die Philologie der modernen
Sprachen in besonderem Maße die Schülerin der klassischen Altertumswissenschaft.
So hat der Altphilologe Karl Lachmann, der Begründer einer
eigentlichen Lehre der textkritischen Methoden, für die Germanistik maßgebende
Bedeutung gewonnen. Dies war wenigstens möglich, solange die
germanistische Philologie vorwiegend den mittelalterlichen Texten galt.
Überall, wo nicht ein vom Autor überwachter Druck die legitime Fassung
darstellt, wo vielmehr eine durch Jahrhunderte oder Jahrtausende reichende
Überlieferung von Handschriften die Texte bietet, geht der Weg der Textkritik
von den variierenden Texten rückwärts zu den Wurzeln des Handschriftenstammbaums,
zu einem zu erschließenden Archetypus, der praktisch
meist auch das „Original“ zu vertreten hat (vgl. Pasquali2). Für
die antike Literatur ist freilich mit den Papyrusfunden ein ganz neuer
Quellenbereich erschlossen worden, der auch eine völlig andere textkritische
Methode und Technik nötig gemacht und oft den Wert der älteren Quellenkritik
relativiert hat; als Beispiel einer solch neuen editorischen Meisterleistung
sei Rudolf Pfeiffers Kallimachos-Edition genannt3. Aber auch
abgesehen von neuen Funden hat sich der Verdacht verstärkt, daß das
Bild vom Stammbaum häufig trügt, insofern Kreuzungen von Handschriften
durch Abschreiber, Interpolationen, Bearbeitungen aller Art und jeden
Rangs das Bild unabsehbar komplizieren. Der Begriff des Archetypus und
selbst des Originals kann fraglich werden, wo mehrere antike Exemplare
ins Mittelalter eintraten oder wo der Autor selbst verschiedenen ersten
Reinschriften zu Gevatter stand. So hat G. Jachmann4 an Platon gezeigt,

1
Friedrich Ranke, Das Osterspiel von Muri, nach den alten und neuen Fragmenten
herausgegeben.
Aarau 1944.
2
Giorgio Pasquali, Storia della tradizione e critica del testo. Firenze 1934.
3
Callimachus ed. Rudolfus Pfeiffer, 1. Fragmenta. Oxonii 1949.
4
Günther Jachmann, Der Platontext „Nachrichten von der Akademie der
Wissenschaften zu Göttingen“, Phil.-Hist. Kl. N. F. Fachgr. I, 4. Bd. (1940/4).
Göttingen 1942.
|#f0041 : 35|

daß nicht nur die Papyrus-Funde die alte Stemmatologie über den
Haufen werfen, sondern daß die Verhältnisse nach rückwärts immer komplizierter
werden: „Mit der Einheitlichkeit des Textes (war es) wenige
Jahrzehnte nach Platon, wenn nicht schon zu seinen Lebzeiten, vorbei“ ─
worauf dann Jahrhunderte intensiver antiker und byzantinischer „Textmischung“
folgten. Methodisch heißt das eine notwendige Rückkehr zu
eklektischer Kritik; die isolierte Lesart im jüngsten und mißachtetsten
Codex kann die wahre sein! In kleinerem Maßstab kann dies auch für
mittelalterliche Texte gelten, und selbst noch zur Zeit des Buchdrucks gibt
es sachlich und methodisch so verwickelte Fälle wie das Werk Shakespeares:
es ist mit verschiedenartigen Kanälen der Überlieferung und unter Umständen
von Anfang an mit dem Fehlen eines definitiven Urtextes zu
rechnen1.


  Als hervorragende Beispiele moderner textkritisch-editorischer Arbeit an
mittelalterlichen Handschriften seien nur zwei Werke aus germanistischem
Bereich genannt: Die Ausgabe von Minnesangs Frühling durch
Carl von Kraus2 bildet, zusammen mit der 1935 erschienenen 10. Auflage
der Gedichte Walthers von der Vogelweide, das großartige Ergebnis der
Lebensarbeit eines glänzenden Kritikers, hinter welcher die Arbeit von
Generationen, beginnend mit dem Begründer, Karl Lachmann, steht. Da
es sich um verhältnismäßig wenige Sammelhandschriften von Liedern handelt,
tritt hier die Stammbaumfrage in den Hintergrund und kann auch
nur für das einzelne Lied selber, wenn überhaupt, gültig entschieden werden;
ebenso tritt die Frage der Sprachgebung zurück, sofern es sich um
sprachlich verwandte Handschriften handelt und eine Rekonstruktion der
gesprochenen bzw. beabsichtigten Sprachform der Autoren sowieso zu
äußerst hypothetischen Lösungen führen würde. Um so voller kommt die
„höhere Kritik“ zu ihrem Recht; selten kann so eindrücklich wie in den
Untersuchungen Kraus' verfolgt werden, wie ein umfassendes Wissen ─
über das Sachliche, die Metrik, die Sprachform, den Wortschatz, die
Überlieferung, die Paläographie ─ und, vor allem andern, künstlerischer
Takt und Einfühlungsgabe sich verbinden, um in immer neuer
Kombination der Argumente kranke oder verdächtige Textstellen zu erkennen
und zu heilen, die Fragen der Echtheit, der Strophenfolge, der
Strophenzusammengehörigkeit usw. zu entscheiden. Als Beispiel sei etwa
die Behandlung Hartmanns von Aue genannt; am Problem, wo im Verse
218, 19 des berühmten Kreuzlieds ein Komma zu setzen sei, wird die

1
W. W. Greg, The editorial problem in Shakespeare. Oxford 1942.
2
Des Minnesangs Frühling, neu bearbeitet von Carl von Kraus. Leipzig 1940.
Carl von Kraus, Des Minnesangs Frühling, Untersuchungen. Leipzig 1939.
|#f0042 : 36|

ganze Chronologie von Hartmanns Leben und Dichten akut; zusammen
mit dem Echtheitsproblem der Totenklage 217, 14 und an Hand eines
minutiösen Vergleichs mit der Lyrik Reinmars erscheint das Verhältnis
Hartmanns zu diesem Dichter nun in überzeugender Weise gerade umgekehrt,
als es bisher angenommen wurde. Das Maß, in welchem man die immer
noch gelegentlich kühnen Konjekturen akzeptiert, d. h. sie einer, wenn
auch unbefriedigenden, so doch dafür real überlieferten Form vorzieht,
bleibt im übrigen weithin Sache des Temperaments.


  Das zweite Beispiel sei Josef Quints Ausgabe der deutschen Schriften
Meister Eckharts1. Die Predigten Eckharts haben eine „im Ganzen hochproblematische
Überlieferung“ ─ die zum Teil sehr hohe Zahl stark abweichender,
in verschiedenen Formen der Nachschrift, des Exzerpts, der
Bearbeitung gehaltenen Handschriften erlaubt höchstens Gruppenbildungen,
keinen Stammbaum; es ist schon prinzipiell fraglich, ob auch im
besten Fall mehr als eine bloße Nachschrift rekonstruiert werden kann;
das „echte“ Werk ist auch prinzipiell nicht durch eine klare Linie einzugrenzen,
sondern kann nur in Graden der Echtheit vom besser zum immer
schlechter bezeugten Text dargestellt werden. Dem Herausgeber stellt sich
im wesentlichen die Alternative, entweder eine Rekonstruktion zu versuchen,
wie und soweit es eben geht, oder im Sinn einer auch bei dichterischen
Texten ─ z. B. in den Deutschen Texten des Mittelalters
immer mehr angewandten Methode, die einmal als beste erkannte Handschrift
mit allen ihren mundartlichen und orthographischen Eigentümlichkeiten
diplomatisch abzudrucken. Quint hat die erste Lösung gewählt
und ─ allerdings auf Grund der relativ besten Handschrift der besten
Gruppe ─ in bewundernswerter Arbeit das Gesamtmaterial zu einer
Rekonstruktion benutzt, die zwar immer nur eine Annäherung bedeutet
und auch in der sprachlichen Form eines normalisierten oberdeutschen Mittelhochdeutsch
niemals der unerkennbaren Originalsprache Eckharts entsprechen
wird, dafür aber insgesamt und vor allem sachlich einen hohen Grad an
Ursprünglichkeit erreicht. Auch hier freilich liegt die letzte Autorität der
textkritischen Entscheidungen im Ganzen einer aus Wissen, Erfahrung und
Begabung gebildeten Gelehrtenpersönlichkeit. Über die verschiedenartigen
Probleme, die überhaupt die Edition altdeutscher Texte stellt, finden sich
grundsätzliche Bemerkungen bei Wolfgang Stammler2.


  Wenn hier überall die Richtung des textkritischen Blicks eine retrospektive
ist, d. h. nach einem Ursprünglichen gesucht wird, so gibt es doch auch

1
Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke. Herausgegeben im
Auftrag der deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke. Stuttgart 1936 ff.
2
Wolfgang Stammler, Von mittelalterlicher deutscher Prosa. Rechenschaft und
Aufgabe. Journal XLVIII (1949) 15 ff.
|#f0043 : 37|

schon in der älteren Literatur Fälle, bei denen nicht nur ein Original, sondern
die Geschichte des Werks interessiert, weil diese selber wesentlich
für das Dichtwerk und seine Wirkung ist. Vor allem dürfte dies
beim Volkslied der Fall sein. Zwar hätte man auch hier immer gern
eine älteste, eine „Ur“-Fassung (wobei allerdings jede Stemmatologie prinzipiell
fragwürdig ist); zugleich aber muß der Bearbeiter den auch in der
Tradition charakteristischen, oft sogar schöpferischen Gang des Liedes
wenigstens in gewissen Grenzen verfolgen. Das bringt auch editionstechnisch
neue Aufgaben mit sich. Die 1935 begonnene große Publikation
der deutschen Volkslieder, der Ertrag der Lebensarbeit John
Meiers und seiner Mitarbeiter, darf darum hier genannt werden1. Sie
bringt nun eben keine Rekonstruktionen, sondern jeweils eine Reihe von
Fassungen je im genauen Abdruck, worauf dann an Hand einer stofflichen
Inhaltsangabe die sachlichen Varianten aller Quellen verzeichnet und
eine Entwicklungsgeschichte das Ergebnis der wissenschaftlichen Erschließung
formuliert. Daß sich das Problem durch Publikation auch der Melodien
sozusagen potenziert, sei nebenbei vermerkt.


  Wieder eine andere und diesmal ganz nach vorwärts gerichtete Perspektive
zeigt die Textkritik bei neuzeitlichen Texten, speziell etwa im Gebiet
der wissenschaftlichen Gesamtausgaben neuerer Klassiker. Hier tritt
die Suche nach der „ursprünglichen“ Lesart, nach Originalen und Archetypen
zurück, da der Dichter ja gewöhnlich einen selbst autorisierten
Drucktext vorgelegt hat. Dafür tritt dieses dichterische Werk nun sehr oft
auseinander in eine Stufenfolge: Manuskripte, Erstdruck, Ausgabe letzter
Hand sind ihre wichtigsten Etappen, die nun nicht nur zur Korrektur
später hereingekommener Fehler und Irrtümer zu vergleichen sind, sondern
─ nun im Bereich des Dichters selbst ─ als Entstehungsgeschichte und
Fingerzeige für die Deutung in hohem Maß wichtig werden. Die Ausgabe
wird zur „historisch-kritischen“ Edition. Welche Stufe ihr zugrundegelegt
werden soll, ist von Fall zu Fall zu entscheiden; es geschieht
heute nicht mehr so unbedingt wie früher zugunsten der Ausgabe letzter
Hand: der „letzte Wille“ des Dichters ist schließlich nicht mehr als ein
juristisches Argument, das mit dem ästhetischen in Konflikt kommen kann
(es ist der Extremfall, wenn Max Brod die Werke seines Freundes Kafka
nicht, dessen Willen gemäß, vernichtete, sondern herausgab). Vor allem
aber verlangt der textkritische Apparat hier eine völlig andere Gestaltung
als etwa bei einem mittelalterlichen Text. Das übliche Lesartenverzeichnis
nach klassischem Muster, wie es z. T. noch die Weimarer
Goethe-Ausgabe bietet, wird sonst u. U. (z. B. im Apparat zu Stifters

1
Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien, herausgegeben vom deutschen
Volksliederarchiv, Berlin und Leipzig 1935 ff.
|#f0044 : 38|

Studien in der großen Pragerausgabe) zum unabsehbaren „Leichenfeld“.
M. a. W.: der Herausgeber hat die Entwicklung des Textes selber zur Darstellung
zu bringen, etwa durch zusammenfassende und dann eventuell
nur in Auswahl spezifizierte Anführung stilistisch zusammengehöriger
Änderungen oder durch einen fortlaufenden Kommentar. In diesem Sinne
hat etwa die von Jonas Fränkel begründete große Ausgabe der Werke
Gottfried Kellers1 die energische Wendung zu einem lesbaren, „organischen“
Apparat vollzogen, auch wenn damit der Herausgeber eine größere
Verantwortung übernahm und in vielen Fällen (z. B. bei den Gedichten)
die Kritik herausfordert. Zum Thema der Kellerphilologie, ihrer besonderen
Schwierigkeiten und Verantwortlichkeiten, aber auch der Würde editorischer
Arbeit überhaupt, bringt der schöne, bekenntnishafte Vortrag Carl
Helblings2, des Fortsetzers der Keller-Ausgabe, reiches Material. Die
Herausgabe gesammelter Werke ist nicht nur ein textkritisches Problem.
Die Fragen der Textauswahl, der Wahl unter verschiedenen Fassungen und
vor allem der Gesamtdisposition der Ausgabe beschäftigen den Herausgeber
oft ebenso sehr; darüber spricht Fritz Strich3, indem er vor allgemeinen
Regeln warnt und den stilistisch-ästhetischen Hintergrund auch dieser Probleme
betont.


  Am glänzendsten stellt sich aber wohl heute die große Stuttgarter
Hölderlin-Ausgabe4 dar, deren methodische und sachliche Durchführung
durchaus der makellosen äußeren Gestalt entspricht. (Vgl. dazu den
Arbeitsbericht von Friedrich Beissner5 und das Referat von Hans
Pyritz6). Das Schwergewicht fiel bei dieser Ausgabe des „Dichters der
Dichter“ (Heidegger) auf die Bearbeitung der Handschriften. Beissner
machte sich den Blick frei, indem er zunächst alle späteren Ausgaben
beiseitelegte und den Text grundsätzlich vollkommen neu aus den Handschriften
und Erstschriften zu gewinnen suchte, ohne die Suggestion von
seiten der späteren Lesungen. Es galt dabei nicht nur den schon in den
ersten Drucken oft verlesenen und entstellten Text richtigzustellen, was

1
Gottfried Keller, Sämtliche Werke, herausgegeben von Jonas Fränkel, Bern-
Bümpliz 1926 ff., von Carl Helbling 1942 ff.
2
Carl Helbling, Arbeit an der Gottfried-Keller-Ausgabe, Bern-Bümpliz 1945.
3
Fritz Strich, Über die Herausgabe gesammelter Werke. Festschrift Edouard
Tièche, Bern 1947, 103 ff.)
4
Hölderlin, Sämtliche Werke. Stuttgart 1943 ff.
5
Die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Ein Arbeitsbericht. Stuttgart 1942.
6
Hans Pyritz, Der Hölderlin-Text. Zu Beißners Edition und zum Neudruck
der Propyläen-Ausgabe. DV 21 (1943), Referatenheft 88 ff.
|#f0045 : 39|

bei den späten Gedichten gelegentlich die Rettung eines ganzen, bereits
dem Konto der „geistigen Umnachtung“ gutgeschriebenen Gedichtes bedeutet,
es galt nicht nur, aus dem handschriftlichen Material neue Fragmente zu
gewinnen und ganze Dichtungen zu rekonstruieren. Es galt vor allem auch,
in die durch Streichungen, Korrekturen, Überarbeitungen unendlich kompliziert
gewordenen Manuskripte einzudringen, die Schichten und Etappen
der Niederschrift voneinander zu lösen, den Werdegang des Gedichts
zu erfassen, dem eigentlichen Schöpfungsprozeß nachzuspüren und
damit oft das Gedicht erst in seinem Sinn zu erhellen. Das Ergebnis ist
nun aber erst noch editionstechnisch darzustellen. Beissner findet einen
überzeugenden neuen Weg, das immer synchronische Manuskript diachronisch
lesbar zu machen: durch eine Numerierung und entsprechende typographische
Anordnung werden die Etappen und Varianten wort-, wortgruppen-, vers-
oder versgruppenweise in ihren Entstehungsrelationen übersichtlich. So
wird diese Hölderlinausgabe zu einem Werk, das nicht nur einen überraschend
neuen Text bietet, sondern methodisch epochemachend ist. Es ist
darüber hinaus die schönste Dokumentation der Unzertrennlichkeit von
ästhetischer Interpretation, historischer Forschung und philologischer Technik
in der einen Literaturwissenschaft.

|#f0046 : E40|

III. POETIK

1. die dichtkunst

a) Ästhetik und Poetik

Literaturwissenschaft steht und fällt mit der Überzeugung, daß Dichtung
─ als ein Schaffen, ein Werk und ein Verstehen ─ etwas Wirkliches darstellt,
das nicht durch ein Anderes ersetzt oder auf ein Anderes reduziert
werden kann. Die Lehre vom dichterischen Phänomen in diesem dreifachen
Aspekt heißt Poetik und stellt nach heute vorherrschender Überzeugung
den systematisch grundlegenden Teil der Literaturwissenschaft dar. Es
wird dabei noch nicht berücksichtigt, wieweit dieses Phänomen an außerkünstlerische
Wirklichkeiten (d. h. die geschichtliche Menschenwelt in ihrem
individuellen und kollektiven Leben aller Stufen) gebunden ist, es sei denn,
daß diese Bindungen selbst sich als unmittelbar konstituierend für die
Dichtung und speziell das Dichtwerk selbst erweisen.


  Die Lehre von der ars poetica hat schon längst den normativen Charakter
einer sog. Regelpoetik abgestreift und ist zur beschreibenden und begründenden
Wissenschaft geworden, auch wenn damit eine sekundäre Verwendung
zum praktischen Zweck in bewußter und unbewußter Weise
nicht ausgeschlossen ist (sonst würde sie nicht gerade von den Dichtern
selbst sehr oft gepflegt). Nachdem durch den Neuidealismus, vor allem bei
Dilthey und seiner geistesgeschichtlichen Schule, aber auch bei Croce und
seinen Nachfolgern das Wesen der Dichtung vom Begriff des Lebens oder
des schöpferischen Geistes aus als ein Ausdrucksphänomen ergründet
wurde und Poetik damit vorwiegend als Schaffens- bzw. Verstehenspoetik
erschien, gaben Phänomenologie und Existenzphilosophie die Möglichkeit,
das literarische Werk an sich nicht nur als Funktion, sondern selbst als
Wirklichkeit sui generis zu begreifen und in seinem Aufbau und Geschehen
zu beschreiben.


  Bevor wir den von der Literaturwissenschaft in zahllosen Einzelforschungen
grundsätzlicher oder praktischer Art erarbeiteten Fragen der
Poetik nachgehen, ist die Stellung und der Gegenstand der Wissenschaft
selbst nach außen abzugrenzen. Dichtung ist ein ästhetisches Phänomen, und
damit erscheint die Poetik im Rahmen einer umfassenden Ästhetik; Dichtung
ist eine Kunst unter andern Künsten, womit sich das Problem einer
vergleichenden Kunstwissenschaft stellt; und Dichtung ist schließlich Kunst |#f0047 : 41|

der Sprache, womit die Poetik in ihren Beziehungen zur Sprachwissenschaft
zu beleuchten ist.


  Ästhetik1 wird herkömmlicherweise als Lehre vom „Schönen“ gefaßt,
wobei dieser Begriff des Schönen freilich im weitesten Sinn, ohne
allen normativen Charakter und ohne inhaltliche Bestimmung, zu nehmen
ist. Als ästhetischer Gegenstand kann dabei nicht nur ein Kunstwerk,
auch eine Landschaft, eine Menschengestalt, ja irgendein Ding oder ein
Geschehen erscheinen. Poetik als Lehre vom dichterisch Schönen und vom
dichterischen Kunstwerk ordnet sich dann einer umfassenden Ästhetik
unter. „Ästhetik der Dichtkunst“ wäre dann Poetik von ihrer umfassenden,
philosophischen Begründung her, „Poetik“ dagegen ein Teil der Literaturwissenschaft,
d. h. das System der aus den dichterischen Phänomenen selbst
erarbeiteten Prinzipien. Die Abhängigkeit der Poetik von einer philosophischen
Ästhetik ist denn auch heute kaum sehr eng, da die poetischen
Grundbegriffe, wenn überhaupt, meistens direkt auf allgemeinere philosophische
Anliegen bezogen werden unter Umgehung einer philosophischen
Ästhetik, bzw. sich eklektisch einzelner passender Lehrstücke der Philosophie
bedienen, ─ was man von philosophischer Seite her denn auch als
unsystematische „Schießbudentechnik“ schon gehörig gerügt hat (Perpeet).


  In den neueren Werken zur philosophischen Ästhetik lassen sich verschiedene
führende Richtungen der modernen Philosophie wiederfinden.
So der Neoidealismus Croces2 bei Gaetano Chiavacci3, dessen Werk
der poetischen Vernunft und ihrem schöpferischen Akt noch vor allem
sprachlichen Ausdruck gilt. Das Werk des Amerikaners M. C. Nahm4 ist
eine historisch fundierte Theorie und Kritik der ästhetischen Erfahrung
im Rahmen eines Systems des „Empirical Idealism“. Bergson gewidmet
ist Duvals5 Werk, das dem Geheimnis einer oft in Frage gestellten, aber
unverändert aktuellen und notwendigen schöpferischen Kraft der Dichtung
nachgeht. In Albert Görlands sehr schwieriger Ästhetik6 ist dieser Begriff

1
Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Stuttgart 1906
bis 1943. ─ The Journal of Aesthetics and Art Criticism. Baltimore 1941 ff.
2
Benedetto Croce, La poesia. Introduzione alla critica e storia della poesia
e della letteratura. Bari 1936. 4. Aufl. 1946.
3
Gaetano Chiavacci, La ragione poetica. Firenze 1947.
4
Milton C. Nahm, Aesthetic Experience and its Presuppositions. New York
1946 (mit Bibliographie).
5
Maurice Duval, La poésie et le principe de transcendance. Paris 1935.
6
Albert Görland, Ästhetik. Kritische Philosophie des Stils. Hamburg-Harburg
1937.
|#f0048 : 42|

erweitert zu einer Lehre vom „Stil“ überhaupt, der in Kunstphilosophie,
Religionsphilosophie, Ethik, Metaphysik, Bildungsphilosophie, d. h.
überall wo die unverwechselbare Haltung des einzelnen Menschen und
nicht die strenge Systematik der Wissenschaft bestimmend ist, zur Geltung
gebracht werden soll. Schließlich tritt die Ästhetik unter die religiöse
Fragestellung der philosophia perennis, wenn bei Theodor Haecker1
„Schönheit“ als eine „ewige und unveränderliche Eigenheit des Seins“ bestimmt
und bezogen wird auf die Frage nach dem Wesen einer christlichen
Kunst, die jene Schönheit natürlich und übernatürlich zu offenbaren vermag.



  Die Wendung zur scharfsinnig unterscheidenden phänomenologischen
Untersuchung des vielschichtigen dichterischen Kunstwerkes und der ästhetischen
Wahrnehmung ist wohl immer noch am eindrücklichsten durch das
Buch Roman Ingardens2 vertreten. Wichtig ist seine Unterscheidung
zwischen dem literarischen Kunstwerke selbst und dem „literarisch-ästhetischen
Gegenstande“ (d. h. „derjenigen Konkretisation des literarischen
Werkes, die im ästhetischen Erlebnis zur Konstitution gelangt“). Das Werk
weist nicht nur über sich hinaus in die schöpferischen Akte des Künstlers,
es ist, als „schematisches Gebilde“, notwendig unerfüllt und erfüllungsbedürftig
in der Konkretisation durch den Leser. Die ästhetische Wirklichkeit,
der „ästhetische Gegenstand“, wird als ein Sein besonderer Art ähnlich
bei Donald Brinkmann3 bestimmt.


  Die Heteronomie der Dichtung ─ in bezug auf den Dichter und in bezug
auf die Welt ─ wird in der schwer befrachteten philosophischen
Ästhetik der Dichtkunst von Ernst Georg Wolff4 als auszeichnend für
den poetischen Werkcharakter gegenüber den Werken der bildenden oder
musikalischen Kunst aufgewiesen. Dichtung ist Dichtung, weil und sofern
sie mehr als Dichtung ist. Aber dieser Nachweis erfolgt im Rahmen einer
strengen Werk-, nicht einer Schöpfungs- oder Wirkungsästhetik. Das Dichtwerk
ist „absolut wirkliches Phänomen“. In seinem Charakter als Schöpfungsakt,

1
Theodor Haecker, Schönheit. Ein Versuch. Leipzig 1936. Vgl. auch Eckart
Peterich, Das Maß der Musen. Überlegungen zu einer Poetik. Freiburg i. Br. 1944.
2
Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem
Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft. Halle 1931. ─ Ders.,
Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Lwow 1937. (Polnisch. Vgl. Helicon
I
[1939] 300). ─ Günther Müller, Über die Seinsweise von Dichtung. DV 17
(1939) 137 ff.
3
Donald Brinkmann, Natur und Kunst. Zürich-Leipzig 1938.
4
Ernst Georg Wolff, Die Ästhetik der Dichtkunst. Zürich 1944. (Ausführliche
Besprechung von Bruno Markwardt DLZ 69 [1948] 257 ff.)
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als „lebensnotwendig“, ist es bezogen auf die personale Welt
des dichterischen Subjekts, aber dieses erscheint eben nur in der „Transsubstantiation“
des Werks; der Diltheysche Erlebnisbegriff scheidet damit
auch hier aus. In seinem Charakter als Schöpfung aber, als „seinsnotwendig“,
ist es bezogen auf eine außerkünstlerische Welt, aber nur in der
„Transfiguration“ wiederum des Werks. Diese Werkpoetik basiert auf
„erkenntniskritischer Grundlage“ ─ in Anknüpfung an Kant, Phänomenologie
und Existenzphilosophie ─ d. h. auf der Besinnung darauf, was
es heißt, von der Philosophie her und vor aller konkreten Literaturwissenschaft
eine Poetik aufzubauen. Es ist wohl die Bedeutung dieses eigenwilligen
und schwer übersehbaren Werks, daß es den unersetzlichen Offenbarungscharakter
der Dichtkunst im Werk untersucht, ohne bei bloßer
Phänomenbeschreibung zu verharren oder zu einer L'art pour l'art-Poetik
zu kommen.


b) Die Dichtung im Kreis der Künste

Die spezielle Bestimmung des dichterisch Schönen gegenüber dem Schönen
der Kunst überhaupt und der andern Künste führt hinein in die Probleme
einer vergleichenden Kunstwissenschaft bzw. einer „allgemeinen
Kunstwissenschaft“, wie sie seit Max Dessoir und E. Utitz von der Ästhetik
unterschieden wird. Schon die auf die Künste bezüglichen Termini der
alltäglichen wie der wissenschaftlichen Sprache praktizieren eine Vermischung
und Vergleichung der verschiedenen Sinnes- und Geistesbereiche
(z. B. Aufbau einer Dichtung, Farbton, Klangfarbe, dichterisches Bild) oder
sind zum vornherein gemeinsam (wie z. B. Rhythmus, Symbol, Stil). Ist
eine systematische Übertragung oder Vereinheitlichung der Begriffe und
Methoden möglich ─ nicht nur im Bereich einer Kunstpsychologie1, sondern
der Kunstwissenschaften selbst? Oder bleibt es bei unverbindlichen,
ja verwirrenden Metaphern? Vor allem die Wissenschaft von der bildenden
Kunst hat mit der Typologie der Stile, die Wölfflin in seinen kunstgeschichtlichen
Grundbegriffen entwickelte, auf die Literaturwissenschaft
eingewirkt. Aber diese „wechselseitige Erhellung der Künste“, wie sie Os-
kar Walzel und Fritz Strich propagierten, ist nicht recht gediehen oder
bleibt auf der Ebene bloßer summarischer Beziehungen stecken (wie etwa
bei J. Gebsers2 Betrachtung nicht nur der Künste, sondern aller Ausdrucksformen
unter dem Begriff der Perspektive). Es ist hier eine gewisse
Reaktion eingetreten; man vergleiche etwa die vorsichtige Darstellung des
Problems bei Wellek und Warren. Es kann sich keinesfalls um ein durchgehendes

1
O. Sterzinger, Grundlinien der Kunstpsychologie, Graz-Wien, L. 1938, 2 Bde.
2
Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Stuttgart 1950 ff.
|#f0050 : 44|

analogisches Verhältnis der Künste handeln. Auch wenn man nur
die gleichzeitigen Künste eines und desselben Kulturträgers berücksichtigt,
wird es sich um ein kompliziertes System der komplementären Ergänzung,
der Beeinflussungen, der verschiedenen Eigengesetzlichkeiten, bis zu einem
gewissen Grad auch um zeitliche Phasenverschiebungen, ja vielleicht selbst
um Pseudomorphosen, d. h. künstlerische Ausdrucksversuche mit untauglichen
Mitteln oder widerspenstigen Mitteln, handeln (z. B. Programm-
Musik, barocke Bildgedichte). Das Problem hat natürlich damit auch nicht
nur seine stilistische, sondern auch seine werthafte und historische Seite,
von der psychologischen und semasiologischen (s. u.) ganz abgesehen.
Über das Problem einer vergleichenden Geschichte der Künste orientiert
noch immer ausgezeichnet Fritz Medicus1, seither auch Kurt Wais2.
Aufschlußreiche praktische Versuche geben u. a. Richard Benz3, Emil
Staiger4, Georg Weise5.


  Einen zusammenfassenden prinzipiellen Versuch, das tertium comparationis
der verschiedenen Künste zu bestimmen, gibt Max Nussberger6.
Er unterscheidet vier allgemeingültige Prinzipien der Formung, welche das
Vorgehen der schaffenden, gestaltenden Phantasie überall bestimmen. Ein
vorliegender Stoff wird in allen Künsten in den Formen der Steigerung,
der Häufung, der Schlichtung (sinnvolles Auswählen) und der Ordnung
verarbeitet. Nussberger erwägt anschließend auch die Tragweite dieser
Gesichtspunkte für die Erkenntnis der künstlerischen Persönlichkeiten
und für die Organisation einer Geschichte der Künste. Es scheint nur, daß

1
Fritz Medicus, Das Problem einer vergleichenden Geschichte der Künste (in:
Philosophie der Literaturwissenschaft, herausgegeben von E. Ermatinger, Berlin
1930). ─ Neuerdings Kurt Berger, Die Dichtung im Zusammenhang der Künste.
DV 21 (1943) 229 ff.
2
Kurt Wais, Symbiose der Künste. Forschungsgrundlagen zur Wechselberührung
zwischen Dichtung, Bild und Tonkunst,
Stuttgart 1936.
3
Richard Benz, Die deutsche Romantik. Die Geschichte einer geistigen Bewegung,
Leipzig 1938. ─ Ders., Deutsches Barock, Leipzig 1949. ─ Vgl. dazu Wilhelm
Werkmeister, Der Stilwandel in der deutschen Dichtung und Musik des 18.
Jahrhunderts (Neue deutsche Forschungen, Abt. Musikwissenschaft Bd. 4). Berlin
1936.
4
Emil Staiger, Musik und Dichtung, Zürich 1947.
5
Georg Weise, Die geistige Welt der Gotik und ihre Bedeutung für Italien.
Halle 1939.
6
Max Nussberger, Die künstlerische Phantasie in der Formgebung der Dichtkunst,
Malerei und Musik.
München 1935.
|#f0051 : 45|

mit solchen weiten und groben Maschen (auch wenn sie systematisch vollständig
und schlüssig wären) nur Stoffliches und Technisches, nicht aber
das eigentliche Wesen des künstlerischen Vorgangs und der verschiedenen
Künste selbst erfaßt wird. M. a. W.: die Analogie ist nur möglich durch
eine Aufspaltung des Werks in Einzelelemente (Inhalt, Form, usw.), die
gerade dadurch in ihrer Bedeutung, ihrem Stellenwert im ganzen, vernachlässigt
werden. Ähnlich wie Nussberger versucht auch T. M. Greene1,
eine Reihe gleichbleibender Gesichtspunkte (complexity, integration,
rhythm) für alle Künste zur Geltung zu bringen.


c) Literatur und Sprache

Dichtung ist ─ und das unterscheidet sie von den andern Künsten ─
„worthafte Stiftung“, Sprachkunst, Wortkunst. Diese ist aber nicht mit
Sprache und Sprechen identisch. Sie unterscheidet sich vom Sprachgebrauch
des Alltags, der Wissenschaft usw. durch ihren literarischen oder speziellen
poetischen Charakter. Damit sind zwei Problemkreise gegeben, welche
die moderne Poetik und Stilkritik in besonderem Maße beschäftigen:
1. die Abgrenzung von Sprache und Sprachkunst gegen andere, künstlerische
oder nichtkünstlerische Ausdruckswelten und Zeichensysteme, und
2. die Abgrenzung der Poesie gegen andere Formen des Sprachlichen,
nicht nur gegen die Sprache als solche, sondern auch gegen das, was im
weitesten Sinne als „Literatur“ erscheint und innerhalb des Sprachlichen
in den Bereich des Nicht-Poetischen reicht. Zuerst sollen uns Grenzen und
Beziehungen zwischen der Sprache und der „Literatur“ im weitesten
Sinne beschäftigen.


  Mehr und fruchtbarer als von den Wissenschaften der Nachbarkünste
ist die Literaturwissenschaft von der neueren Sprachwissenschaft2 angeregt
und gefördert worden. Je mehr sich die Sprachwissenschaft wieder
auf ihren geisteswissenschaftlichen Charakter besann und die ausschließlich
historisch-positivistische Methode der Junggrammatiker verließ, um so
enger ist sie wieder in die ursprüngliche Nachbarschaft der Literaturwissenschaft
gerückt; und umgekehrt betont die Literaturwissenschaft den

1
Theodor M. Greene, The Arts and the Art of Criticism. Princeton 1940.
2
Bibliographie linguistique des années 1939─1947; publiée par le Comité international
permanent des linguistes.
2 vols. Utrecht-Bruxelles 1949, 1950. Vgl.
inzwischen auch: Leo Weisgerber, Sprachwissenschaftliche Methodenlehre. In:
Deutsche Philologie im Aufriß, herausgegeben von Wolfgang Stammler, Berlin-
Bielefeld-München 1951, Sp. 1 ff.
|#f0052 : 46|

konkreten Charakter ihres Gegenstandes, indem sie es liebt, statt von
Werken der Dichtung von Werken der Sprache (Staiger) oder vom
„sprachlichen Kunstwerk“ (Kayser) zu reden. Daß der Geist der Sprache
einer Nation auch der Geist ihrer Dichtung sei, ist ja die grundlegende
Konzeption Herders und der jungen Geisteswissenschaften überhaupt gewesen.
Wie darüber hinaus die Sprache allen Kulturbereichen und die
Sprachwissenschaft allen Wissenschaften aufs engste verbunden ist, hat
Leo Weisgerber1 in dem umfassenden Rundgang seiner eindrücklichen
Abhandlungen neuerdings dargetan; auch ihre Funktion für das physische
und psychische Selbstverständnis des Menschen ist bedeutend2.


  Das Hauptverdienst für die neue Annäherung von Sprach- und Literaturwissenschaften3
gebührt der sog. Genfer Schule der Linguistik (Fer-
dinand de Saussure und Charles Bally4), die vor allem im romanistischen
Bereich gewirkt hat (neuere Werke von Marouzeau5, Spit-
zer6, Winkler7). Die synchronistische Betrachtung eines Sprachzustandes
enthüllt die Sprache als lebendiges System von Ausdruckszeichen, das im
Zusammenhang wieder des sozialen Lebens steht. Dabei ist Sprache, langue,
von der Rede, parole, des einzelnen in ihrer aktuellen Verwendung zu
unterscheiden. So wird auch der Blick frei für die ganz verschiedenartige
Funktion der sprachlichen Mittel ─ ihre mehr rationale oder mehr emotionale
Verwendung ─, und die Aufgabe einer Unterscheidung der verschiedenen
möglichen Symbolfunktionen des Sprachzeichens auf den verschiedenen
Ebenen des Lautes, des Wortes, des Satzes neu gestellt. Sprache
wird selbst ein Stilphänomen und tritt als solches, besonders wo es um die
Untersuchung der gefühls- und willensmäßigen Aspekte geht, unter ähnliche
Gesichtspunkte wie die dichterische Sprache. Ja man kann u. U. von
der Einheit von Sprach- und Literaturwissenschaft sprechen, sofern ein

1
Leo Weisgerber, Die Stellung der Sprache im Aufbau der Gesamtkultur
(Wörter und Sachen 15, 16). Heidelberg 1934.
2
Ludwig Klages, Die Sprache als Quell der Seelenkunde. Zürich 1948. ─
Ernst Jünger, Sprache und Körperbau. Zürich (1947).
3
W. v. Wartburg, Einführung in die Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft.
Halle 1943.
4
Charles Bally, Linguistique générale et linguistique française. 2. Auflage.
Bern 1944.
5
J. Marouzeau, Traité de stylistique latine. Paris 1946.
6
Leo Spitzer, Linguistics and Literary History. Essays in Stylistics. Princeton
1948. ─ Ders., A Method of Interpreting Literature. Northampton, Mass. 1949.
7
Emil Winkler, Sprachtheoretische Studien (Berliner Beiträge zur roman.
Philologie III, 2). Jena und Leipzig 1933.
|#f0053 : 47|

kontinuierlicher Übergang von umfassenden zu immer spezielleren Sprachsystemen
und schließlich zum Einzeltext besteht. Besonders wenn im Sinne
Croces echte Poesie eingeschränkt wird auf die bloß momentan eintretende
Transfiguration (so auch in den Essays Giulio Bertonis1), bleibt der
Stilkritik im wesentlichen die Sprache als Untersuchungsfeld, mit ihren
mannigfachen halb oder ganz außerpoetischen Verwendungen; ein Werkganzes
aber wird kaum damit erfaßt sein. Auch L. Spitzer hat die Sprachstilistik
zu einer Stilistik der literarischen Sprache entwickelt und dringt
von exakten Grundlagen des linguistischen Befunds (vor allem im Bereich
des Wortes) zum „inward life center“ vor; aber auch hier ist es weniger
das Einzelwerk als eine größere sprachliche Welt, die erschlossen wird, und
nicht unbedingt eine dichterische im strengen Sinne ─ etwa bei der Untersuchung
der amerikanischen Reklamesprache „explained as popular art“.


  In die Nähe einer solchen, von der Linguistik herkommenden Stilkritik
ist auch die angelsächsische Sprach- und Literaturkritik zu stellen, die sich
an den Namen von I. A. Richards knüpft und ebenfalls vom Problem
des sprachlichen Zeichens und seiner Leistungen ausgeht2. Zeichencharakter,
Symbolcharakter im allgemeinsten Sinne haben nicht nur auch die andern
Künste, sondern jede Art von Ausdruck, Mitteilung, Verständnis und
Selbstverständnis des Menschen. Zeichenwissenschaft, Semantik wird wesentlich
für Logik und Erkenntnistheorie, Psychologie, Anthropologie und
überhaupt alle Kulturwissenschaften. „Semantics“ wird eine für England
und Amerika kennzeichnende wissenschaftliche Bewegung, welche auf die
Verbindung und Einheit der Wissenschaften ausgeht. Das Standardwerk
dieser Bewegung lieferten Ogden und Richards unter dem programmatischen
Titel Meaning of Meaning (1923). Es ist eine Wissenschaft vom
Zeichen und speziell vom Wortzeichen in seinen verschiedenen Verwendungstypen
(z. B. referential oder symbolic gegenüber emotive oder
evocative), auf Grund vor allem soziologischer und psychologischer Gedankengänge
und Experimente, mit den Mitteln genauer Wortdefinitionen
und mit dem Zweck, die zwischenmenschliche Verständigung zu verbessern.
(Eine praktische Anwendung ist Ogdens Basic-English geworden.)
Die Anwendung der Methode auf die Erkenntnis der Literatur hat schließlich
auch zu dem Werk von Richards' Principles of Literary Criticism

1
Giulio Bertoni, Lingua e poesia. Saggi di critica letteraria. Firenze 1937.
2
W. M. Urban, Language and Reality. The Philosophy of Language and the
Principles of Symbolism. London 1939. ─ Charles Morris, Signs, Languages, and
Behaviour. New York 1946. ─ William Empson, Seven types of ambiguity. 2nd
edition. London 1947. ─ Irving J. Lee, General Semantics and Public Speaking.
„The Quarterly Journal of Speech“ XXVI (1940) 594 ff.
|#f0054 : 48|

geführt, das die moderne angelsächsische Literaturtheorie eigentlich begründete,
im wesentlichen aber ohne Einfluß auf die deutsche Forschung
blieb. (Vgl. darüber Hyman.)


  Sprache wie Literatur sind lautliche Zeichensysteme, an beiden ist
„ergon“ und „energeia“, ein soziales und ein individuelles Element, eine
äußere und eine „innere“ Form zu unterscheiden. Beide können stilkritisch,
physiognomisch betrachtet werden ─ bei beiden aber macht wohl die synchronistische
Betrachtung nach wie vor die diachronistische, d. h. historische
nicht überflüssig. Literaturgeschichte und Sprachgeschichte haben vielleicht
sogar parallelen Verlauf. Das Verhältnis besteht nicht in bloßer
Analogie, sondern ist ein enges Ineinander der Entsprechungen und Wirkungen.
Seit Herder weiß man, daß im Grunde jedes Wort ein Gedicht
darstellt. Umgekehrt spielt aber die Dichtung auch auf der festen Klaviatur
der grammatischen Systeme. Man kann die grammatischen Kategorien
sogar bis in die dichterischen Werkstrukturen hinein verfolgen. So hat man
etwa die Grundbegriffe lyrischer, epischer und dramatischer Dichtung mit
den grammatischen Dreiheiten Subjekt, Objekt, Prädikat oder der ersten,
dritten und zweiten Person oder Laut, Wort und Satz in Beziehung gesetzt
(Staiger, Petersen S. 119). Die Sprache ist zugleich Material, Werkzeug
und Werk der Dichtung. Damit ist sie immerhin mehr als eine bloße
„Schicht“ im Dichtwerk. Dennoch ist der Werkcharakter eines künstlerischen
Wortgebildes ein rangmäßig anderer als der Werkcharakter einer
Sprache; Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft sind aufeinander angewiesen,
aber nicht identisch.


  Der Übergang wird vor allem dort deutlich, wo nicht die Stilganzheit
des Werks, sondern seine einzelnen „Aspekte“ (s. unten S. 93 ff.) des Lautlichen,
Vorstellungshaften, Gedanklichen in Frage stehen. Hier sei vorläufig
nur an ein paar Möglichkeiten des sprachwissenschaftlichen Zugangs
zur Dichtung von den drei entsprechenden Kategorien des Lautes, des
Wortes und des Satzes her erinnert.


  Lautmalerei und Lautsymbolik werden heute von beiden Seiten in ihrer
sprachlichen wie literarischen Funktion wieder ernst genommen; darüber
referiert ausgezeichnet Erich Brock1. Vom Lautlichen ins Rhythmische
führt die Analyse der Schallformen, die Eduard Sievers zu erstaunlichen
Ergebnissen geführt hat, die aber an ein persönlich-geniales Stilgefühl gebunden
waren.

1
Erich Brock, Der heutige Stand der Lautbedeutungslehre. Trivium II (1944)
199 ff. ─ Wilhelm Schneider, Über die Lautbedeutsamkeit. ZfdPh. (1938) 63,
138 ff. ─ E. Fenz, Laut, Wort, Sprache und ihre Deutung. Grundlegung einer
Lautdeutungslehre. Wien 1940.
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  Im Gebiet des Wortschatzes hat die Wortfeldtheorie1 Jost Triers
die Erkenntnis des Gefügecharakters und das heißt des Stilcharakters der
Sprache auch für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht, auch wenn
ihre Geltung ─ sie ist eine übertreibende Konsequenz ebenfalls Saussurescher
Gedanken ─ nicht unbegrenzt anerkannt worden ist. Wieviel ungehobenes
Material auch für die Literaturgeschichte in einer Geschichte der
Wörter und ihrer Bedeutungen liegt, das hat die deutsche Wortgeschichte2
von Maurer und Stroh eindrücklich gezeigt; diese ist trotz ihres uneinheitlichen
Charakters ein wichtiges Hilfsmittel der literarischen Forschung,
ja selbst ein Teil Literaturgeschichte. Die Untersuchung von Wortschatz
und Wortfeld wird natürlich besonders im Rahmen eines persönlichen
dichterischen Oeuvres wichtig3. Hier sind z. T. auch für andere Zwecke
Wörterbücher, Konkordanzen usw. einzelner Dichter oder Werke entscheidende
Hilfsmittel; was für die Bibel oder für Thomas a Kempis schon
lange unternommen ist, wird in breitem Umfang für Goethe von der Berliner
Deutschen Akademie der Wissenschaften geplant4. Eine spezielle
Anwendung sind die für die ältere Literatur gebräuchlichen Reimwörterbücher.
Über die bloße Katalogisierung schreitet die sprachstatistische Auswertung
hinaus, indem sie die Häufigkeitsverhältnisse und die Proportionen
bestimmter Spracherscheinungen ─ vor allem des Wortschatzes,
aber auch syntaktischer Merkmale ─ zahlenmäßig feststellt, um so die
individuelle Sprachgestalt eines Autors zu bestimmen, eventuell bei diesem
wieder in Unterschieden von Werk zu Werk. In diesem Sinn spricht
die methodisch interessante, sehr gedrängte Untersuchung von Gaitanides
von Sprachphysiognomik5. Sie stellt zunächst, am Beispiel Weckherlins,
die Gliederungsverhältnisse des Satzes, den Grad der „Dichtigkeit des
hypotaktischen Gefüges“ (Zahl der Satzeinheiten auf eine bestimmte Verszahl,

1
F. Scheidweiler, Die Wortfeldtheorie. „Zeitschrift für deutsches Altertum“
LXXIX (1942) 249 ff.
2
Deutsche Wortgeschichte, herausgeg. von Friedrich Maurer u. Fritz Stroh.
3 Bde., Berlin 1943.
3
Beispiele: Werner Kohlschmidt, Der Wortschatz der Innerlichkeit bei Novalis
(Festschrift für Paul Kluckhohn u. Hermann Schneider, Tübingen 1948, 396 ff.).
─ F. Maurer, Leid. Bern und München 1951.
4
Wolfgang Schadewaldt, Das Goethe-Wörterbuch, Trivium VII (1949) 60 ff.
Vgl. A. R. Hohlfeld, Martin Joos and W. F. Twaddell, Wortindex zu Goethes
Faust. Madison 1940.
5
Hans Gaitanides, Georg Rudolf Weckherlin. Versuch einer physiognomischen
Stilanalyse. Diss. München 1936.
|#f0056 : 50|

Zahl der Hauptsätze, Zahl der Nebensätze, Arten und Verhältnisse
von Hypotaxe und Parataxe) fest und bringt ebenso den Gebrauch des
Wortes nach Wortstellung, Proportion und Behandlung der einzelnen
Wortgattungen auf zahlenmäßige Form. Diese Analyse wird dann aber
in einem zweiten Teil in den Dienst einer synthetischen und allgemeinen
Umschreibung des persönlichen Stils Weckherlins gestellt und auf sprachgeschichtliche,
psychologisch-metaphysische, soziologische, bildungs- und
konfessionsgeschichtliche Zusammenhänge hin bezogen. Ein viel enger umrissenes
Ziel steckt sich der statistische Fachmann G. Udny Yule1 am
Beispiel der Imitatio Christi. Er beschränkt sich auf die Untersuchung des
Wortschatzes und hier wieder fast nur des Substantivs in diesem Text
und passenden Vergleichstexten, ausgehend von Tabellen über die Häufigkeitsverteilung
(Anzahl der 1, 2, 3 usw. mal gebrauchten Substantive) und
von Tabellen über das Vorkommen jedes einzelnen Substantivs; in einem
späteren Kapitel wird auch die alphabetische Verteilung berücksichtigt. Vor
der mathematischen Auswertung der entsprechenden Tabellen und der Diskussion
der damit aufgeworfenen Probleme statistischer Theorie überhaupt
muß der Laie in dieser Wissenschaft allerdings rasch kapitulieren.
Die Methode mag ─ wenn die verglichenen Texte oder Textgruppen
wirklich vergleichbar sind ─ charakteristische Unterschiede herausarbeiten,
aber diese werden höchstens für eine Bestimmung des Autors etwas
hergeben (in diesem Falle ist es der Nachweis, daß die Imitatio sehr wohl
von Thomas a Kempis, nicht aber von Johannes Gerson verfaßt sein
kann), kaum aber für eine stilistische Deutung des Autors, geschweige denn
des Einzelwerks. Die statistische Befragung müßte wie bei Gaitanides
zum vorneherein von stilistischen Gesichtspunkten gelenkt und korrigiert
sein. Eine Automatik der statistischen Methode kann es nicht geben.


  Im Bereich der syntaktischen Sprach- und Redeformen wird die Verquickung
von Sprach- und Literaturwissenschaft besonders deutlich, denn
der Satz ist in höherem und reicherem Maße Stilträger als das Wort. Den
besten Einblick in die Schwierigkeit, aber auch die Wichtigkeit dieser syntaktisch-stilistischen
Probleme gibt wohl für den deutschen Bereich noch
immer Hermann Gumbels Werk2; das Zeitalter von Spätmittelalter und
Renaissance ist gerade für diese Forschungen das wichtigste Untersuchungsfeld,
da es sich hier um die Zeit der entscheidendsten Umwandlungen und

1
G. Udny Yule, The Statistical Study of Literary Vocabulary. Cambridge
1944.
2
Hermann Gumbel, Deutsche Sonderrenaissance in deutscher Prosa. Strukturanalyse
deutscher Prosa im 16. Jh.
Frankfurt a. M. 1930.
|#f0057 : 51|

Neuschöpfungen der Sprach- wie der Literaturgeschichte handelt. (Den
gewagten Versuch einer Parallelisierung von Sprach- und Geistesgeschichte
an ausgewählten Vorgängen dieser Entwicklungsepoche gibt Hannes Mae-
der1, wobei er sich auf die Wandlung der gemeinsam zugrundeliegenden
Struktur der Zeit-Raum-Anschauungsformen bezieht.)


  Aber es gibt schließlich auch ein ganz allgemeines Sprachproblem des
Dichters, soweit nicht die Einheit von Dichtung und Sprache, sondern die
Spannung zwischen dichterischem Wollen und sprachlicher Leistung,
sprachlichem Mittel, hervorgehoben wird. Die Grenzen der Sprache sind
die Not des Dichters, ─ nicht nur als Schall und Rauch gegen die Himmelsglut
des Gefühls, auch als Grenze gegen das Schweigen im Sinn der
absoluten Poesie und des Existentialismus, als Ringen der dichterischen
Sprache um die Ermöglichung ihrer selbst2. Hier sei speziell auf die Arbeit
von Jaeger hingewiesen.


d) Poesie, Literatur, Nichtpoesie

Ebenso wichtig wie die um das Verhältnis zwischen Sprache und Literatur
(im allgemeinen Sinn) kreisende Forschung ist die Bemühung, das Wesen
der literarischen und besonders der im strengen Sinn dichterischen Welt
von den andern sprachlichen Ausdrucksformen auszusondern. In dem konzentrischen
Kreissystem Sprache─Literatur─Schöne Literatur─Poesie müssen
diese letzten und innersten Bereiche bestimmt werden. Die Ausklammerung
kann dabei von den zwei entgegengesetzten Seiten aus unternommen
werden.


  In Nachfolge und Korrektur Richards‘ und seiner semasiologischen
Methode untersucht z. B. Pollock3 die Natur des sozialen Phänomens

1
Hannes Maeder, Versuch über den Zusammenhang von Sprachgeschichte und
Geistesgeschichte. Zürich 1945.
2
Max Kommerell, Die Sprache und das Unaussprechliche (In: Geist und Buchstabe
der Dichtung.
Frankfurt a. M. 1940). ─ H. P. Jaeger, Hölderlin-Novalis.
Grenzen der Sprache. Zürich 1949. ─ Fritz Strich, Der Dichter und die Sprache
(In: Der Dichter und die Zeit. Bern 1947). ─ Marcel Raymond, Le poète et la
langue. Trivium II (1944) 1 ff. ─ Helmut Presser, Das Wort im Urteil der
Dichter. Beiträge zu einer Sinndeutung des dichterischen Wortes (Bonner Beiträge
zur deutschen Philologie 10). Würzburg 1940. ─ Otto H. Olzien, Nietzsche und
das Problem der dichterischen Sprache (Neue deutsche Forschungen 32/301). Berlin
1941.
3
Thomas Clark Pollock, The Nature of Literature. Its Relation to Science,
Language and Human Experience. Princeton 1942.
|#f0058 : 52|

Literatur“. Neben der Alltagssprache (der bloßen „phatic communion“)
stehen sich als zwei speziellere Entwicklungsformen der sprachlichen
Leistung gegenüber einerseits die wissenschaftliche Sprache mit
ihrem „referential symbolism“ und anderseits die literarische Sprache mit
ihrem „evocative symbolism“. Diese wird als evozierende Mitteilung einer
aktuellen, individuellen Erfahrung bestimmt. Wo dabei das Erfahrungselement
fehlt, spricht Pollock von Pseudoliteratur. Praktisch ist die Scheidung
sehr viel schwieriger. Literaturwissenschaft wird sich, mindestens für
gewisse Epochen der Literaturgeschichte, nicht nur auf schöne Literatur
beschränken, sondern auch sachlich und stilistisch immer wieder auf die
Texte der alltäglichen und der wissenschaftlichen Sphäre zurückgreifen.
Herbert Cysarz sagt einmal, er habe in keiner modernen Dichtung soviel
„ästhetische Potenz erlöst gefunden“ wie in einem gewissen Lehrbuch
der Augenheilkunde. Immerhin ist ein schlechtes Gedicht prinzipiell andern
Ranges als ein Lehrbuch mit noch soviel Mitgift an ästhetischer Potenz;
auch jenes ist noch primär ausgezeichnet durch den mindestens intendierten
Charakter der ästhetischen Ganzheit und des Abgelöstseins zu
eigenständiger poetischer Wirklichkeit. Beim Problem der „Pseudoliteratur“
ist jedenfalls der kategoriale Rang von der normativen Beurteilung
zu unterscheiden. Ob ein Text ein Gedicht ist, ist noch keine Wertfrage.


  Gewöhnlich wird das Problem von der andern Seite her gefaßt, im
Versuch, den innersten Kreis der Poesie abzugrenzen nicht nur gegen die
„schöne Literatur“, sondern auch gegen alle Nicht-Poesie. Am radikalsten
geschieht es bei Benedetto Croce1, wo dann allerdings Poesie nur noch
als momentane Erfüllung erscheint und dieser „stato di grazia“ selbst im
größten Kunstwerk sich nur stellenweise verwirklicht, wogegen alles andere
als „Literatur“ ins Feld des Zivilisatorischen und Sozialen (Rhetorik,
Unterhaltung, Gefühlsausdruck, Lehre) abgedrängt wird. Da Croce die
Kunst als eine Einheit auffaßt und alle Unterscheidung von Gattungen
und Kunstarten als sekundär und bloß empirisch ablehnt, fällt die kategoriale
mit der normativen Unterscheidung zusammen. Das ist zweifellos
unzulässig; denn „Dichtung“ ist zunächst kein Wertbegriff; auch minderwertige
Dichtung ist Dichtung, auch die Obskuren gehören zur Literaturgeschichte.
Eine radikale Unterscheidung großer, zeitentrückter „Poesie“
und geschichtlich bedingter, in sozialer Funktion aufgehender „Literatur“,
zwischen „Symbol“ und bloßem „Ausdruck“, hat im übrigen schon Wer-
ner Mahrholz vorgenommen ─ und damit zweifellos den Tatbestand
vergewaltigt und die Literaturwissenschaft in zwei völlig verschiedene
Wissenschaften, eine Systematik der Dichtung und eine (allein kausale)

1
Benedetto Croce, La poesia. Bari 1936 (vgl. oben S. 41).
|#f0059 : 53|

Literarhistorie unzulässig aufgespalten. Im Hintergrund steht das alte,
klassische Gegenüber von Mythos und Logos, Dichtung und Rhetorik.
So hat Oskar Walzel1 das Problem in historischer Form an der Tradition
der klassischen deutschen Ästhetik verfolgt und dabei speziell auf die
Bedeutung von Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie hingewiesen.


  Wenn Donald Stauffer2 das Wesen der „poetry“ zu bestimmen sucht
durch eine Reihe von ziemlich heterogenen Merkmalen (nämlich exact,
intense, significant, concrete, complex, rhythmical, formal), so führt das
systematisch kaum weiter. Es liegt nahe, in der Lyrik das Phänomen der
Poesie in seiner ursprünglichsten, unmittelbarsten und abgelöstesten Form
zu erkennen. Hier ist auch ein formales Prinzip, das konventionellerweise
mit dem Begriff der Poesie verknüpft ist, am lebenskräftigsten: der Vers,
die „gebundeneForm. In diesem Sinne den Vers als Hinweis auf den
Wesenscharakter der Poesie kategorial wieder ernst zu nehmen, ist das
Anliegen von L. Berigers3 sachlich und terminologisch klärender Abhandlung.
„So ist alle Prosadichtung, der Sprachform nach, ein Abweg
vom Wesen der Dichtung, ein Abfall“; die Versform mit ihrer Spannung
zwischen dem musikalischen und logischen Element ist „nur der sinnfälligste
und reinste Ausdruck des Wesens der Dichtung selbst, welches
die Verbindung und Durchdringung von Geist und Kunst, Wahrheit und
Schönheit ist“. Was natürlich nicht heißen soll, daß nicht auch Prosa Dichtung
sein kann; vielmehr kann sie unserer Zeit sogar viel mehr entsprechen:
es handelt sich hier eben nicht um eine Frage der Wertung.


2. das dichterische kunstwerk

a) Allgemeines

Es wurde bereits ausgeführt, daß und warum in der heutigen Literaturwissenschaft,
aufs Ganze gesehen, der Wille zu einer Werkpoetik, zur
Stilkritik und zur Werkinterpretation zum beherrschenden
Merkmal geworden ist, eine Wendung, die nach ihren positiven Vorzeichen
als Neubesinnung aufs Wesentliche, auf die „Sache selbst“, und als
Ausdruck eines Wertwillens gesehen werden kann. Aber auch ihre negativen
Bedingungen ─ der Verlust eines fraglosen, überzeugten Geschichts-
und Wertbewußtseins ─ sind wohl nicht zu übersehen: „nach dem Wesen

1
Oskar Walzel, Poesie und Nichtpoesie. Frankfurt a. M. 1937.
2
Donald Stauffer, The Nature of Poetry. New York 1946.
3
Leonhard Beriger, Poesie und Prosa. DV 21 (1943) 132 ff.
|#f0060 : 54|

eines Dings wird wohl erst gefragt, wenn nicht mehr klar ist, wozu es
dient“ (Max Kommerell). Nicht so sehr dichterisches Leben und Schaffen
als das Gedicht, das Dichtwerk selbst wird zum Gegenstand der Bemühung.
„Daß wir begreifen, was uns ergreift, das ist das eigentliche Ziel aller
Literaturwissenschaft“ (E. Staiger). Die „Kunst des Lesens“, der Werkauslegung,
der stilkritischen Untersuchung vor allem des Einzelwerks wird
Parole. So verschiedene Geister wie der von Stefan George herkommende
Max Kommerell, wie die sei es von Heidegger, sei es von Kassner inspirierten
Herausgeber der stilkritischen Zeitschrift Trivium, wie der katholische
Theologe Romano Guardini1, wie Johannes Pfeiffer, Erich
Auerbach, Wolfgang Kayser, Kurt May2, im Bereich der klassischen
Philologie Wolfgang Schadewaldt3 und viele andere finden sich im
Ruf nach wissenschaftlicher Beschreibung und Auslegung des ganzheitlichen
Kunstwerks, nach dem geduldig hinhörenden Umgang mit der Dichtung
selbst. Der Übergang von einer mehr sprachanalytischen (K. May)
zu einer werkstilistischen Betrachtung wird dabei natürlich in verschiedenem
Maß vollzogen.


  Heinz Otto Burger4 hat in seinem instruktiven Sammelwerk von Interpretationen
durch 28 verschiedene Beiträger einen Überblick über die
verschiedensten Methoden und Techniken in praktischer Anwendung gegeben;
neben imposanten Beispielen wahrhaft erhellender Interpretationskunst
fehlen hier auch nicht Beispiele, wo der Interpret im bloßen Applaudieren
des Werks oder im Nachweis der Kongruenz von „Inhalt“ und
„Form“ stecken bleibt. Und es zeigt sich auch, wie solche Interpretationen
fast immer nicht nur dem konkreten Gedicht gelten, sondern gewollt oder
ungewollt größere Zusammenhänge geschichtlicher oder systematischer Art
im Auge haben, daß es vor allem um die Gewinnung und Bestimmung allgemeiner
Kategorien der Poetik geht.


  Einen Überblick über die im Bereich der Werkpoetik und Werkinterpretation
vorliegenden Publikationen, über deren Problemlage und Terminologie
zu geben, ist besonders schwierig. Gerade der ganzheitliche Charakter

1
Romano Guardini, Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit. Leipzig 1939. ─
Ders., Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Leipzig 1942, 2. Aufl.,
Bern 1946.
2
Kurt May, Faust II. Teil, in der Sprachform gedeutet. (Neue Forschung
Bd. 30). Berlin 1936. ─ Ders., Friedrich Schiller, Idee und Wirklichkeit im
Drama. Göttingen 1948.
3
Wolfgang Schadewaldt, Sappho. Welt und Dichtung. Dasein in der Liebe.
Potsdam 1950.
4
Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutscher Gedichte. Herausgegeben von
Heinz Otto Burger. Halle 1942.
|#f0061 : 55|

des dichterischen Kunstwerks bringt es mit sich, daß jeder Einzelaspekt
das Ganze repräsentiert, daß es kaum möglich ist, Einzelprobleme
herauszulösen, weil der Sinn und die Funktion jedes Einzelelements nur
im immer wiederholten hermeneutischen Kreislauf zwischen Teil und
Ganzheit deutlich werden kann. So ist schon aus sachlichen Gründen die
Terminologie im Umkreis der Poetik kein System statischer Begriffe,
ganz abgesehen von der hier noch besonders im Fluß befindlichen Situation
der Wissenschaft; nicht einmal ein zentraler Terminus wie das Wort
„Stil“ wird gleichmäßig und eindeutig verwendet.


  Mit dieser gegenseitigen sachlichen Verquicktheit der Probleme hängt es
zusammen, daß Interpretation einer Dichtung noch weniger als jede andere
geisteswissenschaftliche Arbeit über eine feste tradierbare Methode
und ein sauber abgestecktes Forschungsfeld verfügt. Man spricht daher,
z. T. wohl notgedrungen, von der „Kunst“ der Interpretation, von dem
intuitiven oder von dem existentiellen Charakter jedes Versuchs einer
Werkerhellung; Erich Auerbach braucht den Ausdruck vom „Spiel mit
dem Text“, von dem er sich führen läßt. Zahlreiche der hier vorliegenden
Arbeiten sind weniger wissenschaftliche Abhandlungen schulmäßigen Stils
als literarische Essays, Gestaltungen mit eigenen künstlerischen oder bekenntnishaften
Ansprüchen. Wenn man hier von „Dichtung über Dichtung“
spricht oder den Literaturwissenschafter als verhinderten Dichter
denunziert, so ist das die übelwollende Umschreibung eines sachlich durchaus
begründeten und legitimen Verhältnisses. Schließlich macht sich auch
─ bei Kommerell, Pfeiffer, Kayser, Ackerknecht1 z. B. ─ eine pädagogische
Note bemerkbar: anstelle der Theorie tritt die Anweisung, die
Initiation. Eine amerikanische Entsprechung bilden die Bücher von Fred
B. Millett2.


  Die beste Übersicht über die Probleme der Werkpoetik und Stilkritik
gibt heute wohl das ausgezeichnete Werk Wolfgang Kaysers3.
Der Untertitel „Eine Einführung in die Literaturwissenschaft“ ist allerdings
insofern mißverständlich, als es im wesentlichen nur um die Probleme
der Werkinterpretation geht, in der die „eigentliche“ Aufgabe, der
„innerste Kreis“ der Literaturwissenschaft überhaupt gesehen wird; das
Einzelwerk und seine autonome Würde sollen davor bewahrt werden, in
den „Strudel eines psychologischen oder historischen oder nationalen Relativismus“

1
Erwin Ackerknecht, Die Kunst des Lesens. 4. Aufl., Heidelberg 1949.
2
Fred B. Millett, Reading Fiction. A. Methode of Analysis with Seletions
for Study. ─ Reading Drama etc. ─ Reading Poetry etc. 3 vols. New York 1950.
3
Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft.
Bern 1948.
|#f0062 : 56|

gerissen zu werden ─ womit freilich die Möglichkeit eines poetischen
Relativismus noch nicht ausgeschlossen ist! Gegenüber Julius Pe-
tersens Werk ist hier ein Neues versucht. Wenn dort der Turmbau einer
Wissenschaft von der Dichtung als Systembildung im Rahmen einer mehr
technischen Organisation und Kompilation bleibt und vielleicht mit der
Vielfalt an Möglichkeiten erst recht Verwirrung zurücklassen kann, so ist
hier ein eigentlicher Lehrgang, eine Einführung in die Praxis der Auslegung
dichterischer Kunstwerke gegeben, in mühelos faßlicher und spannender
Entwicklung, in zurückhaltender, subtiler und doch beharrlicher
Problembehandlung, mit eingelegten Musterinterpretationen und mit einer
Fülle von Belegmaterial aus allen europäischen Literaturen. Es ist ein meisterhaft
pädagogisches Werk eher als ein Werk der systematischen Forschung.
Von einer Diskussion der wissenschaftlichen Literatur hat Kayser
das Buch entlastet, indem der Text nur wichtigere Vertreter berücksichtigt,
wogegen im Anhang eine umfangreiche Bibliographie geboten ist, die
wiederum keine Sprachgrenzen kennt. Es zeigt sich, wie im Zeichen des
sprachlichen Kunstwerks die Schlagbäume zwischen den einzelnen Nationalliteraturen
aufgehen ─ hier bringt gerade die Poetik entscheidende Anstöße
auch zur Revision der Literaturhistorie.


  Um dem dynamischen und ganzheitlichen Charakter des Dichtwerks Rechnung
zu tragen, schreitet Kayser seinen Gegenstand in zwei übereinanderliegenden
Kreisen ab. In einem ersten, „analytischen“ Teil behandelt er
jene Elemente des Werks, die sozusagen diesseits des Stilganzen oder von
außen her herauslösbar ins Auge fallen: (stofflich-motivischen) Inhalt,
Versform, sprachliche Formen (in der Stufung Laut, Wort, Satz), Aufbau
(im Sinn äußerer Bauformen). Es sollen damit die „elementaren Sachverhalte“
vermittelt sein, „die mit der Seinsweise des Werkes als eines literarischen
Werkes gegeben sind“. Die zweite, höhere Runde ist dagegen
synthetischer Art und betrifft, in vier entsprechenden Stationen oder
„Schichten“, den ganzheitlichen Charakter des Werkes; die Isolierung jener
vier Elemente der Analytik ist hier aufgehoben, sie wirken hier zusammen,
weisen in bestimmter Richtung über sich hinaus als Gehalt, Rhythmus,
Stil, Gattungsgefüge ─ vom letzten, dem Gattungshaften her lassen
sich die verschiedenen vorangehenden Schichten gerade in ihrem Zusammenwirken
verstehen. Zwischen die beiden Hauptteile ist ein „Zwischenteil“
geschaltet, der unter dem Titel „Formen der Darbietung“ einzelne,
etwas heterogene Fragen der „Technik“ behandelt (z. B. rhetorische Schemata
in der Lyrik, Bühnenprobleme des Dramas, Zeitbehandlung in der
Erzählung).


  Es handelt sich hier also wohl weniger um Schichten einer Werkarchitektur,
als um Aspekte eines Ganzen, die sich nur gegenseitig erhellen und |#f0063 : 57|

immer wieder in eins zu sehen sind. Daß diese Disposition Kaysers als
Vollzug einer Bewegung und nicht als eigentliches System zu fassen ist,
mag es auch verständlich machen, daß sich die einzelnen Problembezirke
überschneiden. Die umfassende Kategorie „Stil“ z. B. erscheint als eine
Stufe im Lehrgang, ist aber dennoch die umfassende Bezeichnung aller
Strukturmerkmale des Werkes und der Gattungstypen. Kayser widmet
sich ganz der Beschreibung des literarisch-sprachlichen Gegenstandes und
verzichtet auf eine ästhetisch-philosophische Begründung und Diskussion
der Phänomene, der Begriffe und Kategorien. Das ist ein Vorteil im Sinn
einer unbefangeneren und ungezwungeneren Einführung in die Vielfalt
der unterscheidbaren Erscheinungen, bedeutet aber auch wieder den Mangel
einer gewissen methodischen Kohärenz. Trotz des unbestreitbaren Fortschritts
gegenüber Petersens Darstellung scheint auch Kaysers Werk, dessen
Stärke die liebevolle, nüchtern-gespannte Werknähe ist, zu zeigen, daß
auch heute noch ein Lehrbuch der Poetik als echtes und einheitlich begründetes
System nicht möglich ist.


  Erst recht kann ein kleiner Abriß, wie ihn Josef Körner1 für die
Hand des Studenten bietet (mit drei Kapiteln über „Stilistik“ als die
Lehre von Bildern und Figuren, „Prosodik“ als die Lehre von den klanglichen
Kunstformen und „Generik“ als die Lehre von den Gattungen)
keinen Anspruch auf grundsätzliche oder gar vollständige Behandlung der
Probleme bieten. Umgekehrt leiden die weiter unten zu erwähnenden philosophischen
Begründungen der stilkritischen Methode an der Schwierigkeit,
sich die Vielfalt der bis jetzt erarbeiteten Einzelerkenntnisse einzuverleiben,
und bleiben damit z. T. einseitige Vorstöße.


  Beginnen wir zunächst mit dem Versuch, ein paar zentrale Schlüsselbegriffe
der heutigen Werkpoetik an Hand ausgewählter Literatur zu beleuchten.
Es handelt sich zunächst um das übergeordnete Problem, den
Ganzheitscharakter des Kunstwerks (als Stilganzes, als Werk, als symbolische
Gestalt usw.) zu bestimmen. Von hier aus wird sich dann das
Problem der Gattungen und schließlich das des Aufbaus (der „Aspekte“)
des Einzelwerks stellen.


b) Stil und Werk

Wenn Stilkritik, Stilforschung die kennzeichnende Parole der heutigen
Literaturwissenschaft ist, so erfordert wohl zuerst der Begriff des Stils
eine nähere Umschreibung. W. Kayser gibt einen ausgezeichneten Überblick
über die verschiedenen Wortbedeutungen und Möglichkeiten der modernen

1
) Josef Körner, Einführung in die Poetik. Frankfurt a. M. 1949.
|#f0064 : 58|

Stilforschung, deren Vertreter in dem reichen Literaturregister angeführt
werden. ─ Der ältere oder außerwissenschaftliche Wortsinn vom
Stil als dem Aufputz der Rede mittels traditioneller rhetorischer Figuren
oder vom „guten Stil“ als einem richtigen und angemessenen Sprachgebrauch
fällt hier außer Betracht. (Ein Beispiel dieser an sich durchaus nötigen
und sinnvollen „normativen“ Stilistik bietet z. B. das umfangreiche
Werk von L. Reiners1). Wichtig wird dagegen die „Stilistik“ der Sprachwissenschaft
und ihre Auswirkungen in der Literaturbetrachtung, bei Voss-
ler, Croce, Spitzer u. a., wo es vor allem um nationale oder persönliche
Sprachstile in- und außerhalb der Dichtung geht und wo Sprache und
Dichtung als im Grunde Eines gesehen sind wie schon einst bei Herder
(vgl. darüber oben S. 46 ff.). Vielleicht noch entscheidender für die Literaturwissenschaft
wurde die Stilforschung der Kunstwissenschaft, d. h. vor allem
Wölfflins, dessen paarig-antithetische Kategorien auf Typenbildung
ausgehen und zudem besonders auf geschichtliche Epochenstile oder auch
nationale Stile gemünzt sind. Gemeinsam ist den verschiedenen Richtungen,
daß „Stil“ als Ausdruck, expressives System eines psychischen Innern
erscheint und somit immer bezogen wird auf ein außerkünstlerisches
„Substrat“ menschlicher ─ kollektiver oder persönlicher ─ Art. Damit
wird aber, nach Kayser, das Kunstwerk als eigentlicher Gegenstand der
Wissenschaft verfehlt, bzw. dieses tritt immer nur als Indiz oder Beleg
für ein Anderes in Erscheinung und meistens nur mit einzelnen seiner
Merkmale. Dazu kommt bei der Übertragung kunstwissenschaftlicher
Grundbegriffe auf die Dichtung die Mißachtung des völlig andern Mediums
der Sprache, die nie etwas bloß Formales ist. Epochenstile, Generationsstile
und vor allem Personalstile sind nach Kayser überhaupt Konstruktionen
sehr fragwürdiger Realität. Der Stil ist nicht der Mensch. Im
strengen, legitimen Sinn könne nur der Werkstil Gegenstand der Literaturwissenschaft
sein, d. h. Stil verstanden als einheitliche, nur in sich selbst
und auf sich selbst bezogene Werkstruktur: „die einheitliche Perzeption,
unter der eine dichterische Welt steht“.


  Wir werden unten Gelegenheit haben, die Gültigkeit dieser Ansicht
einzuschränken, gerade im Namen der Sonderart sprachlicher Kunst und
in der Absicht, den geschichtlichen Charakter der Dichtung und damit die
Historie als ebenfalls legitime Literaturwissenschaft wieder zur Geltung
zu bringen. Zunächst aber ist es sicher nützlich, den Stil in einem exklusiven
Sinn als Werkstil zu betrachten, als die sich in sich selbst erhellende,
auf sich selbst bezogene Einheitlichkeit des konkreten Werks in

1
Ludwig Reiners, Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa. 2. Aufl., München
1949.
|#f0065 : 59|

Rhythmus, Gedanke, Bildvorstellung, Lautlichkeit, Syntax, Aufbau usw.,
jenseits aller Aufspaltungen in Form und Inhalt, Gestalt und Gehalt, Ausdruck
und Ausgedrücktes, Symbol und Bedeutung, also als das, was von
einer Poetik des Schaffens aus als Phantasie oder Einbildungskraft bezeichnet
wird, in einer Werkpoetik aber nur am Werk selbst erscheint. Stil ist
jene Einheitlichkeit, jene Stimmigkeit, jene Ganzheit, jene apriorische
„Welt“ des Werks, aus der allein das einzelne Merkmal Stelle und Sinn
erhält.


  Damit ist der Begriff „Stil“ allerdings zu einer erweiterten und totalen
Bedeutung gekommen gegenüber einer spezielleren im Sinn von „äußerer
Form“; aber ähnlich wird auch das Wort Form gerne zur Bezeichnung des
ganzen, einheitlichen Wesens des Werks gebraucht, als höhere Einheit aus
„Form“ und Inhalt, und ebenso schließlich Gestalt als die Einheit aus Gehalt
und „Gestalt“ im alten Sinne. Wir kommen auf diese Schwierigkeiten
zurück, wo es die Form-Inhalt-Problematik im Aufbau des Werks selbst
zu behandeln gilt. Zunächst halten wir uns am Begriff des „Werks“, denn
dieses ist ja offenbar die geradezu wie ein rundes Ding faßbare Stilganzheit,
die wir suchen. Was ist dieses „Werk“?


  Gegenüber den oben schon genannten Untersuchungen R. Ingardens
oder Ernst Wolffs mit ihren phänomenologischen oder erkenntniskritischen
Ergründungen des äußerst komplizierten Gebildes, das im Kunstwerk
erscheint, bedeutet Martin Heideggers existentialistische Untersuchung
eine entscheidende und originale Wendung. Seine Abhandlung Der Ursprung
des Kunstwerks
1 geht auf Vorträge aus früheren Jahren (1935 ff.)
zurück, die aber erst jetzt durch die gedruckte Zusammenfassung ihre
eigentliche Wirkung erhalten werden. Die genannte Wendung besteht
darin, daß das Werk nicht aus seinem Dingcharakter begriffen wird, sondern
umgekehrt das Dinghafte aus dem Werk-Sein verstanden werden soll.
M. a. W.: Dichtung wird ─ wie auch das wesentliche Denken ─ selbst
als Ursprung, die Kulturleistungen erst ermöglichende, die Geschichte erst
begründende Befreiung zur Existenz gesetzt. „Das Werk gehört als solches
einzig in den Bereich, der durch es selbst geöffnet wird“, es ist nicht
ein vom Dichter Gemachtes, vielmehr ein erst den Dichter machendes.
„Das Werk stellt als Werk eine Welt auf“, „hält das Offene der Welt
offen“. Unter diesem entscheidenden Begriff „Welt“ ist nicht „eine bloße
Ansammlung der ... vorhandenen Dinge“ und nicht ein zur Summe des
Vorhandenen hinzugedachter Rahmen zu verstehen, sondern „das immer
Ungegenständliche, dem wir unterstehen“. Der Begriff der Welt hat sein
untrennbares Gegenüber im Begriff der „Erde“: in der Erde, die vom

1
) Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks. (In: Holzwege. Frankfurt
a. M. 1950).
|#f0066 : 60|

Werk „hergestellt wird“, erfüllt sich und verbirgt sich zugleich der Sinnzusammenhang
„Welt“. Im Gegeneinander von Lichtung und Verbergung,
im „Streit“ von Welt und Erde aber geschieht „Wahrheit“, wird
Wahrheit ins Werk gerichtet. Und das Erscheinen der Wahrheit, als dieses
Sein der Wahrheit im Werk und als Werk, ist die Schönheit. „Wahrheit
als die Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie
gedichtet wird“. Das Wesen der Dichtung ─ der ursprünglichsten, weil
sprachlichen Kunst ─ ist die „Stiftung der Wahrheit“.


  So ist bei Heidegger Dichtung und hier wieder das Werk zur höchsten
Würde eines Ursprünglichen gekommen; das Gedicht ist nicht mehr bloßer
Ausdruck oder Form eines Gehalts ─ um die Überwindung dieses lähmenden
Form-Inhalt-Schemas ringt im Grunde die ganze moderne Poetik
─ aber es hat auch nicht die geschlossene Dinghaftigkeit des bloßen Ergons.
Das Ergon ist in der Weise der Energeia.


  Was bedeutet nun für den Literaturwissenschafter die Interpretation so
verstandener Dichtung? In dieser praktischen Hinsicht führen weiter wohl
weniger Heideggers eigene kühne Interpretationen an Hölderlin oder
Rilke als die neuen Ansätze von seiten der Literaturwissenschaft selbst.
Gerade als Energeia kann Dichtung nicht analytisch-erklärend verstanden
werden. Ein Kommerell möchte ausdrücklich „den Schein einer Beweisführung“
vermeiden, er will „seine innere Erfahrung verdeutlichen, für
andere benutzbar machen, nicht mehr“. Weniger ein Erkennen als ein
„Umgang“ mit Dichtung, ja ein Einüben in sie ist nötig, eine „Hingabe“.
„Um des Gedichteten willen muß die Erläuterung des Gedichtes danach
trachten, sich selbst überflüssig zu machen“ (Heidegger) ─ eine These,
die für eine historische Literaturbetrachtung sicher nicht gilt, denn diese
versteht sich nicht nur als Weg, sondern erstrebt ein Resultat in der Gestalt
des wissenschaftlichen Werk- und Erkenntnisganzen.


  Verstehen ist für Heidegger nicht das Erkennen oder Anschauen
eines Gegenüberstehenden, sondern ein Grundmodus des Daseins selbst.
Ein Gedicht verstehen heißt daher selber in der Offenheit des Gedichtes
stehen. Nur so, d. h. „existentiell“ ist auch der hermeneutische Kreislauf,
der Zirkel des Verstehens ─ d. h. das Hin und Her zwischen Ganzem
und Einzelnem, zwischen Vorentwurf und Sache selbst ─ kein fehlerhafter,
sondern legitimer Zirkel. (Auf die allgemeine Theorie des Verstehens,
die damit angeschnitten ist, kann hier nicht eingegangen werden. Eine
schöne, leichtfaßliche Darstellung des Problems gibt O. F. Bollnow1 in
Auseinandersetzung mit Dilthey und Heidegger. Indem er zwar dem

1
Otto Friedrich Bollnow, Das Verstehen. Drei Aufsätze zur Theorie der Geisteswissenschaften.
Mainz 1949. ─ Ders., Das Wesen der Stimmungen. Frankfurt
a. M. 1941. ─ Ders., Die Methode der Geisteswissenschaften. Mainz 1950.
|#f0067 : 61|

geisteswissenschaftlichen Verstehen Allgemeingültigkeit abspricht, rettet er
doch seine Objektivität und seinen Anspruch auf wissenschaftliche Strenge,
auf Wahrheit „im Sinne der Angemessenheit einer Erkenntnis an ihren
Gegenstand“. Der existentielle Charakter des Verstehens ist bei Boll-
now nicht Gebundenheit an die Einzelexistenz in ihrer unentrinnbaren
Geworfenheit im Sinne Heideggers, noch steht dem die bloße Uneigentlichkeit
des „Man“ gegenüber. Verstehen ist auch in einem positiven Sinne
an eine gemeinsame Situation eines Kreises von Menschen gebunden und
hat die Richtung auf ein umfassendes Verstehen auf immer breiterer
Grundlage).


  Für die Stilinterpretation wird nun, vor allem bei Joh. Pfeiffer1 und
Kommerell2, der Heideggersche Begriff der Stimmung wichtig. Verstehen
ist Gestimmtheit, in der „Gestimmtheit und durch die Gestimmtheit
wird offenbar, woran es mit uns ist, wie es zuinnerst um uns steht“.
„Stimmung steigt auf in uns und überkommt uns“ (Pfeiffer). Sie gehört
zugleich dem Gedicht und dem Leser. „Das Gedicht ist schön, heißt: es ist
nichts in diesem Gedicht vorhanden, das nicht vollkommen in dieser Stimmung
schwänge“ (Kommerell). Das Gedicht selbst und das Verstehen bedeutet
„Selbsterkennung“. „Die Seele will Kunst, um ganz eigentlich zu
sein.“ Indem so die Offenbarkeit des Seins, die Wahrheit als ein Geschehen
der Kunst und in der erschließenden Kraft der Stimmung gesehen
wird, eröffnet sich die Möglichkeit, die Einheitlichkeit des Werks, seinen
„Stil“, selber als diese so und so geartete Gestimmtheit zu fassen und zu
beschreiben.


  Wo es nun aber gilt, die individuelle Verschiedenheit der Stile zu beschreiben
und zu begründen, bedarf es weiterer Kriterien. Heidegger bestimmt
in Sein und Zeit menschliches Sein, d. h. Dasein, als zeitlich-endliches
Sein. Vom Horizont der Zeit aus, in der sich menschliches Dasein
auseinanderspannt, muß es möglich sein, die wechselnden Weisen offenbarender
Stimmung oder dichterischer Existenz zu unterscheiden und verständlich
zu machen. In zwei für die moderne Stilbeschreibung und -typologie
entscheidenden Büchern hat Emil Staiger3 in selbständigen Folgerungen

1
Johannes Pfeiffer, Umgang mit Dichtung. Eine Einführung in das Verständnis
des Dichterischen.
Leipzig 1936. ─ Ders., Zwischen Dichtung und Philosophie.
Bremen 1947.
2
Max Kommerell, Vom Wesen des lyrischen Gedichts. (In: Gedanken über
Gedichte. Frankfurt a. M. 1943). ─ Ders., Geist und Buchstabe der Dichtung.
Frankfurt a. M. 1940.
3
Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Brentano, Goethe,
Keller. Zürich 1939. ─ Ders., Meisterwerke deutscher Sprache im 19. Jahrhundert.
Zürich 1943. ─ Dazu jetzt Ders., Die Kunst der Interpretation. „Neophilologus“
XXXV (1951).
|#f0068 : 62|

aus Heidegger diese temporale Interpretation begründet, ─ es sind
wohl seit den Zeiten des Idealismus die geschlossensten, wenn auch kühnsten
Ansätze zu einer Poetik, deren Kategorien und Termini nicht mehr
eklektischen oder zufällig empirischen Ursprungs sind, sondern eine systematisch-philosophische
Begründung haben. Das erste Buch, Die Zeit als
Einbildungskraft des Dichters, geht induktiv von drei Gedichten Brentanos,
Goethes und Gottfried Kellers aus, um aus der konkreten Werkinterpretation
zur Zeitproblematik vorzustoßen; es gestattet sich auch noch die Erleichterung,
daß mindestens zwei der drei Texte die Zeit auch thematisch
zum Gegenstande haben. Die verschiedensten Merkmale des in den Werken
sich manifestierenden Stils ─ Staiger bezeichnet „Stil“ als literaturwissenschaftliche
Fassung des Begriffs „Welt“ ─, sprachliche Formen, Metrum,
Gedankliches, Bildmäßiges usw. werden in ihrer Einheitlichkeit gefaßt
und bezogen auf ein „Allererstes“, die „Art, die Welt zu sehen“, bevor
ein Gegenstand da ist; und dieses Apriori, diese Anschauungsform im
Sinne Kants, diese jeweilige Einbildungskraft, ist auf ihren zeitlichen
Sinn hin zu bestimmen. Es sind noch individuelle Bezeichnungen, die sich
damit für die verschiedenen Stile ergeben: die „reißende“ Zeit bei Brentano,
der „Augenblick“ bei Goethe, die „ruhende“ Zeit bei Keller. Es sind
Bestimmungen, die dann über das Einzelwerk hinaus u. U. auch für Personal-,
National- und Epochenstil gelten können, denn dieser weitere Umkreis
des Einzelwerks bleibt hier zur Hilfe oder zur Bestätigung und Folgerung
gegenwärtig. Darüber hinaus aber wird eine kommende systematische
Stilistik auf temporaler Grundlage ins Auge gefaßt, eine „auf die
Zeit gerichtete Poetik, die imstande wäre, über den historischen Wirklichkeiten
die Möglichkeiten der Poesie in klarer Ordnung aufzubauen“. ─ Es
ist die Aufgabe des zweiten, systematischen Werkes, diese Möglichkeiten
der Poesie, d. h. die verschiedenen möglichen Zeitstrukturen der Einbildungskraft
─ als literaturwissenschaftliche Typologie im Rahmen einer
Anthropologie ─ zu untersuchen. Es werden sich dabei die seit der Antike
unterschiedenen Dichtarten, die poetischen Gattungen als die fundamentalen
Weisen der Zeit in der dichterischen Existenz herausstellen; sie
würden gestatten, den Ort der individuell-geschichtlichen Erscheinungen
systematisch zu bestimmen. Darüber soll unten beim Gattungsproblem gesprochen
werden. Erst dann wird vielleicht der letzte Sinn dieser temporalen
Auslegung deutlich. Es handelt sich um letzte Beziehungspunkte und gemeinsame
Nenner, deren Wert vor allem in der Klärung der literaturwissenschaftlichen
Terminologie besteht und in der Kraft, die stilkritische Fragestellung
zu leiten. Die Bemühung um die immer individuelle Einmaligkeit
des Einzelwerks oder gar dessen Wert wird dadurch nicht überflüssig.
„Denn wir fühlen selber allzu gut, wie die Gefahr der ödesten Formalisierung
auf uns lauert, sobald das Zeitliche zu nackt erscheint und zu grell |#f0069 : 63|

beleuchtet wird.“ Verstehen, Interpretieren läßt sich auch ohne explizite
Theorie der Zeitformen, ja diese soll und kann aus dem „eigentlichen
Gegenstand der Forschung ... zu einem unauffälligen Prinzip der inneren
Architektur“ werden. Staigers eigene Interpretationen sind selbst die besten
Beispiele dafür.


  Ist die „Zeit“ wirklich die einzige letzte Anschauungsform und die temporale
Auslegung der grundsätzlichste Weg zum Stilganzen? Bei Kant
steht daneben der Raum; Staiger spricht dagegen mit Hinweis auf Kant
selbst und Heidegger der Zeit die höhere Würde zu. Auf alle Fälle aber
sind beide so sehr aufeinanderbezogen, daß praktisch ebensogut von einer
einheitlichen Zeit-Raumstruktur und ihrem je nachdem mehr räumlichen
oder mehr zeitlichen Aspekt gesprochen wird. In diesem Sinn sind auch
unabhängig von Heidegger oder Staiger, wenn auch ohne deren Systematik,
Zeitlichkeit und Räumlichkeit als die letzten Bestimmungsmittel
künstlerischer oder kultureller oder allgemein anthropologischer „Stile“
benützt worden. Schon Spengler hat für seine Kulturmorphologie damit
gearbeitet (Untergang des Abendlandes I─III); heute ist, wie schon mehrfach
angedeutet, von den verschiedensten Seiten, vor allem der Physik,
der Psychologie und der bildenden Kunst her, eine Revolution unserer
Raum-Zeit-Anschauungen bzw. -Formen eingeleitet und sind diese damit
in ihrer Bedeutung erneut erkannt worden ─ es sei hier nur auf S. Gie-
dion1 oder J. Gebser2 verwiesen. In der Literaturwissenschaft hat schon
Spoerri (s. oben) in eigenwilliger Weise die Kategorien des Raumes („Die
Verwandlung der Welt“) und der Zeit („Die Bewegung der Seele“) zur
Geltung gebracht, und seither ist bei Gaston Bachelard (vgl. oben) der
Begriff der Einbildungskraft als vertikaler Bewegung wichtig geworden.
Grundsätzliche Bedeutung beanspruchen auch die spezielleren Arbeiten
von Maeder3 ─ ein Vergleich zwischen Texten Bertholds von Regensburg
und Luther nach ihrem Zeit-Raum-Bild ─, Erwin Kobel4, der verschiedene

1
Siegfried Giedion, Space, Time and Architecture; the growth of a new
tradition. 8. Aufl., Cambridge 1949.
2
Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. I, Stuttgart 1949 (vgl. oben). ─
Ders., Der grammatische Spiegel, neue Denkformen im sprachlichen Ausdruck.
Zürich 1944.
3
Hannes Maeder, Versuch über den Zusammenhang von Sprach- und Geistesgeschichte
(Zürcher Beiträge zur deutschen Sprach- und Stilgeschichte Nr. 1.

Zürich 1945).
4
Erwin Kobel, Untersuchungen zum gelebten Raum in der mittelhochdeutschen
Dichtung (Zürcher Beiträge zur deutschen Sprach- und Stilgeschichte Nr. 4. Zürich
1951).
|#f0070 : 64|

Raumtypen in mittelhochdeutscher Dichtung untersucht und z. B.
eine Beziehung zwischen Mystik und Entdeckung der Perspektive erkennt,
oder schließlich Werner Matz1, der der noch unergründeten zeitlichen
Ordnung im Sprach- und Erzählstil volksepischer Texte nachgeht.


  Nicht überall freilich, wo Zeit- oder Raumvorstellungen, Zeit- oder
Raum-„Erlebnis“ untersucht sind, sind letzte Strukturen des Daseins gemeint;
aber die bestimmten thematischen, vorstellungsmäßigen, sprachlichen,
aufbautechnischen Probleme von Raum und Zeit in der Dichtung
können auch dann leicht auf den Zusammenhang der existenziellen Raum-
Zeit-Struktur bezogen werden. So wird in Seckels2 Untersuchung von
Hölderlins Raumgestaltung das Raumbild zum Ausgangspunkt für das
Verständnis von Hölderlins Weltbild und Stil überhaupt. Günther Mül-
ler3 verfolgt mit der Zeitbehandlung in der Erzählung zunächst aufbautechnische
Prinzipien; das jeweilige Verhältnis von Erzählzeit und erzählter
Zeit (Ausschnitt, Raffung, Reihenfolge) gestattet, im Rahmen von
Müllers morphologischer Literaturbetrachtung verschiedene Gruppen und
Typen der Erzählung zu unterscheiden. Wiegands4 Untersuchung schließlich
ist nur eine Umschau in den sprachlichen Zeitformen des Verbs (von
denen sich keine „als besonders lyrikgemäß“ hinstellen lasse) ohne stilkritische
oder stiltypologische Auswertung.


  Neben der Zeit und neben dem Raum hat die Literaturwissenschaft
auch andere letzte Schlüsselbegriffe der Stilinterpretation zu erarbeiten
gesucht. Es ist hier wohl der Ort, des früh verstorbenen Clemens Lu-
gowski5 zu gedenken, der schon 1932 einen eigenartigen und eigenwilligen
Vorstoß in dieser Richtung unternahm. Es geschah auch bei ihm im
Willen, „Dichtung ... ohne historische Erweichung ernst zu nehmen“ und
literaturwissenschaftliche „Begriffe nur als leichte Chiffren der Anschauung“
gelten zu lassen. In seinem ersten Buch geht Lugowski aus von der
„Problemgeschichte“ seines Lehrers Rudolf Unger, fragt nun aber nach

1
Werner Matz, Der Vorgang im Epos. Interpretationen zu Kudrun, Salman
und Morolf, Archamp und Chrestiens Erec mit einer Abhandlung über Aspekt
und Aktionsart des Verbs im Aufbau der Erzählung (Dichtung, Wort und Sprache
Bd. 12, Hamburg 1947).
2
Dietrich Seckel, Hölderlins Raumgestaltung. DuV 39 (1938) 469 ff.
3
Günther Müller, Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. Bonn 1946. ─
Ders., Über das Zeitgerüst des Erzählens, am Beispiel desJürg Jenatsch“. DV
1950 (24), 1 ff.
4
Julius Wiegand, Die Zeitform im lyrischen Gedicht. ZfdA 80 (1944) 199 ff.
5
Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman. Studien zur
inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Berlin 1932.
|#f0071 : 65|

dem Subjekt aller der verschiedenen Probleme (Liebe, Tod usw.), d. h.
nach ihrem Schnittpunkt, der sich in den individuellen Menschenfiguren der
erzählenden Dichtung als den Gestalten eines Dichters darstellt. Die Art
und Weise, in welcher damit die gesamte dichterische Welt auf die individuellen
Problemsubjekte
bezogen ist, macht nichts anderes als
die gesamte Struktur der Erzählung aus, ist der „Stil“ vor aller Form-Inhalt-Unterscheidung,
um deren Überwindung es auch Lugowski geht. Jede
Dichtung ist eine menschlich-gemachte, ihr Stil bedeutet also eine so und so
geartete „Künstlichkeit“, die bis zu einem gewissen Grade vom Leser geteilt
werden muß, und die auch ihre geschichtlichen Wandlungen erfährt.
In der frühen deutschen Prosaerzählung kann nun, vom Gesichtspunkt
der Individualität der Figuren aus, diese Stilwelt, diese geschichtliche Form
von Künstlichkeit, in ihrer Art, ihren Wandlungen oder Auflösungen verfolgt
werden. Dabei kommt u. a. auch etwa die Zeitstruktur zur Untersuchung.



  So wie hier „Individualität“ der dichterischen Person aus einem thematischen
Problem zu einem stilistischen wird, kann auch die jeweilige dichterische
Auffassung der Wirklichkeit, die je zu einem Menschen und zu
einem Dichter gehört, zum Hebel der stilkritischen Interpretation werden.
Vielleicht, daß man diesen Begriff der „Wirklichkeit“ etwa dem Heideggerschen
Begriff der „Erde“ gleichsetzen kann, wogegen „Welt“ der Zeit-
Raum-Struktur des Stils entspräche, Wirklichkeit also das, was in diesen
Anschauungsformen sich erfüllt und erscheint. Lugowski greift ─ in seinem
zweiten Werk1 ─ zwei gegensätzliche Typen, „zwei große abendländische
Möglichkeiten“ der Wirklichkeitserfahrung heraus. Die eine ist im wesentlichen
romanisch und gibt sich als „märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit“,
als Märchenroman und zugehöriger Antimärchenroman (vertreten
durch den höfisch-idealistischen bzw. realistischen Roman des 17. Jahrhunderts);
dazu gehört ein Stil der Distanz, der genauen Kausalmotivierung,
des Gegenübers von zwanghafter Wirklichkeit und überwirklichem
Jenseits. Auf der andern Seite gibt es die im wesentlichen germanische
Form der Wirklichkeit als das Unmittelbare, wo das Objektive überwunden
ist in der Einheit von Wirklichkeit und Wollen und einem bejahten
Schicksal.


  Völlig unabhängig davon und auf viel breiterer Basis ist dieses Wirklichkeitsproblem
der abendländischen Dichtung inzwischen von Erich
Auerbach2 aufgenommen worden, auch hier unter Ansetzen zweier

1
Clemens Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung. Untersuchungen zur Wirklichkeitsauffassung
Heinrichs von Kleist.
Frankfurt a. M. 1936.
2
Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen
Literatur. Bern 1946.
|#f0072 : 66|

gegensätzlicher Möglichkeiten abendländischen Stils. Auerbachs Werk ist
sicher eine der bedeutendsten, anregendsten Publikationen der letzten
Jahre. Sie ist für die moderne Methode kennzeichnend, indem sie aus 19
von einander unabhängigen Interpretationen von Texten aus zwei europäischen
Jahrtausenden besteht, in chronologischer Anordnung, entstanden
im freien „Spiel mit dem Text“, geleitet „von einigen allmählich und absichtslos
erarbeiteten Motiven“. Die reichen und hellhörigen, meister- und
musterhaften Beispiele moderner Interpretationskunst gelten an sich dem
Stil im allgemeinsten Sinne. Dieser Stil wird nun aber näher gefaßt als
Wirklichkeitsdarstellung; das Buch gilt dem Problem und der Geschichte
des Realismus. Realismus aber ─ und hier sind Mißverständnisse möglich
─ nicht im herkömmlichen Sinn eines bestimmten, etwa durch Sachnähe
und rohe Stofflichkeit ausgezeichneten Literaturstils, nicht als realistische
„Nachahmung“ (trotz des etwas fragwürdigen Titels „Mimesis“), sondern
als jeweilige „Interpretation der Wirklichkeit“, als der aller Thematisierung
vorausliegende Entwurf des Stils. Dies ist wohl auch der Grund,
warum sich Auerbach ausdrücklich nicht auf eine Diskussion des Begriffes
Realismus einlassen will. Nur gelegentlich und nachträglich deutet Auerbach
denn auch eine Systematik an, unter der nun die Verschiedenheit der
ausgelegten Stile zu sehen ist: statt Lugowskis romanisch-germanischer Typologie
ist es ein der europäischen Gegebenheit zweifellos angepaßteres
Gegenüber von antiker und christlicher Welt. Es sind zwei sich beständig
auseinandersetzende oder verbindende Stiltraditionen, die die abendländische
Literatur bestimmen: eine stiltrennende, d. h. bestimmte Höhenlagen
unterscheidende und reine Formen erstrebende Tradition, und eine
im wesentlichen christliche stilmischende Tradition, die keine Unterscheidung
zwischen niederen und hohen Gegenständen und Formen kennt und
auch im Alltäglichsten und Verächtlichsten das Hintergründige und Erhabene
durchbrechen sieht (im Mittelalter läßt sie sich als „figuraler“ Stil
bestimmen). Trotz seiner ausdrücklichen Beschränkung auf zufällige Texte
und deren in sich ruhende Interpretation setzt Auerbach also eine systematische
Typologie voraus, ja er gibt mit der zeitlichen Reihung auch eine
Geschichte der europäischen Wirklichkeit. Man mag sich darum gerade hier
fragen, ob diese Bescheidenheit des Stilkritikers nicht eine falsche ist, ob
nicht der systematische wie der historische Zusammenhang eine explizitere
Darstellung erfordert hätten; die moderne, etwas preziöse Angst vor
Systembildung scheint nicht gerechtfertigt, wenn ein ─ dafür reichlich
rohes ─ Schema eben doch vorhanden ist.


  Wenn der Begriff des Stils im Sinne von Werkstil verwendet wird, so
ist dies eine Einschränkung oder gar Umdeutung der meistens üblichen
andern Verwendung (als Epochenstil oder als „äußere Form“ [Erma- |#f0073 : 67|

tinger] im Gegensatz zum Inhalt u. ä.). Das Bedürfnis, die Einheitlichkeit,
den Ganzheitscharakter des Werks mit einer genaueren Bezeichnung
zu fassen, ist damit verständlich. Auch die Bezeichnung „Struktur“, wie
sie von Psychologie und Poetik seit Dilthey gebraucht wird, scheint zu unverbindlich
und allzu sehr ins Reich des Mineralischen oder Architektonisch-Starren
zu verweisen. Schon Ermatinger spricht daher, wo es das
Wesen künstlerischer „Form“ zu bestimmen gilt, ausdrücklich von Organisation,
Organismus, organisch, um nicht nur das Ganzheitliche, sondern
auch das Lebendige und Schöpferische der Dichtung auszudrücken. Das
empfahl sich um so mehr, als mit Begriffen wie Erlebnis oder Entwicklung
die Literaturwissenschaft sich auch sonst an der Natur- und Kunstlehre
Goethes orientiert hatte. Gerade in diesem Zusammenhang tritt nun
aber neuerdings eine weitere Bezeichnung in den Vordergrund, die sich
auch auf Goethe berufen kann und zudem in den verschiedensten Disziplinen
der modernen Naturwissenschaft und der Psychologie, die ja ohne
den Begriff der Ganzheit längst nicht mehr auskommen, eine bedeutende
Rolle spielt: die Bezeichnung „Gestalt“ (vgl. etwa die Werke des Philosophen
F. Weinhandl1, des Psychologen D. Katz2 und des Physiologen
Viktor v. Weizsäcker3). Als Kriterien der „Gestalt“ werden gewöhnlich
angeführt, daß das Ganze mehr als die Summe der Teile sei und daß
es unverändert in veränderte Bedingungen transponierbar (z. B. vererbbar)
sei, Kriterien, die auf ihre Weise ja auch für das Dichtwerk zutreffen.
Jene Ganzheit ist damit auch in jedem „Teil“ oder in jedem Moment des
Vollzugs gegenwärtig, was wiederum für die Dichtung als Bewegung, als
Einheit von Dauer und Wechsel, wichtig ist. So ist denn Morphologie,
morphologische Literaturwissenschaft ein neues Programm
geworden, hinter das sich vor allem Günther Müller4 gestellt
hat.


  G. Müller beruft sich unmittelbar auf Goethes Definition der Gestalt
als „Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens“ und nennt Gestalt
die „anschauliche Erscheinung, in der die Dichtung spricht“. „Dichtung ist

1
Ferdinand Weinhandl, Die gestaltanalytische Philosophie in ihrem Verhältnis
zur Morphologie Goethes und zur Transzendentalphilosophie Kants.
„Kant-
Studien“ N. F. Bd. 42 (1942/43) 106 ff.
2
D. Katz, Gestaltpsychologie. Basel 1944.
3
Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen
und Bewegen.
3. Aufl., Stuttgart 1947.
4
Günther Müller, Die Gestaltfrage in der Literaturwissenschaft und Goethes
Morphologie. Halle 1944. (Die Gestalt. Abhandlungen zu einer allgemeinen Morphologie,
Bd. 13).
─ Ders., Morphologische Poetik. Helicon V (1943), 1 ff.
|#f0074 : 68|

eine Gestaltwirklichkeit, die durch sprachliche Entfaltung eines Kräftespiels
von Bedeutungen gebildet wird.“ Dichtung ist „sprachgetragene Wirklichkeit“,
die darüber hinaus als eine „Wirklichkeit der Natur“ bezeichnet
werden kann. Und nun versucht Müller auch die Goetheschen Begriffe
von Typus und Metamorphose auf die Dichtung zu übertragen. Gestalt
entsteht, wenn der Typus Dichtung sich in der Metamorphose zum Werk
gestaltet, im Nacheinander der Worte und Sätze, in vertikaler und spiraler
Tendenz, wobei aber in jedem Wachstumsstand je schon Gestalt da ist.
Soweit nun zwischen den Metamorphosen, in denen sich die verschiedenen
Werke bilden, typische Gleichläufigkeiten bzw. Verschiedenheiten sich zeigen,
muß es möglich sein, auch die Gattungen und Arten der Dichtung
herzuleiten. Und schließlich wird der morphologische Gedanke auch zum
Wertmaß: je vollkommener, reiner und reicher die Ausgliederung ─ als
Einheit und Entfaltung ─ ist, um so höher wäre das Werk zu werten.
Damit ist durch den Rückgriff auf Goethe der Poetik ein neues Arsenal
von Kategorien und Termini angeboten und ein Forschungsprogramm aufgestellt,
auf eine ebenso einfache wie anregende, ja verwirrende Weise.


  Horst Oppel1 hat es unternommen, „die methodischen Grundfragen
einer morphologischen Literaturwissenschaft von verschiedenen Ansatzpunkten
her und in wiederholtem Einsatz enger einzukreisen“, d. h. in beständigem
Rückblick auf Goethe zu diskutieren und zu ergänzen, ohne
selber ein eingehenderes System zu wagen. Anderseits hat Emil Staiger2
ziemlich energisch abgewinkt. Es stimmt an sich mißtrauisch, wenn die Literaturwissenschaft,
nachdem sie sich seit Generationen um eine sacheigene
Methode bemüht, ihr Heil bei einer ─ wenn auch noch so geistvollen ─
analogischen Übertragung Goethescher, im wesentlichen naturphilosophischer
Gedanken finden soll, wobei zudem Goethes Ansätze in Urpflanzenlehre
bzw. Osteologie kaum einheitlich sind. Staiger ist der Ansicht, daß
überhaupt umgekehrt „die deutsche Literaturwissenschaft gerade in dem
engen Anschluß an Goethes Begriffe krankt“. Weder ist das Dichtwerk
ein Organismus nach der Art von Pflanze und Tier, noch sind die Verhältnisse
der „Teile“ zum Ganzen hier und dort ohne weiteres vergleichbar,
noch ist der Vollzug eines Gedichts eine Metamorphose im Goetheschen
Sinn. Die Analogie verwischt gerade das, worauf es ankommt, es
ist überhaupt fraglich, ob der Begriff der Gestalt dem des Stils vorzuziehen
sei.

1
Horst Oppel, Morphologische Literaturwissenschaft. Goethes Ansicht und
Methode. Mainz 1947.
2
Emil Staiger, Morphologische Literaturwissenschaft. Trivium II (1944), 223 ff.
|#f0075 : 69|

  Im Zusammenhang mit dem Gestaltbegriff ist noch ein weiterer Aspekt
zu erwähnen, der dem des Gestalthaften und darüber hinaus dem Wesen
der Dichtung überhaupt zugeordnet zu werden pflegt: der Symbolcharakter
der Dichtung, wie er ebenfalls von der deutschen Klassik
ergründet wurde und nach Goethe „eigentlich die Natur der Poesie“ darstellt1.
Es ist in letzter Zeit stiller geworden um diesen vielseitigen und
darum problematischen Begriff des Symbols, der außerhalb der Literatur,
vor allem in der Psychologie, neue Inhalte gefunden hat, anderseits in der
Literatur selbst im Zusammenhang mit dem französischen „Symbolismus“2
seines ursprünglichen Sinnes weitgehend entkleidet wurde. Der
Symbolbegriff scheint entbehrlich zu werden, wenn man das Kunstwerk
nicht mehr als Ausdruck oder „Form“ irgendeines Gehaltes, sondern als in
sich ruhendes Werkgebilde verstehen will, und wenn man Dichtung nicht
mehr ohne weiteres gleichsetzt mit dem Ausdruckssystem der Sprache
schlechthin. Denn der Name Symbol scheint als sein Korrelat ein Symbolisiertes
vorauszusetzen ─ der Dichter gibt etwa nach Emil Ermatinger
„ein Bild des Sinnes ... den er in der Wirklichkeit gefunden hat“ ─ und
damit die autonome Würde des Kunstwerkes zu verletzen. Diese heute
unbeliebte Konsequenz, d. h. schließlich die Form-Inhalt-Aufspaltung, erscheint
hier noch deutlicher als beim Begriff der Gestalt, der ja z. T. ebenfalls
auf einen gestalteten „Gehalt“ bezogen war. Dagegen ist wieder zu
sagen, daß es trotz allem Werkcharakter zum Wesen der Dichtung gehört,
auch über sich hinauszuweisen, daß also schon darum der Symbolbegriff
auch in einer richtig verstandenen Werkpoetik Platz finden könnte; Symbol
bedeutet ja gegenüber andern Bedeutungsverhältnissen, daß sich das
Bedeutete selbst erst im Bedeutenden vollzieht, daß das Symbol nicht ersetzbar
ist. Die Seinsweise von Dichtung ließe sich gerade als symbolische
von der Welt realer Wirklichkeit abheben. Zudem könnte, ähnlich wie bei
der Gestalt, auch von dem immanenten Symbolcharakter des Dichtwerks
gesprochen werden, sofern seine Elemente (Aspekte, Stilzüge) wie Satz,
Rhvthmus, Laut, Fabel etc. ihre stilistische Einheitlichkeit dadurch erhalten,
daß jeder Stilzug alle andern und zugleich das Ganze repräsentiert,
daß einer im andern symbolisch erscheint. Es wäre in diesem eingeschränkten
Sinn eben gerade der Symbolcharakter, der die Einheit und Ganzheit
namens Stil oder Gestalt konstitutiert.

1
Curt Müller, Die geschichtlichen Voraussetzungen des Symbolbegriffs in
Goethes Naturanschauung. (Palaestra 211) Leipzig 1937. ─ Fritz Strich, Das
Symbol in der Dichtung (In: „Der Dichter und die Zeit.“ Bern 1947).
2
Emeric Fiser, La théorie du symbole littéraire et Marcel Proust. Paris 1941.
─ Louis Cazamian, Symbolisme et poésie. L'exemple anglais. Neuchâtel 1947.
|#f0076 : 70|

  In anderer, etwas schematischer Weise hat Leonhard Beriger1 den
Symbolbegriff wieder zur Basis der Poetik machen wollen. Symbolik bedeutet
nach Goethe das Hervortreten des Allgemeinen im Besonderen. Das
gilt aber auch für außerkünstlerische Symbolik. Es bedarf der Ergänzung
durch den korrelativen Begriff der Gestalt, der Gestaltung ─ als der Einheit
von Gestalt und Gehalt ─, damit die speziell künstlerische Symbolik
entsteht. Dann ist „Dichtung ... Offenbarung des allgemeinen Menschenwesens
und Menschengeschicks als individuelle Existenz, künstlerisch verwirklicht
als Einheit Gehalt-Gestalt“. Die Gleichnisdichtung, speziell die
Allegorie ─ die von Goethe bekanntlich dem Symbol entgegengestellt
wird als der Weg vom Allgemeinen zum Besonderen ─ wäre dann nur
eine bestimmte Ausdrucksart, ein bestimmtes Verhältnis von Bild und
Sinn, und dem Symbolhaften untergeordnet. Im übrigen versucht auch
Beriger, den Symbolbegriff nicht nur zur Grundlage einer Morphologie,
sondern auch zu einem Wertkriterium (größere oder geringere Spannweite,
Reichtum etc.) zu machen.


  Am hartnäckigsten hat wohl Hermann Pongs2 die Probleme dichterischer
Symbolik und ihres das ganze Werk bestimmenden Charakters
untersucht. Die Aufsätze im zweiten Band seines Werks Das Bild in der
Dichtung gelten diesem umfassenden Geheimnis des Symbols, das einem
„Gemeinschaftsgrund“ und einer „übergreifenden Ordnung des Daseins“
entspringt. Einerseits in Auseinandersetzung mit den Problemen der von
der Tiefenpsychologie entdeckten unbewußten Symbolik, anderseits in Untersuchung
der „bewußten“ Symbolik vor allem in der deutschen Novelle
gelangt Pongs zu einer Symbolik der Existenz, in der Bewußtes und Unbewußtes
zusammengefaßt ist. Das „Ding-Symbol“ als konstruktives Element
etwa einer Novelle wird „mehr und mehr hineingenommen in das
Ganze einer symbolisch gefaßten Existenz“ (welche dann bei Pongs einen
dämonischen oder tragischen Akzent erhält). ─ Wir sind damit auch verwiesen
auf die spezielleren Erscheinungen, in denen sich der allgemeine
Symbolcharakter der Dichtung besonders zu konkretisieren scheint, in
Bild, Metapher, Gleichnis, „Symbol“, Mythos usw., Aufbauelementen des
Werks, von denen aus sich dessen Ganzheit aber Schicht um Schicht erschließt
und die daher von einzelnen Forschern zum Ausgangspunkt einer
Gesamtinterpretation gemacht werden (vgl. Emrich, unten S. 105).

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Nennung. Quellenangabe Person nn. Metapher als sprachimmanentes Phänomen.Wilhelm Emrich: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. Berlin 1943. Auch
von den Versuchen, der Dichtung von einem spezielleren, nämlich tiefenpsychologischen

1
Leonhard Beriger, Der Symbolbegriff als Grundlage einer Poetik. Helicon
V (1942) 33 ff.
2
Hermann Pongs, Das Bild in der Dichtung. Bd. II. Voruntersuchungen zum
Symbol. Marburg 1939.
|#f0077 : 71|

Symbolbegriff her ─ einem wesentlich „inhaltlich“ gefaßten
Element also ─ auf den Leib zu rücken, ist unten noch zu reden; wenn
z. B. der Dichter Joachim Maass1 in seinen zwanglosen Vorlesungen das
Symbol als die „Fundamentalqualität“ von Kunst und Literatur bezeichnet,
bleibt er praktisch bei der konventionellen Trennung von symbolischem Inhalt
und sprachlichem Ausdruck.


c) Typen und Gattungen

Wie immer man die Einheitlichkeit und Ganzheit des dichterischen Stilganzen
fasse, so stellen sich hier zwei Aufgaben als nächste Schritte im
Aufbau der Poetik: einmal die Untersuchung der „Teile“ (Glieder, Elemente,
Schichten, Aspekte etc.), deren Einheitlichkeit und symbolische
Ganzheit der Stil ist, die Frage also, was für Aspekte hier auseinanderzuhalten
sind und in welcher Ordnung sie zu einander stehen. Und zum
Zweiten die Untersuchung, ob jenseits dieser Aufgliederung des Einzelwerks
und gleichsam senkrecht dazu sich verschiedene Weisen einheitlichen
Stils, verschiedene Typen der Einbildungskraft, verschiedene Möglichkeiten
dichterischer Anschauungsform unterscheiden lassen, denen dann bestimmte
Gruppen von Werken als Repräsentanten zuzuordnen wären.
Die erste Aufgabe ist also die Analyse des einzelnen Stilganzen als solchen,
die zweite die Zusammenstellung und Gruppierung der Vielzahl
der Dichtwerke zu einem System von Typen, Gattungen, Klassen oder wie
man sie dann nennen mag. Eine Trennung dieser beiden scheinbar senkrecht
zueinander stehenden Unterscheidungsmöglichkeiten ist allerdings
praktisch schwierig, weil über Sinn und Reichweite des Gattungsbegriffs
keine Einstimmigkeit besteht, d. h. weil ─ wie zu zeigen sein wird ─
Typus- und Klassenbegriff meist ineinanderfließen. Und vor allem auch,
weil die Gattungen sich u. U. auf eine Struktur des allgemeinen Menschendaseins
gründen, die sich auf anderem Wege wieder im Aufbau des Einzelwerks
zur Geltung bringt.


  Beginnen wir mit dem allgemeinen Problem der Gattungen und
hier mit der Frage einer Typologie der Dichtung überhaupt. Seit
Schiller gibt es so etwas wie eine geisteswissenschaftliche Typenlehre in der
Anwendung auf die dichterische Kunst. (Die Bedeutung von Schillers
Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung für die literaturwissenschaftliche

1
Joachim Maaß, Die Geheimwissenschaft der Literatur. Acht Vorlesungen zur
Anregung einer Ästhetik des Dichterischen. Berlin 1949.
|#f0078 : 72|

Methodik hat Heinrich Meng1 untersucht. Weniger vorsichtig
ist Werner Plümacher2, wenn er den Vorrang zweipoliger Typologien
auf Grund von Kants Antinomienlehre nachzuweisen sucht.) Obwohl
Schillers Lehre an bestimmte idealistische Voraussetzungen gebunden
ist, so überragt sie immerhin als philosophisch verankerte und grundsätzliche
Typologie doch wohl die meisten der späteren anthropologischen,
psychologischen, ästhetischen Typenbildungen, von Friedrich Schlegel
über Nietzsche und C. G. Jung bis zu Wölfflin, Strich und Wal-
zel. Für das hoffnungslos verwirrte Bild dieser sich nach allen Seiten überschneidenden
Typologien zwei-, drei- und mehrgliedriger Art sei auf die
Aufzählung und Diskussion bei Petersen (S. 209 ff., 340 ff.) verwiesen.
Sie kranken meistens daran, daß sie teils außerhalb des Dichterischen stehen,
teils nur einen bestimmten Aspekt des Dichtwerks treffen ─ z. B.
nur eine „äußere Form“, die „Weltanschauung“, die sinnliche Vorstellungswelt,
das Seelenleben, die grammatischen Kategorien usw. ─ und
damit das dichterische Stilganze verfehlen. Sie können zwar zu ausgezeichneten
Einzelbeobachtungen anleiten, aber bleiben als System nicht überzeugend.



  Auf der Suche nach einem durchgehenden und dichtungseigenen Organisationsschema
der Poetik fällt nun der Blick auf eine Unterscheidung, die
seit altersher praktiziert worden ist und sich nicht übel bewährt hat: die
Unterscheidung der drei Gattungen oder Urformen Lyrik, Epik,
Dramatik, die sich dann ihrerseits wieder verästeln in das, was man Arten
nennen kann: in Lied und Epigramm, in Epos und Novelle, in Tragödie
und Komödie, und dann immer weiter in speziellere Unterarten wie
historisches Volkslied und Schelmenroman und Stegreifkomödie. Hier steigen
wir erwünschtermaßen in die lebendig-konkrete Vielfalt der geschichtlichen
Erscheinungsformen hinab, die von der abstrakten, ideellen Höhe
der genannten Typologien schwer zugänglich schien. Freilich überwiegt
nun hier dieser individuell-geschichtliche Charakter so sehr, daß man nicht
mehr wagt, von dauernden dichterischen Möglichkeiten zu sprechen. In der
Tat ist es auch nicht üblich, das Gattungs- und Artenproblem unter dem
Gesichtspunkt der Typologie zu sehen; solange man induktiv, gleichsam
von unten her, feste und individuelle Gebilde zu klassieren sucht, gelangt
man zu keiner Idee des Typus.

1
Heinrich Meng, Naive und sentimentalische Dichtung. Prolegomena zu einer
Typologie des Dichterischen (Wege zur Dichtung 25). Frauenfeld und Leipzig 1936.
2
Walther Plümacher, Versuch einer metaphysischen Grundlegung literaturwissenschaftlicher
Grundbegriffe aus Kants Antinomienlehre mit einer Anwendung

auf das Kunstwerk Hermann Hesses (Bonner deutsche Studien, Heft 1, Würzburg
1936).
|#f0079 : 73|

  Das Gattungsproblem, das uns von dieser Seite her zuerst zu beschäftigen
hat, ist denn auch eine alte crux der Poetik, ja hat diese selbst, wo
sie als Sammlung vorgeschriebener Gattungsmuster und -regeln auftritt,
in Verruf gebracht. (Eine ausgezeichnete und reich belegte Geschichte der
Gattungstheorien in der europäischen Literatur gibt die in der Schule von
E. R. Curtius entstandene Arbeit von Irene Behrens1. Über die Diskussion
Goethes und Schillers, in der die Frage von Epos und Drama
zentral wird, vgl. Karl Toggenburger2). Wo die Gattungslehre nicht
mehr als Grundeinteilung der Dichtkunst gilt, da wird es unsicher, wo sie
eigentlich hingehört. Für diese Verlegenheit ist es z. B. bezeichnend, wenn
sie bei Ermatinger unter den Kategorien der äußeren Form (als Aufbautechnik)
erscheint, bei Petersen oder Petsch aber unter den Kategorien
der „inneren Form“. So wird die vielberufene Radikallösung B. Croces
verständlich, im Namen einer schöpferischen, einen und unteilbaren Poesie
die Gattungsunterschiede als wesenhaft nichtexistent, d. h. als zufällige und
nachträgliche Schematisierungen beiseite zu schieben. Das hat aber in keiner
Weise verhindert, daß das Gattungsproblem wieder im Zentrum der
neueren Poetik steht. Das Protokoll der Verhandlungen und Vorträge,
die am dritten internationalen Kongreß für Literaturgeschichte ausschließlich
dem Problem der genres littéraires galten, kann man im Helicon
nachlesen3. (Vgl. dazu van Tieghem4). Sie laufen im wesentlichen darauf
hinaus, die Gattungen und Arten zu rehabilitieren als notwendige Leitformen
und Ordnungen, deren sich die dichterische Sprache bedient und
bedienen muß, um sich auszudrücken und mitzuteilen. Genannt sei speziell
der Beitrag von Pierre Kohler zur Philosophie des Genres. Es werden
sogar ihre ressorts psychologiques erwogen oder es ist gar die „reine Form“
als Wertfaktor der Dichtung in Anspruch genommen. In der Richtung von
Kohlers Bemerkungen geht auch der Satz N. H. Pearsons5, den Wel-

1
Irene Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, vornehmlich
vom 16. bis 19. Ih. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen (Beihefte zur
Zeitschrift für roman. Philologie 92, Halle 1940).
2
Karl Toggenburger, Die Werkstatt der deutschen Klassik. Goethes und
Schillers Diskussion des künstlerischen Schaffens (Zürcher Beiträge zur deutschen
Literatur- und Geistesgeschichte Nr. 1) Zürich 1948.
3
Actes du 3e Congrès international d'histoire littéraire, Lyon 1939. Helicon
II (1940), 95 ff.
4
Paul van Tieghem, La question des genres littéraires. Helicon I (1939), 95.
5
N. H. Pearson, Literary Forms and Types. „English Institute Annual“
1940, 59 ff. New York 1941. ─ James J. Donohue, The Theory of Literary
Kinds. Dubuque, Jowa 1943. (Beide unzugänglich.)
|#f0080 : 74|

lek-Warren S. 235 zitieren: Gattungen „may be regarded as institutional
imperatives, which both coerce and are in turn coerced by the writer“.


  Den größten Teil seines Lebenswerks hat Robert Petsch1 den literarischen
Gattungen und Arten gewidmet. (Eine zusammenfassende Würdigung
dieser Werke gibt Paul Böckmann2). Die „allgemeine Literaturwissenschaft“,
und zwar „deutscher“ Art, die Petsch zu begründen sucht,
setzt sich ab gegen bloße Ästhetik und Werkbetrachtung einerseits und
gegen eine bloß empirisch-beschreibende Historie andererseits. Sie will die
„Erscheinung aus dem Wesen klären“, als reine Dichtungswissenschaft
„die Poesie als vorgängliche Wesenheit für sich, mit und in ihren Äußerungsformen
... begreifen“, d. h. aus dem Verständnis der dichterischen
Gestaltungskraft die unabsehbare dichterische Formenwelt durchdringen
und ordnen. Dabei wird der alte Begriff der „innern Form“ ─ seit
Shaftesbury im Grunde ein paradoxer Verlegenheitsbegriff ─ wichtig.
Die Wesenheit Dichtung entfaltet sich „von innen her“ in die gestalthaften,
wachstumshaften Gebilde bis zur „äußeren Form“. Es gibt nun
aber Grundmöglichkeiten des menschlichen Verhaltens, die sich als durchgehende
innere Form durchsetzen, und sie sind es, die die verschiedenen
Gattungen bestimmen. Zum Beispiel der „dramatische Mensch“ ─ um
uns auf das ausführlichste Werk von Petsch zu beziehen ─ ist „der
Mensch, der imstande und gewillt ist, der den Mut und vielleicht die
Verwegenheit hat, sein Ich und die Welt um ihn her unter dem Gesichtspunkt
der dialektisch gespaltenen Idee zu sehen, von welcher Art der
letzte Widerspruch, inhaltlich gesehen, auch sein möge“. Die Entfaltung
aber der Gattung Drama verfolgt nun Petsch, wenn auch in beständiger Befragung
des geschichtlichen Materials, nicht etwa historisch, sondern systematisch.
Er spricht von den primitiven Wurzeln und Urformen und von
der „inneren Form“ (dramatischer Mensch, dramatische Wirkung, dramatisches
Kunstwerk, Bedeutung und Aufgaben des Dramas), um dann die
verschiedenen Aspekte des Werks in (innerem) Vorgang und (äußerer)
Handlung, in der Gestaltung der Umwelt, der Figuren, der Rede und
der Versform zu behandeln. Ähnlich gliedert Petsch auch die Behandlung
der Erzählformen nach Welt, Mensch und Geschehen. Bei allen Versuchen,

1
Robert Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst. 2. Aufl., Halle 1942. ─
Ders., Die lyrische Dichtkunst und ihre Formen (Handbücherei der Deutschkunde
4,
Halle 1940). ─ Ders., Wesen und Formen des Dramas. Allgemeine
Dramaturgie. Halle 1945. ─ Ders., Deutsche Literaturwissenschaft. Aufsätze zur
Begründung der Methode (Germanische Studien Heft 222, Berlin 1940).
2
Paul Böckmann, Die Lehre von Wesen und Formen der Dichtung (In: Vom
Geist der Dichtung. Gedächtnisschrift für Robert Petsch. Herausgegeben von Fritz
Martini, Hamburg 1949).
|#f0081 : 75|

nach dem „Wesen“ vorzustoßen, bewegen sich diese Gattungspoetiken mit
ihren vielseitigen, reichhaltigen Fragestellungen und Beobachtungen vor
allem in der Fülle des Konkreten. Trotz der entscheidenden Wendung,
ein „Grundverhalten“ zu suchen, kommt es kaum zu einer systematischen
Begründung der Typen, ja auch nur zu einer prinzipiellen Klärung der
Terminologie. Auf der andern Seite bleibt aber auch, wie Böckmann betont,
bei der systematischen Disposition die Entfaltung der Gattungen als
Literaturgeschichte vernachlässigt.


  Was sind Gattungen? Emil Staiger hat die Frage neu gestellt1 und
mit einer bei der heutigen Begriffsverwirrung willkommenen Entschiedenheit
zu lösen gesucht. Die Entscheidung geht dahin, die Gattungsbegriffe
Lyrisch, Episch, Dramatisch als fundamentale Stilbezeichnungen zu bestimmen,
als „poetische Grundbegriffe“. Damit wird die Gattungspoetik,
soweit sie überhaupt als sinnvoll bestehen bleibt, zu nichts anderem als
zur Stiltypologie. Es interessiert also zunächst die adjektivische Fassung:
„lyrischer“, „epischer“, dramatischer“ Stil. Und dieser Gebrauch ist grundsätzlich
vom substantivischen zu scheiden. Denn dieser zweite insinuiert
die gefährliche Vorstellung von Klassen, von Fächern, in die wir die Fülle
der Einzelexemplare sauber verteilen könnten, wie etwa die Tiere in die
festen Tiergattungen. Gerade dies geht aber nicht, wie Staiger mit einer
Kritik an Petersens scharfsinnigem Radschema der vorkommenden Gattungen
und Arten zeigt. Es gibt hier alle Übergänge, eine Zuweisung
könnte nur nach vielleicht willkürlich bestimmten äußeren Merkmalen
erfolgen; und vor allem: mit der „Reinheit“ der Form hätte man nichts
gewonnen, denn eine Gattungsform ist nicht ein Muster, das erfüllt sein
muß, Gattungsbestimmungen sind wertindifferent. Als stilistische Grundbegriffe
aber werden die Bezeichnungen sinnvoll; sie können nun verstanden
werden als „literaturwissenschaftliche Namen für Möglichkeiten des
menschlichen Daseins“, sie erhalten anthropologischen Sinn und erschließen
im Einzelwerk neue Zusammenhänge zwischen einzelnen Stilzügen. Stai-
gers Gattungslehre ist somit eine Weiterbildung und Systematisierung der
Befunde, die sein erstes Buch an verschiedenen individuellen Stilen beschrieben
hat. Denn diese Gattungsstile erhalten nun ebenfalls ihre temporale
Deutung. In glänzenden Charakteristiken wird das Lyrische (sein Zerfließen,
sein Stimmungshaftes, Abstandloses, Punktuelles, Grundloses usw.)
vor allem an Hand des romantischen Liedes unter der Bestimmung „Erinnerung“
gefaßt, das Epische (Vergegenwärtigung, Feststellung, Distanz,
Selbständigkeit der Teile, Tradition und Gemeinschaft) am Beispiel Homers
als „Vorstellung“, und das Dramatische als „Spannung“, einer pathetischen

1
Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946.
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Spannung des Willens oder einer problematischen Spannung des entworfenen
Gedankens; und jeder dieser zwei dramatischen Typen kennt
eine tragische oder eine komische Lösung. Erinnerung, Vorstellung, Spannung
sind aber die literarische Form der drei Ekstasen der existenziellen
Zeit, als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Damit sind die Gattungsstile
auf ihren gemeinsamen Nenner gebracht; damit ist begründet, warum
nur diese und nicht andere oder weitere zu unterscheiden sind; und damit
ist schließlich auch erklärt, warum diese Typen niemals rein, sondern nur
vorwiegend erscheinen können: wie Silbe, Wort und Satz in der Sprache,
oder wie Seele, Leib und Geist beim Menschen nur ineinander da sind, so
tritt, in genauer Entsprechung, ein Stiltypus nur als besondere Akzentuierung
hervor1. Darum ist z. B. das Dramatische auch an einer Novelle
oder einem Epigramm zu demonstrieren und sind diese Formen poetisch legitim.
(Schon vor Staiger hat übrigens Justus Schwarz2 die Frage nach
dem „urphänomenalen“ Charakter der Gattungen gestellt und zum Ausgangspunkt
ihr Verhältnis zur „Zeitlichkeit unseres Daseins“ genommen.
Ohne Bezugnahme auf Heidegger kommt er zu teilweise andern Zuordnungen:
die Lyrik ist Gegenwart als die ursprunghafte Mitte, die sich nach
entgegengesetzten Seiten entfaltet, als Epik im Raum der Vergangenheit,
als Dramatik im Zeichen der Zukunft; auch hier sind die Gattungsprinzipien
als immer gleichzeitig wirksame „dynamische Momente“ aufgefaßt.)


  Das sind soweit ausgezeichnete Ergebnisse: 1. eine Klärung der Terminologie,
die man ungestraft nicht mehr wird übersehen können, 2. die Begründung
einer philosophisch fundierten, dichtungseigenen und geschlossenen
Stiltypologie, die den Gesamtstil und nicht nur Einzelaspekte betrifft, und
3. die Befreiung des Gattungsproblems vom Wertgesichtspunkt (vgl. unten).
Sind damit die Gattungen als Klassen, als „das“ Drama, „die“ Lyrik
usw. abgetan? Was bedeutet es, wenn wir doch in Wirklichkeit solche wie
es scheint nach einheitlichem Modell gebaute Gruppen von Werken antreffen?
Sind substantivische Gattungsbezeichnungen wesenlose Nomina? Ist es
belanglos, wenn z. B. der Typus Epik nur Homer, aber die gesamte herkömmlicherweise
auch zur Epik gerechnete abendländische Erzählung nur
teilweise deckt? Hier beschwert sich Staiger3 über die „seltsamsten Mißverständnisse“,
die seinem Buch widerfahren seien. Er gibt zu, daß er sich
nicht getraue, jeden Zusammenhang zwischen dem Epischen und dem Epos,

1
Schon Novalis hat gefragt: „Sind Epos, Lyra und Drama etwa nur die
3 Elemente jedes Gedichts und nur das vorzüglich Epos, wo das Epos vorzüglich
heraustritt, und so fort?“
2
Justus Schwarz, Der Lebenssinn der Dichtungsgattungen. DuV 42 (1942)
93 ff.
3
Emil Staiger, Zum Problem der Poetik. Trivium VI (1948), 274 ff.
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dem Lyrischen und der Lyrik in Abrede zu stellen. Ja er gesteht sogar unter
gewissen Bedingungen die Möglichkeit einer Art Musterpoetik zu, die ─
mit dem Begriff des Spielraums ─ fragen würde: Was ist im Raum der
Ode, der Elegie, des Romans, der Komödie möglich? „Nur möchte ich mich
weigern, dieses Geschäft zu übernehmen. Denn die Verhältnisse scheinen
hier so kompliziert und schwierig zu sein, so groß ist mein Glaube an neue,
ganz unerwartete Möglichkeiten der Dichter, daß ich von den Grundbegriffen
lieber gleich zur Interpretation des einzelnen Kunstwerks übergehe.“
Das Recht zu solchem Verzicht wird niemand bestreiten, aber das Problem
wird wegen seiner Schwierigkeit noch nicht hinfällig. Das Problem nämlich
und die Aufgabe, den zwischen dem Typus und dem Einzelwerk stehenden
Gruppeneinheiten, Stilganzheiten nachzugehen, ohne deren Berücksichtigung
das Einzelwerk im geschichtslosen Raum bzw. einem geschichtlichen
Chaos schweben würde. Es meldet sich für die Poetik die Tatsache,
daß sich Dichtung nur in geschichtlichem Zusammenhang zeigt, wie sie Stai-
ger selbst bei seinen Interpretationen (z. B. Kellers) auch berücksichtigt.
Es zeigen sich über dem Einzelwerk Ordnungen, Stilschemata, stilistische
Ganzheiten, mit denen und aus denen die Einzelwerke leben. Zu ihnen gehören
auch die Gattungen und Arten bis hinein in ganz bestimmte Bautypen.
Sie werden allerdings nicht a priori abzuleiten und nicht als „Naturformen“
zu verstehen sein, sondern in ihrem spezifisch geschichtlichen
Charakter, d. h. aus der Dialektik von fester Tradition und unberechenbarem
Ursprung, wobei sich das Verhältnis von Typus und Individualität
immer wieder umkehrt.


d) Einzelprobleme von Gattungen und Arten

Das zeigt sich bei dem ─ von Staiger abgelehnten ─ Versuch, die Typologie
nun im einzelnen weiter zu verästeln: der Poetiker muß sich hier
immer mehr auf das Feld der konkreten geschichtlichen „Form“ und Form-
Tradition begeben; die Poetik kommt hier nicht mehr ohne die Historie
aus. ─ Es wird sich darum auch im Folgenden nur um einzelne Hinweise
handeln können, da hier die Prinzipienlehre in die historische Einzelbeschreibung
übergeht und dadurch erst recht auch in das Gestrüpp einer
Nomenklatur der Formen gerät, die von Sprache zu Sprache und von
Epoche zu Epoche wechselt. Wir müssen aber auch hier schon Versuche berücksichtigen,
das Wesen einer Gattung oder Art in einer Gattungs- oder
Artgeschichte zu fassen, da hier das Ziel eher in der Erkenntnis der Gattung
selbst als der Literaturgeschichte besteht.


  Die Lyrik ─ wie immer ihr Typus bestimmt, wie immer ihre Zeitlichkeit
gedeutet wird, ─ erscheint als „Ur-Dichtung“, in der sich das dichterische |#f0084 : 78|

Phänomen gleichsam an der Quelle zeigt; von ihr aus werden erst
die zu größeren Strukturen ausgebauten und verfestigten epischen und dramatischen
Dichtungen zugänglich. Dieser Gedanke liegt den Beschreibungen
von Kommerell1 und von Staiger oder Schwarz zugrunde und meist
auch den zahllosen Interpretationen ─ etwa bei Burger ─, die sich das
einzelne lyrische Gedicht als bequemsten Zugang zur Erläuterung des
„Wesens“ Dichtung wählen. Aber dies ist eine wesensmäßige, nicht eine
geschichtlich-entwicklungsmäßige Ursprünglichkeit. Denn die „Innerlichkeit“2,
die Seelenhaftigkeit, die Spontaneität der Lyrik, wie sie heute in
den Mittelpunkt gerückt werden, sind erst auf später geschichtlicher Stufe
deutlich. Gerade die primitiven Formen der Lyrik (wie sie etwa Andreas
Heusler3 in der altgermanischen Literatur unterschied, unter erfolgreireicher
heuristischer Verwendung des Begriffs von der Gattung als einem
Formgebilde, oder wie sie systematisch Petsch4 beschreibt), haben am
wenigsten „Lyrisches“, sind eingespannt in eine feste Funktion, ─ als
„Vorform“ (Petsch) der Volksdichtung noch unabgelöst von praktischen
Verrichtungen, als „Frühform“ festgelegt an Ort und Gelegenheit, in bestimmter
sozialer Übung. Gerade Kommerell zeigt, daß das, was heute das
Wesen der Lyrik ausmacht, mit einem Wort das Liedhafte, im Deutschen
erst spät aus dem Verlust jener sozialen Funktion entstand, daß erst aus
dieser „schöpferischen Verlegenheit“ in der Goethe-Zeit das lyrische Gedicht
„spontan“ wurde, sich „selbst bestimmen lernte“ und „fortan nur noch der
unwiederholbaren Schwingung der Seele, die es enthielt“, gehorchte. Es nahm
die das Lied ursprünglich begleitende Musik gleichsam in sich hinein.


  Damit ist auch bereits ein Ansatz zu weiterer Unterteilung der Lyrik
gegeben. Günther Müllers5 morphologische Erwägungen führen zu den
zwei Haupttypen des sinnenhaften, singenden, malenden, lösenden Liedes,
und der geistigen, sprechenden, zeichnenden, spannenden Ode. Dazwischen
ordnet er weniger scharf unterscheidbare Formen an: den „Gesang“
in die Nähe des Liedes, aber in der Richtung auf die Ode, und die
Spruchdichtung (in einem allgemeinen Sinn) in die Nähe der Ode, aber mit

1
Max Kommerell, Vom Wesen des lyrischen Gedichts (In: Gedanken über
Gedichte s. o.).
2
Johann Brändle, Das Problem der Innerlichkeit; Hamann, Herder, Goethe,
Bern 1950.
3
Andreas Heusler, Altgermanische Dichtung. 2. Aufl., Potsdam 1941.
4
Robert Petsch, Spruchdichtung des Volkes. Vor- und Frühformen der Volksdichtung.
Ruf, Zauber- und Weisheitsspruch, Rätsel, Volks- und Kinderreim

(Volk. Grundriß der deutschen Volkskunde Bd. 4, Halle 1938).
5
Günther Müller, Die Grundformen der deutschen Lyrik (Von deutscher Art
in Sprache und Dichtung Bd. 5, Berlin 1941, 95 ff.).
|#f0085 : 79|

freierem innerem Spielraum in der Richtung auf das Lied. In der Hymne
erkennt er schließlich eine selten realisierte Synthese der verschiedenen
Möglichkeiten. Petsch1 unterscheidet ähnlich neben dem Lied die Spruchdichtung
(Gedankenlyrik, lyrischer Mythos, Idylle, Elegie, Satire) und die
hymnische Dichtung ─ also im wesentlichen eine gehaltmäßige Unterscheidung.
Wie schwierig eine systematische und nicht nur nach einzelnen
Aspekten vorgehende Gruppierung wird und erst recht Versuche, verschiedene
Systeme zur Deckung zu bringen, mögen immer noch die Artikel
„Lyrik oder Lied“ in Merker-Stammlers „Reallexikon“ lehren; Klassifikationen
des Liedes wie „Distanzlied“ und „Ausdruckslied“ mögen innerhalb
des Systems begründet sein, aber bleiben doch recht akademisch. Interessant
und ungewohnt, aber etwas willkürlich, wirkt der Versuch von
Julius Wiegand2, gerade bei der scheinbar so unarchitektonischen Gattung
der Lyrik vom Aufbautechnischen her eine Typologie lyrischer
Formen (z. B. Häufung, Gleichlauf, Gegenstand, Kette usw.) aufzustellen.


  Selbst bei engeren und bestimmteren Arten ergeben sich große Schwierigkeiten.
Dafür ist Beissners Geschichte der deutschen Elegie3 ─ wohl
das bedeutendste Beispiel einer Gattungs- bzw. Art-Geschichte seit Vietors
Geschichte der Ode, Günther Müllers Geschichte des Liedes, Wolfgang
Kaysers Geschichte der Ballade4 ─ sehr aufschlußreich. Eine „Elegie“
kann sein ein Gedicht in Distichen, d. h. ein Gedicht elegischen Versmaßes
(vgl. dazu Ludwig Strauss5); ein Gedicht bestimmten Aufbaues; ein Gedicht
elegischen Stoffes oder elegischer Stimmung (z. B. ein Grabgedicht);
ein Gedicht mit dem Titel „Elegie“; und schließlich alle Gedichte, die der
Darsteller auf Grund einer Theorie des „Elegischen“ einzureihen für nötig
findet. Nie werden alle möglichen Merkmale zusammentreffen oder ausschließlich
vorhanden sein; je nach der Wahl des Gesichtspunktes, und das
heißt zugleich je nach dem Sprachgebrauch oder den poetischen Leitvorstellungen
einer Epoche, ergeben sich andere Gruppierungen. Beissner verzichtet
allerdings resolut auf eine solche Leitidee oder Definition, denn er habe

1
Robert Petsch, Die lyrische Dichtkunst. Ihr Wesen und ihre Form (Handbücherei
der Deutschkunde Bd. 4,
Halle 1940).
2
Julius Wiegand, (Verschiedene Aufsätze) „Zeitschrift für deutsches Altertum“
73 (1936) 133 ff.; ZfAesth XXXI (1937), 2 ff. „Germanisch-Romanische
Monatsschrift“ 26 (1938), 122 ff. ZfdPh 64 (1939) 27 ff.
3
Friedrich Beissner, Geschichte der deutschen Elegie (Grundriß der germanischen
Philologie Bd. 14, Berlin 1941).
4
Wolfgang Kayser, Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936.
5
Ludwig Strauß, Zur Struktur des deutschen Distichons. Trivium 6 (1948)
52 ff.
|#f0086 : 80|

es als Historiker nur mit den geschichtlichen Verwirklichungen, nicht mit
einer Idee zu tun. „Nur für eine bestimmte Zeitlage“ lasse sich jeweilen
eine Dichtgattung nach ihren Merkmalen beschreiben. „Einheit und Durchgängigkeit
und Zusammengehörigkeit“ dagegen seien trotzdem empirisch
faßbar, weil sich der Sinnzusammenhang von selber herausstellen müsse;
der Grund dafür ist nicht zuletzt die beständige Wiederaufnahme klassischer
Vorbilder, durch die eine Auflösung und Selbstentfremdung der Gattung
verhütet wird. Dann aber ist es vielleicht zu bedauern, daß Beissner nicht
wenigstens nachträglich eine, wenn auch noch so weite, Bestimmung gibt.
Auch verwirrt es den Leser wieder, wenn im Laufe der ausgezeichneten und
sorgfältigen Ausführungen nun doch der Begriff der „echten Elegie“ oder
der „Elegie im eigentlichen Sinne“ verwendet wird, oder umgekehrt ganze
Arten wie etwa die mittelalterliche Weltklage ausgeschlossen bleiben. So
wird die Einheit des Gegenstandes über so lange Zeiträume hin überhaupt
fraglich. In bewußter Reaktion dazu untersucht dagegen Castle1 einen
bestimmten, durch symmetrische Struktur gekennzeichneten Bautypus, nämlich
die Elegie der alexandrinischen Dichter und ihrer lateinischen und
deutsch-klassischen Nachahmer. Hier haben wir eine durchaus geschlossene
Tradition eines wenn auch sehr künstlichen Gebildes. Aber Tradition hält
sich besonders an solche äußerlich-formale, d. h. leicht abstrahierbare Merkmale
„äußerer“ Form. Eine solche, durch Aufbau und Funktion hoch spezialisierte
und darum an eine bestimmte, zeitlich begrenzte Tradition gebundene
Form ist auch die Sequenz, die uns heute durch das monumentale
Werk von den Steinens2 wieder nahe gebracht wird.


  Ebenfalls ein formales, strukturelles Problem, wenn auch höherer Ordnung,
ist das Problem der zyklischen Struktur lyrischer Dichtungen,
das in weitem Umkreis und sehr sorgfältig von H. M. Mustard3 untersucht
worden ist; die im wesentlichen nur historische Darstellung erfolgt
unter der Unterscheidung eines bloßen zyklischen „arrangements“ oder
echter „composition“.


  Im Bereich des Epischen wird der Übergang vom adjektivischen zum
substantivischen Gebrauch der Gattungsnamen, der Übergang von der epischen
Haltung zu den konkreten Formen der Epik noch schwieriger, die
formale Einheit der Gattung noch fraglicher. Als reiner Vertreter des epischen

1
Eduard Castle, Das Formgesetz der Elegie. ZfAesth XXXVII (1943) 42 ff.
2
Wolfram von den Steinen, Notker der Dichter und seine geistige Welt.
Bern 1948. 2 Bde.
3
Helen Meredith Mustard, The Lyric Cycle in German Literature. New York
1946.
|#f0087 : 81|

Typus bietet sich immer nur das Epos des einen Homer1 an und hier
besonders die Ilias, und dieser homerische Typus verschwindet gleichsam
mit dem Beginn der Literaturgeschichte; umgekehrt bedeutet er selber keinen
Anfang, da das Buch-Epos aus kurzepischen Formen hervorgeht und
zudem die Persönlichkeit des Dichters schon stark hervortritt. Eine echte
Ur- und Naturform scheint hingegen das Märchen2 zu sein, in welches
die Romantik ja die Erzählung selber wieder zurückführen wollte.
Gerade hier aber hat ─ in Fortsetzung von Petsch u. a. ─ das Buch von
Max Lüthi3, eben auf Grund einer stilkritischen Untersuchung, gezeigt,
daß das Märchen als Gattung eine hoch-künstliche Form ist, ja eine Spätform,
die einen geistigen Abstraktionsprozeß und damit vielleicht auch eine
Geschichte hinter sich hat; die innere Übereinstimmung des internationalen
Märchengutes ist weniger aus zeitlos gleichen Voraussetzungen der Märchenerzähler
als durch bestimmte geschichtliche Zusammenhänge zu erklären,
als Schöpfung höchstens für Primitive, nicht von Primitiven. Hier ist
es wohl der stilkritischen Betrachtung gelungen, tiefer zu sehen, als es eine
stofflich-motivische Vergleichung vermochte. Was eine mehr motiv-geschichtliche,
volkskundliche, psychologische Untersuchung als märchenhaft
herausgestellt hat, ─ etwa das Wunschdenken, noch 1939 in der anspruchslosen
Dissertation von Spanner4 ─ betrifft nur das Material, das erst im
Stilzusammenhang des Märchens seinen Sinn bekommt; und da zeigt sich
eben gerade eine Entleerung der verschiedensten Motive von ihrer ursprünglichen
sozialen, psychischen oder magischen Bedeutung zugunsten einer
freien Verwendbarkeit in dem mühelosen Spiel einer reinen Kunstform,
die Lüthi mit den Stichworten Eindimensionalität, Flächenhaftigkeit, abstrakter
Stil, Isolation, potentielle Allverbundenheit kennzeichnet. Von dieser
stilistischen Bestimmung aus ergeben sich auch die entscheidenden Grenzen
gegenüber der Sage5.

1
Wolfgang Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk. Leipzig 1944. ─
Ernst Howald, Der Dichter der Ilias. Zürich 1946.
2
Friedrich Ranke, Märchenforschung. Ein Literaturbericht (1920─1934). DV
14 (1936) 246 ff. ─ J. von der Leyen, Die Welt des Märchens. Köln-Krefeld
195 .. (angekündigt).
3
Max Lüthi, Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. Bern 1947. ─
Ders., Märchen und Sage. DV 25 (1951) 159 ff.
4
Hanns Spanner, Das Märchen als Gattung (Gießener Beiträge zur deutschen
Philologie 68. Gießen 1939).
5
Max Lüthi, Die Gabe im Märchen und in der Sage. Ein Beitrag zur Wesenserfassung
und Wesensscheidung der beiden Formen.
Diss. Bern 1943. ─
Ernst Alfred Philippson, Über das Verhältnis von Sage und Literatur PMLA 62
(1947) 239 ff.
|#f0088 : 82|

  Was nun das Epos betrifft, so weicht es, im Grunde seit der Odyssee, dem
Roman, also einer Form, deren Merkmal gerade die Formlosigkeit, die
poetische Illegitimität zu sein scheint. Seit dem ritterlichen Mittelalter und
nicht zuletzt unter christlichem Einfluß spielt der Roman eine entscheidende
und repräsentative Rolle in der Bewegung des abendländischen Geistes und
ist heute bei aller möglichen Vulgarität die durchaus herrschende Literaturart
überhaupt. Das Bedürfnis, über dieses eigenartige Phänomen ins Klare
zu kommen, ist offensichtlich nicht nur eine Frage der wissenschaftlichen
Gattungstheorie, sondern beschäftigt als allgemeines Kulturproblem auch
die Dichter und die Philosophen1.


  Es ist leichter, das Unepische des Romans als das Romanhafte des Romans
zu bestimmen (zur Geschichte des Terminus vgl. W. Krauss2). Der
Verlust des Mythisch-Gemeinschaftlichen zugunsten des Gesellschaftlichen
und schließlich Persönlich-Privaten bedeutet eine Krise der Wirklichkeit,
die nun immer neu als „Abenteuer“ wieder gewonnen werden muß3. Die
Totalität der Welt und damit die Erfüllung des Daseins ist nicht mehr als
Wirklichkeit, sondern nur noch als Ziel vorhanden. Das läßt sich als ein
Einströmen des dramatischen Elements ins Epische kennzeichnen. Dieses
Dramatische scheint, geistesgeschichtlich gesehen, eine Folge der im späteren
Griechentum beginnenden, vom Christentum vollzogenen Wandlung, in welcher
die Welt fragwürdig und zwiespältig geworden ist. Über diesen „Dramatismus“
des Romans spricht Koskimies4. Der Prozeß verläuft allerdings
in verschiedenen Stufen: noch der Ritterroman hält an der epischen Form
der wenn auch verkürzten Verse fest. Die wohl noch immer gescheiteste
Untersuchung der Gattung (durch Georg v. Lukacs, 1920) betrachtet den
Roman in seiner vollen Ausbildung als spezifisch neuzeitliche Erscheinung
und charakterisiert ihn einmal als Form der „transzendentalen Obdachlosigkeit“.
Die Offenheit, die Formlosigkeit der Gattung entspricht in
einem weiteren Sinn daher auch der „Stilmischung“, wie sie Auerbach beschreibt.
Die reichhaltigste Darstellung der epischen Gattungsprobleme findet
sich wohl immer noch bei Petsch und Koskimies, welch beiden mehr an
einer beschreibenden und diskutierenden Darstellung als an einer strengen

1
J. R. Frey, Bibliographie zur Theorie und Technik des deutschen Romans
1910─1938. MLN 54 (1939), 557 ff.
2
W. Krauss, Novela-Novella-Roman. „Zeitschrift für romanische Philologie“
60 (1939) 16 ff.
3
Anton Szerb, Die Suche nach dem Wunder. Umschau und Problematik in
der modernen Romanliteratur. Amsterdam-Leipzig 1938.
4
R. Koskimies, Theorie des Romans (Annales academ. scient. Fennicae XXXV,
I). Helsinki 1935.
|#f0089 : 83|

Systematik gelegen ist. Während Petsch nebeneinander die Bauelemente
der Figuren, der Handlung und des Raumes untersucht, stellt Koskimies
auf Grund einer allgemeinen Theorie des Erzählens die „Fabel“ in die
Mitte, als den eigentlichen Kern und die „Energiequelle“ des erzählerischen
Schaffens, auf welche die Art der Komposition wie auch das „Ethos“ des
Romans zurückgeführt werden kann. Ähnlich spricht das klassisch gewordene,
in deutscher Übersetzung neu aufgelegte Werk von E. M. Forster1
vom „plot“, das dem Roman nicht fehlen dürfe, auch wenn sein letztes
Ziel „a melody or a perception of truth“ sei; gerade dieses „plot“, die
Intrige, die Fabel ist es aber, was im modernen Roman, etwa seiner Bewußtseinsanalyse
und seiner Zeitgestaltung überhaupt, in den Hintergrund
tritt und fragwürdig wird; Thomas Mann2 erläutert die Komposition
seiner Romane mit musikalischen Begriffen.


  Einteilungen, Typologien des Romans sind die verschiedenartigsten versucht
worden. Lugowskis bereits besprochene Unterscheidung von Märchen-
Roman und Anti-Märchen-Roman hat den Vorteil, daß sie sich unmittelbar
auf die Gesamtheit des Stils, d. h der Wirklichkeits-Auffassung bezieht
und die dem Romane eigentümliche dramatisch-dialektische Entfaltung
in der Literaturgeschichte in den Blick bekommt. Koskimies' Unterscheidung
von naiven und schizothymen Erzählertypen verschiebt das
Problem nach der psychologischen Seite. Mehr äußerliche, aufbautechnische
Gesichtspunkte liegen den Unterscheidungen von Günther Müller,
Petsch, Kayser u. a. zu Grunde, wenn sie (nach dem jeweiligen Vorwiegen
eines der nötigen Aufbau-Elemente jeder Erzählung) Geschehnis-Roman,
Figuren-Roman, Raum-Roman unterscheiden. Zum Teil quer zu diesen
Typen stehen die traditionellerweise unterschiedenen Arten3, die meist

1
E. M. Forster, Aspects of the novel, London 1927.
2
Thomas Mann, Einführung in den Zauberberg (1939) (in: Der Zauberberg,
Stockholm 1939).
3
Christine Morrow, Le roman irréaliste dans les littératures contemporaines
de langues française et anglaise. Toulouse-Paris 1941. ─ Elisabeth Korrodi, Zeit
und Bewegung im französischen Abenteuerroman des 20. Jahrhunderts. Diss.
Zürich 1939. ─ Berta Berger, Der moderne deutsche Bildungsroman. (Sprache und
Dichtung 69) Bern 1942. ─ Charlotte Kehr, Der deutsche Entwicklungsroman
seit der Jahrhundertwende. Diss. Leipzig 1938. ─ Hans Heinrich Borcherdt, Der
deutsche Bildungsroman. (In: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung V,
3 ff.). ─ Max Wehrli, Der historische Roman. Versuch einer Übersicht. Helicon
III. (1941) 89 ff. ─ Robert Faesi, Dichtung und Geschichte (108. Neujahrsblatt
der Gelehrten Gesellschaft Zürich 1945). ─ Phil. Babcock Gove, The imaginary
voyage in prose fiction, a history of its criticism and a guide for its study (mit
Bibliographie) 1700─1800. New York 1941.
|#f0090 : 84|

auf Grund inhaltlicher Gemeinsamkeit konkrete literaturgeschichtliche Traditionen
verkörpern: Bildungs- und Entwicklungs-Romane (etwa von Bor-
cherdt dem „Handlungs- oder Ereignis-Roman“ entgegengestellt,) historischer
Roman, Reiseroman, Utopie usw. Mit dem Anliegen einer Gattungspoetik
haben sie nur indirekt zu tun.


  Heute ist von einer Krise oder gar dem Ende des Romans die Rede oder
es wird die Rückkehr des Romans zum Mythus gefordert (Thomas
Mann1). Daß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff des Menschen
und der Persönlichkeit auf weitere Horizonte hin gesprengt worden
ist, bedeutet allerdings eine tiefgreifende Umlagerung auch der Probleme
des Romans, der bei diesem zugleich zerstörerischen und befreienden Abenteuer
des Geistes selbst maßgebend beteiligt war. So wenig wie der historische
Roman die im 19. Jahrhundert postulierte Rückkehr zum Epos vollzog,
wird der mythologische Roman eine Rückkehr zum echten Mythus
oder gar zum echten Initiationsmythus sein. Nicht die Gattung als solche,
höchstens ihre zeitbedingte Erscheinungsform ist wohl von diesem Wandel
betroffen. Hier zeigt die von über 50 französischen Autoren unter Leitung
von Jean Prevost bestrittene Essai-Sammlung2, die gegen Ende des
Krieges erschien, nicht nur die Krise des Romans in allen möglichen Aspekten,
sondern auch die neue Aktualität, die überraschende Wandlungsfähigkeit
dieser Art selber.


  Auf andere epische Formen kann hier nicht eingegangen werden; sie
kommen u. a. bei Petsch zur Sprache und stellen oft vorwiegend ein historisches
Problem dar, abgesehen von den hier verstärkten terminologischen
Schwierigkeiten (Erzählung, Novelle3 Kurzgeschichte usw.); ein beherrschendes
Phänomen vor allem der angelsächsischen neueren Literatur ist die
short story, zu deren Entwicklung auch bestimmte soziale und wirtschaftliche
Umstände beigetragen haben4.


  Als höchster und letzter Gattungstypus ist immer wieder das Drama
(vgl. die umfassende Behandlung durch Petsch und, wesentlich anspruchsloser

1
Thomas Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Amsterdam 1949. ─
Karl Kerenyi und Thomas Mann, Romandichtung und Mythologie; ein Briefwechsel.
Zürich 1945.
2
Problèmes du roman, sous la direction de Jean Prévost par Paul Valéry,
Edmond Jaloux (und andere). (Lyon) o. J. ─ Claude-Edmonde Magny, Histoire
du roman français depuis 1918. I. Paris 1950.
3
E. K. Bennet, A History of the German Novelle (mit Bibliographie). Cambridge
1934.
4
Amerikanische Erzähler, ausgewählt und eingeleitet von Fritz Güttinger,
Zürich 1946.
|#f0091 : 85|

und mit praktischer Absicht, A. R. Thompson1) bezeichnet worden.
Weniger vielleicht in einem historisch-entwicklungsmäßigen Sinne als in
dem systematischen, daß die Dichtung vom Grund des Lyrischen, Monologischen
als ihrer Urform aufsteigt zur breiten, ruhigen Welt des Epischen,
und schließlich zur ideell und existentiell gespannten dramatischen Kunst,
in der die geistigsten, umfassendsten Funktionen und Entscheidungen des
Menschen zum Vollzug kommen, und wo in der tragischen oder komischen
Auflösung letzte mögliche Grenzen des Daseins erreicht sind. (Vgl. E. Stai-
ger S. 224 ff.). Wenn der Roman eine Art Experimentierfeld des abenteuerlichen
abendländischen Geistes ist, so vollzieht sich im Drama und
speziell in der Tragödie sein Schicksal. „Vollziehen“ auch insofern, als das
Dramatische im Drama selber agiert wird, sich zwar praktisch in der späten
Abstraktion eines Lesedramas literarisch verselbständigt, aber im wesentlichen
doch nach der Darstellung, nach der theatralischen Handlung
strebt. Umgekehrt gesagt: das Drama hat sich weniger als Lyrik oder Epos
von der sozialen, politischen, magischen, religiösen Funktion gelöst, und das
gestaltende und distanzierende Wort kann immer wieder vor der reinen
Handlung zurücktreten, ja verstummen. So reicht die Welt des Dramas
als Feier und Spiel, als Mimus und Theater, weit über das Literarische hinaus.
Dichtung und Theater haben unter Umständen ein problematisches
Verhältnis2. Man kann zwar, und auch Petsch tut es, das „dramatische
Spiel“ als die „Urform“ des Dramas bezeichnen, und das Spiel noch auf
vordramatische Formen (Feier, kultische Handlung) zurückführen; aber das
„eigentlich“ Dramatische als geistige Spannung und Entscheidung hat oft
wenig damit zu tun. Das Mittelalter etwa kennt daher in diesem strengen
Sinne kaum ein Drama ─ das haben erneut die zusammenfassenden Darstellungen
von Young3 oder Hartl4 gezeigt, ─ und so sehr in der antiken
Tragödie diese Ur-Funktion des kultischen Spieles noch mitbeteiligt ist,
die ungeheure Tat des Aeschylus ereignet sich auf anderem Boden. Man
hat so, um dem Wesen des Dramatischen nahe zu kommen, diese nach dem
Theatralisch-Spielmäßigen oder letztlich „Kultischen“ weisenden Feiern
Spiele, Schauspiele, ausgeschieden aus dem Bereich des eigentlichen Dramatischen
und des geistesgeladenen, gespannten Wortes, und hat damit diesem
zugleich die strenge Alternative Tragödie oder Komödie gerettet.
Ob jene dritte Form neben Komödie und Tragödie, das Spiel oder das
1
Alan Reynolds Thompson, The Anatomy of Drama. 2nd ed. Berkeley-Los
Angeles 1946.
2
Ronald Peacock, The Poet in the Theatre. (Essays) London (1946).
3
Karl Young, The Drama of the Medieval Church. 2 vols. Oxford 1933.
4
Eduard Hartl, Das Drama des Mittelalters (in: Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen,
4 Bde.), Leipzig 1937─1942.
|#f0092 : 86|

Schauspiel, in gleichem Range bestehen kann, oder ob es als Mischform
oder abgesunkene oder im Theatralischen steckengebliebene Form aufzufassen
ist, die den „geringeren dramatischen Bedürfnissen weiter Menschheitskreise“
entgegenkommt (Petsch), diese Frage betrifft mehr die historische
und systematische Deutung als das zahlenmäßig herrschende Vorkommen
dieser Form.


  Wir stehen damit bereits bei den Diskussionen um die „Arten des Dramas“,
die in der deutschen Germanistik vor allem durch einen Aufsatz
Kluckhohns1 ausgelöst und durch eine Reihe anderer Aufsätze in der
„Deutschen Vierteljahrsschrift“ fortgeführt worden sind. Es läuft hier
schließlich auf ein ingeniöses Zusammenspiel von Typen in einem möglichst
symmetrischen System hinaus, bei welchem übliche Bezeichnungen wie
Tragödie, Komödie, Lustspiel, Spiel usw. teils verwendet, teils umgebogen
und durch neue Namen (Gnadendrama, Humorspiel usw.) ergänzt werden
müssen. Dabei kommen zweifellos Unterschiede zwischen einzelnen Dramen
und Dramen-Typen zutage, aber im ganzen wird doch eher ein abstraktes
Systembedürfnis als eine Wesenserkenntnis befriedigt. Es ist gegen
solche Gattungssysteme dasselbe zu sagen wie gegen die Schemata Pe-
tersens. Auch sie rufen nach einer Entfaltung auf historischem Weg.


  Neben dieser, von den herkömmlichen, letztlich aristotelischen Scheidungen
ausgehenden Systematik, ist ─ wie bei der Epik ─ auch eine andere
Organisation denkbar und praktiziert worden, die sich nicht an zum vornherein
getrennten Dramentypen, sondern am Vorwiegen der einzelnen Aufbau-Elemente
orientiert und dann nachträglich einzelne bekannte Arten
einbauen kann. So findet sich in der Dramaturgie von Petsch keine systematische
Behandlung des „Komischen“ oder des „Tragischen“; das Drama
wird als Ganzes besprochen nach seinen Elementen des Geschehens, der Umwelt,
der Figuren und ihrer Reden. Nach diesem strukturellen Gesichtspunkt
unterscheidet Kayser parallel zur Epik Geschehnis-Drama, Figuren-
Drama und Raum-Drama; „das Tragische und das Komische sind Phänomene,
die quer durch die Literatur hindurchgehen“, also nicht nur auf das
Drama bezogen werden. Das Geschehnis-Drama findet immerhin seine dichteste
Form im Handlungs-Drama und hat hier eine besondere Neigung
zur Tragödie; das Raum-Drama dagegen verwirklicht sich besonders im
„Spiel“. Umgekehrt aber und nicht gerade logisch widmet Kayser der
Komödie einen eigenen Abschnitt und teilt sie wiederum in Geschehnis-,
Charakter- und Raum-Komödie (Lustspiel). Diese Distinktionen sind wohl
weder praktisch noch schlüssig. Daß Tragik und Komik quer durch die
Literatur hindurchgehen, hindert nicht, sie als die beiden Möglichkeiten des

1
Paul Kluckhohn, Die Arten des Dramas. DV 19 (1941), 241 ff.
|#f0093 : 87|

Dramatischen aufzufassen und diesem zu unterstellen, denn dieses ist ja als
Haltung, nicht als bestimmte Strukturform bestimmt worden; wenn aber
schon die konkreten Art-Formen des Dramas in Frage stehen, wäre es wohl
richtiger, sich auch direkt an konkrete geschichtliche Größen wie „barockes
Trauerspiel“ oder „aristophanische Komödie“ zu halten; „Geschehnis-
Drama“ oder „Raum-Komödie“ sind schließlich weder konkrete Größen
noch „Grundhaltungen“ im Sinne einer systematischen Poetik, weder Typen
noch Klassen, sondern sekundäre Abstraktionen.


  Wenden wir uns zurück zu den reinen Typen des Tragischen und
des Komischen. Hier kommen wir freilich in eine uferlose Problematik
und eine sachliche wie terminologische Verwirrung, die bloß referierenderweise
nicht zu durchdringen ist. Um so mehr, als es sich im Gebiet
dieser Grundhaltungen weniger um literarische als um philosophisch-anthropologische,
psychologische und sogar physiologische Fragen handelt. Sind
Tragik und Komik wirklich reziproke, symmetrische Begriffe oder gehören
sie verschiedenen Ebenen an? Ist das aristotelische Gegenüber von Tragödie
und Komödie ein grundsätzliches oder sind damit zufällige geschichtliche
Formen gefaßt? Wie verhält sich einerseits das Tragische zum Erhabenen,
zum Ernsten, wie steht anderseits das Komische zum Lächerlichen, zu Witz,
Ironie, Humor? Speziell die Stellung des Humors ist schwierig. Ist der
Humor ─ der wohl im Roman seine klassischen Verwirklichungen gefunden
hat ─ eine dritte Möglichkeit neben Komik und Tragik, etwa im Sinne
einer Synthese (wie etwa Petersen die drei „Wirkungsarten“ des Komischen,
Tragischen und Humoristischen nebeneinander stellt), oder ist er an
der Stelle des Komischen dem Tragischen gegenüber zu setzen, wobei Tragik
und Humor gegenüber dem Komischen und dem Elegischen Grundbestimmungen
sind, in denen „Heiterkeit und Ernst, Härte und Weichheit,
Freiheit und Gebundenheit wundersam durcheinander fließen“ (Emil Er-
matinger)? Oder ist der Humor, wie es Staiger vorübergehend erwägt,
der Kategorie des Lächerlichen unterzuordnen und dann das Lyrisch-Lächerliche
gegenüber dem Episch-Lächerlichen der Komik und dem Dramatisch-
Lächerlichen des Witzes? Schließlich stoßen wir auf die allgemeinen Phänomene
von Lachen und Weinen, die zwar als physische Reaktionen sehr konkret
faßbar sind, aber, wie H. Plessner1 in seiner hervorragenden Untersuchung
gezeigt hat, in letzte anthropologische Fragen führen, d. h. als
Grenz-Reaktionen die „exzentrische Position des Menschen“ seinem Leibe
gegenüber beleuchten. „Die Desorganisation des Verhältnisses zwischen
dem Menschen und seiner physischen Existenz wird zwar nicht gewollt,

1
Helmut Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen
menschlichen Verhaltens.
Arnhem 1941, 2. Aufl., Bern 1950.
|#f0094 : 88|

aber ─ indem sie sich überwältigend einstellt ─ doch nicht bloß hingenommen
und erlitten, sondern ─ in Lachen und Weinen ─ als Gebärde und
sinnvolle Reaktion verstanden“. (L. Radermachers1 gleichnamige Untersuchungen
gelten der mannigfachen Verbindung von Ernst und Scherz in
der antiken Literatur und belegen die Unausschließlichkeit der aristotelischen
Scheidung). Auch auf dieser allgemein-menschlichen, außer- und vorliterarischen
Ebene bestätigt sich eine Situation und ein Verhalten, die uns
u. a. literarisch in Tragödie und Komödie entgegentreten; Tragödie und
Komödie weisen auf einen letzten Grund des menschlichen Daseins hin
und lassen dieses von der Grenze und von der Krise her deutlich werden.
Es hat darum auch sehr wohl einen Sinn, unter all den eventuellen Möglichkeiten
dramatischer Gestaltung die Idee des Tragischen und des Komischen
zu verfolgen, wie immer nun Tragödie und Komödie in einer Systematik
der Gattungen zu ordnen sind.


  Dazu nur ein paar wenige Hinweise: Im Rahmen der Poetik wird das
Problem des Tragischen nicht so sehr in seiner weltanschaulich-materiellen
Bestimmung zuerst interessieren als sozusagen in seinem „formalen“
Charakter, als Möglichkeit des Dramatischen. Es ist wohl das Verdienst
der Stilkritik, damit auch eine gewisse Befreiung von bestimmten
Theorien des Tragischen, des tragischen Lebensgefühls usw. gebracht zu
haben, die in meist normativer Weise von der Tragödie der deutschen Klassiker
abstrahiert waren und umgekehrt wieder zu Fehlinterpretationen der
antiken Tragiker führten; gerade diese hat man unbefangener sehen gelernt,
auch wenn hier etwa Ernst Howalds (Die griechische Tragödie, 1930)
rein künstlerisch-artistische Deutungen den Sinn der Tragödie nicht erschöpfen.
Der echte existentialistische Ansatz erlaubt, das Phänomen in seiner
daseinsmäßigen Wurzel zu fassen, ohne es einerseits voreilig zu verstofflichen
oder anderseits bloß formal zu nehmen. Auch die Interpretation der
klassischen Tragödientheorien selbst erfährt dadurch eine neue Vertiefung;
Max Kommerells2 überragende Studien zu der dreiseitigen Auseinandersetzung
Lessings mit Aristoteles und Corneille (Seneca) bzw. Corneilles mit
Aristoteles stellen die Theorie des Tragischen in den Zusammenhang der
jeweiligen Auffassung vom Wesen und der Funktion der Dichtung und
kommen daher auch zu einer Art Ehrenrettung von Lessings „Glauben an
die Gesetzlichkeit der Kunst und an das Kunstwerk als an eine Gesetzeserfüllung“,
gegenüber der späteren Hereinnahme des Tragödienproblems in
die idealistische Genie- und Erlebnislehre.

1
Ludwig Radermacher, Lachen und Weinen. Wien 1947.
2
Max Kommerell, Lessing und Aristoteles. Untersuchungen über die Theorie
der Tragödie. Frankfurt a. M. (1940).
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  Die klarsten Formeln hat hier wohl Emil Staiger gefunden. Wenn die
„Spannung“ des Dramatischen darauf beruht, daß „der Mensch als solcher
sich immer voraus ist“, und wenn in dieser Spannung alles Einzelne auf ein
Letztes bezogen ist und in steter Bewegung hindrängt, treibt das Dramatische
zur Krise. „Das Tragische ereignet sich, wenn das, worum es in einem
letzten allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches Dasein ankommt,
zerbricht. Im Tragischen, anders ausgedrückt, wird der Rahmen
der Welt (im Heideggerschen Sinne) eines Menschen oder wohl gar eines
Volkes oder Standes gesprengt“. Der auf das Absolute blickende Held wird
„aus dem Hinterhalt“ überfallen, seine „Endlichkeit“ fällt ihn, sie ist das,
was allenfalls als „tragische Schuld“ bezeichnet wird. Anderseits aber eröffnet
das menschliche Geschick der Endlichkeit einen unerwarteten Ausweg:
den Ausweg ins „Behagen des Komischen“. Hier wird nicht der Rahmen
einer Welt gesprengt, sondern das Komische „fällt aus dem Rahmen
einer Welt heraus“ und „besteht außerhalb des Rahmens in selbstverständlicher,
fragloser Weise“. Die Spannung reißt nicht, sondern wird plötzlich
unnötig.


  Reine Tragik ist, als reines Scheitern, tödlich, ist Selbstzerstörung des unerbittlich
konsequenten Geistes. Das ist aber, nach Staiger, in der Dichtung
nicht rein oder unmittelbar dargestellt. Die Tragödie kennt meistens
eine sogenannte „Versöhnung“, den Eingang in einen gnadenhaften Zustand;
der Dichter sprengt eine Welt ─ „weil sich ihm das Dasein in
einer weiteren Welt zusammenfügt“. Der tragische Untergang wird zum
Übergang. In Staigers Definition gehört diese Versohnung nicht zur Tragik
selbst, ist ein vorläufiges Ende, ein Ermatten, weil eben auch der Dichter
nicht über ein Endliches hinauskommt. Wäre damit reine Tragik Verzweiflung?



  Mindestens liegt die Gefahr nahe, daß umgekehrt nihilistische Haltungen
im Gedanken des Tragischen einen Halt zu finden hoffen und damit das
Tragische aus der Not zur freiwilligen Tugend machen wollen. So ist Ar-
thur Pfeiffers1 Buch ein Beispiel pathetischen Feierns tragischer Gesinnung,
verkündet im Geiste Nietzsches und eines deutschen Existentialismus
die Religion des heldischen Tatmenschen und seiner Selbstbestimmung im
Schicksal. Das Dramatische, die „dramatische Wirklichkeit“, wird deshalb
nicht als dramatischer Konflikt, sondern als Existenzspannung bezeichnet,
als „Zusammensein von Lebensgegensätzen bis in die tiefste Wurzel der jeweiligen
Gestalten oder Situationen oder Wirklichkeiten hinab“; durch seine
Wertbezogenheit (Werte, Zwecke, Ideen) erhält es den Charakter des Tragischen.

1
Arthur Pfeiffer, Ursprung und Gestalt des Dramas. Studien zu einer Phänomenologie
der Dichtkunst und Morphologie des Dramas.
Berlin 1943.
|#f0096 : 90|

Daß im Dritten Reich der tragische Amor fati und das „gefährliche
Leben“ in der Bereitschaft zu Sieg oder Untergang gepriesen und als
rassisch-seelische Verwandtschaft mit den Griechen verstanden wurde, bedarf
keiner näheren Ausführung1.


  Friedrich Sengle2 hat sich gegen solche Ausprägungen tragischen Lebensgefühls
und ihren nihilistischen oder relativistischen Hintergrund gewandt:
„Die Tragödie der Verzweiflung ist in Wahrheit der Untergang
der Tragödie“. Er setzt darum in der Tragödie jenseits einer Schicht des
bloßen Konflikts eine erhebende oder versöhnende Schicht an. In ähnlichem
Sinne untersucht Baden3 das Verhältnis des Tragischen zum Religiösen,
den „tragischen Glauben“ in der griechischen Tragödie: „Gott handelt unter
der Maske des Tragischen am Menschen“. Gegen Sengle hat W. Rasch4
wohl mit Recht betont, daß die Versöhnung nicht ein Zweites und Nachträgliches
sein kann, sondern als notwendiger Aspekt des Tragischen selbst
zu fassen ist. Der tragische Untergang ist selber sinnvoll, er ist der dunkle
Triumph des Helden, ein Sich-selber-Finden, eine Überwindung des Konfliktes
dadurch, daß er unerbittlich erlitten und in den Tod hinübergenommen
ist. Diese tragische Versöhnung ist freilich nur als Grenzbegriff denkbar;
je mehr die neue Welt benannt werden kann, um so mehr wird der
dramatische Vollzug zum bloßen Übergang, um so weniger wird man von
Tragik sprechen. So sind etwa die christlichen Dramen des 17. Jahrhunderts5
Trauerspiele, Ausschnitte aus dem großen blutigen Trauerspiel der
irdischen Geschichte. Wie wiederum Rasch betont, ist der materielle Sinn,
der dem positiven Element gegeben wird, je nach der geschichtlichen Verwirklichung
verschieden. So kann auch Benno von Wieses6 historische

1
Curt Langenbeck, Wiedergeburt des Dramas aus dem Geist der Zeit. München
1940. ─ Gerhard Fricke, Erfahrung und Gestaltung des Tragischen in deutscher
Art und Dichtung (Von deutscher Art in Sprache und Dichtung,
Stuttgart
und Berlin 1941, I, 57 ff.).
2
Friedrich Sengle, Vom Absoluten in der Tragödie. DV 20 (1942) 265 ff.
3
Hans Jürgen Baden, Das Tragische. Erkenntnisse der griechischen Tragödie.
2. Aufl., Berlin 1948.
4
Wolfdietrich Rasch, Tragik und Tragödie. DV 21 (1943) 287 ff.
5
Fritz Schaufelberger, Das Tragische in Lohensteins Trauerspielen. (Wege
zur Dichtung 45) Frauenfeld-Leipzig 1945. Zum Problem im elisabethanischen
Drama vgl. H. Baker, Induction to Tragedy. Louisiana 1939.
6
Benno von Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. 2 Bde.,
Hamburg 1948. Dazu vergleiche: Ernst Busch, Die Idee des Tragischen in der
deutschen Klassik. Halle 1942. ─ Hans Ulrich Voser, Individualität und Tragik
in Goethes Dramen. Zürich 1949. ─ Erich Brendle, Die Tragik im deutschen
Drama vom Naturalismus bis zur Gegenwart. Diss. (Tübingen) Nürtingen a. N.
1940.
|#f0097 : 91|

Entfaltung des deutschen Tragödienproblems, die auf einem zurückhaltenden
und knappen grundsätzlichen Einleitungskapitel aufbaut, als ein gewisser
Abschluß dieser Diskussionen betrachtet werden. „Das Tragische bedeutet
für uns eine Grenzsituation, deren eigentümliche, in der Tragödie
sichtbar werdende Struktur nur auf paradoxe, das heißt rein logisch betrachtet,
widerspruchsvolle Weise sich erfassen läßt.“ Diese Paradoxie kann
nach verschiedenen Richtungen umschrieben werden, als Tragik zwischen
Freiheit und Notwendigkeit, Sinn und Sinnlosigkeit, Leid und Trost,
Selbstbehauptung und Vernichtung. Entscheidend ist auch für Wiese das
sinnhafte Wesen der tragischen Paradoxie, gegen Staiger, und das heißt
wieder nichts anderes als das Verhältnis zum Religösen, das Tragische als
„der Weg, auf dem der Mensch seine Beziehung zum Göttlichen in paradoxer
Weise zu leben vermag.“ In diesem Licht erscheint die Geschichte der
modernen Tragödie unmittelbar als Geschichte der modernen Glaubenskrise.



  Über die fast ebenso verwickelten Theorien des Komischen von
Hobbes bis zur Gegenwart hat Otto Rommel1 eine gute Übersicht gegeben.
Die neuere Lehre vom Komischen hat sich immer wieder mit Kants
Definition als Affekt „aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten
Erwartung in nichts“ auseinanderzusetzen, vor allem im Versuch, dieses
„Nichts“ zu korrigieren. Denn offenbar liegt die befreiende Wirkung der
komischen Entspannung nicht in einem „Nichts“, sondern trägt ─ ebenso
wie die tragische Lösung ─ einen positiven Akzent. In der Entspannung,
im Herausfallen aus dem Rahmen kommt etwas zur Geltung, „was in
selbstverständlicher, fragloser Weise besteht“ und erfolgt die „Umschaltung
aus einer gespannten Zeit in ein nacktes, beharrliches Da“ (E. Stai-
ger). Im Gegensatz zur tragischen Transzendenz bewegt sich das Komische
nicht im Absoluten, sondern im Innerweltlichen, im Diesseitig-Realen
(Janentzky2). Wo wie bei Ritter3 am Begriff des Nichtigen festgehalten
wird, da wird es doch gerade in seiner Bedeutung für das Dasein erfaßt:
„Was mit dem Lächerlichen ausgespielt und ergriffen wird, ist diese
geheime Zugehörigkeit des Nichtigen zum Dasein.“ Komik ist „einer der
Wege, auf denen sich die menschliche Begegnung und Auseinandersetzung
mit der Welt vollzieht“ (Ritter). „Dem Lachen, das auf einen komischen
Vorgang folgt, geht ein Akt der unterscheidenden Erkenntnis voraus“,

1
Otto Rommel, Die wissenschaftlichen Bemühungen um die Analyse des Komischen,
DV 21 (1943) 161 ff. ─ Komik und Lustspieltheorie, a. a. O. 252 ff.
2
Christian Janentzky, Über Tragik, Komik und Humor. „Jahrbuch des
Freien deutschen Hochstifts“, Frankfurt a. M. 1936─1940, 1 ff.).
3
Joachim Ritter, Über das Lachen. „Blätter für deutsche Philosophie“ XIV
(1940), 1 ff.
|#f0098 : 92|

sagt Friedrich Georg Jünger1 in seiner sehr anregenden Beschreibung
des Phänomens. Mit dieser positiven Weltlichkeit des Komischen hängt der
schon früh bemerkte soziale Zug zusammen: das Lachen ist ein „geste social“
(Bergson). In diesem Sinne hat Fritz Güttinger2 ─ bestimmt einseitig
─ das komische Lachen und Lachen-Erregen ausschließlich als soziale Leistung,
als lautliches Alarmsignal bei Fehlleistungen im sozialen Verhalten
und darum als etwas Zeit- und Ortsbestimmtes umschrieben. Wie das komische
Lachen und vor allem das nicht mehr nur komische Lächeln nicht
nur eine Fehlleistung korrigiert, sondern eine neue Gemeinschaft erst hervorbringt,
zeigt Spoerri3 an Molière.


  Das Phänomen des Humors4 wird im Rahmen dieser Erwägungen verschieden
interpretiert. Jünger faßt ihn neben Ironie, Witz, Paradoxie,
Karikatur als Gattung des Komischen; dieses gewinnt im Humor seine
größte Breite. „Der Humorist geht am innigsten auf das Abweichende, auf
den besondern Fall, auf die Ausnahme ein. Das humoristische Werk ...
hat etwas Formloses, alle Form Sprengendes“. Gerade darin aber hat der
Humor die Tendenz, den komischen Konflikt zu schlichten, wird er nicht
nur formlos und anarchisch, sondern, als versöhnlich-idyllischer Humor,
flach. „Das Vergolden alter und abgestandener Zustände bleibt immer ein
zweideutiges Geschäft“. Anderseits kann aber der Humor auch gegen das
bloß Komische abgesetzt oder gar in Beziehung zum Tragischen gebracht
werden: Komik erscheint dann u. U. als bloßes Mittel des Humors. Wie
der christliche Geist das Tragische relativiert hat, so hat er auch, was
Jünger nicht sehen kann, das Komische überwunden in einer neuen Transzendenz
christlichen Humors5. Auch nach Ritter enthüllt sich im Humor
„am tiefsten der verborgene Sinn, der dem Lachen überhaupt innewohnt“;
wenn das komische Lachen „festhält, indem es entwertet“, so liegt darin
eine Gefahr der Endlichkeit, die im humoristischen Lachen zugunsten des
Unendlichen des Seins und Lebens beschworen ist. Selbst für die dem 18.
Jahrhundert typischen Formen von Komik, Satire, Ironie und Witz ist
der Humor als Oberbegriff im Sinne eines „seelischen Gesamtzustandes“
in Anspruch genommen worden (H. Siebenschein6). Neben dem Humor

1
Friedrich Georg Jünger, Über das Komische (1936), Zürich 1948.
2
Fritz Güttinger, Die romantische Komödie und das deutsche Lustspiel,
(Wege zur Dichtung XXXIV) Frauenfeld-Leipzig 1939.
3
Theophil Spoerri, Das Lächeln Molières (in: Eumusia, Festgabe für Ernst
Howald. Erlenbach-Zürich 1947).
4
Hch. Lützeler, Die Philosophie des Humors. „Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft“
1939.
5
Galina Berkenkopf, Vom Humor. Studie. Freiburg i. B. 1944.
6
Hugo Siebenschein, Deutscher Humor in der Aufklärung. Praha 1939.
|#f0099 : 93|

des Romans seit Wolfram1, seit Cervantes und dem Schelmenroman
stellt der Humor des Dramatikers Shakespeare2 einen unabsehbaren Sonderfall
dar.


e) Die Aspekte des dichterischen Werks

Die bisher besprochene Problematik der Gattungstypen beziehungsweise
Klassen betrifft die Dichtwerke als Ganzes und insofern sie sich zu bestimmten
Gruppen zusammenschließen oder wenigstens unter einheitlichem Gesichtspunkt
betrachten lassen. Ein Anderes ist die Frage nach den „Elementen“
oder „Schichten“, aus denen sich jedes Einzelwerk als Werk „aufbaut“ (vgl.
oben). Sie geht nicht nach der Ganzheit und Einheitlichkeit des Stilganzen,
sondern nach den Mitteln, mit denen und in denen es sich verwirklicht und
die sich bis zu einem gewissen Grade aus dem Werkganzen abstrahieren
lassen: z. B. das Motiv oder der Vers oder eine gedankliche Mitteilung usw.
Nur bis zu einem gewissen Grade: der Ganzheitscharakter des Werkstils,
der immanente Symbolismus des ganzen Bedeutungsgefüges verbietet es,
„Teile“ oder „Elemente“ oder „Schichten“ zu isolieren; wir ziehen daher
den Ausdruck „Aspekte“ vor, weil er andeutet, daß das Werk als Ganzes
bleibt und daß der Betrachter in jedem Aspekt das gleichsam transparente
Ganze im Blick behält.


  Darum ist auch die systematische Untersuchung dieser Aspekte schwierig
─ aber sie hat wohl auch praktisch mehr den methodischen Sinn, mögliche
Zugangswege zu benennen und sich selbst aufzuheben, als den Sinn, den
Gegenstand aufzuteilen; und sie wird gerade bemüht sein, populäre, in der
Umgangssprache vorgebildete Auffassungen in ihre Grenzen zu weisen. Es
kam schon mehrfach zur Sprache, wie die alte, unausrottbare Unterscheidung
von Form und Inhalt3 oder ─ ebenso bloß metaphorisch ─ die Unterscheidung
von Innen und Außen die Crux jeder ganzheitlich gerichteten
Stilkritik ist, ja jeder Physiognomik seit Goethe, die über die Nußknackervorstellung
von Kern und Schale hinauskommen will. Sie wird auch keineswegs
überwunden, indem man dafür in schamhaftem Euphemismus statt
Inhalt Gehalt und statt Form Gestalt sagt. Das Problem wird dadurch
kompliziert, daß Form (Gestalt, Stil) gerne auch in einem umfassenden
Sinne verwendet werden, d. h. im Sinne der übergreifenden Einheit von

1
Max Wehrli, Wolframs Humor (in: Überlieferung und Gestaltung, Festgabe
für Theophil Spoerri,
Zürich 1950).
2
Louis Cazamian, L'humour de Shakespeare, Paris (1945).
3
Roman Ingarden, Das Form-Inhalt-Problem im literarischen Kunstwerk.
Helicon I (1939), 51 ff.
|#f0100 : 94|

Gehalt und Gestalt, Inhalt und Form, um anzudeuten, wie wenig der Inhalt
etwas Herauslösbares und die Form etwas bloß Äußeres seien. (Ein Ausweg,
der sich schon lange empfohlen hat, ist der neuplatonische, seit Shaftesbury
wieder aufgenommene Begriff der „inneren Form“1; diese contradictio in
adjecto ist zunächst nichts als ein sprachlicher Kompromiß, der das Problem
nur scheinbar löst.) Ingarden hat nicht weniger als neun verschiedene Verwendungen
des Begriffspaares unterschieden und für alle wieder eine Reihe verschiedener
Betrachtungsweisen, und hat gezeigt, wie die Unterscheidung noch
im letzten Element, im letzten Aspekt des Kunstwerks möglich ist, also niemals
ein einfaches Aufteilen bedeuten kann. Die Form-Inhalt-Unterscheidung
ruht aber offenbar so tief im Schematismus unserer Sprache und Vorstellung,
daß sie kaum vermeidbar ist und auch nicht vermieden werden
soll. Der doppelsinnige Gebrauch der Worte Form, Stil, Gestalt für das
Ganze und zugleich für ein Element des Ganzen kann nur heißen, daß das
Kunstwerk immer noch mehr ist als es selbst, daß es über sich hinausweist,
daß menschliches Dasein überhaupt nur über symbolische Formen und symbolische
Formen zu sich selbst gelangt. Diese Zeichenhaftigkeit wird sich
auch im Folgenden bei jedem einzelnen Aspekt des Kunstwerks wieder herausstellen.



  Wenn wir selber hier ─ in rein praktischer Absicht ─ eine Aufgliederung
wählen müssen, so stehen uns u. a. die Dispositionen von Petersen und
Kayser zur Verfügung (Wellek-Warren unterscheiden beim „Intrinsic
study of Literature“ Euphony, Rhythm, and Meter; Style and Stylistics;
Image, Metaphor, Symbol, Myth; the Nature and Modes of Narrative Fiction;
Literary Genres ─ was weniger eine Systematik als eine Organisation
nach einzelnen wichtigen Gesichtspunkten bedeutet). Petersen folgt dem
scharfsinnigen Schema eines pyramidenartigen Aufbaus, der aus den sieben
Stufen Grundriß, innere Form, Plan, Gestaltung, Verknüpfung, Persönlichkeit,
Geist besteht, auf jeder Stufe die drei Gesichtspunkte Stoff, Dichter
und Form (sozusagen als Seiten der dreieckigen Plattform) zeigt und spiralartig
erklommen wird bis zum Gipfel der „Idee“. Kaysers Vorgehen in
einer vierstufigen analytischen und einer vierstufigen synthetischen Runde
wurde bereits erwähnt (S. 56): Die Inhalt-Gehalt-Schicht und die Formschicht
erscheinen hier durch die Schichten Sprache-Stil und Aufbau-Gattung zugleich
begrenzt und ergänzt. Nachdem wir „Stil“ als umfassenden und ganzheitlichen
Begriff genommen haben und in der Gattung nicht einen Aspekt,
sondern einen Stiltypus sehen, was hier nicht mehr zur Rede steht, wollen

1
Reinhold Schwinger und Heinz Nicolai, Innere Form und dichterische Phantasie.
Zwei Vorstudien zu einer neuen deutschen Poetik. Herausgegeben von K. J.

Obenauer. München 1935.
|#f0101 : 95|

wir diesen kunstvollen Schemata nicht folgen. Wir gehen davon aus, daß
Dichtung Sprachkunst ist und nehmen daher auch die drei Sphären zum
Ausgangspunkt, nach denen herkömmlicherweise die Sprache gegliedert wird:
Laut (bzw. Silbe), Wort und Satz, drei Größen, die wohl unterschieden,
aber nicht ohne einander gedacht werden können, so wie Körper, Seele und
Geist auf Erden zusammengehören. Die sinnlich-materiellen Größen von
Laut und Silbe kehren auf der Ebene des Dichtwerks wieder in den Ordnungen
des Klanglichen, des Rhythmischen und Metrischen; die vorstellungs-
und gefühlsmäßige Größe des Wortes kehrt wieder in allem, was an Vorstellungen
und Gefühlen, Bildern und Stoffen im Werk je schon in bestimmter
Weise ausgeprägt und vergegenwärtigt ist; der Satz schließlich als
Aussage und geistige Beziehung führt zum „Gehalt“ des Werkes an Ideen
und Gedanken. Erst damit schließt sich vielleicht auch ein letzter Kreis:
Wenn diese Dreiteilung nun doch auch wieder den drei Typen des Lyrischen,
Epischen und Dramatischen zu entsprechen scheint ─ vgl. E. Staiger,
Grundbegriffe S. 220 ff. ─, so heißt das nur, daß die anthropologische
Dreiheit sich in der Typologie der Gattungen sowohl wie in der Unterscheidung
der Aspekte bewährt.


Die lautliche Welt


Auch wenn von der Bedeutungsseite der Sprache abgesehen wird, so ist die
verbleibende Lautfolge niemals bloße, mechanisch-zufällige Masse.
Schon der sprachliche Einzellaut steht mit den anderen Lauten in einem bestimmten
Gefüge; das hat gegenüber der Phonetik die sogenannte Phonologie1
zur Geltung gebracht, indem sie, als „funktionelle Phonetik“ die verschiedenen
Verhältnisse der „Opposition“ der einzelnen „Phoneme“ in der
Struktur einer Sprache verfolgt. Was für die Dichtung wichtiger ist, das ist
der lautsymbolische Wert des Lautes, der, bewußt oder unbewußt,
im Rahmen eines sprachlichen Lautsystems vernommen wird und schließlich
als Lautmalerei zu einem eigentlichen, wenn auch oft mißbrauchten, Stilmittel
wird (vgl. Kaysers Untersuchung barocker Lautmalerei2, Ernst
Jüngers „Lob der Vokale“3 u. a.). Erst recht hat jede Lautfolge, soweit sie

1
Eugen Seidel, Das Wesen der Phonologie. Kopenhagen und Bucuresti 1943.
─ J. Vendryes, La phonologie et la langue poétique. „Proceedings of the 2nd
International Congress of Phonetic Sciences.“ Cambridge 1936.
2
Wolfgang Kayser, Die Klangmalerei bei Harsdörffer. Leipzig 1932.
3
Ernst Jünger, Lob der Vokale (In: Blätter und Steine, Hamburg 1934).
|#f0102 : 96|

nach Klangfarbe, Tonhöhe, Tondauer, Tonstärke individuell gegliedert ist,
einen gestalthaften Charakter, eine bestimmt umrissene „Schallform“. Diese
klanglich-melodisch-rhythmische Bewegung hat ihre tiefen
Beziehungen zu körperlichen, biologisch-physikalischen Gegebenheiten.
„Nichts kann im Klang und Sinn der Sprache sein, was nicht vorher im
Bewegungsverhalten unseres Körpers war“ (so z. B. Heinitz1). Es kann
versucht werden, wie es Eduard Sievers mit seiner Schallanalyse tat, diese
entsprechenden körperlichen Reaktionen zu messen und so bestimmte Typen
des Sprechens zu unterscheiden. Im Zusammenhang der allgemeinen
stilistischen Untersuchung könnten solche Schallformen ihren poetischen
Sinn erhalten. In diesem Sinne verlangt Robert Petsch2 eine Untersuchung
der „Schallform der Seele“, der „Ton- oder Registerführung“. Auch wenn
dies problematisch bleibt, so gilt doch, wie einmal Heinrich Lützeler3
betont hat, daß die Lautgestaltung allein ein Gedicht tragen kann, „in der
tiefsten Schicht, der gegenüber alles andere weniger substantiell erscheinen
kann“. Das scheinbar Sinnlichste ─ d. h. die „gehaltfreie Lautgestalt“ ─
kann unmittelbar existentielle, im Werk stilistische Bedeutung haben.


  Im Werkstil ist es unter den vier gewöhnlich unterschiedenen Merkmalen
einer Lautfolge weniger das stimmliche oder klangmäßige Element als der
sog. Rhythmus, der die höchstkomplexe Schallmasse organisiert. Die
Bezeichnung „Rhythmus“ ist noch immer so unbestimmt und wechselnd im
Gebrauch wie die Sache selbst rätselhaft ist. Während Rhythmus in einem
allgemeinen Sinne eine „allgemeine Lebenserscheinung“ auch des organischen
und kosmischen Lebens ist4 ─ (Klages5 z. B. definiert ihn als „polarisierte
Bewegung“ und ursprünglichsten „Wellenschlag“ des natürlichen und seelischen
Lebens) ─, wird der Begriff in der Literaturwissenschaft oft sehr
eingeschränkt als Bezeichnung für einen bestimmten Gestaltcharakter speziell
der Versdichtung. Wichtig sind wohl hier noch immer die vernünftigen

1
Wilhelm Heinitz, Ein biologisch gerichteter Beitrag zur deutschen Versforschung.
(In: Vom Geist der Dichtung. Gedächtnisschrift für Robert Petsch, 326 ff.
Hamburg 1949).
2
Robert Petsch, Zur Tongestaltung in der Dichtung (In: Internationale Forschungen
zur deutschen Literaturgeschichte, Julius Petersen zum 60. Geburtstag,

1 ff. Leipzig 1938).
3
Heinrich Lützeler, Die Lautgestaltung in der Lyrik. ZfAesth XXIX (1935)
214 ff. Vgl. dazu Karl Knauer, Die klangästhetische Kritik des Wortkunstwerks
am Beispiel französischer Dichtung. DV 15 (1937) 69 ff.
4
Zum Problem des Rhythmus in den verschiedenen Wissenschaften: „Studium
generale“ 2 (1949) 67 ff.
5
Ludwig Klages, Vom Wesen des Rhythmus. 2. Aufl., Zürich-Leipzig 1944.
|#f0103 : 97|

und klärenden Ausführungen Dietrich Seckels1 und seine Definition
des sprachlich-dichterischen Rhythmus „als die individuell charakteristische,
gestalthafte Bewegungsform, die sich in dem durch feinste dynamische
Abstufungen unterschiedenen Akzenten (Schweregraden) eines sprachlichen
Gebildes ausprägt“. D. h., es wird erstens, für die deutsche Sprache
wenigstens, das eigentlich führende Gestaltprinzip des Rhythmus in der
Tonstärke gesehen, von welcher Tondauer und Tonhöhe meistens beeinflußt
sind; auch damit bleibt der Rhythmus nur ein Element innerhalb der
komplexen sprachlichen Gesamtform. Und zweitens wird von Seckel
Rhythmus, mit Andreas Heusler, jeder prosaischen oder versmäßigen
Redefolge zuerkannt. Auch dann ergeben sich für den Versrhythmus noch
zwei verschiedene Verwendungen des Begriffs, da sich im Verse die schematische
Ordnung des Metrums mit dem von der konkreten sprachlichen
Füllung jeweils mitgebrachtem Rhythmus zu einer höheren Einheit verbindet.
Dann kann man entweder von der Spannung zwischen Metrum und
Rhythmus im Verse sprechen oder unter Versrhythmus diese höhere Resultante,
diese höhere Art von Rhythmus verstehen. Und so möchte Kayser
schließlich den Begriff Rhythmus am liebsten überhaupt auf die Verssprache
einschränken, ohne freilich für die „Prosagliederung“ einen eigenen
Ausdruck zu prägen. Daneben bleibt der Name allerdings auch im allgemeinsten
Sinne verwendet und wird, als „sinnvolles Einswerden von Ruhe
und Bewegung“ (Theophil Spoerri), als „Urbewegung des Daseins“ (Emil
Staiger), als Einheit von Dauer und Wechsel letztlich im Kunstwerk soviel
wie Stil.


  Schon diese terminologischen Schwierigkeiten beruhen wohl darauf, daß
das Rhythmische am deutlichsten in Erscheinung tritt dort, wo es in fester
Weise geregelt und sozusagen bewußt zu einer eigenen Kunstsprache ausgebildet
wird: im Vers. Hier wird ─ im deutschen Vers ─ durch Vereinheitlichung
der Akzentabstände die Rede in Takte und Taktgruppen
gezwungen, und werden rhythmische Formen zu bestimmten übertragbaren
Schemata von Versen und Strophen abstrahiert. Wobei diese Schemata,
dieses Metrum in rhythmisch wechselnder Weise realisiert werden, umspielt
werden können. Takt (als schematische Erwartung) und konkreter
Sprachrhythmus sind dann Gegensätze, die sich z. T. erst gegenseitig hervortreiben
und in einem höheren Ganzen finden; Klages bezieht den Gegensatz
auf den Grundgegensatz von Leben und Geist.


  Da es die Metrik als Lehre von Wesen und Geschichte dieser Schemata
mit weithin abstrahierten, dem individuellen Stil entrückten Gebilden zu

1
Dietrich Seckel, Hölderlins Sprachrhythmus. Mit einer Einleitung über das
Problem des Rhythmus und einer Bibliographie zur Rhythmusforschung. (Palaestra
207, Leipzig 1937). Besprechung von Friedrich Beissner DuV 39 (1938) 375 ff.
|#f0104 : 98|

tun hat, hat sie auch eine selbständige Wissenschaft außerhalb der Poetik
werden können. Sie ist wohl heute praktisch noch immer von der klaren
und bequemen Begrifflichkeit Heuslers bestimmt, dem das Hauptverdienst
zufällt, den Sinn für die künstlerische Gehörgröße des Verses wieder geweckt
zu haben. Er bekümmert sich allerdings nur um die metrischen Schemata,
nicht um den Vers überhaupt. Das betont Saran1 gegen Heusler
sehr stark: daß nämlich der Unterschied von Prosa und Vers „auf der
ganzen Linie“, nicht nur im Metrischen liege. Verslehre und Metrik sind für
Saran nicht identisch. Aber es bleibt fraglich, ob die andern Determinanten
─ Melodie, Klangart, Tongestalt, Sprechweise ─ wirklich als Kunstformen
faßbar sind und nicht nur physiologische oder allgemeine stilistische
Merkmale darstellen. Das Versproblem stellt sich im übrigen natürlich von
Sprache zu Sprache, ja vielleicht von Zeit zu Zeit wieder anders, und zwischen
Theorie und Praxis können unvermerkt Unterschiede bestehen. So ist
der Versuch W. Suchiers2 interessant, der vier verschiedene Arten des
Versvortrags in der modernen französischen Praxis feststellt ─ ein Mehr
oder Weniger an Berücksichtigung der Bindungen, die durch den Vers als
rhythmisch-melodische Einheit gefordert sind ─ und von da aus erst die
Wesensfrage des französischen Verses3 klären zu können glaubt. Zum
englischen Vers sei wenigstens ein Aufsatz von E. H. Scholl4 angeführt.


  Auch Wolfgang Kaysers erfolgreiche Kleine deutsche Versschule5 steht
im Gefolge Heuslers und des von Otto Paul verfaßten Konzentrats der
Heuslerschen Verslehre6. Sie beschränkt sich auf die leichtfaßliche Herausarbeitung
der elementaren Begriffe und die Vorführung der wichtigsten
noch aktuellen Formen der neueren Literatur, aber unter völligem Verzicht
auf die Dimension der Versgeschichte. Dafür schärft sie aufs neue den Blick
für die Funktion des Metrums im individuellen Ganzen. Das kommt dadurch
zur Geltung, daß Kayser zu einer Darstellung von Grundbegriffen
der Rhythmik fortzuschreiten versucht.


  Nicht dem Worte, wohl aber der Sache nach gehört zur Metrik auch die
Erscheinung der sogenannten freien Rhythmen, die man wohl besser
als freie Takte bezeichnen würde. L. Beriger, in der schon oben (s. S. 53)

1
Franz Saran, Deutsche Verskunst. Ein Handbuch. Berlin 1934.
2
Walther Suchier, Vortrag und Rhythmus des französischen Verses. „Zeitschrift
für franz. Sprache u. Literatur“ 64 (1940/42) 1 ff.
3
J. Suberville, Histoire et théorie de la versification française. Paris 1946.
4
Evelyn H. Scholl, English Metre once more. PLMA LXIII (1948) 293 ff.
5
Wolfgang Kayser, Kleine deutsche Versschule, 2. Aufl., Bern 1949. ─ Ders.,
Vom Rhythmus in deutschen Gedichten. DuV 39 (1938) 487 ff.
6
Otto Paul, Deutsche Metrik. 3. Aufl., München 1951.
|#f0105 : 99|

zitierten Abhandlung, betont ihren oft bestrittenen Verscharakter, sofern
sie das Kennzeichen einer Verselbständigung des rhythmisch-melischen Elements
gegenüber dem bloß logischen Tonfall der dichterischen Prosa zeigen.
(Diese ihrerseits hat ihre „sekundären“ poetischen Merkmale in Wortstellung,
Wortgebrauch, sprachlicher Dichte und Anschaulichkeit mit der Versdichtung
gemein.) Als Zwitterform muß ihm dagegen die sog. lyrische
Prosa
(z. B. Gessner, Novalis) gelten. August Closs1 hat den deutschen
Vertretern freier Rhythmik eine Gesamtbetrachtung gewidmet, die im wesentlichen
eine beschreibende Darstellung ist, in der theoretischen Erkenntnis
aber kaum weiterführt. Als „Wesenshalt“ der freirhythmischen Forschung
bezeichnet auch er das Merkmal des „Takts, bei freier Taktzahl
und freier Taktfüllung“, möchte aber darüber hinaus auch die „freirhythmische
Bewegung“ selbst als wesentlich erfassen. Hier führt Max Komme-
rells2 Aufsatz wesentlich weiter.


  Im Reim wird innerhalb der Metrik das Element der Klangfarbe herangezogen,
um die metrische Ordnung zu profilieren oder zu spannen, auch
hier nach geschichtlich verschiedenen Formkonventionen und in verschiedenem
Maß. Die Einführung des Endreims, die für die deutsche Literatur
Ulrich Pretzel3 verfolgt hat, ist zweifellos eine der größten Revolutionen
der abendländischen Literaturgeschichte, deren geistige Hintergründe
noch ungenügend erforscht sind. Hier ist K. G. Kuhns Herleitung aus den
Gebeten der jüdischen Synagoge des ersten Jahrhunderts4 ein sehr wichtiger
Beitrag. Einzelne Probleme des Reims in der antiken und englischen
Literatur sind von A. M. Clark5 behandelt.


  Am einfachsten und naheliegendsten ist natürlich die Untersuchung des
Rhythmus in der Vers dichtung; denn hier kann er unmittelbar in
seiner wechselnden Spannung zum Metrum gemessen werden. Der Hauptgesichtspunkt
bleibt zunächst die Art und Weise, wie die Satzgliederung der
Rede mit ihren Kola und deren Stärkegraden auf das neutrale Schema des

1
August C. Closs, Die freien Rhythmen in der deutschen Lyrik. Versuch einer
übersichtlichen Zusammenfassung ihrer entwicklungsgeschichtlichen Eigengesetzlichkeit.
Bern 1947.
2
Max Kommerell, Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter
(in: Gedanken über Gedichte, S. 430 ff.).
3
Ulrich Pretzel, Frühgeschichte des deutschen Reims. I. (Palaestra 220, Leipzig
1941).
4
Karl Georg Kuhn, Zur Geschichte des Reims. DV 23 (1949), 217 ff.
5
Arthur Melville Clark, Studies in Literary Modes. Edinburgh and London
1946.
|#f0106 : 100|

Metrums trifft. In diesem Sinne haben z. B. Elisabeth Spoerri1 und
Gerhard Storz2 verschiedene Realisationen des Alexandriners in verschiedenen
Epochen, bei verschiedenen Dichtern und je wieder in verschiedenen
Sprachen verfolgt; Georg Seidlers3 Arbeit gilt entsprechend dem
Blankvers Schillers und Kleists. Der abweichende Rhythmus aber kommt
natürlich durch einen bestimmten Sprachgebrauch zustande, so daß schon
hier überall allgemein stilistische Beobachtungen, vor allem syntaktischer
Art, mitgegeben sind. Einen speziellen Gesichtspunkt, die Stellung des gewichtigen
Wortes in den freien Rhythmen Hölderlins, hat Hannes Mae-
der4 hervorgehoben; der Rhythmus der Verse zeigt eine Spannung auf
das gewichtige Wort hin, und die Zäsuren dienen dazu, es hervorzuheben;
auch in den freien Rhythmen „arbeitet der Rhythmus prinzipiell gegen das
Metrum“ (Abbrechen der Zeile mitten im Takt). Die Analyse der Versgestaltung
ermöglicht unmittelbar allgemein stilistische, „weltanschauliche“
Befunde: Hölderlins Ringen um das göttliche „Wort“.


  Damit ist auch ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Untersuchung des
Prosarhythmus gewonnen ─ denn auch hier wird sich die kennzeichnende
Grundgebärde aufweisen lassen müssen. Und zwar nicht durch ein
Silbenmessen und Suchen nach einem allfällig versteckten Metrum, nicht im
sog. Numerus bestimmt geregelter Satzschlüsse im Sinn der antiken Rhetorik,
sondern, wie Beissner5 gegen frühere Versuche betont, durch Beobachtung
der je eigentümlichen Stellung von Worten und Wortgruppen zueinander,
d. h. nach Art und Grad ihrer Ordnung, ihrer Zusammengehörigkeit
oder Getrenntheit. Die Beobachtung des Rhythmus führt daher vom lautlichen
zum allgemein sprachlichen, speziell syntaktischen Stil. Das tertium
comparationis wird die normale Grammatik. Womit wieder nichts anderes
sich bewährt als die Unmöglichkeit, dem Begriff des Rhythmus einen nur
lautlichen Sinn zu geben, und das relative Recht, ihn als Stil, als Daseinsrhythmus
schlechthin zu fassen.


  Ein letztes Problem ist die Frage, ob die an individuellen Dichtwerken
sich zeigenden verschiedenen Arten des Rhythmus in einer Typologie
des Rhythmus geordnet werden können. Die von der Sievers'schen Schallanalyse

1
Elisabeth Spoerri, Der cherubinische Wandersmann als Kunstwerk. (Zürcher
Beiträge zur deutschen Sprach- und Stilgeschichte Nr. 2) Zürich 1947.
2
Gerhard Storz, Ein Versuch über den Alexandriner (Festschrift für Paul
Kluckhohn u. Hermann Schneider, Tübingen 1948, 231 ff.).
3
Georg Seidler, Musik und Sprache im Drama Schillers und Kleists. Versuch
einer neuartigen Versforschung im Drama. DuV 42 (1942), 71 ff.
4
Hannes Maeder, Hölderlin und das Wort. Trivium II (1944), 42 ff.
5
Friedrich Beissner, Unvorgreifliche Gedanken über den Sprachrhythmus
(Festschrift für Paul Kluckhohn und H. Schneider, Tübingen 1948, 427 ff.).
|#f0107 : 101|

unterschiedenen Stimmtypen (nach Tonlage, Tonführung, Intervallen)
und wohl auch Petschens Registerführung bedeuten schließlich doch
eine Reduktion auf Physiologisches und führen damit mindestens vorläufig
vom Künstlerisch-Stilistischen ab. Allerdings ist festzuhalten, daß auch sonst
kaum der Rhythmus eines Werks, sondern der eines personalen oder gar
epochalen Stiles herausgearbeitet wird. Kayser hebt rein empirisch an
Versdichtungen vier verschiedene rhythmische Typen heraus, die er als
fließenden, bauenden, gestauten, strömenden Rhythmus bezeichnet. Ähnlich
hat Seckel an Hölderlins Versen und Prosa je eine Reihe verschiedener,
sich eventuell ablösender rhythmischer Typen unterschieden und mit Bezeichnungen
wie „starr“, „schwingend“, „stoßhaft gehemmt“ usw. versehen.
Man wird dagegen nichts einwenden als den Wunsch, solche zufällig
wirkenden Bestimmungen aus größerem Zusammenhang begründet zu sehen.
Dieser größere Zusammenhang kann aber nur der Stil überhaupt sein; es
käme also auf eine rhythmische Fassung der allgemein-poetischen Typologien
hinaus.


Die Vorstellungswelt


Jedes Stück Rede ist nicht nur Schallform, sondern entwirft das Bild einer
bestimmten in Raum und Zeit vorgestellten Wirklichkeit „äußerer“ oder
„innerer“ Art. Diese „Wirklichkeit“ ist schon in jeder Wortprägung, wie
man seit Herder weiß, immer eine bestimmte Konzeption der Wirklichkeit,
ein „Wort der Seele“ und insofern Stil, vorgezeichnet in der jeweiligen
Sprache, individuell überprägt von der Individualität des Dichters. Speziell
wird die spezifische Art der Sinnlichkeit, mit der nicht nur eine
Sprache, sondern ein Dichter in seinen Werken die Wirklichkeit perzipiert
und konzipiert, für seinen Stil charakteristisch sein; sie wird sich fast
exakt am Vorherrschen gewisser Sinnesbereiche (Gehör, Gesicht, Geruch.
Motorik, Synaesthesie) in seinem Wortschatz und seiner Bildwelt nachweisen
lassen1. Das führt hinein in eine Stilistik der Sprache nach Wortschatz,
Wortarten, Formen der Verknüpfung, wie sie bereits beschrieben wurde,
anderseits aber zur Untersuchung der dichterischen Einbildungskraft
als Bildkraft; in diesem Sinne hat Gaston Bachelard seine „Imagination

1
Käthe Harnisch, Deutsche Malererzählungen. Die Art des Sehens bei Heinse,
Tieck, Hoffmann, Stifter und Keller. Berlin 1938. ─ René Wehrli, Eichendorffs
Erlebnis und Gestaltung der Sinnenwelt (Wege zur Dichtung 32, Frauenfeld-
Leipzig 1938). ─ Synaesthesie, vor allem in Barock und Romantik: vgl. die Literatur
bei Wellek-Warren 310 f.
|#f0108 : 102|

de la matière“1 entworfen, wobei von dem materiellen Inhalt der Einbildungskraft
auch zu ihren raum-zeitlichen Anschauungsformen fortgeschritten
werden kann.


  Im einzelnen Werk, mit dessen Aspekten wir es hier zu tun haben, liegt
darüber hinaus eine bestimmt gestaltete Situation vor, ein bestimmter
thematischer Wirklichkeitsausschnitt mit seinen Figuren (in der Lyrik eventuell
der Dichter selbst), mit Geschehen, mit Umwelt. Man könnte diese
Sphäre schlecht und recht auch als „Inhalt“ bezeichnen, sofern von diesem
Begriff das Sinnmäßige, der „Gehalt“ ferngehalten wird. Es ist insgesamt
das, was fragwürdiger- und doch auch wieder natürlicherweise in Inhaltsangaben
bezeichnet wird2.


  Da ist die Umwelt, der Hankiss3 eine grundsätzliche Betrachtung
gewidmet hat; nicht das Milieu des Dichters oder Lesers, sondern die Welt
im Werk als einer seiner wichtigsten Faktoren, vom selbständigen Gegenstand
der Schilderung, etwa als Landschafts- oder Gesellschaftswelt, bis
zur innerlichen Gefühlswelt des lyrischen Gedichts. Auch Petsch untersucht
ihre grundlegende Funktion im epischen und dramatischen Werk, d. h. ihre
Beziehung zu Figuren und Vorgängen. Das „Milieu“ ist natürlich nur faßbar
als Beziehung zu den menschlichen Figuren ─ ob diese nun im Personal
eines Romans oder Dramas oder in dem monologischen Ich des Erzählers
oder Lyrikers bestehen. Menschengestaltung, dichterische Psychologie,
Selbstdarstellung, Verwendung von Vorbildern sind vor allem in
Drama und Epik beliebte Untersuchungsgegenstände4. Auch hier tritt, wo
nicht einfach Charakterologie am Material der Dichtung betrieben wird,
überall als bestimmende Macht oder gemeinsamer Nenner der Figuren ein
dichterisches „Ich“ hervor (vgl. Rütsch5, Lugowski), d. h. es offenbart sich
auch und gerade in diesen komplexen Gestaltungen der existentielle Stil
des Autors. Der Vorgang, die Handlung, die Fabel oder wie man das Geschehen
nennen will, schließt den Kreis als das, was Umwelt und Figuren
in Beziehung und Bewegung bringt und damit erst eigentlich vollendet.
Daß die Lyrik (vgl. Kayser 81) keine derartige Handlung kennt, kann nur

1
Gaston Bachelard, L'eau et les rêves. Essai sur l'imagination de la matière.
Paris 1942 (vgl. oben S. 17).
2
Wilhelm Olbrich, Der Romanführer. Der Inhalt der deutschen Romane und
Novellen vom Barock bis zum Naturalismus. 2 Bände. Stuttgart 1950 (Lexikon).
3
Jean Hankiss, Les problèmes du milieu. Helicon III (1941), 19 ff.
4
Ein Beispiel: Elisabeth Erbeling, Frauengestalten in der Oktavia des Anton
Ulrich (Germanische Studien 218. Berlin 1939).
5
Julius Rütsch, Das dramatische Ich im deutschen Barocktheater (Wege zur
Dichtung 12, Horgen-Leipzig 1932).
|#f0109 : 103|

heißen, daß hier das Geschehen ein „inneres“ ist und oft nur noch als das
Urgeschehen des Rhythmus faßbar wird. Der herkömmliche Begriff der
Handlung wird im übrigen auch im modernen Roman (Joyce) fraglich.
„Fabel“ ist nach dem üblichen Sprachgebrauch der bereits in bestimmter
Weise geordnete Faden der Handlung, engl. „Plot“, im Gegensatz zum
noch amorphen Inhalt; wie weit diese Ordnung geht und wie weit ihre
Funktion im Werkganzen reicht, wird für die Strukturanalyse wesentlich.
Bei den beschriebenen Elementen lassen sich wiederum stoffliche Substanz
und Gestaltcharakter nicht trennen. Die Untersuchung kommt von selbst
von der sinnlich-materiellen Bildsphäre zu den allgemeinen Prinzipien des
Aufbaus, von der äußeren Technik oder „Darbietungsform“ zur inneren
Struktur des Stils, von einer Wirklichkeit zu apriorischen raum-zeitlichen
Anschauungsformen.


  Es ist nun wesentlich, daß die jeweilige Vorstellungswelt eines Werkes
sowenig wie die Erscheinungen der Lautsphäre aus dem Nichts geschaffen
ist. Die Dichtung bedient sich auch hier bis zu einem gewissen Grad vorgeprägter
Formen,
verwendet Bildelemente, Vorstellungsgruppen, die
z. T. der menschlichen Natur an sich zugehören mögen, z. T. einem traditionellen
Formen- und Formelschatz entstammen, aber im Werk ihren jeweiligen
stilistischen Sinn erhalten ─ ganz ähnlich, wie in der Sphäre des
Lautes metrische und rhythmische Schemata als unumgängliche geschichtliche
Grammatik dichterischer Sprache immer schon vorliegen. Es ist die
Welt der „Bilder“ im engeren Sinne, der Metaphern und Tropen, der
Symbole und Motive und schließlich der Stoffe.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Übertragung. Eine genaue Erörterung
dieser sich mannigfach überschneidenden Begriffe gehört nicht hierher. Ihre
Schwierigkeit wird aus dem wohl immer noch maßgebenden Buche von
Pongs1 (Bd. I) deutlich; die Frage führt weit hinein in die schon mehrfach
berührte Problematik von Zeichen und Symbol und ihrer Erscheinungen
in Dichtung, Sprache und menschlicher Natur überhaupt; von C. G.
Jungs Archetypen wird unten die Rede sein; diesen gegenüber bestehen die
sechs Essays von C. Day Lewis2 auf der stilistischen Funktion des Bildes
im Zusammenhang des Werkganzen.


   Die dichterische Metaphorik ist nichts als die aktualisierte Metaphorik
der Sprache überhaupt, deren notwendig bildhafte Prägungen von der
Dichtung benützt, erneuert, gesteigert und an die Sprache zurückgegeben
werden.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern. Die Art der Bildgestaltung kann daher bei einer personalen, sozialen

1
Hermann Pongs, Das Bild in der Dichtung. Bd. I. Morphologie der metaphorischen
Formen.
Marburg 1927.
2
C. Day Lewis, The Poetic Image. London 1947.
|#f0110 : 104|

oder nationalen Sprache als spezifischer Stilzug untersucht werden1.


  Höherer Ordnung als diese metaphorischen Abbreviaturen sind feste
Bildgefüge, die neben anderm bei Curtius2 in ihrer literaturgeschichtlichen
Bedeutung verfolgt werden: beispielsweise die Ideallandschaft oder
die Vorstellung vom Puer-Senex. Wenn Curtius seine Topik als das
„Vorratsmagazin der Rhetorik“ definiert, so umfaßt sie doch praktisch nicht
nur rhetorische Stilfiguren (z. B. die Trostrede), sondern bestimmte Bildschemata
(Bild des Herrschers), ferner traditionelle Metaphergruppen
(Schauspielmetapher), die in wechselndem Maß aktualisiert und dichterisch
durchdrungen werden, einen Archetypus durchschimmern lassen oder zu
eigentlichen „Motiven“ im Aufbau der Dichtung werden. Auch Menschentypen
erscheinen in der Dichtung als solche Schemata, die je nach dem
wechselnden Zusammenhang ihre Erfüllung oder Veränderung finden;
man könnte etwa die Gestalt des Sonderlings als einen Topos der romantischen
und realistischen Literatur bezeichnen3.


  Als „Motiv“ wird dagegen in sehr schwankendem Sprachgebrauch meist
eine bildmäßige Einheit der Situation oder der Handlung bezeichnet, ein
Strukturelement des äußeren oder des inneren Geschehens (dies in der Lyrik),
das ebenfalls den Charakter eines übertragbaren und wechselnd zu
füllenden Schemas hat. Es wird vor allem im Märchen zum eigentlichen
Anhalt der Forschung (vgl. darüber Kayser); doch zeigt gerade die neue
Märchenforschung (Lüthi, oben S. 81), wie gefährlich es ist, das Motiv
unmittelbar sinnmäßig zu interpretieren oder nach historischen Zusammenhängen
zu forschen, statt es zunächst als Element des umfassenden Stils zu
sehen. Dagegen ist nun der „Stoff“ bereits die fixierte, konkrete Fülle
eines „Inhalts“ (also Märchen-Motiv, aber Sagen-Stoff) und als solcher ein
komplexeres Gebilde: Faust ist als Geschichte eines Teufelspaktes ein Motiv,
als Geschichte vom Doktor Faustus ein Stoff. Genau besehen liegt
freilich auch hier beim Stoff ein Schema vor: es kann ja nicht der Rohstoff
einer objektiven Wirklichkeit gemeint sein, der nun so oder so „erlebt“ und

1
Gerhard Fricke, Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius.
Berlin 1933. ─ Caroline Spurgeon, Shakespeare's Imagery. Cambridge 1935. ─
Wolfgang Clemen, Shakespeares Bilder. Ihre Entwicklung und ihre Funktionen
im dramatischen Werk. Bonn 1936. ─ Bert Nagel, Der Bildausdruck der Meistersinger.
ZfdPh 65 (1940), 34 ff. ─ K. Westendörpf, Der soziologische Charakter
der englischen Bildersprache. 1939.
2
Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter.
Bern 1948.
3
Herman Meyer, Der Typus des Sonderlings in der deutschen Literatur. Amsterdam
1943. ─ Ders., De Lebensavond als litterair motief. Amsterdam 1947.
|#f0111 : 105|

gestaltet würde, sondern diese Wirklichkeit ist immer eine bestimmt gesehene,
gestaltete Überlieferung, d. h. Stoff ist nichts anderes als die Stoff-
Quelle, die „Vorlage“. Was dann zwei Werke desselben Stoffes einander
verbindet, das ist entweder nur die Äußerlichkeit eines Namens oder
dann eben doch nichts anderes als ein Motivzusammenhang. Stoff als literarische
Quelle kommt damit weniger bei einer stilanalytischen Betrachtung
zu Gesicht als bei einer historischen oder vergleichenden Betrachtung
von Werkgruppen und Reihen (vgl. unten S. 146 f.).


  Als ein Schlüsselbegriff der Interpretation höherer Ordnung erscheint die
dichterische Welt des Symbols bei Wilhelm Emrich, dessen Faustbuch1
eine der imposantesten Leistungen der neueren Germanistik ist,
wenn auch in seinem Reichtum schwer überschaubar. Es ist eine minutiöse
Interpretation von Faust II auf Grund einer „Entstehungsgeschichte der
spätgoetheschen Symbolik auf der ganzen Breite der Vorstellungswelt
Goethes“. Es soll das „Symbol- und Bildnetz“ oder das symbolische Schichtengefüge
(daher „Schichteninterpretation“) des Werkes genetisch, d. h.
in seinen „streng gesetzlichen“ Wandlungen aufgewiesen werden. Goethes
Alterswerk lasse sich in der bloßen Interpretation aus einem „Plan“, aus
einem „Werkganzen“ niemals befriedigend erklären; die Inhaltsinterpretation
wie die Interpretation aus der Sprachform (bei Kurt May)
führe zu Unstimmigkeiten oder verfehle das Wesentliche, und die
historische Motivinterpretation biographischer Art halte sich am Motiv
statt an der Symbolgestalt des Motivs. Von den lebendigen Symbolkomplexen
und -schichten aus, die als Funktionen zu verstehen und nicht
etwa auf Inhalte zu fixieren sind, soll nicht nur die Sinnstruktur des
Werkes deutlicher werden, sondern es soll dieses Werk selber in seiner
„Wachstumsgestalt“ innerhalb der geschichtlichen Entfaltung von Goethes
Gesamtwerk erscheinen. Gewiß bleibt diese Methode auf den Ausnahmefall
des Faust II bezogen und wird nicht einmal hier das Gesamtwerk voll
erfassen können; aber die Tragweite eines beweglich genug gefaßten
Symbolbegriffs für die Interpretation ist von Emrich noch großartig genug
dargetan. Vor allem aber scheint hier auch die stilkritische Methode auf
eine weitere und höhere Ebene gehoben insofern, als diese Symbolgenetik
versucht, ernsthaft Werkinterpretation und Historie zu verbinden und
die „geheimnisvolle Verschränkung von Geschichtlichkeit und Ursprünglichkeit“
darzustellen, womit auch die „historische Skepsis“, die in der
Stilkritik zu einer „Sinndeutung aus geschichtsloser Gegenwart“ führt,
überwunden wäre.

1
Wilhelm Emrich, Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. Berlin
1943.
|#f0112 : 106|

Die gedankliche Welt


Die heutige Literaturwissenschaft ist nicht nur gegen jede „Stoffhuberei“
des Positivismus, sondern auch gegen jede „Sinnhuberei“ des Idealismus
kritisch eingestellt. Im Rahmen des Werkganzen kann die gedankliche
Sphäre ─ Sinn, Tendenz, Problem, Idee, Gehalt ─ wieder nur als Stilelement,
als Aspekt in Erscheinung treten; jede Herauslösung bedeutet eine
willkürliche Abstraktion, die den einzigen Sinn des Gedichts: das Gedicht
verfehlt, ja den herauslösbaren Gedanken vielleicht selber notwendig verfälscht.
Der gedankliche Sinn eines Liebesgedichts wäre meist eine höchst
banale und gegenstandslose Mitteilung, und selbst noch bei einer Tragödie
kann das Suchen nach einer These des Dichters, etwa über die Schuld des
Helden, zu den abwegigsten Theorien führen. Und so ist es wohltätig,
wenn Emil Staiger an einer Kleistnovelle gezeigt hat, daß ein Werk
banalsten moralischen Gehalts, eine bloße „Schauermär“, doch kraft seiner
zwingenden „reinen Form“, d. h seines Stils, ein vollendetes Kunstwerk
sein kann.


  Dennoch scheut man davor zurück, das gedanklich-ideelle Moment nun
wieder zum bloßen und fakultativen Teilaspekt unter andern zu reduzieren.
Als Sprachwerk wird jede Dichtung nicht nur Dasein, sondern Bewußtsein
und Erkenntnis, nicht nur Werk, sondern auch Wirken, nicht nur Anschauung,
sondern auch Ausdruck und Mitteilung sein. Der Gedanke
wird nicht nur als denkerischer Stil, sondern auch in ausdrücklicher gedanklicher
Stellungnahme sich kundtun zu den „Problemen“, die mit der Wahl
und Führung der Handlung, der Personen, der Umwelt zusammenhängen
und insgesamt u. U. eine ausdrückliche „Tendenz“, eine „These“ ergeben
─ vielleicht sogar so, daß darin das eigentlichste Anliegen erscheint: z. B.
der römische Reichsgedanke bei Vergil, die Heilsgeschichte bei Dante, der
Vergänglichkeitsgedanke bei Walther v. d. Vogelweide, der Kampf gegen
die Kurpfuscherei bei Gotthelf. Sofern diese „Probleme“ im Sinn der
Problemgeschichte Rudolf Ungers allgemeinmenschliche, die Gesamtheit
des Daseins betreffende sind wie Liebe oder Tod, führt ihre Behandlung
auf dahinterliegende „weltanschauliche Haltungen“. Innerhalb des Werks
erscheinen sie damit freilich auch wieder zurückbezogen auf einen gemeinsamen
Nenner, der als jenseitige, irrationale, lebendige „Idee“ das organisierende
Prinzip der Dichtung selbst ist, der „Augenpunkt der perspektivischen
Ordnung“ (Petersen), und sich damit wieder dem Begriffe des
Stils nähert. So basiert Fritz Strichs Typologie der Stile auf den zwei
polaren Lösungen, auf die die „Idee“ der Ewigkeit, der menschliche Wille
zur Verewigung aus der Problematik von Leben und Tod heraus, zustreben
kann.

|#f0113 : 107|

  Aber innerhalb der verschiedenen Stilaspekte scheint nun eben die gedankliche
Welt einen ausgezeichneten Charakter zu haben, so wahr wenigstens
die sinnlich-seelisch-geistige Ganzheit des Menschen selbst nach der
Führung durch den Geist verlangt. „Ich ehre den Rhythmus wie den Reim,
wodurch Poesie erst Poesie wird, aber das eigentlich Tiefe und gründlich
Wirksame, das Wahrheit Bildende und Fördernde ist dasjenige, was vom
Dichter übrigbleibt, wenn er in Prosa übersetzt wird“ ─ so Goethes „oft
geäußerte Meinung“ (Dichtung und Wahrheit). Diese trotz allen Vorbehalten
bestehende Übersetzbarkeit selbst in andere Sprachen ist auch von Tho-
mas Mann einmal mit verwunderter Resignation festgestellt worden. Dieses
„gründlich Wirksame“ liegt aber wohl in der geistigen Sphäre, in der sich
am energischsten das sich selbst transzendierende Wesen des Werkes, das
Sprachwerk als Mitteilung zeigt. Man braucht deswegen noch nicht das
Werk auf die hypostasierten „Erlebnisse“ des Dichters oder auf die Geschichte
absoluter Ideen zurückzuführen. Es genügt, wenn wir uns auch hier
vom Einzelwerk auf die weiteren geschichtlichen Einheiten eines dichterischen
Oeuvres und einer Literatur verwiesen sehen.


f) Die Wertung

Es gebe, sagt T. S. Eliot1, zwei Fragen, in denen die literarische Kritik ihr
Ziel und ihre Grenzen habe, die eine: What is poetry?, die andere: Is this
a good poem? Wenn die vorhergegangenen Erörterungen der Poetik letztlich
auf die erste Frage zulaufen, so bleibt uns hier noch die zweite, die
Frage der Wertung, die wir hier zunächst in der einfachen und strengen
Formulierung Eliots verstehen. Es ist die Frage, die oft weniger den
Literaturwissenschafter als den Kritiker und jeden einzelnen Leser interessiert.



  Deutung (Wesenserkenntnis) und Wertung sind zwar praktisch kaum
zu trennen; denn bei der die gesamte Existenz betreffenden Natur des
Kunstwerkes wie auch des Verstehens erscheint das Kunstwerk zum vornherein
als wertbezogen und ist jede Beobachtung und Beschreibung zugleich
Wertung. Im Begriff der Kritik, des Criticism, liegt beides zugleich. Welche
verschiedenen Gesichtspunkte der Wertung dabei im Spiele sind, lehren die
mehr oder weniger zum System gezwungenen Aufstellungen bei Beriger2,
Petersen, Wellek-Warren. Dennoch aber gibt es prinzipiell die Möglichkeit,

1
T. S. Eliot, The Use of Poetry and the Use of Criticism. London 1933.
2
Leonhard Beriger, Die literarische Wertung. Ein Spektrum der Kritik. Halle
1938.
|#f0114 : 108|

ein Werk in Erscheinung und Wesen ohne Wertklassierung zu beschreiben:
die Feststellung von Gattungscharakter, von Versbau und Rhythmus,
Bild- und Gedankensphäre mag vielleicht auf eine Wertung zielen, aber ist
ausdrücklich zunächst noch keine.


  Im weitesten Horizont erscheint die Frage der Wertkriterien, wenn versucht
wird, sie auf dem Boden einer Ästhetik für alle Künste zu stellen,
im Sinn einer allgemeinen Kritik der ästhetischen Erfahrung. Besonders
dann, wenn das ästhetische Werturteil ganz empirisch als eine Kumulation
der Anwendungen grundsätzlich verschiedener Kriterien untersucht wird. So
unterscheidet Stephen C. Pepper1 vier verschiedene Arten, sich einem ästhetischen
Gegenstand zu nähern, die alle je auf eine „world hypothesis“, d. h.
eine Art, die Welt überhaupt zu begreifen, zurückgehen und zusammen
auch den ästhetischen Gegenstand einkreisen. Pepper unterscheidet so einen
mechanistic criticism (der den unmittelbaren Lustgewinn betrifft), einen
contextualistic criticism (der die konkrete Situation von Werk und Wirkung
im Auge hat, mit den Kriterien Intensität und Tiefe), einen organistic
criticism (der auf die Integration, die Ganzheit des Werks und der Einbildungskraft
sich richtet) und einen formistic criticism (der das Kunstwerk
als Verkörperung einer natürlichen Norm beurteilt). Aus dieser an sich fragwürdigen,
empirisch-eklektischen Zusammenstellung können uns im Rahmen
unseres Gedankengangs nur die Gesichtspunkte des zweiten und dritten
Criticism interessieren.


  Auch bei einer Wertung des Werks als solchen (organistic), also einer
poetischen Wertung im engern Sinn, ist die Gefahr eines bloß additiven
Vorgehens groß.


  Leonhard Beriger geht bei seiner Untersuchung der literarkritischen
Wertmaßstäbe davon aus, daß Deutung und Wertung untrennbar
seien, daß also alle Gesichtspunkte der Interpretation auch zum Wertkriterium
werden können; das Dichtwerk aber sieht er im Gegensatz zum Werk
der bildenden oder musikalischen Kunst als symbolische Einheit, d. h. eine
Einheit, die nicht nur „schön“, sondern auch „wahr“ sein will, d. h. im
„Gehalt“ (Gedanke, Weltanschauung, Idee) auf eine außerästhetische Wirklichkeit
weist. Auch wenn Berigers Untersuchungen auf eine einheitliche
systematische Grundlage ─ die ungefähr der Emil Ermatingers entspricht
─ bezogen sein wollen, so unternehmen sie es doch, die Wertungsmöglichkeiten
fast ausschließlich vom Einzelaspekt aus zu untersuchen. So
erscheinen als ästhetische Gesichtspunkte die Stilaspekte von Stoff,
Sprache, Symbolik, Atmosphäre und Gattungsform (welch letzteres, wie
oben zu zeigen versucht wurde, am fragwürdigsten ist); als außerästhe-

1
Stephen C. Pepper, The Basis of Criticism in the Arts3. Cambridge, Mass. 1949.
|#f0115 : 109|

tische Kriterien werden Weltanschauung, persönliches Ethos, religiöser
und nationaler Gesichtspunkt genannt. Gewiß werden diese Gesichtspunkte
praktisch als einzelne verwendet; es ist aber mehr als fraglich, ob auf dem
Weg einer derartigen Atomisierung des „Wertes“, der ja nur als Charakter
des Kunstwerkes in seiner Ganzheit gelten kann, wieder ein ganzes
Urteil legitimerweise zustande kommen kann. Eine Addition oder Durchschnittsberechnung
der Teilurteile kann ja nicht in Frage stehen.


  Das gilt wohl auch für Petersen, der eine ähnliche Einteilung in ästhetische
und außerästhetische (ethische, religiöse und volkhafte) Gesichtspunkte
entwickelt; die Wertung selbst gliedert er, senkrecht dazu, in drei
verschiedene Fragen, die Frage nach der Echtheit (seelische und menschlich-individuelle
Bedeutung), die nach der Größe (ausstrahlende Kraft des
Werkes) und die nach der Sinnbildhaftigkeit (Frage nach der
Weltbeziehung und der gültigen Bedeutung des Werkes), womit er dann,
mit Ordinaten und Abszissen, wieder ein hübsche Tabelle erhält. „Echtheit“
und „Sinnbildhaftigkeit“ sind Gesichtspunkte, die sich letztlich auf
den Dichter beziehungsweise eine außerästhetische Wirklichkeit richten
und damit wiederum der strengen Stilkritik nicht in den Blick kommen.
Gewiß bezieht sich Dichtung schon als Sprache zum Vornherein auf Werte;
aber ein Kunstwerk werten kann auch hier nicht heißen, diese Werte aufzuweisen
und aufzuzählen und gegeneinander abzuwägen. Wenn schließlich
H. Kromer1 es unternommen hat, auf Grund einer Fortuna-Philosophie
Günther Müllers eine „normgenetische“ Literaturwissenschaft zu
begründen und unter Norm die Gesetzhaftigkeit meint, die sich in der Stufenordnung
des Seins offenbart und vom Menschen formend verwirklicht
werden will, so hat das mit „wertender Literaturwissenschaft“ kaum etwas
zu tun. Auch Henri Peyre2 bespricht die Frage der „Standards“, die heute
die Frage nach den „Rules“ ersetzt hat. Ohne Systematik diskutiert er die
verschiedenen üblichen „tests“ der Beurteilung, um dann noch am meisten
Vertrauen zu den vagen Gesichtspunkten der „energy“ und „intensity“ zu
bekunden. Wichtig ist sein Nachweis, wie wenig die Hoffnung auf ein
automatisch richtigeres Urteil der Nachwelt ist.


  Gewertet wird das einzelne Werk, eine Partie des Werkes oder eine
Gruppe von Werken (Goethes Faust, eine Szene im Faust, das Werk Goethes),
in jedem Fall Größen individuell-geschichtlicher Erscheinung. Es ist
aber literaturwissenschaftlich sinnlos, die Größe einer Gattung oder eines

1
Helene Kromer, Vorstudien zur Frage einer wertenden Literaturwissenschaft.
Diss. (Münster) Bottrop i. W. 1935.
2
Henri Peyre, Writers and their Critics. A Study of Misunderstanding. Ithaca
N. Y. 1944.
|#f0116 : 110|

Stilaspekts zu werten: etwa den Hexameter oder das Epigramm oder die
Idee der Vergänglichkeit als wertvoll bzw. minderwertig zu bezeichnen.
Wertung kann im Bereich der Poetik ─ sofern Dichtung wirklich eine unreduzierbare
Erscheinung eigenen Rechts ist ─ sich nur auf eine poetische
Ganzheit beziehen und dann eben nur die „formale“ Feststellung bedeuten,
ob und in welchem Grade eine Dichtung poetische Ganzheit, d. h. Dichtung
ist. Es ist das Verdienst eines kleinen Aufsatzes von Emil Staiger1, dies
mit wünschenswerter Klarheit betont zu haben. Poetisch „wertvoll“ ist
dann nichts anderes als „schön“ in einem allgemeinen, von jeder Regelpoetik
freien Sinn. „Schön aber muß nun ein Kunstwerk heißen, das
stilistisch einstimmig ist.“ „Die Einstimmigkeit wird nachgewiesen in kunstgerechter
Auslegung, die alles mit allem zusammenhält: den Vers, das
Motiv, die Komposition, die Idee ... den fundamentalen Rhythmus.“ Unvollkommen,
unschön wäre die Dichtung, die nicht durchstilisiert ist, die
Stilmischung ist. Die vollkommenen Stile verschiedener Werke, verschiedener
Epochen dagegen können streng genommen nicht wertmäßig unterschieden
werden oder höchstens nach dem Maß, in dem sie die Fülle des
Lebens erschließen (z. B. nennt Staiger Shakespeare „größer“ als Kleist).
Man kann auch sagen: Wertmaßstab ist die Ergiebigkeit der stilistischen
Interpretation.


  Gegen diese auch sonst (Wellek-Warren) hervorgehobenen Kriterien
der Stimmigkeit und Dichte wäre vielleicht nur einzuwenden, daß sie so
allgemein sind, daß sie wenig mehr besagen. Eine dramatische Welt z. B.
muß gerade in ihrer dialektischen Widersprüchlichkeit und Unstimmigkeit
als in höherem Sinne stimmig begriffen werden können; auch Auerbach
spricht von Stilmischung, aber meint damit gerade eine hintergründigere,
gerade in ihrer unstimmigen Offenheit wertvollere Dichtung. Ob dabei
wirklich zwischen den Aspekten eine Stimmigkeit oder eine Spannung, ja
Widerspruch oder Beziehungslosigkeit herrscht, wird sehr schwer entscheidbar
und damit bewertbar sein. Und ebenso: was ist Fülle ─ wo es vielleicht
um Wahl, Entscheidung und Verzicht geht? Wenn Shakespeare
größer ist als Kleist, heißt das auch, daß er schöner sei, oder kommen hier
doch andere Kriterien ins Spiel?


  Dieser auf seinen stilkritischen Sinn reduzierte Gebrauch des Wertbegriffs
ist immer wieder als ungenügend empfunden, als Relativismus, als
Haltung des l'art pour l'art bezeichnet worden. Überall dort, wo in der
Interpretation das Schema von Form und Inhalt, Symbol und Ausdruck in
irgendeiner Weise festgehalten wird, wird auch versucht, einer angeblich
formalistischen und ästhetizistischen Wertung entgegenzutreten und entsprechend

1
Emil Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen. Trivium III (1945) 185 ff.
|#f0117 : 111|

die „außerästhetischen“ d. h. inhaltlichen Faktoren der Wertung
zur Geltung zu bringen.


  Strenge Stilkritik versteht sich aber kaum je als Formalismus, sondern
will im Gegenteil meistens ein Kunstwerk im Hinblick auf die Gesamtheit
der menschlichen Existenz auffassen (vgl. z. B. Th. Spoerri, Die Formwerdung
des Menschen).
Unstimmigkeit, Spannungen zwischen ästhetischen
und außerästhetischen Belangen würden sich bei einer tieferen Fassung des
Begriffs „Stil“ im Werk selbst nachweisen lassen, mit andern Worten: das
Schöne, das Wahre und das Gute müssen sich letztlich als Eines erweisen; das
ist ein unausgesprochenes Postulat der Stilkritik. Wie weit damit ein Begriff
wie Stil und Schönheit überspannt ist, bleibt allerdings noch offen. Es
bedeutet hiefür schon ein verdächtiges Indiz, daß der Begriff „reiner“
Poesie gewöhnlich aus liedhafter Lyrik gewonnen wird und die Stilkritik
überhaupt wohl der Lyrik am glücklichsten begegnet. Die Divina Commedia
ist zwar keine „unreine“ Poesie, aber die Transzendenz des Werkes ins
Inhaltliche, ja Lehrmäßige ist hier so stark und die Spannung zwischen
sinnlich-dichterischer und übersinnlich-religiöser Welt hier so energisch, daß
Begriffe wie dichterische Reinheit oder Schönheit an Gewicht verlieren.
(Nur im Bereich der Mystik scheint eine Kongruenz dichterischer und religiöser
Aussage möglich ─ vgl. E. Hederer1 ─, auch wenn dann noch der
Unterschied zwischen mystischer Erleuchtung und Dichtung ─ „a motion
terminating in an arrangement of words on paper“, wie T. S. Eliot
sagt ─ nicht zu übersehen ist). Und dann zieht man gerne der Bezeichnung
„Schönheit“ die der „Größe“ vor, worunter auch der Schillersche
Begriff des „Erhabenen“ fallen würde. Der Gegensatz von Schönheit und
Größe in diesem Sinne kann nur auf die Unterscheidung ästhetisch-außerästhetisch
bezogen werden. Doch ist damit nicht mehr der Fall gemeint,
wo aus einem Werk eine inhaltliche Tendenz abstrahiert und gegen das
Werk wertend ausgespielt wird (etwa der von Kayser besprochene Streit
um den angeblich unmoralischen Ehebruchsroman von Madame Bovary);
hier steht im Grunde nicht Moral oder Glaube gegen Kunst, sondern ein
alter Stil gegen einen neuen, wobei sich die Anwälte des alten Stils
werkfremde moralische Argumente borgen. Das betont auch Pottle2 in
seinem wenig belangreichen Kapitel „The Moral Evaluation of Literature“.
Gemeint ist vielmehr die im Kunstwerk selbst sich ereignende Transzendenz
des Kunstwerks. So ist wohl auch der bei Wellek-Warren zitierte, scheinbar
paradoxe Ausspruch Eliots zu verstehen: The ,greatness‘ of literature
cannot be determined solely by literary standards, though we must remember,

1
Edgar Hederer, Mystik und Lyrik. München und Berlin 1941.
2
Frederick A. Pottle, The Idiom of Poetry, 2nd edition, Ithaca N. Y. 1946.
|#f0118 : 112|

that wether it is literature or not can be determined only by literary
standards (Wellek-warren 341, 251 ff.). Dieser mögliche Konflikt zwischen
sog. ästhetischen und außerästhetischen Maßstäben ist zweifellos verschärft
worden durch den Geist des Christentums, der auch die Welt des
Schönen in die Spannung zwischen Diesseits und Jenseits versetzt hat und
jenen von Auerbach sog. „stilmischenden“ Stil hervorbrachte.


  Es entsteht damit umgekehrt auch die Möglichkeit für das, was als zweifellos
echten Tatbestand eine christliche Ästhetik als verführerische, „dämonische
Schönheit bezeichnet. „Die Kunst vermag herrliche
Straßen zu bauen, die in den Abgrund hinabführen ...“ sagt Reinhold
Schneider1. Am Beispiel Miltons hat schon das 18. Jahrhundert über die
Größe Satans und die größere Schönheit des Paradise lost gegenüber dem
Paradise regained gerätselt. Schneider unternimmt es, unter diesem Gesichtspunkt
das Erbe der deutschen Klassik und des 19. Jahrhunderts zu
betrachten, gerade im Versuch, „mit der Kunst zu leben, sie ganz ernst
zu nehmen, und das heißt, sie in ihrem Verhältnis zur Wahrheit zu verfolgen,
der das Leben und die Kunst unterworfen sind.“ Das führt uns
schließlich zu einer katholisch-thomistischen Kunstlehre, wie sie von Theo-
dor Haecker2 vertreten ist. Haecker versucht, in scharfer Wendung
gegen Kant, „Schönheit“ als „ewig und unveränderlich eine Eigenheit des
Seins“ neben Wahrheit und Gutheit aufzuweisen, sie ernst zu nehmen nicht
als Scheinhaft-Überflüssiges, sondern als leuchtenden Überfluß gnadenhafter
Art, nicht als reizhaftes Epiphänomen oder Prophänomen des Guten und
Wahren, sondern als ein Sein selbst. Aber gerade dann stößt er auf „zwei
unleugbare Tatsachen in dieser Welt: Es ist nicht alles gut, was schön ist,
und es ist nicht alles schön, was gut ist“, und das heißt eben wieder: es
gibt dämonische Schönheit, es gibt das Problem der Fleurs du mal oder der
durch den Fall bewirkten Verwandlung der Gnade (gratia) in Fluch.
Haecker bestimmt sie mit drei Merkmalen: Auslassung (letztlich der unerschaffenen
Schönheit als der Liebe Gottes selbst), Verwirrung der Ordnung,
Undurchsichtigkeit. Man sieht, wie mit solchen Kategorien der kontinuierliche
Übergang vom stilistischen (Stimmigkeit, Fülle, Transparenz) zum
außerstilistischen Gebrauch möglich bleibt, so daß vielleicht diese Unterscheidung
auch hier nur irreführend ist.


  Schließlich ist ein Gesichtspunkt der Wertung zu erwägen, der hier noch
nicht berührt wurde und im Rahmen einer Poetik überhaupt nicht erscheinen
kann, aber praktisch in der Tageskritik und in der Wahl des Gegenstandes
überhaupt fast beherrschend ist: der der Originalität oder

1
Reinhold Schneider, Dämonie und Verklärung. Vaduz 1947.
2
Theodor Haecker, Schönheit, ein Versuch. Leipzig 1936.
|#f0119 : 113|

besser der Neuheit. Es ist z. B. fraglich, ob der Ruhm der frühesten
deutschen Lyrik oder der ersten Gesänge des „Messias“ nur dem poetischen
Rang der Werke zu verdanken ist und nicht der Tatsache, daß sie Epoche
machten, ursprünglich und original und neu in einem historischen Sinne
waren. Ein Stil kann, einmal geschaffen, bis zur Ununterscheidbarkeit nachgeahmt
werden, und es ist wiederum fraglich, ob der Anspruch der Stilkritik,
eine derartige Nachahmung mit ihren eigenen Mitteln als solche zu
entlarven, prinzipiell zu Recht besteht. Beides weist darauf hin, daß zum
Rang des Werkes auch sein geschichtlicher Stellenwert gehört, seine Funktion
im Literaturganzen, die vom isolierten Einzelwerk aus gar nicht ansichtig
wird. Dieser Stellenwert wird freilich im Lauf eines geschichtlichen
Wertwandels ─ der die Folge eines immer wieder direkten unmittelbar
wertenden Rückgriffs auf die Überlieferung ist ─ verschoben oder gar verwischt;
er gehört aber unvermeidbar zur historischen Literaturbetrachtung,
auf die wir damit auch hier wieder verwiesen sind.

|#f0120 : E114|

IV. WERK, DICHTER, GESELLSCHAFT

1. leben und existenz des dichters

Durch die Wandlungen der Literaturwissenschaft selber sowohl wie der
Psychologie und Anthropologie ist es problematisch geworden, wie weit
und in welchem Sinne sich die Literaturwissenschaft nicht nur mit der
Dichtung, sondern auch mit dem Dichter beschäftigen soll; daß die Poetik
des Schaffens in der neueren Forschung weitgehend zurücktritt hinter
der Poetik des Geschaffenen, ist zweifellos. Die umfassendste Zusammenstellung
der hier zu behandlenden Fragen findet sich bei Petersen.


  Immerhin wird hier eines der ursprünglichsten und scheinbar natürlichsten
Anliegen der Literaturwissenschaft in Frage gestellt. Denn selbst in
Zeiten, die ganz durch eine gesellschaftlich-objektive, unpersönliche Pflege
der literarischen Kunst charakterisiert sind, genießen u. U. die Person des
großen Dichters, seine Lebensschicksale, sein Ruhm ein selbstverständliches
Interesse. Und wenn seit der Goethezeit Dichtung nun selbst als Erlebnisausdruck
und Bekenntnis aufgefaßt wird, so wird das Dichterleben, wird
der Dichter zum Ursprung und Ziel auch der Werkerklärung. Die monumentalisierende,
mythologisierende Schule Georges sagt nicht der Dichterbiographie
an sich den Kampf an, sondern nur ihren positivistischen, bürgerlich-indiskreten
Formen ─ sie will die große „Gestalt“ erfassen und dem Betrieb
bloß historischer und psychologischer Forschungen entrücken, gilt aber
praktisch weiter im Grunde mehr der Person als dem Werk. Und noch neuerdings
wendet sich Ermatinger1 gegen die moderne Tendenz, die sich „in
ästhetischen Analysen der Werke nicht genug tun kann“ und schreibt eine
biographische Literaturgeschichte (auf geistesgeschichtlicher
Grundlage); es sollen hier nur „die seelischen Kräfte und geistigen Ideen“,
die die Entstehung der Werke „bedingten“, am Leben der Dichter beschrieben
werden. Es ist damit zugleich eine Rangordnung gegeben: die Dichtung,
auf die es ankommt, stammt eben von „Erlebnisdichtern“ im Gegensatz
zu den bloßen Bildungs- und Überlieferungsdichtern, deren Werke zur

1
Emil Ermatinger, Deutsche Dichter 1700─1900. Eine Geistesgeschichte in
Lebensbildern. 2 Bände. Bonn bzw. Frauenfeld 1948 und 1949. Einleitung: Die
Persönlichkeit des Dichters, in Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider,
Tübingen 1948.
|#f0121 : 115|

bloßen „Literatur“ gehören und damit sowieso von geringem Belang sind.
Man hätte damit sachlich und wertmäßig im „Leben“, in der Biographie
den Schlüssel zur Dichtung in der Hand ─ vorausgesetzt, daß dieses Leben
nicht nur aus der Dichtung erschlossen ist. Ähnlich bekennt sich V.
Giraud1 zur Methode des biographisch-literarischen Portraits und zum
Vorbild Sainte-Beuve, weil von hier aus am bequemsten nach allen Seiten
gegangen werden könne.


  Wenn Ermatinger so vom Biographischen aus die ästhetische Analyse,
die er selbst in seinem erfolgreichen Buch vom dichterischen Kunstwerk
einst entscheidend gefördert hat, als sekundäre Aufgabe bezeichnet oder
gar verabschiedet, so ist umgekehrt die Stilkritik zur Verabschiedung
der Biographik gelangt. Sie sei „gleichsam entbehrlich geworden“, stellt
Horst Oppel2 fest. Das „Leben“ ist, wenn überhaupt, nur aus dem Werk
und nur in seinem allenfalls literarischen Belang erschließbar, der Zugang
über den Hilfsbegriff eines „Erlebnisses“ ist ein Umweg oder gar eine
Selbsttäuschung. Am weitesten geht wohl Wolfgang Kayser, wenn er
innerhalb der Stilkritik selbst den Begriff des Stils nur auf das Einzelwerk
begrenzt und sogar die faktische Existenz eines Personalstils für fragwürdig
hält. Es gibt für eine strenge Literaturwissenschaft nur die Werke;
am Schaffensakt, wenn er schon interessiert, sei im übrigen weder die ganze
Persönlichkeit des Dichters noch die Persönlichkeit des Dichters allein beteiligt
(was allerdings von allen Handlungen und Haltungen des Menschen
gilt!). Selbst die Psychologie gibt zu, „daß der Künstler aus seiner Kunst
erklärt werden muß und nicht aus den Unzulänglichkeiten seiner Natur
und seinen persönlichen Konflikten, welche bloß bedauerliche Folgeerscheinungen
der Tatsache darstellen, daß er ein Künstler ist ... Nicht Goethe
macht den ,Faust‘, sondern die seelische Komponente ,Faust‘ macht Goethe“.
(C. G. Jung3). Aber vielleicht gibt es eine Rettung der Biographie von
der Literatur geschichte her? Petersen weist der „Dichtergeschichte“
in der Tat die verbindende Funktion zwischen Werk und Literaturgeschichte
zu: „Auf dem Weg über die Dichter und nur über sie gelangen wir
zu einer geschichtlichen Betrachtung der Dichtung“. Unzweifelhaft gehen
aber so manche geschichtlichen Verläufe über die personalen Einheiten hinweg
─ eine Literaturgeschichte ohne Namen ist denkbar, eine Formgeschichte
hat uns Böckmann (vgl. unten S. 137 ff.) gegeben, erfolgreiche gattungs-,
motiv- und geistesgeschichtliche Arbeiten gibt es in großer Zahl.

1
Victor Giraud, La critique littéraire. Le probléme, les théories, les méthodes.
Paris 1946.
2
Horst Oppel, Grundfragen der literarhistorischen Biographie. DV 18 (1940),
139 ff.
3
C. G. Jung, Gestaltungen des Unbewußten. Zürich 1950. 32 ff.
|#f0122 : 116|

  Diesen Schwierigkeiten und Widersprüchen gegenüber kann man nur auf
das noch immer rätselhafte und höchstens phänomenologisch beschreibbare
Verhältnis von Werk und Mensch selber verweisen: das Einzelwerk ist
immer Menschenwerk, d. h. kein Ding, sondern Zeichen, es transzendiert
sich selbst und ist damit unlösbar eingebettet u. a. auch in einen persönlichen
und persongeschichtlichen Zusammenhang; es gibt den Personalstil
und die dichterische Persönlichkeit als legitimen, ja notwendigen
Forschungsgegenstand. Anderseits ist aber der Dichter als Persönlichkeit
nicht mit seiner „dichterischen Persönlichkeit“ identisch, so
wahr er nicht nur Dichter, sondern auch sittlicher, physischer, religiöser usw.
Mensch ist, was sich durchaus nicht alles ohne weiteres zu decken braucht.
Die Gesamtpersönlichkeit und ihr Schicksal kann das Werk umgreifen und
überschatten oder sie kann hinter dem Werk zurückbleiben oder neben ihm
ihr eigenes Leben haben.


  Es ist sicher kaum mehr möglich, in strengem Sinn das Werk aus Seelenkräften
und Ideen abzuleiten, und auch das Unterfangen, eine Dichterbiographie
im Sinne des herkömmlichen Wechselspiels von Leben und Werk
zu schreiben, ist, mit Horst Oppel, fragwürdig geworden. Aber dennoch
bleibt das Interesse für das Leben des Dichters an sich legitim und ebenso
die Dichterbiographie als Gattung. Und zwar nicht nur im Sinne
einer strengen Stilbiographie, etwa in der Art der Monographien der George-
Schule, die das Leben nur vom Werk aus, den Dichter, nur soweit er Dichter
ist, in den Blick fassen wollen. Sondern auch als chronologische Beschreibung
eines persönlichen Lebens in der Vielfalt seiner dichterischen und
außerdichterischen Aspekte. Wer wollte sich in verkrampfter l'art pour
l'art-Gesinnung Scheuklappen anlegen, wenn etwa bei einem bisher dem
Werke nach gut und dem Leben nach nur ungenau bekannten Dichter wie
Johann Christian Günther die biographisch-historische Forschung eine
Menge neues Material entdeckt und die Lebensgeschichte nun in allen Einzelheiten
vorlegt? Auch wenn Wilhelm Krämers1 Biographie in Stil und
Deutung noch nüchterner, sachlicher sein könnte, so gibt es doch zu denken,
wenn er sagt: „Man gewinnt die oft belächelte Anschauung Rankes wieder,
daß es möglich und geboten sei, etwas festzustellen, ,wie es gewesen ist‘“.


  Daß die Dichterbiographie als Biographie die Grenzen der Literaturwissenschaft
nach der allgemeinen Historie, nach der Ethik, nach der Psychologie
überschreitet und in ihr der Dichter wie irgend ein anderer vir illustris Gegenstand
der Beschreibung wird, das ist kein Schade. Die Biographie hat ihr

1
Wilhelm Krämer, Das Leben des schlesischen Dichters Johann Christian Günther
1695─1723. o. O. (Godesberg) 1950.
|#f0123 : 117|

eigenes Recht und Gesetz; man wird Romein1 darin beipflichten, daß die
Biographie einer Persönlichkeit als solcher gelten und nicht Ethik, Historie,
Biologie oder Psychologie sein soll (und also auch nicht Poetik); aber je
nach dem Helden und dem Interesse des Biographen werden diese andern
Bereiche im wechselnden Maß zur Geltung kommen müssen. Es ist gerade
die Schönheit und Unersetzlichkeit der Biographie, daß nirgends so wie hier
die runde Ganzheit und Allseitigkeit des Menschlichen erscheinen muß
und auch die Dichtung als Werk wieder in ein umfassendes Leben zurückgenommen
wird. Das beglückendste Beispiel dafür ist wohl die biographische
Meisterleistung von Friedrich Sengles Wieland2. Es ist ein fast
reaktionäres Werk in seinem Bekenntnis zur ruhigen historischen Anschauung
einer reich facettierten Persönlichkeit in ihrer Umgebung von Menschen
und Mächten, von Zeit und Gesellschaft, und in seinem Verzicht auf
formelhaft-geistesgeschichtliche oder gar „mythologische“ Zusammenschau.
Wieland soll „aus dem Kern seiner Persönlichkeit“ und doch „in dem mannigfaltigen
Schwanken, in dem unheimlichen Flimmern seines Lebenslaufes
und Werkes, in der endlosen Ironisierung und Komplizierung seiner Gegenstände“
... „nicht definiert, sondern in einer sorgfältigen Darstellung
seiner Geschichte sichtbar gemacht werden“. Aber das bedeutet auch keinen
Rückfall in irgend einen Positivismus, denn die Klugheit und Kritik einer
humanen Gesinnung bleiben wach, und vor allem bewährt sich diesem für
Deutschland so seltenen „frohen und wirklich weisen Schriftsteller“ gegenüber
das, was seinen literaturwissenschaftlichen Ausdruck nur in einer Biographie
finden kann: die Liebe zu einem Dichter3.


  Die moderne Literaturwissenschaft steht dem Begriff des Lebens und
Erlebens ablehnend gegenüber, operiert dagegen gern mit dem Begriff der
Existenz. Sofern das mehr als der modische Ersatz einer Unbekannten
durch eine andere ist, so ist damit offensichtlich bezweckt, von den biologischen
oder idealistischen Assoziationen wegzukommen in die Zone konkret-menschlicher

1
Jan Romein, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik.
Bern 1948.
2
Friedrich Sengle, Wieland. Stuttgart 1949. ─ Friedrich Sengle, Methodenfragen
der Biographie.
Euphorion 46 (1952, noch nicht erschienen).
3
Als weitere Beispiele biographischer Darstellung ─ ganz verschiedenen Stils
─ seien genannt: Hans Pyritz, Goethe und Marianne von Willemer. Eine biographische
Studie.
Stuttgart 1941. ─ Paul Hankamer, Spiel der Mächte. Ein Kapitel
aus Goethes Leben und Goethes Welt.
Tübingen 1943. ─ Bernard von Brentano,
August Wilhelm Schlegel. Geschichte eines romantischen Geistes. 3. Aufl.
Stuttgart 1949. ─ Und außerhalb des literarischen Bereichs die glänzende Burckhardt-Biographie:
Werner Kaegi, Jakob Burckhardt. Eine Biographie. I. Basel 1947.
II. 1950.
|#f0124 : 118|

Ursprünglichkeit, wo sich nun vielleicht auch die Probleme
der Persönlichkeit und des dichterischen Schaffens in größerer Tiefe
und Nähe betrachten lassen. In der Tat ist hier jenes durch den Hilfsbegriff
des Erlebnisses inszenierte Wechselspiel aufgehoben zugunsten der
Identität: „Gesang ist Dasein“. „Mit der Person des Dichters ist kein menschlicher
Sonderfall, sondern das Dasein selber in einer seiner ewigen Erscheinungsformen
gegeben“, hat Walter Muschg schon 1930 erklärt1 und eine
„symbolische Biographie“ gefordert, in der die „wahre Existenzsorge des
dichterischen Menschen getroffen“ werde, „jenseits aller bloß psychologischen,
soziologischen, philosophischen Formeln“. Das berührt sich insofern
mit dem Existentialismus Heideggers und der von ihm abhängigen Stilkritik,
als auch hier Dichtung als das quer zur Geschichte aus dem Ursprung
kommende Geschehen erscheint. Aber wenn die Stilkritik sich dem Werk
zuwendet, so sieht Muschg das Ursprunghafte mit der Tiefenpsychologie
konkreter in den Seelenmächten des Archaisch-Ursprünglichen, und es interessiert
ihn vor allem der Dichter selbst als der Träger oder besser das Medium
dieser Mächte. „Vergangenheit ist kein quantitativer Begriff, sondern eine
seelische Dimension.“ Die Dichterbiographie, die Muschg in diesem Sinne
mit seinem glänzenden Gotthelf-Buche2 gegeben hat, ist keine historischchronologische
Gestaltung mehr, sondern ein Stück Archäologie, ein Grabenziehen
und schichtenweises Vorstoßen zum untergründigen, urtümlichen,
dämonischen Kern der dichterischen Existenz. Wenn das Dichtertum schon
bei Gotthelf in seinem Zusammenhang mit Magie, Priestertum und Vision
erscheint, so ist der Schritt begreiflich, den Muschg mit seinem nächsten
Buch, einer Untersuchung der ─ wesentlich als Ekstatik gesehenen ─ mystischen
Literatur der Schweiz3 unternommen hat.


  Einen folgerichtigen Abschluß dazu bedeutet nun das jüngste Werk
Muschgs, in seiner dichterischen Subjektivität ein Bekenntnis mehr als eine
bloße Untersuchung: eine großartige zusammenfassende Phänomenologie
des Dichtertums, der dichterischen Existenz, an Hand einer erstaunlichen
Fülle von Beispielen aus allen Zonen und Zeiten4. Mit einer Art
metaphysischen Ingrimms und stark polemischer Tendenz gegen die Gegenwartsliteratur
werden sozusagen die „Existentiale“ des Dichtertums ergründet.
Unter dem Obertitel „Die Berufung“ erscheinen als die ursprunghaften,
mythischen Formen des Dichters der Zauberer, der Seher, der Priester,

1
Walter Muschg, Das Dichterporträt in der Literaturgeschichte (in: Philosophie
der Literaturwissenschaft, herausgegeben von Emil Ermatinger. Berlin 1930).
2
Walter Muschg, Gotthelf. Die Geheimnisse des Erzählers. München 1931.
3
Walter Muschg, Die Mystik in der Schweiz. Frauenfeld 1935.
4
Walter Muschg, Tragische Literaturgeschichte. Bern 1948.
|#f0125 : 119|

der Sänger, worauf dann in den andern Kapiteln die geschichtliche
Entfaltung (oder richtiger Verhüllung), der Märtyrergang des Dichters in
Armut, Verbannung, Leiden, Entsagung, Schuld eben als „tragische Literaturgeschichte“
gezeigt wird, bis zum Nachweis der völligen Vergeblichkeit
und Vergänglichkeit der geschaffenen Werke selbst und der Eitelkeit des
Ruhms. Ob allerdings im strengen Sinne von Tragik gesprochen werden
kann, bleibe dahingestellt; es geht um eine Häufung allen Elends, Versagens
und Verkommens um das unbegreifliche Geheimnis des Schöpfertums
herum, und als tragisch erscheint sowohl ein Villon ─ Vagabund und
Verbrecher ─ wie ein Goethe, dieser, weil er vergeblich oder fälschlich versucht,
der Tragik des Dichtertums die Spitze abzubrechen. Auch wenn damit
trotz dem Falle Goethe die Existenz des Dichters gezeichnet ist, gehört
das Verständnis des Werks als solchen wohl auf eine andere Ebene.
Ja, man hat stellenweise den Verdacht, die angeführten Merkmale gälten
nicht in besonderer Weise für die dichterische, sondern vielleicht für jede
tragische Menschenexistenz. Auch im rein Persönlichen ist kaum mehr eine
Biographie als Geschichte möglich, so wenig wie im allgemeinen eine Literaturgeschichte:
die geschichtlichen Dimensionen und Ordnungen werden
gleichsam zusammengeklappt auf die eine Ebene der vorgeschichtlichen Anarchie,
die als das Ursprüngliche und Schöpferische schlechthin erscheint. Es
ist klar, daß sich denn auch wieder die „Literatur“ als das durchaus Un-
und Widerdichterische darstellt ─ obwohl das Wort im Titel steht.


2. psychologische erschliessung des werks

Die moderne Tiefenpsychologie gehört zu den Mächten, die auf
entscheidende Weise das Bild vom Menschen gewandelt haben. Sie hat
wesentlich mitgewirkt, auch im künstlerischen Bereich den Bann einer
bloß dem Bewußt-Persönlichen, Privat-Erlebnismäßigen zugewandten,
letztlich idealistischen Betrachtungsweise zu sprengen, auch dort, wo diese
Einwirkung der Psychologie nur auf dem Umweg über die allgemein modernen
Vorstellungskategorien erfolgt ist. Walter Muschg1 hat seinerzeit
die „radikale Psychologisierung der dichterischen Phänomene“ begrüßt
gegenüber einer ahnungslosen „Tradition der heroischen Idealisierung
des Dichters wie der erdichteten Gestalt“. Schon damit zeigt sich eine
Tendenz, die Inzucht literaturwissenschaftlicher Begriffsbildung zugunsten
größerer Zusammenhänge aufzugeben. Eine seit jeher im Hausgebrauch der
Literarhistoriker praktizierte Allerweltspsychologie wird fragwürdig angesichts
der neuen von der philosophischen Anthropologie (Sche-

1
Walter Muschg, Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Berlin 1930.
|#f0126 : 120|

ler, Rothacker, N. Hartmann) und der Tiefenpsychologie aller Arten
gewonnenen Einsichten. Hand in Hand mit der Psychologie ging dabei die
Arbeit der Volkskunde mit ihrer Erforschung primitiver Kultur- und
Bewußtseinsformen und der Soziologie mit ihren Untersuchungen der kollektiven
Gesellschaftsphänomene. Vor allem aber erwies sich die moderne
Psychologie als entscheidend beteiligt bei der dichterischen Produktion selber,
von Proust und Joyce bis Rilke, Thomas Mann und Hesse, um nur
ein paar wichtigste Namen zu nennen (eine Darstellung dieser Beziehungen
gibt das Werk von Hoffmann1). Die neueröffneten Perspektiven betreffen
sowohl die Literaturwissenschaft, in allen Bereichen des Schaffens, des
Werks und des Verstehens, wie auch die Geschichte, die damit den linearen
Charakter ideeller oder biologischer Entwicklungen verlor oder überhaupt
wesenlos wurde, da sie als ein Schichtengefüge mit der jederzeitigen
Präsenz auch der unbewußten, primitiven, kollektiven Gründe erscheinen
muß.


  Diese psychologischen Interessen machen sich vor allem in der angelsächsischen
Literaturwissenschaft geltend. Die beste Besprechung dieser Bewegung
gibt wohl das betreffende Kapitel von Hyman, wobei das Buch der
C. G. Jung-Schülerin Maud Bodkin2 in den Mittelpunkt gestellt ist. Für
Deutschland ist der direkte Einfluß von Psychoanalyse und komplexer
Psychologie
weniger tief gegangen (vgl. die Auseinandersetzung
bei Strich3 und, vom „existentialistischen“ Standpunkt aus,
pongs4). Offenbar war die idealistisch-geisteswissenschaftliche Tradition zu
stark. Als ein Versuch, der Geistesgeschichte wenigstens eine sozial-psychologisch
gesehene Seelengeschichte entgegenzustellen, verdienten Fritz Brüg-
gemanns Darstellung der Aufklärungsliteratur in der Sammlung Deutsche
Literatur in Entwicklungsreihen5 und die von ihm herausgegebenen Beiträge
zu einer Psychogenetik der Literatur
6 hervorgehoben zu werden. Vor
allem aber: Deutschland schuf sich so etwas wie einen „arteigenen“, dafür

1
Frederick J. Hoffmann, Freudianism and the Literary Mind. Louisiana 1945.
2
Maud Bodkin, Archetypical Patterns in Poetry. Psychological Studies of
Imagination. Oxford 1934.
3
Fritz Strich, Das Symbol in der Dichtung (in: Der Dichter und die Zeit.
Bern 1943).
4
Hermann Pongs, Psychoanalyse und Dichtung. Euphorion 34 (1933) 38 ff.
Auch in: Das Bild in der Dichtung Bd. 2.
5
Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe Aufklärung. Herausgegeben
von Fritz Brüggemann. 15 Bände. Leipzig 1928─1938.
6
Literatur und Seele. Beiträge zu einer Psychogenetik der Literatur. Herausgegeben
von Fritz Brüggemann. Berlin 1931 ff.
|#f0127 : 121|

dilettantisch-romantischen Ersatz der Tiefenpsychologie; denn die stammeskundlich-landschaftliche
Literaturgeschichte Nadlers, die Lehre von den
volkhaften oder rassischen Kräften und schließlich die Blut- und
Bodenideologie des dritten Reiches sind ja schließlich nationale oder nationalistische
Varianten der Kollektivpsychologie. So sind auch die Versuche, die
Stilmerkmale des Dichtwerks auf eine biologische oder „erbpsychologische“
Typologie zu beziehen und weiter zur Umschreibung „rassenseelischer“ oder
auch landschaftlicher Bestimmtheiten vorzustoßen, im Bereich allgemeiner
Erwägungen (Hoss1) oder ideologischen Redens (Büttner2) stecken geblieben.



  Wir beschränken uns hier auf die Beziehungen zwischen Literaturwissenschaft
und Tiefenpsychologie, da hier wohl die interessantesten
und wissenschaftlich konkretesten Aspekte eröffnet wurden. Im allgemeinen
ist zu sagen, daß sich die Literatur weniger erfolgreich um Freud als um
Jung gekümmert hat, denn Freuds Psychoanalyse mochte noch eher auf
die Fragen des dichterischen Schaffens als auf die des Werks selber angewendet
werden. Die Ableitung des Kunstwerks aus persönlichen Komplexen
stellt dieses aber, wie C. G. Jung dann feststellte, auf die Stufe
einer bloßen Neurose. Trotzdem hier Otto Rank mit seinen Forschungen
zum Inzestmotiv in der Literatur ein geschlossenes Werk psychoanalytischer
Literaturforschung vorlegte, machte es kaum Schule. Denn, wie Hyman
formuliert: „A criticism that can only say, however ingeniously, that this
work is a result of the author's repressed Oedipal desires, and that everybody
has repressed Oedipal desires, turns out not to be saying very much.“
Immerhin sei verwiesen auf die anregenden Vorlesungen von Joachim
Maass (vgl. oben S. 71), die versuchen, von einem hauptsächlich an Freud
orientierten Symbolbegriff aus zu einer Ästhetik des Dichterischen vorzudringen;
Maass verfolgt die Analogie von Traum und Dichtung, läßt aber
der Sprache als dem Material und dem Ausdrucksmittel, d. h. dem „Wie“
der Literatur, ihr Recht widerfahren.


  Auch bei C. G. Jung sind es nur einzelne Aspekte seiner psychologischen
Lehre, die unmittelbar anregend wirkten. Die Typenlehre etwa stieß
auf die Konkurrenz einer Reihe von Typologien von Schiller bis Wölfflin,
die sich als philosophisch begründete oder konkret kunstwissenschaftlich-formale
für die Dichtung geeigneter zeigen mußten. Dagegen ist es die
Lehre vom kollektiven Unbewußten, von den Archety-

1
K. Hoss, Zur Entwicklung und Handhabung einer Methode erbpsychologischer
Untersuchungen an Prosadichtungen. Diss. (Münster) Bochum 1939.
2
L. Büttner, Gedanken zu einer biologischen Literaturbetrachtung. München
1939.
|#f0128 : 122|

pen und vom Individuationsprozeß, die den literaturwissenschaftlichen
Befunden unter Umständen eine willkommene und überraschende
Formulierung erlaubten. Vor allem eigneten sich diese Kategorien
im Gegensatz zu denen Freuds auch für das Werk und nicht nur für
den Mechanismus der Werkentstehung. Sie halfen damit, die Wendung von der
biographischen zur ästhetisch-stilistischen Betrachtung der Literatur zu bestätigen.
Jung selbst setzt 19301 in diesem Sinne die Psychologie des
Kunstwerks der des Künstlers gegenüber. Jene sieht im Kunstwerk nicht
das bloße Symptom, sondern eine „Urvision“, ein „Urerlebnis“ (die Herkunft
der eigentlich ungeeigneten Bezeichnung von Gundolf ist aufschlußreich),
einen Ausdruck für eine „unbekannte Wesenheit“, die der persönlichen
Schicht des Künstlers und seinem Selbstverständnis weitgehend entrückt
ist.


  Später erfolgt dafür die Ausbildung des Archetypusbegriffs. Dieser Begriff
hat sich ─ man vergleiche die ausgezeichnete Zusammenfassung von
Jolan Jacobi2 ─ aus Freuds Begriff des Komplexes entwickelt. Dieser
ist zunächst ein pathologischer Begriff und dem persönlichen Unbewußten
zugeordnet und eignet sich schon darum nicht für die Erhellung des Kunstwerks.
Jung faßt ihn immer mehr vom Gesunden her und in der Tiefe
eines neuentdeckten kollektiven Unbewußten. Dieses kollektive Unbewußte,
auf welchem das Ich-Bewußtsein „schwimmt“, schafft einen neuen Zusammenhang
zwischen den Einzelausprägungen auch des künstlerischen Lebens:
an Stelle einer kausal verbundenen Summe von Einzelwesen der Literatur
tritt ihre gemeinsame Verwurzelung in einem kollektiven Grund. Die
Archetypen des kollektiven Unbewußten sind „Knotenpunkte“, „energiegeladene
Bedeutungskerne“, „lebendige Reaktions- und Bereitschaftssysteme“,
„Urmuster“, „zugleich Bild und Emotion“. Wo sie aber im Jetzt und Hier
von Zeit und Raum erscheinen und vom Bewußtsein wahrgenommen werden,
da werden sie zu Symbolen, bzw. potenzielle werden zu aktuellen
Symbolen, kollektiver („Mythologem“) oder individueller Art. So ist hier
auch zum Symbol der Kunst ein Übergang möglich. „Wer mit Urbildern
spricht, spricht wie mit tausend Stimmen, er ergreift und überwältigt, zugleich
erhebt er das, was er bezeichnet, aus dem Einmaligen und Vergänglichen
in die Sphäre des immer Seienden ...“3. Es scheint in der Tat
möglich, daß das Maß archetypischer Mächtigkeit, d.h. mit Goethe gesprochen,

1
C. G. Jung, Psychoanalyse und Dichtung (in: Philosophie der Literaturwissenschaft,
herausgegeben von Emil Ermatinger, Berlin 1930. Verändert als Psychologie
und Dichtung
in Gestaltungen des Unbewußten, Zürich 1950).
2
Jolan Jacobi, Komplex, Archetypus, Symbol. „Schweizerische Zeitschrift für
Psychologie“ IV (1945) 276 ff.
3
C. G. Jung, Seelenprobleme der Gegenwart, 2. Auflage, Zürich 1946.
|#f0129 : 123|

der Teilhabe des dichterischen Symbols an den Urphänomenen, mindestens
ein Maß des dichterischen Ranges ist, und daß die Art und Weise
dichterischer Wirkung auch des einzelnen Werks von der Beziehung auf
diese archetypischen Bilder bestimmt ist.


  Diese Bilder treten nun aber nicht vereinzelt und beliebig auf, sondern
erscheinen im Zusammenhang des „Individuationsprozesses“, d. h. der Auseinandersetzung
des Bewußtseins mit den Inhalten des Unbewußten auf
dem Wege zur persönlichen Ganzheit der Psyche, zum Selbst. Unter diesem
Gedanken kommt psychologische Interpretation noch näher an den
Sinn des künstlerischen Vollzugs und manchen dichterischen Kunstwerks
heran. Aniela Jaffé's eingehende Untersuchung des Goldnen Topfs
von E. T. A. Hoffmann1. ─ Verfasser wie Werk sind wohl wie wenig
andere zu Schulbeispielen geeignet ─ zeigt nicht nur die erstaunliche Fülle
und Dichte des symbolisch-archetypischen Gehalts, sondern auch die sinnmäßige
Geschlossenheit ihres Ablaufs als Individuationsweg vor einem
Hintergrund, der in immer tiefere Bewußseinsferne verdämmert. Auch diese
Abhandlung will ausdrücklich keine literarisch-ästhetische sondern eine
psychologische Interpretation sein, immerhin im Zusammenhang mit dem
Lebenslauf Hoffmanns und dem Schicksal der Romantik.


  Ob es möglich und fruchtbar ist, die Jungschen Kategorien wirklich in
eine literaturwissenschaftliche Systematik einzubauen, steht noch dahin.
Denn sie beziehen sich vorläufig in erster Linie auf den motivisch-vorstellungsmäßigen
Aspekt des Dichtwerks, den dieses aber auch mit dem Traum
und allen andern symbolischen Ausdruckswelten teilt. Der spezifisch künstlerische
Charakter, nach Art und Rang, wäre erst noch grundsätzlich zu
bestimmen, und zwar nicht nur dort, wo es sich um eine stoffliche Berührung
des Dichters mit dem Mythus handelt (vgl. Kerenyi2 und W. F.
Otto3). Und damit wäre auch erst eine Literarhistorie denkbar, in welcher
die Geschichte nicht nur auf das zeitlos Urbildliche hin in eins zusammenfallen
würde, sondern zugleich als gerichtete Geschichte erschiene.


3. soziologie der literatur

Bei Walter Muschg zeigt sich die Beziehung der ursprünglichen dichterischen
Existenz zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt in ihrem tragischen
Aspekt. Sie kann aber auch eine durchaus reguläre sein, ja sie gehört in

1
Aniela Jaffé, Bilder und Symbole aus E. T. A. Hoffmanns MärchenDer
Goldne Topf“ (in: C. G. Jung, Gestaltungen des Unbewußten. Zürich 1950).
2
Karl Kerenyi und Thomas Mann, Romandichtung und Mythologie. Ein Briefwechsel.
Zürich 1945.
3
Walter F. Otto, Der Dichter und die alten Götter. Frankfurt a. M. 1942.
|#f0130 : 124|

den verschiedensten Formen wesentlich zum Phänomen des Dichters und
der Dichtung überhaupt. Besonders wo Dichtung als Sprache, als bestimmt
geartetes Ausdrucks- und Kommunikationssystem untersucht wird, erscheint
sie in einem sozialpsychologischen Zusammenhang, d. h. unter der
Frage nach ihren Funktionen und Leistungen für das einzelmenschliche und
zwischenmenschliche Verhalten. Soweit das dichterische Werk, gerade als
Werk, über sich hinausweist, betrifft es nicht nur die dichterische Persönlichkeit,
sondern den Dichter als Gesellschaftswesen; Dichtung ist nicht
denkbar ohne ihren sozialen Aspekt, als gesellschaftsbestimmendes und -bestimmtes,
als gesellschaftsrepräsentierendes Wort. Es gibt nicht nur eine
Sprachsoziologie (vgl. das in angelsächsischer Tradition stehende
Werk von Segerstedt1), sondern auch eine Literatursoziologie.
Die Fragestellung betrifft viele Schichten, von jener von der Tiefenpsychologie
erforschten Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit kollektiv-seelischer
Urformen zu den verschiedenen gesellschaftlichen (nationalen, standesmäßigen,
gruppenmäßigen) Bindungen des literarischen Geschehens und
höher hinauf zu den bewußten Auseinandersetzungen der dichterischen
Einzelexistenz mit ihrer Umwelt; schon am Einzelwerk wird ein Schichtengefüge
sozialer Stilebenen erkennbar sein. Auf alle Fälle handelt es sich hier
um faßbarere und dichtungsnähere Größen als es Landschaft, Stamm oder
Rasse sind.


  So ist soziologische Betrachtung der Literatur nichts anderes als eine legitime
Fragestellung systematischer wie historischer Literaturwissenschaft ─
freilich nur, solange sie nicht den Anspruch erhebt, das literarische Geschehen
vom gesellschaftlichen einseitig abzuleiten oder zu „erklären“; denn in
diesem Moment wird die Literatur zum bloßen Symptom außerdichterischer
Wirklichkeit. Zum mindesten ist zu unterscheiden zwischen einer primär
soziologischen Fragestellung, für welche die literarischen Tatbestände
nur im Rahmen einer allgemeinen Gesellschaftslehre und Gesellschaftsgeschichte
wichtig werden und einer primär literaturwissenschaftlichen
Betrachtung, der die gesellschaftlichen Tatbestände nichts
anderes als Repräsentationen und Aspekte der dichterischen Welt selber
sind.


  Die allgemeinsten Perspektiven leiten den Blick über die eigentlich soziologische
Fragestellung hinaus in eine allgemeine Kulturphilosophie.
In diesem Zusammenhang muß wohl auf das kaum absehbare

1
Torgny T. Segerstedt, Die Macht des Wortes. Eine Sprachsoziologie. Aus dem
Schwedischen. Zürich 1947.
|#f0131 : 125|

Werk des Amerikaners Kenneth Burke1 wenigstens hingewiesen werden,
dem Hyman einen entscheidenden Platz in der modernen Literaturwissenschaft
einräumt. Es steht in Verbindung mit den in den angelsächsischen
Ländern so verbreiteten psychologischen, semasiologischen, behavioristischen
Problemstellungen, ist aber durch seinen originellen und umfassenden Ansatz
ganz eigenen Gegräges. Das Stichwort heißt: Literatur als „symbolic
action“, symbolische Handlung, das Kunstwerk als bestimmte „Strategie“
menschlichen Verhaltens. Der Ausdruck Handlung gehört zu einem metaphorischen,
auf die Welt des Dramas bezogenen Begriffssystem Burkes
(scene, agent, act, agency, purpose), unter welcher „dramatistischer“ Deutung
er die Gesamtheit menschlicher Verhaltungsprobleme, die Gesamtheit der
„motives“ untersucht. Es sollen speziell im Denken und in der Sprache
betrachtet und formuliert werden „the basic stratagems which people
employ, in endless variations, and consciously or unconsciously, for the
ontwittung or cajoling of one another.“ Die Gesamtheit dieser Beweggründe,
die nichts weniger als die menschliche Kultur bedeutet, kann unter
verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Unter der Grammatik,
der „Grammar of Motives“ versteht Burke die Diskussion der fünf dramatischen
Grundbegriffe an sich und unter sich, wie sie vor allem in theologischen,
philosophischen, juristischen Lehren formuliert werden. Ein anderes
ist die Betrachtung der Motive im Aspekt des zwischenmenschlichen Verkehrs
und seiner auf Wirkung ausgehenden Äußerungen (parlamentarische,
diplomatische, propagandistische Formen), was als „Rhetoric of motives“
zusammengefaßt wird; und schließlich befaßt sich die „Symbolic of Motives“
mit der symbolischen Handlung der Kunst. (Diese drei Aspekte werden
ein anderes Mal mit den Stichworten chart, prayer und dream charakterisiert).
Die Kunst wird nun ─ hier kommen Psychanalyse und Volkskunde
zu ihrem Recht ─ als Ritual verstanden; die symbolische Handlung
des Kunstwerks läßt sich überall zurückführen auf magische Riten
der Identität, der Wiedergeburt, Reinigung usw., die das Individuum
immer auch in seinen sozialen Zusammenhängen betreffen. In diesem Sinn
hat Burke in geistreicher Weise zahlreiche Dichtungen interpretiert. Burke
trifft sich hier weniger mit der Psychologie der „Zürcher“ Schule als mit
der religionsgeschichtlich-volkskundlichen „Cambridger“ Schule J. G. Fra-
zers (die von den Literaturwissenschaften vor allem die klassische Philologie
beeinflußt hat, aber ─ bei Constance Rourke ─ auch eine folkloristische
Deutung amerikanischen Geistes ermöglichte).

1
Kenneth Burke, A Grammar of Motives. New York 1945. ─ Ders., The
Philosophy of Literary Form. Baton Rouge 1941. ─ Ders., Attitudes toward History.
2 Bände. New York 1937.
|#f0132 : 126|

  Von hier aus ist auch ein Blick auf die Kulturphilosophie Huizingas1
und seines Homo ludens zu werfen. Auch hier wird die Dichtung in ihrer
vitalen Funktion innerhalb der sozialen Gesamtkultur verstanden, wird
die Auffassung abgelehnt, „Dichtkunst habe nur eine ästhetische Funktion
oder wäre allein von ästhetischen Grundlagen her zu erklären und zu
verstehen“. Der Schlüsselbegriff zum Verständnis der verschiedensten Kulturerscheinungen,
ja der Wurzel der Kultur selbst heißt hier „Spiel“, spielerisches
Handeln als freies, der Realität gegenübertretendes und sie überhöhendes
Handeln. Dieser Spielcharakter aber tritt in der Poesie ganz besonders
zutage, um so mehr, als diese selbst in archaischen Kulturen unlöslich
im gesamten kulturellen Spiele lebt: „im heiligen Spiel der Gottesverehrung,
im festlichen Spiel der Werbung, im streitbaren Spiel des
Wetteifers mit Prahlen, Schimpf und Spott, im Spiel des Scharfsinns und
der Fertigkeit.“ Und Huizinga belegt das Spielmäßige der ursprünglichen
Dichtung mit Beispielen von den Indonesiern und der Edda bis zu Paul
Valéry, um die Gültigkeit dieser Deutung bis in die Gegenwart hinein zu
zeigen.


  Wenn solche Betrachtungen trotz allem wesentlich zu den archaischen
Urformen des psychischen und sozialen Verhaltens zurücklenken, so tritt
dem Literarhistoriker die soziale Bindung des Kunstwerks in der
neueren Literatur in spezielleren, geschichtlich individuellen Formen entgegen.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß der Minnesang nicht ohne die
zugehörige feudale Rittergesellschaft des Hochmittelalters (als Träger und
vielleicht auch wieder z. T. Produkt dieser Dichtung) gegeben ist, daß Gottfried
Keller nicht ohne das Bürgertum des schweizerischen Liberalismus,
der höfische Barockroman nicht ohne die soziale und politische Erscheinung
des Absolutismus gesehen werden kann. Je größer die Distanz des modernen
Betrachters zu der vergangenen literarischen Welt, um so eher wird
diese bestimmte gesellschaftliche Bindung ins Auge fallen. So wird etwa die
deutsche Klassik in steigendem Maß ─ seit Thomas Manns Goethe-Aufsätzen,
seit Herbert Cysarz' Schillerbuch, seit den marxistischen Werken
von Georg Lukacs ─ als Repräsentantin des „bürgerlichen Zeitalters“ erfahren,
ohne daß damit eine Einschränkung oder Herabsetzung ihres Wertes
verbunden sein muß. Es läßt sich wohl sagen, daß im angelsächsischen Bereich
seit Kuno Francke, seit Courthope und andern der Blick unbefangener
auf gesellschaftliche Determinanten und den „social background“
der Literatur gerichtet worden ist, als dies bei der idealistisch bestimmten
offiziellen deutschen Literaturwissenschaft der Fall war. Man vergleiche

1
J. Huizinga, Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der
Kultur. Amsterdam 1939.
|#f0133 : 127|

darüber die besonnenen Ausführungen bei W. Witte1 oder Wellek-War-
ren und die hier reich verzeichnete Literatur2. Ein für die deutsche Literaturgeschichte
wichtiges Werk ist das von W. H. Bruford3.


  Eine umfassende soziologische Literaturhistorie und Literaturgeschichte
scheint freilich noch nicht zu existieren. Auch der Grundriß einer Literatursoziologie,
wie ihn der deutsche Anglist Levin Schücking4 schon 1923 gegeben
hat, zeigt eine bemerkenswerte Einengung auf das Spezialproblem
des literarischen Geschmacks und führt damit in den engeren literarischen
Bereich zurück. In Einzeluntersuchungen ist seither mancherlei gesellschaftlichen
Zusammenhängen des literarischen Lebens nachgegangen worden,
so der Rolle des Publikums für die zeitgenössische Dichtung
(Fechter5, Auerbach6) oder der Bedeutung der Universitäten
(Herbert Schöffler7). Eine kultur- und sozialgeschichtliche Entdeckung
bedeutet auch die ausführliche Monographie, die der Historiker Otto
Brunner8 dem vergessenen Barockschriftsteller Wolfgang Helmhart von
Hohberg gewidmet hat als einem Beispiel für die literarische Welt des
Landadels im 17. Jahrhundert. Über die (auch) sozialgeschichtliche, revolutionäre
Hintergründigkeit der La Fontaineschen Fabeln hat Theophil
Spoerri9 gehandelt. Bereits aufs Ökonomische verengt ist die Blickrichtung
H. Siebenscheins10, der eine „Wirtschaftsgermanistik“ als besondere
Disziplin proklamiert und in diesem Rahmen die wirtschaftsge-

1
W. Witte, The Sociological Approach to Literature. MLR XXXVI (1941) 86 ff.
2
A. L. Guerard, Literature and Society. New York 1935. ─ David Daiches,
Literature and Society. London 1938.
3
W. H. Bruford, Germany in the 18th Century. The Social Background of the
Literary Revival. Cambridge 1934 = Die gesellschaftlichen Grundlagen der Goethezeit
(Literatur und Leben,
herausgegeben von Georg Keferstein, Bd. 9. Weimar 1936).
4
Levin L. Schücking, Die Soziologie der literarischen Geschmacksbildung. 2. Aufl.
Leipzig 1931. = The Sociology of Literary Taste. London 1941. ─ Walter Ebisch
und Levin L. Schücking, Bibliographie zur Geschichte des literarischen Geschmacks
in England. Anglia 63 (1939), 1 ff.
5
Werner Fechter, Das Publikum der mittelhochdeutschen Dichtung (Deutsche
Forschungen Bd. 28. Frankfurt a. M. 1935).
6
Erich Auerbach, Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts. München
1933. (Neue Fassung unter dem Titel La cour et la ville in Vier Abhandlungen
zur Geschichte der französischen Bildung. Bern und München 1951).
7
Herbert Schöffler, Deutscher Osten im deutschen Geist von Martin Opitz zu
Christian Wolff. Frankfurt a. M. (1940).
8
Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Wien 1949.
9
Theophil Spoerri, Der Aufstand der Fabel. Trivium I (1942) 31 ff.
10
Hugo Siebenschein, Abhandlungen zur Wirtschaftsgermanistik. Prag 1936.
|#f0134 : 128|

schichtlichen Aspekte des Meistersangs untersucht, um dann auch
in einem weiteren Bereich „spezifischen Formgebungen“ der Handelssprache
an modernen Beispielen nachzugehen.


  Naturgemäß ist die soziologische Frage besonders naheliegend bei der
volkstümlichen Literatur, seien es die schon besprochenen primitiven
Ursprungsformen (vgl. auch unten Caudwell, Thomson), sei es eine
sekundäre Popular- und Vulgärliteratur, wo es sich in engerem Sinne um
Entwicklungen und Moden des Geschmacks handelt. Grundsätzlich ist damit
wieder die alte Frage einer möglichen Trennung von zeitlos-hoher Dichtung
und vulgärer oder modischer Literatur gestellt, welch letztere unter
Umständen später nur noch unter dem Gesichtspunkt des allzu Vergänglichen
oder Unfreiwillig-Amüsanten erscheinen kann. Hiefür liefert die
Sammlung von Kunze und Heimeran1 anregendes Material.


  Die alte Frage der Volksliedforschung nach dem Verhältnis des „Volkes
und seiner Kunst zur Kunst der dichterischen Elite, d. h. nach dem
schöpferischem Ursprung und dem Weg volksmäßiger Kunst, ist ein eminent
soziologisches Problem. Man wird dabei nicht nur das Gesetz des Absinkens
─ beim Volkslied seit langem erkannt ─ berücksichtigen müssen,
sondern auch die Möglichkeit des Aufstiegs und Aufblühens großer Kunst
aus dem Humus der populären Übung. Der Prozeß der „Durchschichtung“
einfacher volksmäßiger Formen zur hohen Kunst ist von Theodor Frings
neuerdings wieder im Zusammenhang der Ursprungsfrage des europäischen
Minnesangs betont worden2. Erscheinungen wie Gotthelf oder Grimmelshausen
ergeben die mögliche Verbindung von Popularliteratur und einmaliger
Genialität; hier kann gerade die Tiefenpsychologie wieder auf die
verlassenen Bahnen der Romantik führen. Das geschichtliche und wertmäßige
Verhältnis von „Dichtung“ und „Literatur“, von Schöpfung und
Tradition wird so vorläufig auch von diesem soziologischen Blickpunkt
aus als eine reziprokes oder dialektisches begriffen werden müssen. In einer
Entwicklung der bürgerlichen Seelengeschichte Deutschlands, wie sie Fritz
Brüggemann in seiner bereits genannten Reihe „Aufklärung“ zeichnet, ist
die Brücke zwischen den modischen und populären zu den geistig schöpferischen
Vorgängen geschlagen.


  Neuerdings ist die soziale, ja ökonomische Bedingtheit an der modernen
Literatur besonders sichtbar geworden. In zweierlei Weise. Zwischen Buch

1
Horst Kunze und Ernst Heimeran, Lieblingsbücher von dazumal. Blütenlese
aus den erfolgreichsten Büchern von 1750 bis 1860, zugleich ein erster Versuch zu
einer Geschichte des Lesergeschmacks. München 1938.
2
Theodor Frings, Minnesinger und Troubadours (Deutsche Akademie der
Wissenschaften zu Berlin, Vorträge und Schriften Heft 34. Berlin 1949). Ders.,
Erforschung des Minnesangs. „Forschungen und Fortschritte“ 26 (1950) Nr. 1─4.
|#f0135 : 129|

und Leser schaltet sich, oft in fragwürdiger Legitimation und in oft ebenso
fragwürdigem Zweifrontenkrieg, der Kritiker ein. Dessen Rolle während
der letzten 200 Jahre in Europa und Amerika ist von Henri Peyre1
in seinem sehr vielseitigen Buch dargestellt worden. A Study of Misunderstanding
konnte er es nennen; ein weniger optimistischer Autor hätte
es mit Muschg zur tragischen Literaturgeschichte gemacht. Das Urteil der
Gelehrten und der Dichter selbst erscheint dabei in keinem günstigeren
Licht als das der Tageskritiker. Wenn heute trotz ihren Fehlleistungen
die berufsmäßige Kritik eine notwendige Institution darstellt, so ist das ein
Symptom für die heute erweiterte Kluft zwischen Literatur und Leben; das
Publikum ist mangels unmittelbarer Teilhabe am literarischen Geschehen
gezwungen, sein Urteil an einen Spezialisten zu delegieren und so nur noch
aus zweiter Hand zu leben; umgekehrt ist dieser Kritiker selbst wieder
von seiner déformation professionnelle oder von den Einflüssen der ökonomischen
Organisation, in der er steht, bedroht. Zweitens, und teilweise im
Zusammenhang damit, ist der wirtschaftliche Faktor der Geschmacksbildung
und damit der Literaturproduktion selbst verstärkt worden in der
Buchindustrie des Bestsellers und dem unheilvollen Circulus vitiosus,
daß sie selbst auf Grund des Publikumsgeschmacks disponiert. Auch das
Phänomen des Bestseller, dessen Name natürlich jünger ist als die Sache
selbst, ist bereits zum Gegenstand wissenschaftlicher Ergründung geworden2.



  Wir sind nun grundsätzlich auf anderem Boden, wo die soziale und ökonomische
Bedingtheit der Dichtung so ausschließlich gefaßt wird, daß diese
schlechthin zur Funktion ─ Organ oder Produkt ─ der wirtschaftlich-gesellschaftlichen
Gesetzmäßigkeiten wird, wobei dann gewöhnlich eine bestimmte
politische Doktrin diese Gesetzmäßigkeit in schlagwortartiger Vereinfachung
von vornherein festgelegt hat. Es ist das am deutlichsten der Fall
bei den Vertretern des historischen Materialismus nach Karl Marx: in
einer marxistischen Literaturbetrachtung findet die
soziologische Blickrichtung ihre grundsätzlichste Form, aber wohl auch bereits
ihre Entartung. Allerdings ist sie, zumal in der deutschen Forschung,
vor allem von freiwilligen oder unfreiwilligen Außenseitern vertreten.
Trotz einzelnen großen Begabungen besteht wohl das Urteil Hymans über
die bisherige marxistische Literaturkritik im ganzen zu Recht, „that so much
of it has been written in the last two decades and so little of it has come

1
Henri Peyre, Writers and their Critics. A Study of Misunderstanding. Ithaca
N. Y. 1944 (mit Bibliographie).
2
Sonja Marjasch, Der amerikanische Bestseller (Schweiz. Anglistische Arbeiten
XVII, Bern 1946).
|#f0136 : 130|

to anything“. Hyman, auf den hier verwiesen werden muß, gibt eine ausgezeichnete
Übersicht nicht nur über die Vorgeschichte dieser Lehren seit
Platons Staat über Vico und Mme de Stael zu Taines Milieutheorie, sondern
vor allem über die moderne marxistische Literaturkritik in Amerika,
Großbritannien und Rußland. Hoch über alle andern Vertreter stellt er
nach Geist und Bildung Christopher Caudwell1 (St. John Sprigg), der
in jungen Jahren 1937 in Spanien gefallen ist. Als Vertreter unter den Altphilologen
sei der maßvollere George Thomson genannt, der der Entstehung
und Entwicklung der Formen der Tragödie und des Epos im Zusammenhang
ihrer sozialen und politischen Bedingungen nachgeht2.


  Unter den deutschschreibenden marxistischen Kritikern ist unbestrittenermaßen
der bedeutendste Georg (v.) Lukacs3, der Verfasser der glänzenden
Theorie des Romans (1920) und einer Darstellung der dialektischmarxistischen
Methode (Geschichte und Klassenbewußtsein 1923). In seiner
Essaysammlung über die Dichter der deutschen Klassik wird geistreich der
Versuch unternommen, die Literatur der Goethezeit als „ideologische Vorbereitungsarbeit
zur bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland“
zu interpretieren. Es gilt, die „progressive“, d. h. sozialrevolutionäre, Komponente
im Werk der Klassiker, die innere Beziehung speziell zum Geschehen
der französischen Revolution und zugleich die Gründe ihres schuldhaften
oder tragischen Versagens oder Zurückbleibens aufzudecken, in
scharfer Wendung gegen die „reaktionären Lügen“ bürgerlich-idealistischer
Geschichtsschreibung. Als Beispiel zugleich für Stil und Terminologie: „Der
am verspäteten Jakobinismus tragisch zugrunde gegangene Hölderlin wird
bei Gundolf zum Vorläufer des Rentnerparasitismus“.


  Gewiß: Dichtung ist hier überall in ihrem geschichtlich-aktuellen, ja aktualistischen
Charakter begriffen und insofern ernster genommen als von
einer Literaturbetrachtung, die sich im zeitlosen Raume des l'art pour l'art
bewegt oder sich am abstrakt ablaufenden Spiel von Ideen und Formen
vergnügt. Aber dieser Vorteil einer echten Historisierung und Aktualisierung
ist erkauft durch das geradezu primitive Schema der marxistischen
Geschichtskonzeption des 19. Jahrhunderts. Alle Geschehnisse und Verläufe
werden nur nach ihren entweder „progressiven“ oder „reaktionären“
Tendenzen klassiert, die Weltgeschichte ist nichts als der automatische Fortschritt

1
Christopher Caudwell, Illusion and Reality. A Study of the Sources of
Poetry. London 1937.
2
George Thomson, Aeschylus and Athens. London 1941. ─ Ders., Marxism
and Poetry. New York 1946.
3
Georg Lukács, Goethe und seine Zeit. Bern 1947. ─ Ders., Karl Marx und
Friedrich Engels als Literaturhistoriker. Berlin 1949.
|#f0137 : 131|

zum schließlichen Paradies der klassenlosen Gesellschaft. Auch ein
Wunder wie die deutsche Klassik wird nur danach befragt und tritt nur
so weit in Erscheinung, als sie Wegbereiterin des dialektischen Materialismus
sein kann. Man hat sich bei Caudwell oder Lukacs immer wieder verwundert
über den Widerspruch zwischen dem scheuklappenartigen Schema
des primitiven gedanklichen Rahmens und dem Scharfsinn der oft glänzenden
Einzelbemerkungen, die hier nicht wegen, sondern trotz der marxistischen
Methode möglich scheinen ─ es sind sozusagen Literaturwissenschafter
malgré eux. Eine andere Erscheinungsform dieses Widerspruches
ist es, daß echter wissenschaftlicher Erkenntniswille sich mit ideologischem
Aktivismus vermischt und einschränkt. Wo im geistigen Leben bloße Ideologie
gesehen wird, kann sich auch die eigene Wissenschaft nicht der Ideologie
und Demagogie enthalten; sie hat sich dafür schon immer entschuldigt.


  Der entscheidende Einwand ist aber wohl auch hier, daß das dichterische
Phänomen als solches negiert oder übersehen wird, daß Literaturbetrachtung
in den Dienst sachfremder Argumentation tritt. Wenn die Welt Weimars
um 1800 als eine geschichtlich ─ d. h. nach dem marxistischen Fahrplan
─ „zurückgebliebene“ charakterisiert wird, so mag das im Rahmen
einer Entwicklungsgeschichte des Sozialismus richtig sein, hat aber mit
Goethe, Goethes Dichtung und Literaturgeschichte nichts mehr zu tun. Die
Frage einer historischen Erschließung der Dichtung als Dichtung wird sich
nur auf einer andern Ebene stellen und beantworten lassen.

|#f0138 : E132|

V. LITERARHISTORIE

1. literarhistorie und poetik

Die kennzeichnendste Wandlung in der Geschichte unserer Wissenschaft prägt
sich schon terminologisch aus: sie hieß bis tief in unser Jahrhundert hinein
und konventionellerweise oft noch heute Literatur geschichte, Literarhistorie
─ wogegen heute der Name Literaturwissenschaft als Oberbegriff
gelten muß und die historische Erforschung als ein bloßer Sektor erscheint.
Ja, die Literarhistorie hat sogar eigentlich um ihre Legitimität zu
kämpfen, wenn sie, wie z. B. bei Mahrholz oder Kayser, der Literaturwissenschaft
entgegengesetzt oder auf sekundäre Aufgaben beschränkt wurde.


  Die Überwindung einer nach naturwissenschaftlichem Vorbild kausal „erklärenden“
Wissenschaft führte zunächst zur Retablierung der Geisteswissenschaften
als Geistesgeschichte mit ihrem neoidealistischen Hintergrund.
Die Überwindung des „Historismus“ seit der George-Schule, seit Phänomenologie
und Existenzphilosophie hat schließlich die historische Methode
im Bereich der Dichtung selbst angegriffen. Literarhistorie war praktisch
allzusehr zum Brauch und Mißbrauch geworden, das literarische Werk zum
bloßen Beleg eines außerkünstlerischen Vorgangs oder Tatbestands zu degradieren:
es wurde Indiz oder allenfalls Funktion eines seelischen, geistigen,
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Geschehens; und solange es vorwiegend
als Ausdrucksphänomen und nicht als Werk begriffen wurde, war
das ausgedrückte „Erlebnis“ oder der geistesgeschichtliche „Inhalt“, ja das
„Problem“ der wichtige Kern, dessen künstlerische Schale man gleichsam
aufknackte, um sie selbst nicht weiter zu beachten. Das gilt selbst für die
Praxis der geisteswissenschaftlichen Schule Diltheys bis zu einem gewissen
Grade. Und auch wo man Literaturgeschichte an sich selbst treiben wollte,
wo man die Werke als solche gelten ließ, trieb man Historie dadurch, daß
man diese Werke chronologisch anreihte und durch eine fragwürdige Kausalbeziehung
von literarischen „Einflüssen“ und „Abhängigkeiten“ miteinander
verknüpfte; auch auf diesem Wege entging das Werk als solches dem
Blick. Die landläufigen Literaturgeschichten wurden im übrigen nicht viel
mehr als chronologische Aufzählungen, die man ebenso gut und übersichtlicher
in lexikalischer Form hätte ordnen können. Die Bewegung der Literaturwissenschaft
als Poetik wollte dagegen wieder das „selig in ihm selbst“
ruhende Werk in seinem Wesen als Kunst begreifen. Diesem Willen liegt |#f0139 : 133|

nicht nur die Reaktionsbewegung einer Rückkehr zu den Sachen selbst und
nicht nur die Neubesinnung auf die Würde der Dichtkunst im Sinn der
Symbolisten, der absoluten Poesie und des George-Kreises zugrunde. Dahinter
steht ein Zerfall des geschichtlichen Bewußtseins oder mindestens der
herkömmlichen Geschichtsbegriffe von epochaler Art. Geschichte kann nicht
mehr als Selbstverwirklichung des Geistes im Hegelschen Sinne verstanden
werden; die Entdeckung der seelischen Tiefenschichten des Menschen durch
die Psychologie, die Entlarvung so mancher geistigen Position als Ideologie,
die Ergründung der Welt der Primitiven durch die Völkerkunde lassen
die Geschichte nicht mehr ─ mit ohnehin fragwürdiger biologischer Metapher
─ als Entwicklung, sondern viel eher als Schichtengefüge erscheinen,
in dem alle Zeiten zugleich vorhanden sind. Die Existenzphilosophie läßt
echtes Dasein sich immer neu aus dem Ursprung zeitigen: echte Existenz,
auch im Kunstwerk, ist nicht als Entwicklung, sondern nur als Wiederholung
möglich; die großen Geister, die großen Kunstwerke reichen sich
über die Zeiten hinweg die Hand, sie sagen im Grunde alle dasselbe (Hei-
degger). Die Zeit kann nicht mehr als neutraler gerichteter Verlauf begriffen
werden; sie zerfällt in die gelebte und die „bloß“ kalendarische Zeit.
Es gibt keine historische Perspektive mehr, die die Verläufe auf den jeweiligen
perspektivischen Punkt bezieht. Die Zeit wird als vierte Dimension
in eine übergeordnete Raum-Zeit-Einheit aufgenommen: auch in der modernen
Dichtung ist dieses Zeitproblem zentral und wird durch eine neue
Technik der Umkehrungen der zeitlichen Verläufe oder des Durchsichtigmachens
aufeinander zu lösen versucht.


  Entsprechend der Trennung von kalendarischer und existentieller Zeit
trennt sich das große Traditionsgefüge der Literatur in die sogenannte
Literatur und die großen Werke echter Dichtung. Schon im Moment,
da Croce die „Poesie“ auf einen so engen Kreis einschränkt und von
der zivilisatorischen „Literatur“ trennt, da Werner Mahrholz die große
„zeitlose“ Dichtung von der „Literatur“ trennt und die historische Methode
nur noch für diese gelten läßt, ist Literarhistorie auf den Aussterbe-Etat
gesetzt ─ denn sie hat damit ihr eigentliches Interesse verloren. So lassen
sich denn auch heute die antihistorischen Proklamationen der Literaturwissenschaft
in großer Zahl anführen. Schon seit 1928 baut Dragomirescu1
seine große Ästhetik der Literatur auf der These auf: „La méthode historique
est impuissante pour l'étude scientifique de la littérature“. Die Zeitschrift
Trivium redet einer „philologischen“, nicht einer historischen Literaturwissenschaft
das Wort, und Kurt May2 empfiehlt dieser eine stilkritische

1
Michel Dragomirescu, La science de la littérature. Paris 1929 ff.
2
Kurt May, Über die gegenwärtige Situation einer deutschen Literaturwissenschaft.
Trivium V (1947) 293 ff.
|#f0140 : 134|

„Diätkur“. Wolfgang Kayser schließt die Literaturgeschichte aus
dem Kreis der Literaturwissenschaft aus, und selbst die ruhig abwägenden
und enzyklopädistisch interessierten Verfasser der Theory of Literature
räumen der „Literary History“ nur ein schmales abschließendes Kapitel ein.
Man kann wohl von der schlagwortartigen communis opinio sprechen, daß
Kunst als zeitlose bzw. jederzeitige in einem rangmäßigen und wesensmäßigen
Sinne der Geschichte als dem Zeitlichen und Veränderlichen
prinzipiell entgegengesetzt sei. Wenn in der Linguistik diachronische Sprachgeschichte
und synchronische Stilistik als zwei sich bedingende Gesichtspunkte
auf einander bezogen bleiben, so verführt der Werkcharakter der
Dichtung in der Literaturwissenschaft zur Annahme sich ausschließender
Gegensätze.


  Es wurde aber im Vorangehenden immer wieder deutlich, wie die strenge
Werkinterpretation immer wieder an eine Grenze kommt, falls sie in zeitloser
Unmittelbarkeit den Charakter der Geschichtlichkeit des Werks übersieht,
die „geheimnisvolle Verschränkung von Geschichtlichkeit und Ursprünglichkeit
(W. Emrich, vgl. oben S. 105). Als Sprachwerk lebt das
Gedicht aus der geschichtlich gewordenen Konvention außerdichterischer
Sprache und kehrt wieder in diese zurück; Gattungen, genauer „Arten“
erweisen sich als überlieferte, geschichtliche Formschemata. Die einzelnen
Aspekte haben selbst ihre Geschichte: eine Vers- oder Strophenform ist
jenseits aller konkreten Stilfunktion im Einzelwerk ein selbständiges Gebilde;
die dichterische Symbolwelt bedarf, wie Emrich zeigt, einer genetischen
Entfaltung; dichterische „Gehalte“, „Ideen“ usw. führen ein gewisses
Eigenleben. Stilzüge wie der Rhythmus oder sonst eine „Haltung“ beziehen
sich weniger auf das Werk als auf übergeordnete Einheiten des Personalstils
oder des Nationalstils. Selbst die Wertung ist geschichtlich bedingt ─
nicht nur durch den immer eingeengten Standort des Wertenden selbst,
sondern durch den Stellenwert (z. B. die Neuheit, die Originalität), den
ein Werk kraft seiner Datierung in einem übergeordneten literarischen Zusammenhang
besitzt. Als „Transsubstantiation“ und „Transfiguration“
(Ernst Wolff) ist das Kunstwerk wesentlich mehr als nur Kunstwerk,
es transzendiert sich selbst: der lezte Grund wohl auch für die Unvermeidbarkeit
des Form-Inhalt-Schemas. Es gilt auch vom Kunstwerk, was Karl
Jaspers für das menschliche Dasein überhaupt formuliert1: „Aller Aufschwung
über die Geschichte wird zur Täuschung, wenn wir die Geschichte
verlassen. Die Grundparadoxie unserer Existenz, nur in der Welt über die
Welt hinaus leben zu können, wiederholt sich im geschichtlichen Bewußtsein,
das sich über die Geschichte erhebt.“

1
Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Zürich 1949.
|#f0141 : 135|

  „Zum Geschaffensein des Werkes gehören ebenso wesentlich wie die
Schaffenden auch die Bewahrenden“ sagt Heidegger. Das Fortschreiten der
Interpretation vom Werk zum Dichter einerseits und zu der menschlichen
Gemeinschaft anderseits und umgekehrt ist damit legitimiert,
ja geboten. Das Werk ist ein Stilganzes nur, weil es nicht nur sich selbst
spiegelt, sondern eine Welt offenbart, die über es hinaus ist: die Welt eines
Dichters und, da ein Mensch ebenso wenig isolierbar ist wie das Werk, die
Welt einer Gemeinschaft, eines Publikums, einer Nation. Da das Werk weniger
ein Sein als ein Werden ist, hat und ist es auch geschichtliche Funktion.
So erfahren der biographische und psychologische und soziologische Weg,
Literatur zu verstehen, bis zu einem gewissen Grade ihre Begründung.
Wenn wir diese letzten Gesichtspunkte und Methoden bereits vorweggenommen
haben, obwohl sie weithin Formen historischen Verstehens sind, so geschah
dies nur, weil hier das Gebiet der Literaturwissenschaft auch wieder
überschritten wird und zu besonderen, außerliterarischen Fragen führt.


  Aber auch innerhalb der Kunst selbst steht das Werk nie allein. So ursprünglich
es sein mag, so ist es, wie das menschliche Lebewesen, nur als
geselliges Wesen möglich. Wie der Laut, der Satz und das Wort in einem
„Felde“, im Stilganzen einer Sprache stehen, so steht die Einzeldichtung in
einem übergreifenden Zusammenhang mit anderen Werken, mit der Stilsprache
und dem Stil eines dichterischen Oeuvres, einer Epochenliteratur
usw. Das Werk ist nur möglich im Schnittpunkt der Vertikalen aus dem
Ursprung und der Horizontalen aus der „Tradition“. „Tradition“ kann
allerdings kaum mehr als der Kausalzusammenhang von „Einflüssen“ gelten,
ist vielmehr vorsichtiger als ein im Werk sich spiegelnder Konstellationszusammenhang
zu verstehen, d. h. sozusagen als ein „Feld“, als die relative
Geschlossenheit einer künstlerischen Stilsprache in der Gesamtheit ihrer Repräsentanten.
Was der Kunstgeschichte selbstverständlich ist, hat die Literaturwissenschaft
gelegentlich zu Unrecht verdrängt: daß die Stile der Dichter,
der Gesellschaftsschicht, der Epoche, ja vielleicht sogar eines Raumes
reale Forschungsgegenstände darstellen. Aber was für eine Seinsweise haben
diese übergeordneten Stilganzheiten (Barock, Goethe, Höfische Dichtung
usw.)?


  Sie haben wie das Einzelwerk einen gerichteten Verlauf; sie haben dieselben
Schichten oder Aspekte des Lautsinnlichen, Rhythmischen, Vorstellungsmäßigen,
Gedanklichen; sie sind wie jenes den Gattungsbegriffen zugänglich.
Sie können, mit andern Worten, ebenso gut wie die einzelne Dichtung
als poetische Größen betrachtet werden, mit dem einzigen Unterschied,
daß die Einzeldichtung überschaubar auf dem Papier steht, wogegen eine
Einheit der „Literatur“ erst als Resultat einer literaturwissenschaftlichen
Synthese und immer nur in einer gewissen symbolischen Abkürzung gefaßt |#f0142 : 136|

werden kann. Damit gilt von solchen literaturgeschichtlichen Einheiten, was
Nicolai Hartmann als das „Irritierende“ beim Verstehen jeder Art „objektiven
Geistes“ bezeichnet: nämlich das „Fehlen des adäquaten Bewußtseins“1.
Im übrigen aber bringt die literaturgeschichtliche Betrachtung auch
eine Befreiung der Literaturwissenschaft von der bloßen Werkinterpretation,
die, im strengen Sinn, ein tautologisches Anorttreten wäre.


  „Literatur“ ist also nicht die verächtliche Grundsuppe der Nichtpoesie
und der Unpoesie, sondern die Synthese aller poetischen Werke, welchen
Ranges immer, auf höherer Ebene. Literarhistorie2 ist nicht der Verrat der
Literaturwissenschaft an außerkünstlerische Prinzipien, sondern selber Kunstwissenschaft,
von Poetik und Stilkritik nicht durch die Prinzipien, sondern
die Ebene der Betrachtung unterschieden. Wenn sie das Einzelwerk wieder
in die Veränderlichkeit der Zeit einzuschmelzen scheint, so ist es doch die
selbe Zeit, in der sich das Literaturwerk realisiert ─ die Chronologie der
Jahreszahlen und Epochen läßt sich etwa dem System der Metren oder Aufbaueinheiten
des Einzelgedichts vergleichen. Die „Simultan-Existenz“ (Wel-
lek-Warren S. 265 zitieren dafür unter anderem T. S. Eliot) der großen,
„ewigen“ Dichtung ist auch in der Synthese der Literaturgeschichte gewahrt,
nur daß diese Dichtungen nicht aus ihrem Kontext herausgerissen sind. Im
übrigen ist klar, daß die Literaturgeschichte nicht nur ein nachträgliches
Pantheon bedeutet; Literarhistorie hat ihre eigenen Gesichtspunkte, in ihrem
System wird das Werk in anderen Zusammenhängen wichtig als in der
Poetik. Vor allem erhalten hier die sog. „Obskuren“, dann die Vorläufer oder
Epigonen ihre Bedeutung, zwar keinen aesthetischen, aber einen historischen
Wert. In diesem Sinne einmal die breiten Massen der Literaturproduktion
aufgeführt und organisiert zu haben, das bleibt bei aller Fragwürdigkeit
der Durchführung das große Verdienst der Literaturgeschichte Josef Nad-
lers. Und wenn die Literaturhistorie auch Bezug nimmt auf die psychologischen,
sozialen und allgemein-geschichtlichen Bedingungen, so tut sie dies
im Sinne der Erschließung einer künstlerischen Gestalt auf eine Welt, d. h.
nicht als „Erklärung“, sondern als Interpretation, als Auslegung des großen
Literaturzusammenhangs.


2. stilgeschichte

Eine Regeneration der Literarhistorie, auf Grund der neuen Poetik und im
beständigen Blick auf sie, wird zur nächsten Aufgabe der Literaturwissenschaft.

1
Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur
Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. 2. Auflage.
Berlin 1949.
2
Max Wehrli, Zum Problem der Historie in der Literaturwissenschaft. „Trivium“
VII (1949) 44 ff.
|#f0143 : 137|

Es scheint ja überhaupt, wenn O. F. Bollnow recht hat, die dringendste Aufgabe
der Existenzphilosophie zu sein, zum materiellen Aufbau der geschichtlichen
Welt fortzuschreiten als „überindividuellem, schöpferischem und stetigem
Fortgang“. „Der existentielle Begriff der Geschichtlichkeit greift zu
kurz, weil er den Menschen nur als ein der Geschichte ausgeliefertes, nicht
aber als ein im echten Sinn geschichtlich schöpferisches und damit seiner Geschichte
mächtiges Wesen begreift.“1. Das kann nicht eine Wiederbelebung
der sogen. Geistesgeschichte bedeuten, die immer noch wesentlich für Literarhistorie
überhaupt steht, aber noch kaum über ihre zusammengebrochenen
idealistischen Voraussetzungen hinauskommt. Vielmehr ist es notwendig und
natürlich, vom neuen Begriff des Stils auszugehen.


  Es ist die große Bedeutung von Paul Böckmanns Werk2, daß hier eine
derartige Stilgeschichte für die deutsche Literatur erstmals auf der ganzen
Breite versucht worden ist. Freilich kommt Böckmann von Dilthey, Unger,
Petsch her, die er zugleich hinter sich lassen will im Ernstnehmen der Form
und ihrer Geschichtlichkeit, und diese Herkunft scheint sich in der Fassung
der literaturwissenschaftlichen Begriffe noch bemerkbar zu machen. Der Begriff
Form ─ welchem wir den des Stils vorziehen würden ─ meint mehr
als die „blosse“ Form, nämlich Formstrukturen und nicht isolierte Formelemente,
d. h. Form und „Gehalt“ als eines, Form, die „das wesenhaft
Gemeinte als Gehalt in sich birgt und doch nur als Form greifbar macht“.
Böckmann spricht auch mit einem doch wohl hypothetischen Begriff vom
„Formwillen“, „Formkräften“, von der „Auffassungsform ..., in der sich
das Menschliche über sich selbst verständigt“. Dichtung sei bei Dilthey und
Unger nur Material und nicht Organ des Lebensverständnisses geblieben.
Hier möchte man eine präzisere Auseinandersetzung mit der herkömmlichen
literaturwissenschaftlichen Terminologie wünschen.


  Es ist klar, daß eine Formgeschichte ─ wie jede echte Literarhistorie ─
jene Größen, die bei der Stilinterpretation im Vordergrund stehen, das Einzelwerk
und das dichterische Oeuvre als persönliche Ganzheit, zurücktreten
läßt; das ist mit Unrecht dem Buche Böckmanns vorgeworfen worden. Gewiß
treten Werke und Persönlichkeiten nach wie vor als besondere Verdichtungen
oder Wegmarken des „Stilwillens“ und seiner Entwicklungen
hervor, aber ihre Auswahl und besondere Deutung hat aus dem übergeordneten

1
Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie. 3. Auflage. Stuttgart 1949. ─
Existenzphilosophie und Geschichte. „Blätter für deutsche Philosophie“ 11 (1938),
337 ff. ─ Vgl. ferner die Ansätze von Heinz Heimsoeth, Geschichtsphilosophie (in:
Systematische Philosophie, herausgegeben von Nicolai Hartmann, 1942).
2
Paul Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung. I. Band. Hamburg
1949.
|#f0144 : 138|

Zusammenhang zu erfolgen. Darin liegt ja die methodisch nicht weiter
lehrbare und der Freiheit des Historikers anheimgegebene Kunst der
Darstellung, solche Ganzheiten verschiedener Ordnung zusammenspielen zu
lassen ohne sie aufzulösen, diachronische Darstellung ohne Zerstörung der
synchronischen Komplexe zu geben. Das ist eine Schwierigkeit, die schon in
der technischen Not besteht, am eindimensionalen Faden des historischen Berichts
ein Bündel von Verläufen, ein aus Dauer und Wechsel zugleich bestehendes
Gebilde umschreiben zu müssen. Dahinter aber liegt jenes von
Emrich berührte, von F. K. Schumann1 prinzipiell dargestellte Geheimnis
der Verschränkung von Gestalt und Geschichte, Individuum und
Gemeinschaft, Menschen und Mächten. Gestalt wird nur in der Geschichte
und Geschichte nur in der Gestalt erkennbar. Eine Stilgeschichte ─ das zeigt
gerade Böckmanns Werk ─ braucht daher durchaus keine Literaturgeschichte
ohne Namen zu sein. Und auch wenn es eine solche historische Stilkunde
gäbe wie sie die Kunstgeschichte neuerdings in dem ausgezeichneten Werk
Peter Meyers2 besitzt, so hätte sie durchaus eine Aufgabe zu erfüllen.


  Auch die Grundbegriffe einer solchen Historie sind nicht dieselben wie
bei der Poetik. Da ist Böckmanns Nachweis wichtig, daß von den Gattungstypen
aus primär keine Literaturgeschichte geschrieben werden kann (was
mit dem Problem einer Gattungs- oder besser Artgeschichte als solcher nichts
zu tun hat); Wölfflinsche oder Strichsche Typen müssen als zeitlose Weisen
des Sehens oder Gestaltens aufgefaßt werden, und ihre Zuweisung zu
bestimmten Epochen wie Renaissance und Barock, Klassik und Romantik
vermag die konkrete literarische Geschichtlichkeit, die in Frage steht, nicht
zu fassen. Böckmann sieht sich so zurückverwiesen auf die konkrete Textinterpretation,
um aus ihr die individuellen historischen Einheiten zu gewinnen
─ eben die Epochen. Den ersten Band seines Werkes, der die deutsche
Literaturgeschichte von den Anfängen bis zum jungen Schiller enthält,
stellt er unter das Thema einer großen Wandlung: der Ausbildung eines
„sinnbildenden“ (figuralen) Sprechens im Mittelalter und dessen Auflösung
und Wandlung in eine „ausdrückende“ Sprache, in Ausdruckssprache. Dieser
Ablauf wird untergliedert in kleinere Epocheneinheiten wie „das Elegantia-
Ideal und das rhetorische Pathos des Barock“ oder das „Formprinzip des
Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung“.


  Daß damit, vom stilgeschichtlichen Blickpunkt aus, die Literaturgeschichte
vielleicht gar nicht grundlegend umgeschrieben werden muß oder daß sie
sich jedenfalls im Lauf auch von Böckmanns Darstellung in oft vertrauten
Aspekten zeigt, kann uns nur recht sein. Methodologie bedeutet ja immer

1
Friedrich Karl Schumann, Gestalt und Geschichte (Die Gestalt. Abhandlungen
zu einer allgemeinen Morphologie, Heft 6). Leipzig 1941.

2
Peter Meyer, Europäische Kunstgeschichte. 2 Bände. Zürich 1942.

|#f0145 : 139|

nur eine nachträgliche Klärung und Schärfung einer unter Umständen bereits
seit je geübten und erfolgreichen Praxis. Eher ein Nachteil ist es vielleicht,
wenn Böckmann ohne eigentliche Begründung, auf Grund des sprachlichen
Gesichtspunktes, seine Stilgeschichte als Stilgeschichte der deutschen
Literatur schreibt oder mindestens auf eine Erörterung der Frage verzichtet,
ob die deutsche Literatur nun wirklich ein einheitliches Geschichtsgebilde sei.
Denn die Frage, welches der legitime literarische Geschichtskörper, die jeweilige
„Literatur“ sei, müßte zuerst beantwortet werden. Darüber ist weiter
unten zu handeln.


3. die periodisierung

Ein literaturgeschichtlicher Verlauf ist kein lineares Geschehen; schon das
Einzelwerk ist vieldimensional, und erst recht für eine historische Synthese
werden die Möglichkeiten von Wahl und Reihung der Elemente fast unübersehbar.
Wie jeder Bericht oder jede Erzählung bedeutet auch die historische
Darstellung ein beständiges Vor- und Zurückgreifen, einen Wechsel
der Standorte und Betrachtungsweisen, kurz eine entwerfende Gestaltung
des scheinbar neutralen zeitlichen Kontinuums. Und hier gewinnt nun die
Unterscheidung chronologischer Einheiten als fundamentales Ordnungsprinzip
ihre Bedeutung.


  Das Periodenproblem hat vor allem in den methodologischen Erörterungen,
die in den 1920er und 30er Jahren von den deutschen Geistesgeschichtlern
gepflogen wurden, eine große Rolle gespielt. Vor allem wurde
der Begriff der Generation diskutiert (so von Eduard Wechssler, Wilhelm
Pinder, Julius Petersen, Herbert Cysarz, Richard Alewyn u. a.), nicht
zuletzt im Hinblick auf eine allgemeine Geistes- und Kulturgeschichte, d. h.
eine Vereinheitlichung der Methoden. 1935 war der zweite internationale
Kongreß für Literaturgeschichte dem Periodenproblem gewidmet. Die Verhandlungsakten1
zeigen, wie wenig Einverständnis über wichtigste allgemeine
Fragen (Definition des Generationsbegriffs, objektiver oder bloß subjektiv-psychologischer
Grund der Periodenbildung, Parallelität oder Divergenz
des Periodenablaufs bei den verschiedenen Künsten) wie auch über
spezielle, damals neue Epochenbegriffe (Barock, Biedermeier2) schon damals
bestanden hat. Neuerdings beschäftigt die Frage wieder die französische
und angelsächsische Wissenschaft, und sie ist auch von E. R. Curtius

1
Bulletin of the International Committee of the Historical Sciences IX (1937)
255 ff.
2
Robert Herndon Fife, Epochs in German Literature. GR XIV (1939) 87 ff. ─
Biedermeier: DuV 36 (1935). ─ R. Wellek, The concept of Baroque in Literary
Scholarship. „Journal of Aesthetics“ V (1946) 77 ff. (mit Bibliographie).
|#f0146 : 140|

wieder angeschnitten worden. Einen guten historischen Rückblick auf das
Problem seit Hesiods Weltalterlehre samt Bibliographie gibt Henri Peyre1
als den nützlichsten Teil seines Buches. Klug und abgewogen ist die Darstellung
der heutigen Problemlage bei Wellek-Warren.


  Wichtig und richtig ist wohl die hier erhobene Forderung, die literaturhistorischen
Perioden zunächst einmal nach literarischen Kriterien
abzugrenzen und erst in zweiter Linie die gewonnenen Einteilungen mit
andern Periodensystemen zu konfrontieren. Literaturgeschichte bleibt dann
Stilgeschichte in einem weitesten Sinn; die Perioden bedeuten übergeordnete
Stilzusammenhänge, die nun allerdings möglichst viel Aspekte formaler,
gehaltlicher, struktureller Art decken und zur Deckung bringen sollen.


  Die kleinste und konkreteste chronologische Einheit stellt offenbar die
Generation dar; selbst das Oeuvre eines Dichters ist oft nach Generationsstadien
gegliedert. Mit dem Begriff der Generation soll die unbestreitbare
Erscheinung gefaßt werden, daß der Literaturverlauf zu bestimmten
Zeiten eine Häufung und Intensivierung der Leistungen erfährt,
die zudem etwas Neues bedeuten. Es wären „couches d'hommes nouveaux“
(Peyre), Gruppen Gleichaltriger mit ähnlichen Erfahrungen und Reaktionen,
„Jugendreihen“, wie sie ein Schlagwort Eduard Wechsslers nannte.
Schachners2 Dissertation geht kaum über Fragen der Begriffsdefinition
hinaus. Kühner ist dagegen Peyre. Er diskutiert eine Reihe von anderen
möglichen Gruppenbegriffen: die Bewegung, die Schule, den Kreis usw.,
um sie als ungeeignet zu verwerfen, da sie sich ja auch der konkreten
chronologischen Basis entziehen. Dagegen glaubt er nun auf Grund einer
langen chronologischen Untersuchung tabellarisch die Generation als grundlegendes
Prinzip empfehlen zu können. Er unterscheidet von 1490─1900
genau 29 Generationen, in denen er nicht nur die Taktschritte der französischen,
sondern überhaupt der europäischen Literaturgeschichte sieht, ja
von denen er erwartet, daß sie sich auch in andern Künsten und Kulturgebieten
bestätigen. Toleranterweise läßt er die zeitliche Dauer der Generationswirkung
variabel sein (8─20 Jahre, also nicht etwa das übliche
Menschenalter von 30─35 Jahren, das sonst so bequem dreimal in ein Saeculum
paßt). Auch wendet er sich gegen die beliebten Versuche einer Rhythmisierung
der Generationenfolge etwa im Sinn einer Abstoßung zwischen
Vätern und Söhnen und einer Verwandtschaft zwischen Söhnen und Großvätern
(solche Schemata der Oszillation oder des Dreischritts kehren ja
auch im Epochensystem wieder, seit Hegel, Ottokar Lorenz, Karl Joel usw.).

1
Henri Peyre, Les générations littéraires. Paris 1948 (mit Bibliographie).
2
Walter Schachner, Das Generationsproblem in der Geistesgeschichte. Mit einem
Exkurs über den Hainbund. Diss. Gießen 1937.
|#f0147 : 141|

Es ist wohl nicht nötig zu sagen, daß trotz solchen Einschränkungen die Annahme
einer derartigen Mechanik der Generationen methodisch und faktisch
bedenklich ist. Peyre tut hier trotz allem der auch von ihm gepriesenen
„charmante irrationalité du réel“ Gewalt an. Letzten Endes sind hier
wohl auch die spezifischen Formen der literarischen Tradition mißachtet
zugunsten biologisch-soziologischer Gesichtspunkte. Und es wird auch sehr
darauf ankommen, ob eine derartig detaillierte Gliederung in einem räumlich,
sozial und geistig geschlossenen Bereich (z. B. der Zürcher Literatur
des 18. Jahrhunderts) angewandt wird oder in ganzen Nationen und Kontinenten.



  Bei diesen scheint jedenfalls der umfassendere Begriff der Epoche
angemessener und wichtiger, obwohl Peyre gerade ihn als willkürlich oder
national beschränkt betrachtet. (Ob „Epoche“ oder „Periode“ tut hier nichts
zur Sache, wir nehmen Periode bloß als allgemeinen Oberbegriff und meinen
mit Epoche so verschiedenartig geprägte Einheitsbenennungen wie Romantik,
Barock, Aufklärung, 19. Jahrhundert). Es sind geschichtlich-empirisch
gewachsene und in ihren Benennungsmotiven durchaus heterogene Begriffe,
die die historische Forschung nicht entbehren kann und mit denen sie
doch beständig in Fehde liegt, sie nach Art und Zahl verändernd (so ist es
um das „Biedermeier“ wieder still geworden). Eine gute Kritik dieser Begriffe
haben Benno von Wiese1 und nach ihm Wellek geleistet. Es handelt
sich weder um bloß unverbindliche Namen und Hilfskonstruktionen,
noch darf ihnen ideenrealistisch eine absolute Wesenheit unterstellt werden;
auch ist ihre subjektive, psychologische Komponente nicht zu übersehen2.
Es sind „dynamische Gebilde“, „regulative Ideen“, selber geschichtliche Mittel
historischer Interpretation. Sie gehen immer auf individuell-geschichtliche
Wirklichkeit, wollen also nicht wie ein logischer Oberbegriff alle Einzelerscheinungen
automatisch decken, und sie haben unscharfe Grenzen:
„one word cannot carry a dozen connotations“ (Wellek-Warren).


  Von zwei Verwendungen sind sie fern zu halten, nämlich von einer typologischen
und einer normativen. Epochenbegriffe sind in der Historie was die
Typenbegriffe in der Stilkritik sind ─ d. h. aber, daß sie zu diesen gleichsam
senkrecht stehen; ihre Verwechslung liegt an sich nahe, da sie dieselbe
Literatur betreffen und nicht ohne einander sein können; doch hat sie,
vor allem im Gefolge der kunstgeschichtlichen Grundbegriffe, viel Unklarheit
gestiftet, etwa im Fall der Barockliteratur. Der unangebrachte Versuch,

1
Benno v. Wiese, Zur Kritik des geisteswissenschaftlichen Periodenbegriffes.
DV 11 (1933) 130 ff.
2
Max Foerster, The Psychological Basis of Literary Periods. (In: Studies for
William A. Read. Louisiana 1940). (War nicht erhältlich).
|#f0148 : 142|

Historie als angewandte Typologie zu entwickeln, führt dann auch zur Annahme
wiederkehrender Zyklen oder rhythmischer Wechsel (z. B. Klassik
und Romantik), die die geschichtliche Realität vergewaltigt, indem sie
deren gerichteten und einmaligen Charakter übersieht und aus der Geschichte
das Spiel einer mechanisch auf- und zugehenden Handharmonika
macht.


  Das normhafte Element macht sich vor allem verwirrend bemerkbar,
sofern einzelne Epochen als „Blütezeiten“ oder „klassische“ Literaturepochen
hervorgehoben werden. Gewiß ist auch Literarhistorie ohne Wertung
nicht denkbar; aber weder ist das für eine Epoche typischste Werk (z.
B. ein barockes Nürnberger Poem) ihr wertvollstes, noch genügt die Ordnung
in Blütezeiten und Verfallzeiten zur Periodisierung. Auf dieser Verwechslung
beruhen wieder Versuche zur mechanischen Rhythmisierung der
Geschichte ─ von Hesiods absteigender Treppe der Weltalter bis zu Wil-
helm Scherers Lehre von den Sechshundert-Jahr-Perioden von Blütezeit
zu Blütezeit der deutschen Literaturgeschichte. Im Begriff „Klassik1
verbinden sich Wertendes (etwa die „Blütezeit“ der „Staufischen Klassik“
in Hermann Schneiders Literaturgeschichte), Typologisches (Klassizismus)
und rein Historisches (deutsche Klassik um 1800). Über die Rolle der
„Kanonbildung“, d. h. über das Entstehen klassischer Geltung bestimmter
Autoren oder Autorengruppen und ihre Bedeutung für die Literaturgeschichte
wie für die Literaturhistorie handelt ein wichtiges Kapitel von
Ernst Robert Curtius.


  Schon für eine einzelne Literatur wird die Abgrenzung eines Epochenbegriffs
die Resultante aus verschiedenen Einzelgrenzen sein ─ ähnlich wie
bei einer Sprachgrenze in der Dialektgeographie ─, entsprechend dem
schichtenhaften oder bündelartigen Charakter jedes Literaturverlaufs.
Oft genug wird es sich dabei praktisch um Kompromisse handeln.
Ein Beispiel bietet Hermann Schneider2, der der Epochengrenze ausdrücklich
eine „entscheidende Rolle“ zuweist bei der Konzeption einer Literaturgeschichte,
die er mit literatureigenen Kategorien und Normen als
Geschichte künstlerischer „Potenzen“ gestaltet haben will. Den Epochenbeginn
charakterisiert er als den Beginn eines literarisch „Neuen“, soweit
dieses grundstürzend ist. Und es gibt das „Phänomen einer künstlerischen
Hochblüte“, „sie wächst heran, sie entkeimt und bereitet sich langsam,

1
Martin Turnell, The Classical Moment. London. 1947. ─ K. H. Halbach, Zu
Begriff und Wesen des Klassik. (In: Festschrift für Paul Kluckhohn und Hermann
Schneider, Tübingen 1948).
2
Hermann Schneider, Geschichte der deutschen Dichtung. Nach ihren Epochen
dargestellt. I. Bonn 1949.
|#f0149 : 143|

zielbewußt, mehr und mehr anschwellend, vor. Schließlich bricht die Blüte
durch ... das Wunder tritt ein. Völker und Zeiten ... zehren noch Jahrzehnte
und Jahrhunderte davon.“ Diese hinkenden botanischen Vergleiche
lassen allerdings kaum eine grundsätzlich neue Konzeption erkennen. Und
die acht Epochen, die Schneider von der „altgermanischen Dichtung“ bis
zur Dichtung im Dienste der Aufklärung unterscheidet, haben denn auch
nur zum Teil dichtungseigene Namen (z. B. „Dichtung der ersten Blüte“,
d. h. Stauferzeit, „Dichtung im Zeichen der Unfreiheit“, d. i. Barockzeit),
wobei Wertendes und Beschreibendes durcheinandergeht; zum Teil ist auf
Dichtungsfremdes zurückgegriffen („Dichtung der religiösen Erneuerung“,
d. i. Renaissance und Reformation). Wenn Schneider bemerkt, die „bewegenden
Ideen eines Zeitalters finden Raum, soweit es die Dichtung ist,
die sie bewegt haben“, so weist er damit selber hin auf die Unmöglichkeit,
von „geistesgeschichtlichen“ Epochenbegriffen zu abstrahieren. Schneider
will keine Geistesgeschichte geben und gibt auch keine Stilgeschichte. Dichtungsgeschichte
aber als „die Geschichte des Wirksamen, des Siegreichen
im Kampf ums Dasein“, als „naturgewollter und naturhafter Vorgang“
dürfte kaum ein Fortschritt sein. Mit der Übernahme geistesgeschichtlicher
Epochenbegriffe taucht aber auch wieder das Problem der Interferenz
zwischen verschiedenartigen Periodisierungen auf. Allerdings beruhen ja
u. U. auch die Unterschiede der Epochen darauf, daß sich die verschiedenen
Kulturbereiche anders gruppieren, in verschiedenem Maß zum Antlitz der
Literatur beitragen. Aber je weiter hier der Blick gefaßt wird, umso diskutabler
werden die Grenzen. Und so wendet sich Marcel Beck1 ─ um
auch einen Historiker zu zitieren ─ im Namen des immer komplexen gesamtmenschlichen
„Bios“ gegen eine, vor allem von der Geistesgeschichte
betriebene, „fraktionierende, mit Wenden und Umbrüchen operierende
Methode“ als gegen ein Hindernis objektiver Betrachtung.


  Wie sehr das Epochenproblem in das Problem einer vergleichenden Geschichte
der Künste
hineinspielt, wurde bereits ausgeführt. Die überragende
Leistung auf dem Gebiet der älteren deutschen Literaturgeschichte2 disponiert
nach rein kunstgeschichtlichen Begriffen in Frühromanik, Romanik,
Spätromanik und Gotik; auch wenn das im Einzelnen noch so einleuchtend
ist, bleibt es störend, wenn damit die literarische „Blütezeit“ nicht selbst
eine Epoche ist, sondern auf die Grenze zwischen den Epochen zu liegen
kommt. Es ist das z. T. eine Folge der Divergenz zwischen normativer und
stilistischer Epochenbildung (auch mit Dante oder Shakespeare zeigt sich

1
Marcel Beck, Finsteres oder romantisches Mittelalter. Zürich 1950.
2
Julius Schwietering, Die deutsche Dichtung des Mittelalters, Potsdam o. J.
(In: Handbuch der Literaturwissenschaft herausgegeben von O. Walzel).
|#f0150 : 144|

diese Erscheinung), z. T. aber auch ein Anzeichen für die Divergenz der
Epochen in den verschiedenen Kulturgebieten und Künsten. Um eine für
alle Künste geltende Epoche zu bekommen, nennt Richard Benz1 die
erste Hälfte des 18. Jahrhunderts Barockzeit; das gilt in Deutschland für
die Vollendungen in der Musik und der Architektur, nötigt den Verfasser
aber, die Barock-Literatur, d. h. die Literatur des 17. Jahrhunderts, als verfrühten
und mißlungenen Ansatz stiefmütterlich ins Vorzimmer zu verbannen.
Auch der seinerzeit von Arthur Hübscher („Euphorion“ 26) unternommene
Versuch, dem Problem der Epochenbestimmung für die deutsche
Barockliteratur mit dem Begriff der „Pseudomorphose“ beizukommen
(d. h. der in unglücklichen Umständen bedingten antithetischen Diskrepanz
von Gehalt und Form) ist ein prinzipiell fragwürdiger Ausweg.


  Die Schwierigkeiten zeigen sich erneut im Bereich der europäischen Literaturgeschichte.
Hier hat E. R. Curtius von den mittellateinischen Konstanten
aus, die er in der europäischen Literatur nachweist, einen Vorstoß
unternommen gegen die vorschnelle Übertragung nationalbedingter Epochenbegriffe
auf die europäische Literatur, speziell was die französische Forschung
mit ihrem an der eigenen Klassik orientierten System betrifft. Aber
andererseits ist allein von den Konstanten aus ja auch keine Periodisierung
möglich, und die Feststellung vom Fortdauern des literarischen Mittelalters
bis ins 18. Jahrhundert hat damit nur begrenzte Tragweite. Werner
Milch2 gibt eine instruktive Aufstellung der epochenmäßigen Differenzen
dreier Darstellungen der Weltliteratur (Eppelsheimer, van Tieghem,
Laurie Magnus), die je von einer verschiedenen nationalliterarischen Tradition
herkommen.


  So gilt wohl für die Periodenproblematik in all ihren Stufen und Formen,
daß auch hier nicht feste Schubladenbegriffe gemeint sein können,
sondern bewegliche Grenzbegriffe, durch welche verschiedenartige Gruppen
individueller Stilzüge, aber nur immer im Spiel ihrer Beziehungen, Bewegungen,
Überlagerungen gefaßt werden können und sollen.


4. literaturgeschichte nach einzelnen aspekten

Das Ziel einer literaturwissenschaftlichen Geschichtschreibung ist die Synthese
der jeweiligen literarischen Ganzheit eines Oeuvres, einer Epoche,
einer Nation usw. Wenn schon die Charakteristik eines Einzelwerks mit

1
Richard Benz, Deutsches Barock. Kultur des 18. Jahrhunderts. I. Stuttgart 1949.
2
Werner Milch, Europäische Literaturgeschichte. Ein Arbeitsprogramm (Schriftenreihe
der Europäischen Akademie,
Heft 4. Wiesbaden 1949).
|#f0151 : 145|

seinen verschiedenen Stilaspekten immer nur als Auswahl der jeweils hervortretenden
oder wichtig scheinenden Züge möglich ist, so gilt dies erst recht für
die größeren Einheiten. Ja es ist nun auch möglich und naheliegend oder
gar nötig, einzelne Aspekte gesondert zu verfolgen: bestimmte
Literaturarten oder metrische Gebilde oder Symbole oder Topoi bilden an
sich geschichtliche Reihen, sei es, daß sie aus einem gleichen „Formwillen“
(Böckmann), aus einem gleichen „objektiven Geist“ (Nicolai Hartmann)
immer wieder hervorgetrieben werden, sei es, daß sie als fest geprägte
Elemente einer dichterischen Sprache übertragbar sind, weiterzündend,
traditions- und epochemachend wirken. Im einzelnen wird es darauf ankommen,
wieweit in solchen Teilaspekten wirkliche geschichtliche Einheiten
getroffen sind oder wieweit es sich um bloße willkürliche Längsschnitte
handelt, die nur den Schein eines Zusammenhanges stiften. Gewöhnlich
sind solche Untersuchungen nicht aus bloß historischen Absichten unternommen,
sondern aus dem Interesse der Poetik: im Abschreiten der geschichtlichen
Erscheinungen soll das „Wesen“ irgendeiner poetischen Formmöglichkeit
ergründet werden. In diesem Sinne sind solche Arbeiten
meistens schon oben erwähnt worden, so daß im folgenden nur noch ein
paar Nachträge gegeben werden. Im übrigen wird die Isolierung eines
Teilaspekts niemals eine strenge sein können. Dieser bleibt immer Repräsentant
für ein umgreifendes Stilganzes und auch nur als solcher interessant:
als Merkmal einer Epoche oder umgekehrt als tertium comparationis für
die Wandlungen in einem geschichtlichen Verlauf.


  Eine Sonderstellung kommt der Geschichte nach Gattungen und
Arten zu. Die primäre Aufgabe der Literaturhistorie ist, wie wir sahen,
die Epochengliederung und das Erkennen von Epochenstilen. Die Gattung,
als Typus verstanden, ist selber keine geschichtliche Größe. Eine typologische
Gliederung wird erst innerhalb eines Epochenstils sinnvoll sein, wie
das Böckmann betont, denn hier gilt es nun die bestimmten Abwandlungen
der typischen Haltungen zu beschreiben. So wählen auch manche Literaturgeschichten,
gelegentlich oder konsequent, die Aufteilung nach den drei
Gattungen innerhalb der Epochen. So verfährt etwa Paul Hankamer1 in
seiner werknahen, aber letztlich geistesgeschichtlich interessierten Geschichte
der deutschen Barockliteratur; entsprechend auch Hermann Schneider in
seiner Literaturgeschichte nach Epochen, sowie einzelne Beiträger der von
Bruno Boesch herausgegebenen deutschen Literaturgeschichte in Grundzügen2.
Hier sind es dann auch gewöhnlich strukturell verfestigte Gattungsformen,

1
Paul Hankamer, Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Stuttgart
1935.
2
Deutsche Literaturgeschichte in Grundzügen. Die Epochen deutscher Dichtung.
Herausgegeben von Bruno Boesch. Bern 1946.
|#f0152 : 146|

d. h. „Arten“ ─ z. B. das barocke Trauerspiel, der höfische Minnesang
oder das Epos, welche als echte traditionelle Einheiten, d. h. nun geschichtlich
legitime Größen, in den Blick treten. Die Artgeschichte wird
besonders in anfänglichen, noch anonymen Epochen der Literatur wichtig
sein, da hier Arten als feste Bauformen die Literaturgeschichte eigentlich
ausmachen. So hat etwa Andreas Heuslers Altgermanische Dichtung gezeigt,
wie der bestimmte Begriff geschichtlicher Arten (z. B. Merkdichtung,
Erzähllied, Preislied) zu einem erfolgreichen heuristischen Prinzip wird,
wenn es gilt, eine fragmentarische und über große Räume und Zeiten hinweg
als Einheit zu begreifende Literatur zu erfassen.


  Ähnliches gilt von der Versgeschichte. Sie ist zentral für Zeiten
fester literarischer Tradition, aber verliert an Bedeutung, wo die verschiedensten
Formen zu freier Verfügung stehen. Sie wird wichtiger sein für
die Entwicklung höfischer Lyrik als für die Lyrik des 20. Jahrhunderts
mit ihrer völligen Freiheit der Wahl ─ es sei denn, daß gerade der Vorgang
dieser Emanzipation von bestimmten Regeln des Versbaus in Frage
steht.


  Stoff- und Motivgeschichte1 sind heute unter dem Einfluß
stilkritischer Einstellung etwas scheel angesehen. In der Tat ist ein Katalog
von 16 eng bedruckten Seiten Petitsatz, wie ihn Körner in seiner
Bibliographie bietet unter dem Titel Thematische Querschnitte durch die
Geschichte der deutschen Literatur, von Abel und Alexander bis zum Weltgericht
und zum Zigeuner, eher von erheiternder Wirkung. Selbst bescheidene
Nachschlagewerke wie die von Arthur Luther2 oder André Ferré3
scheinen vom Sinn literaturwissenschaftlicher Tätigkeit abzuführen, ja in
die Nähe des Reisehandbuchs zu geraten. Doch gilt es bei dieser „Thematologie“
zu unterscheiden, ob es sich um echte Traditionszusammenhänge
handelt oder um willkürlich hergestellte Reihen. Während Motive im
Sinne von menschlichen Urbegebenheiten ein überall erscheinendes, übertragbares
Element darstellen und historisch schwer zu fassen sind, so ist der
Stoff als „Quelle“ geradezu der beherrschende Gesichtspunkt bei der
Erfassung von Literaturen mit strenger Traditionalität. Es ist unbestreitbar,
daß etwa die Geschichte altdeutscher Heldendichtung4 oder sogar des

1
Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur, herausgegeben von Paul
Merker und Gerhard Lüdtke. Berlin 1929 ff.
2
Arthur Luther, Deutsches Land in deutscher Erzählung. Ein literarisches Ortslexikon.
2. Auflage. Leipzig 1937. ─ Ders., Deutsche Geschichte in deutscher Erzählung.
Ein literarisches Lexikon.
2. Auflage. Leipzig 1943.
3
André Ferré, Géographie littéraire. Paris 1946.
4
Hermann Schneider, Germanische Heldensage. (Grundriß der germanischen
Philologie 10) 3 Bände. Berlin 1928─1934.
|#f0153 : 147|

mittelalterlichen Romans als Sagengeschichte, Stoffgeschichte, Quellengeschichte
am natürlichsten zugänglich wird und von dieser aus auch unmittelbar
ihre allgemein stilgeschichtlichen Züge enthüllt. Ähnliches dürfte auch von
klassisch-mythischen Stoffen gelten1, obwohl es sich schon hier weniger um
geschlossene Geschichtsverläufe als um eine Begegnung zwischen Einzelwerken
handelt. Dagegen scheint es fraglich, ob es literaturwissenschaftlich
sinnvoll ist, z. B. den „Wald“2 in der deutschen Dichtung geschichtlich zu
behandeln, d. h. ob hier nicht Zusammenhänge vorgetäuscht werden, die keine
sind. Zum mindesten kann der gemeinsame Nenner verlorengehen, wenn der
Kreis einer persönlichen dichterischen Welt verlassen wird, wo also nicht, wie
es Emrich3 in glänzender Weise tut, die Symbolwelt eines Dichters, ja
eines Werks, entwicklungsgeschichtlich erhellt wird. Auch etwa Fritz
Martinis4 Darstellung des Bauerntums in der Literatur des deutschen
Mittelalters betrifft noch eine mehr oder weniger geschlossene literarische
Welt, in der die Figur des Bauern typische Funktionen hat. Was darüber
hinausgeht ─ das „Bild des Bauerntums“ oder die „innere geistige Auseinandersetzung
mit dem umfassendsten und lebenswichtigsten Glied des
Volkskörpers“, das dürfte mehr die Kulturhistorie und die allgemeine
Geistesgeschichte interessieren und auch in der Literatur nur in bestimmten
Brechungen zu finden sein. Was schließlich die Topen geschichte von
E. R. Curtius betrifft, so greift diese zwar ins Motiv- und Symbolgeschichtliche
hinüber, beschäftigt sich aber mit europäischen Konstanten, die
wiederum erst in einer übergreifenden Stilgeschichte den jeweiligen Sinn
ihrer Variationen enthüllen kann (vgl. unten S. 156 ff.).


  Aber nicht die bisher beschriebenen stoff- und formgeschichtlichen, sondern
die sog. geistesgeschichtlichen Forschungen haben in der
neueren Literaturwissenschaft das Feld beherrscht. Soviel dagegen mit
guten Gründen Front gemacht worden ist und so sehr hier die neuidealistischen
Voraussetzungen immer dünner werden, so ist die Beziehung der
Dichtwerke auf geistige Auseinandersetzungen und damit auf einen zwar
außerkünstlerischen, aber dafür umfassenderen Geschichtsprozeß legitim,
ja selbstverständlich. Und zwar besonders, wo die in Frage stehende Literatur
selbst in enger Beziehung zu moralischen, weltanschaulichen, religiösen
Anliegen steht. Zum Verständnis Dantes ist eine Geschichte der

1
z. B. Franz Stoessl, Amphitryon. „Trivium“ II (1944) 93 ff.
2
Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung (Stoff- und Motivgeschichte
der deutschen Literatur 15).
Berlin 1936.
3
Wilhelm Emrich, Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. Berlin 1943.
4
Fritz Martini, Das Bauerntum im deutschen Schrifttum von den Anfängen
bis zum 16. Jahrhundert. Halle 1944.
|#f0154 : 148|

Lehren und Vorstellungen des Jenseits von hohem Interesse1; eine Geschichte
der deutschen mystischen Literatur, wie sie in praktischer, selbständiger
Übersicht Wentzlaff-Eggebert2 vorgelegt hat, arbeitet eine
jahrhundertelange „geistige“, nicht in erster Linie literarische Bewegung
heraus, ohne doch bloß angewandte Religionsgeschichte zu sein. W. E.
Peuckerts3 Forschungen zu den magischen und pansophischen Traditionen
des 16. und 17. Jahrhunderts sprengen den Kreis einer konventionellen
Geschichte der schönen Literatur in folgenreicher Weise. Bezzolas4 Vorgeschichte
der höfischen Literatur dient einer Geschichte des humanistischen
Gedankens, abgesehen von ihren gesellschafts- und kulturgeschichtlichen
Grundlagen. Daß auf der andern Seite auch eine allzusehr von der Dichtung
und ihren konkreten Gegebenheiten abstrahierte Ideen- und Gedankengeschichte
in die Irre gehen kann, das haben die Diskussionen um
das von G. Ehrismann voreilig errichtete und historisch hergeleitete „ritterliche
Tugendsystem“ gezeigt5. Im übrigen bedeutet Geistesgeschichte im
Bereich der Literatur nicht nur angewandte Philosophie- oder Weltanschauungsgeschichte.
Zeitgeist, Lokalgeist, Volksgeist usw. sind, wenn sie
nicht als fragwürdige Hypostasierungen aufgefaßt werden, im Grunde ja
nichts anderes als der gedanklich gefaßte „Stil“ eines größeren literarischen
Zusammenhangs.


  Gerade für Gesamtdarstellungen der deutschen Literaturgeschichte6
hat sich der geistesgeschichtliche Blickpunkt als immer noch
fruchtbar erwiesen. Ein Beispiel dafür ist wohl auch Günther Mül-
lers7 Geschichte der deutschen Seele trotz ihrem Titel und trotzdem

1
August Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante. 2 Bände. Einsiedeln/Köln
1945.
2
Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, Deutsche Mystik zwischen Mittelalter
und Neuzeit.
2. Auflage. Tübingen 1947.
3
Will-Erich Peuckert, Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und
schwarzen Magie. Stuttgart 1936.
4
Reto R. Bezzola, Les origines et la formation de la littérature courtoise en
occident (500─1200) I. Paris 1944.
5
Das ritterliche Tugendsystem: Vgl. unten Curtius und dazu Wentzlaff-Eggebert,
Maurer und Naumann in DV 23 (1949) 252 ff.
6
Vgl. u. a. auch Gerhard Fricke, Geschichte der deutschen Dichtung, Tübingen
1949. ─ Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur
Gegenwart, Stuttgart 1949. ─ Helmut de Boor und Richard Newald, Geschichte
der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart (9 Bände geplant),
München 1949 ff.
7
Günther Müller, Geschichte der deutschen Seele. Freiburg i. B. 1939.
|#f0155 : 149|

ihr Verfasser selbst sich inzwischen den Gedanken literarischer Morphologie
verpflichtet hat. Die deutsche „Seele“ ist der Held, man könnte
auch sagen: es sei der (faustische) „Geist“, der hier, vom Standpunkt eines
christlich-humanistischen Menschenbildes, in seinen sucherischen Ausprägungen
von der Gotik bis zur Romantik verfolgt wird, „Seele“ freilich insofern,
als die Entscheidungen nicht nur aus bewußter Einsicht gefällt werden,
sondern auch auf den Vorentscheidungen des „Lebensgefühls“ beruhen. In
allen Wandlungen aber herrscht das „Suchen nach einem letzten Sinn und
Ziel“, womit nicht nur die Literaturgeschichte über sich hinausweist auf
die religiöse Frage, sondern die Geschichte selbst „vornehmlich davon
spricht, daß sie kein letztes ist.“ Der feste Blickpunkt hindert Müller
nicht, ja scheint ihn gerade zu befähigen, mit imponierender Bereitschaft
und Liebe auch das Gegensätzliche in seinen positiven Kräften zu ergreifen
und aufs Ganze zu beziehen. Diese echte historiographische Haltung
ist so alles andere als die farblose Vielseitigkeit eines unbeteiligten Zuschauers.



5. nationale, europäische, universale literatur

a) Allgemeines

Es stellt sich endlich die Frage, welches die maßgebenden literarischen
Traditionszusammenhänge sind, ob die Einheit der Literaturgeschichte von
der nationalen, der europäischen oder der menschlichen Gemeinschaft getragen
wird. Eine jahrtausendalte geistig-literarische Tradition scheint
heute dem Untergang geweiht. Auch das literarische Bewußtsein sieht sich
in neuen, universal ausgeweiteten Horizonten. Europäische Literatur im
engern, Weltliteratur im weitern Kreis wird Gegenstand historischer Besinnung
und zugleich eines Entwurfs für die Zukunft ─ wie jede echte
historische Besinnung eine „Kultursynthese“ (Troeltsch) für das Werdende
bedeutet. Der nationale Rahmen der literarhistorischen Sicht wird unwesentlich
oder in seiner Bedeutung relativiert. Toynbees Werk liefert
etwa bei Curtius die Begründung, warum der eigentliche „Geschichtskörper
die europäisch-westliche Zivilisation und nicht die einzelne
Nation ist. Ursprünglich war allerdings die Einheit einer europäischen
Literatur undiskutierte Voraussetzung der nationalen Literaturgeschichte,
die nur als individuelle Stimme im Konzert der Völker verstanden wurde.
Erst nachdem der nationale Gedanke ─ unter dem Einfluß der Politik und
nicht zuletzt auch durch die Automatik eines nun einmal nach Nationalsprachen
aufgeteilten Forschungs- und Lehrbetriebes ─ ad absurdum geführt |#f0156 : 150|

ist, wird universale1 Literaturgeschichte wieder aktuell, auf
allen Ebenen von einem neuen literarischen Kosmopolitismus des Literaturfreunds
bis zu den konkreten Methodenproblemen der literarhistorischen
Forschung. Absichten und Wege der universalen Literaturhistorie, die an
sich nichts Neues ist, sondern seit Friedrich Schlegel, seit Goethe über eine
ehrwürdige Tradition verfügt, waren allerdings je nach der geschichtlichen
Situation verschieden. Der Begriff der Weltliteratur hat schon bei Goethe
die verschiedensten Bedeutungen, und umgekehrt ist heute der nationale
Gesichtspunkt durch seine Relativierung keineswegs entwertet. Schon die
Einheit des Sprachraums bildet schwer übersteigbare Grenzen. Neue Nationalliteraturen
bilden sich vor unsern Augen, und z. B. das Zusichkommen
einer amerikanischen Literatur und ihres Selbstbewußtseins, wie es H. M.
Jones2 darstellt, ist sicher kein Vorgang, der bloß im Geist eines Nationalisten
existiert. Selbst die Unterteilung der nationalen Literaturgeschichte
in Stammes- oder Landschaftsgeschichte, die von Nadler ad absurdum
geführt worden ist, behält ihren Sinn, solange sie wirkliche geschichtliche
Einheiten meint3. Aber es ist zweifellos legitim, wenn heute im Spiel der
sich überlagernden und überformenden Literaturen der Blick nach der
höchsten Einheit, nach einer europäischen oder mondialen Literatur
gerichtet wird. Gegenstand und Methoden einer entsprechenden
Wissenschaft abzugrenzen, ist nicht leicht und bis heute in ganz verschiedenen
Weisen versucht worden. Weltliteraturwissenschaft, bzw. vergleichende
Literaturwissenschaft erscheint in mancherlei Gestalt: als Hilfswissenschaft
nationaler Literarhistorien oder als internationale Enzyklopädik
der nationalen Literarhistorien oder als übernationale Wissenschaft
eigenen und höheren Charakters. Nicht zu vergessen ist dabei die Rolle der
Kritik, sofern sie in lebendigem Umgang mit der Gegenwartsliteratur als
Tageskritik oder Essayistik4 immer wieder zur Sichtung und Diskussion des
weltliterarischen Erbes gelangt und im günstigen Fall eine Art weltliterarischen
Gewissens entwickelt.

1
Jean Hankiss, Littérature universelle? „Helicon“ I (1939), 156 ff.
2
Howard M. Jones, The Theory of American Literature. London 1949.
3
Reta Schmitz, Das ProblemVolkstum und Dichtungbei Herder. Neue Forschungen.
Bd. 31. Berlin 1937. ─ Hugo Moser, Der Stammesgedanke im Schrifttum
der Romantik und bei Ludwig Uhland.
(In: Festschrift Paul Kluckhohn und
Hermann Schneider. Tübingen 1948.)
4
Als Beispiel seien die Essaysammlungen Max Rychners genannt: Zur europäischen
Literatur zwischen zwei Weltkriegen,
Zürich 1943. Zeitgenössische Literatur,
Charakteristiken und Kritiken,
Zürich 1947. Welt im Wort, Zürich 1949.
|#f0157 : 151|

  Eine ausgezeichnete Charakteristik der Situation von heute und ein
Arbeitsprogramm bietet Werner Milch1. Den Sinn des weltliterarischen
Gedankens und seine Realität bei Goethe behandelt umfassend
Fritz Strich2. Die diesen Forschungsaufgaben gewidmeten Zeitschriften3
waren nicht immer, mit Ausnahme der ehrwürdigen Gründung
Ferdinand Baldenspergers, vom Glück verfolgt, z. T. allerdings auch nur,
weil vergleichende Forschungen auch in anderen Organen der nationalen Literaturwissenschaften
laufend erschienen. Was es schließlich bedeutet, Weltliteratur
in großen Traditionen, in ihren klassischen Werken, ihren Quellgebieten
und ihren Ausstrahlungen realiter zu versammeln und zu ordnen,
das zeigt der Bericht über die großartige Privatsammlung, die Martin
Bodmer4 als Monument und Forschungsinstrument der weltliterarischen
Besinnung geschaffen hat.


  Das Bedürfnis nach umfassender Überschau der Möglichkeiten und nach
programmatischer Abgrenzung des Arbeitsgebietes einerseits, auf der andern
Seite die Notwendigkeit, die Ergebnisse der nationalen Literaturwissenschaften
zu benützen ─ diese beiden Motive führen zu Enzyklopädien,
Bibliographien, Lexika5 als wichtigen Voraussetzungen einer z. T. erst
aufzubauenden weltumspannenden Wissenschaft.


  In diesem Sinn ist die monumentale Bibliography of Comparative
Literature von Ferdinand Baldensperger und Werner P. Friederich6
nicht nur ein bibliographisches Sammelwerk, eine großartige Ernte, sondern
auch ein Programm und auf jeden Fall ein fortan unentbehrliches Hilfsmittel.

1
Werner Milch, Europäische Literaturgeschichte. Ein Arbeitsprogramm. (Schriftenreihe
der europäischen Akademie 4,
Wiesbaden 1949.)
2
Fritz Strich, Goethe und die Weltliteratur. Bern 1946.
3
Revue de littérature comparée. Paris 1921 ff. ─ Comparative Literature
Studies. Cahiers de littérature comparée. ed Marcel Chicoteau. Liverpool 1940 bis
1946. ─ Comparative Literature. ed. Chandler C. Beall. Oregon 1949 ff.
4
Martin Bodmer, Eine Bibliothek der Weltliteratur. Zürich 1947.
5
Dizionario letterario Bompiani delle opere e dei personaggi di tutti i tempi
e di tutte le letterature. 9 Vol. (I: Movimenti spirituali. Opere A─B; II─VII:
Opere C─Z; VIII: Personaggi. IX: Indici. Milano 1947─1950). ─ Die Weltliteratur.
Biographisches, literarisches und bibliographisches Lexikon in Übersichten und Stichwörtern.
Herausgegeben von K. Frauwallner, H. Giebisch und E. Heinzel. 2 Bände.
Wien 1950 ff. ─ H. Kindermann (!) und M. Dietrich, Lexikon der Weltliteratur.
Wien und Stuttgart 1950. ─ O. Oberholzer, Kleines Lexikon der Weltliteratur.
Bern 1946.
6
Ferdinand Baldensperger und Werner P. Friederich, Bibliography of Comparative
Literature.
Chapel Hill 1950.
|#f0158 : 152|

Die Auswahl und übersichtliche Ordnung eines so ungeheuren bibliographischen
Materials von 33000 Titeln ist ein Problem, das kaum je befriedigend
zu lösen sein wird. Unter dem Titel „Generalities, Intermediaries,
Thematology, Literary Genres“ ist vorausgenommen, was zur komparatistischen
Prinzipienlehre und darüber hinaus z. T. zur allgemeinen Literaturwissenschaft
gehört. Ein zweites Buch behandelt die Quellgebiete der
europäischen Literatur (Antike, Orient usw.) in ihren Wirkungen auf die
spätere Zeit; ein kurzes drittes Buch „Aspects of Western Culture“ gilt der
abendländischen Literatur seit dem Mittelalter in ihren Hauptströmungen,
Epochen und den Beziehungen zwischen den nationalen Komplexen, ein
viertes Buch „The Modern World“ den Einflüssen der einzelnen Nationalliteraturen
─ vom Keltischen bis zum Slavischen ─ auf die neuere Literatur.
Buch zwei und vier fragen also nach den „emitters“ von Einflüssen,
wogegen das zentrale Buch drei eine Gliederung des europäischen Gefüges
nach nationalen Komplexen, Epochen und geistigen Mächten selbst bietet.
Auch wenn so die eigentliche Frage des Komparatismus, d. h. die Frage
nach den gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten, nach der europäischen
Einheit als Beziehungsnetz zwischen „emitters“ und „receivers“,
im Vordergrund steht und damit ausdrücklich die Erforschung der Nationalliteraturen
die Basis aller Literaturforschung bleibt, führt das Werk doch
auch wieder darüber hinaus in die Probleme der Poetik und einer weiteren
Weltliteraturwissenschaft.


  Eine systematische Einführung in die Probleme der Weltliteraturwissenschaft
will Albert Guerards Buch1 geben, das im Prinzipiellen ähnlich
umfassend ist wie Friederichs Bibliographie. Es betont die Einheit der
Literatur auf Grund der Einheit des Menschlichen: „Literature should be
taught as Literature in English, not as English Literature“. Weltliteratur
erscheint als die Einheit des wahrhaft Lebendigen, nicht als die bloße Gesamtheit
(„universal literature“) aller Literaturen und Werke. Jene einheitliche
Weltliteratur aber gliedert er nach ihren verschiedenen „tendencies“
(d. h. nach den Typen Klassik und Romantik, Realismus und Symbolismus),
nach den Gattungen und schließlich nach den Perioden. Damit interessieren
ihn weniger die Probleme der zwischenliterarischen Beziehungen
(„comparative literature“) als die Prinzipien von Poetik und Historik, die
er „general literature“ nennt; vor allem die Poetik wird hier zum Hauptgebiet
der Weltliteraturwissenschaft. Dem gegenüber scheint uns die prinzipielle
Trennung von Poetik und Weltliteraturwissenschaft, wie wir sie
im Vorstehenden durchgeführt haben, richtiger und klarer zu sein; Weltliteratur
ist für uns eine dynamische, geschichtliche Größe, im Gegensatz zu

1
Albert Guérard, Preface to World Literature. New York 1940.
|#f0159 : 153|

dem Phänomen der Dichtung an sich, wie es die Poetik studiert. Sie erscheint
damit hier als Gegenstand der Literarhistorie; ihre zwei wichtigsten
Konzeptionen sollen im Folgenden umrissen werden.


b) Weltliteratur und vergleichende Literaturwissenschaft

Was kann „europäische Literatur“, „Weltliteratur“ bedeuten? Zwei gegensätzliche,
aber gleich oberflächliche Möglichkeiten der Auffassung bestehen
zunächst darin, sie entweder als Summe aller nationalen Einzelliteraturen
zu nehmen oder in ihr die engste Auswahl der ganz großen, der zeitlosen
weltliterarischen Klassiker zu sehen. Jene additive Methode beherrscht die
der reinen Stoffvermittlung dienenden Handbücher, besonders wo es darum
geht, eine Mehrzahl von Darstellungen von verschiedenen Bearbeitern durch
„Buchbindersynthese“ zu einer Geschichte der Weltliteratur zu vereinigen.
Eppelsheimers1 bewährtes Handbuch befriedigt insofern höhere Ansprüche,
als es bei aller Beschränkung auf Sammlung und Ordnung des Materials
und auf einen praktischen Zweck klug und umsichtig wählt und in ausgezeichneten
Stichworten charakterisiert, und als es die abendländischen
Literaturen nach den gemeinsamen Epochen ordnet, also die Einheit des
literarischen Europa in der Abfolge seiner Stile darzustellen versucht.
Shipleys Enzyklopädie2 ist dagegen eine bloße Sammlung alphabetisch
geordneter Abhandlungen über die verschiedenen Literaturen und von
kleinen biographischen Artikeln.


  Es gibt aber auch die Konzeption der Weltliteratur als des Pantheons
der „großen“ Werke und Dichter, die über ihre Zeit und ihren Raum hinausragen
und sich in der menschlichen Allgemeingültigkeit über alle Entfernungen
die Hand reichen, ja sich erst gegenseitig erläutern. „Nur wer Hafis
liebt und kennt, weiß was Calderon gesungen.“ So sind auch moderne Darstellungen
nicht selten, in denen über alle geschichtlichen Bedingungen hinweg
Stifter aus Eckhart, Horaz aus Mallarmé und Aristophanes aus Heinrich
Heine erläutert werden. In großem Stil, in bewußt dichterischer Vogelschau
faßt auch der ungarische Schriftsteller Michael Babits die „Weltliteratur
als die Literatur des Menschen als solchen“, in „aristokratischem Begriff“,
und sucht in ihr „die gemeinsame Währung des Geistes“, immer bestrebt,
durch die überraschendsten Querverbindungen diese Geschichtslosigkeit zu

1
Hanns W. Eppelsheimer, Handbuch der Weltliteratur. 2. Auflage. Frankfurt
a. M. 1947 und 1950.
2
Encyclopedia of Literature. Edited by Joseph T. Shipley. 2 vols. New York
1946.
|#f0160 : 154|

erzielen (auch wenn die Gesamtdisposition auf die zeitliche Ordnung nicht
verzichten kann). Es ist nicht schwer und wurde schon oben in bezug auf
Croce und Mahrholz versucht, die Fragwürdigkeit dieses Begriffs der
„Überzeitlichkeit“ der Dichtung zu zeigen. Es ist offensichtlich unzulässig,
den geschichtlichen Wandel in der Bewertung gerade großer Geister zu übersehen
und Geschichte nur als Oberflächenerscheinung zu fassen. Bleibt jene
summierende Methode in ihrer Stofflichkeit diesseits der Geschichte, so
wird sie hier übersprungen. Praktisch werden allerdings die Versuche, in
einheitlicher Darstellung eine Synthese der europäischen oder universalen
Literaturgeschichte zu geben, schlechte und rechte Kompromisse von persönlicher
Höhenschau und kompilatorischer Chronik sein müssen. Bedenkt man
die schon in der Disposition von Baldenspergers Bibliographie angedeutete
Vieldimensionalität des weltliterarischen Problems und die jedes Bewußtsein
übersteigende Breite und Tiefe des Gegenstandes, so wird man jeder „Weltliteraturgeschichte“
skeptisch gegenübertreten. Wenn solche Werke heute in
größerer Zahl erscheinen, so wird man sie als zwar notwendige, aber auch
notwendig beschränkte und methodisch wenig ergiebige Versuche gelten
lassen müssen. Wir beschränken uns darauf, unten einige Beispiele anzuführen1.



  Innerhalb der methodisch uneinheitlichen weltliterarischen Forschung
tritt nun seit langem eine der historischen Schule verpflichtete Richtung
mit bestimmter Zielsetzung hervor. Die „vergleichende Literaturwissenschaft“,
der „Komparatismus“ ist zwar
mindestens unter diesem Titel in Deutschland wenig eingebürgert, trotz der
schon früh begründeten Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte
Max Kochs. Frankreich und auch die Schweiz haben hier eine stärkere
Tradition (Louis P. Betz, Ferdinand Baldensperger, Paul van Tieg-
hem, Fritz Ernst). Und vor allem in den Vereinigten Staaten findet heute
der Komparatismus günstige Voraussetzungen2. Wie der Name schon andeutet,
sind die national ausgeprägten literarischen Traditionen vorausgesetzt;
weniger die Einheit der Erscheinungen als die zwischen den Literaturen
waltenden Verhältnisse und Einflüsse werden studiert. In diesem

1
Michael Babits, Geschichte der europäischen Literatur. Aus dem Ungarischen.
Zürich-Wien 1949. ─ Robert Lavalette, Literaturgeschichte der Welt. Zürich 1948. ─
Laurie Magnus, A History of European Literature. London 1945. ─ Paul van
Tieghem, Histoire littéraire de l'Europe et de l'Amérique de la Renaissance à nos
jours. 2e édition Paris 1946. ─ Nicolas Ségur, Histoire de la littérature européenne.
5 vols. Neuchâtel-Paris 1948 ff.
2
Werner P. Friederich, Comparative Literature in the United States. (Actes
du 4e Congrès international d'histoire littérare moderne, Paris 1948, 45 ff.) ─
Vgl. Forschungsprobleme der vergleichenden Literaturgeschichte. Herausgegeben von
Kurt Wais. Tübingen 1951.
|#f0161 : 155|

Sinne unterscheidet van Tieghem1, der Verfasser zahlreicher prinzipieller
oder angewandter Darstellungen komparatistischer Methode, diese littérature
comparée von einer littérature générale, wie es ähnlich auch Albert
Guérard2 tut. van Tieghems Répertoire chronologique3 gibt eine Art
Koordinatennetz in Form der Zusammenstellung der in jedem Jahr erschienenen
wichtigsten Dichtungen als Grundlage des von der Forschung
zu errichtenden Beziehungssystems. Es handelt sich im wesentlichen um
ein durch zahllose Einzeluntersuchungen aufzudeckendes Spiel von „émetteurs,
récepteurs, transmetteurs“, aus welchem eine allfällige höhere Einheit
erst hervorgeht. Es ist hier auch Platz für ein Vergleichen, das nicht
Kausalbeziehungen, sondern die Verschiedenartigkeit der stilistischen Physiognomie
an geeigneten Gegenstücken herausarbeitet. So kann etwa im
Bereich der höfischen Dichtung des Mittelalters die deutsche Bearbeitung
und das französische Vorbild verglichen werden4, wobei dann allerdings
unter Umständen nicht das europäische, sondern das nationalistische Interesse
wieder überwiegt. Vergleichende Literaturwissenschaft kann die verschiedenen
Einzelaspekte betreffen, d. h. motivisch-stoffliche, formale, gedankliche
Beziehungen herausarbeiten. Sie kann auch dem europäischen
Beziehungsfeld eines Werkes, einer dichterischen Persönlichkeit5, eines Landes6
nach allen Seiten gelten. Wir bewegen uns hier meist im Feld von Vorarbeiten,
Beiträgen, Spezialuntersuchungen, die in verschiedenster Weise für
ein weiteres Gesamtbild verwertbar sind. Bewußtsein und Wille des „Europäismus“
findet aber seinen lebendigsten Ausdruck in einer allseitig Beziehung
schaffenden Kunst des Essays, wie sie aus schweizerischer Tradition
heraus wohl Fritz Ernst7 am schönsten und fruchtbarsten pflegt; methodisch
1
Paul van Tieghem, La littérature comparée (1931) 3e édition Paris 1946.
2
Albert Guérard, Preface to World Literature. New York 1940.
3
Répertoire chronologique des littératures modernes, publié par la Commission
Internationale d'Histoire littéraire moderne sous la direction de Paul van Tieghem.
Paris 1937.
4
K. H. Halbach, Franzosentum und Deutschtum in höfischer Dichtung des
Staufenzeitalters. Berlin 1939. ─ Elisabeth Köchlin, Wesenszüge des deutschen und
des französischen Volksmärchens. (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
4.)
Basel 1945. ─ Bodo Mergell, Wolfram von Eschenbach und seine französischen
Quellen.
2 Bände. Münster i. W. 1936 und 1943.
5
Ein bedeutendes Beispiel etwa Werner P. Friederich, Dantes Fame abroad
1350─1850. Roma 1950.
6
H. Tiemann, Das spanische Schrifttum in Deutschland von der Renaissance
bis zur Romantik. (Ibero-Amerikanische Studien 6) Hamburg 1936.
7
Fritz Ernst, Essays. 3 Bände. Zürich 1946. ─ Ders., Helvetia mediatrix.
2. Auflage. Zürich 1945.
|#f0162 : 156|

orientiert sich Ernst am konkret untersuchbaren Thema der Übersetzung
(von Einzelwerken oder von ganzen Zeitaltern in andere); das
komparatistische Problem des „Zusammenlebens von Sprachen und Literaturen“
und dabei des „Aufgehens einer Vielheitlichkeit in eine Einheit“ stellt
sich dann in konzentrischen Kreisen dar, die für den schweizerischen Betrachter
Helvetismus, Europäismus, Kosmopolitismus heißen1 und an
Themata wie „Wilhelm Tell“ oder „Heimweh“ durchmessen werden
können2.


  Das Problem einer umgreifenden Einheit der europäischen oder mondialen
Literatur wird aber am aktuellsten dort, wo diese nicht nur als
kosmopolitisches Gespräch und gemeinsame Geisterluft erscheint, sondern
wo nach ihrer eigentlichen Substanz, nach einer dauernden Einheit ihres
Ausdruckssystems gefragt wird. Gibt es die substantielle Geschichte einer
einen und unteilbaren europäischen Literatur? Hier macht das monumentale
Buch von Ernst Robert Curtius einen entscheidenden Vorstoß, der nicht
nur für das Problem einer europäischen Literatur Neuland eröffnet, sondern
zugleich die Methoden bisheriger Forschung in Frage stellt.


c) Die Einheit der literarischen Tradition

„Die moderne Literaturwissenschaft ─ d. h. die der letzten fünfzig Jahre ─
ist ein Phantom“, so lautet die Ausgangsthese des Werks von Ernst Robert
Curtius3, das seine volle Bedeutung in der Tat nur auf dem Hintergrund
der Methodenkrisen dieser Wissenschaft gewinnt. Mit unverblümtem Hohn
wird der bisherigen Literaturwissenschaft die Gefolgschaft aufgekündigt,
und zwar allen Richtungen. Die „Wesensschau“ der Stilkritik, die „dilettantische
Vernebelung von Sachverhalten“ durch die fragwürdigen Anleihen
bei der Kunstwissenschaft, der Konstruktivismus der bei der Philosophie in
die Schule gehenden „Geistesgeschichte“, die Inspiration bei der Soziologie
oder Psychologie ─ alles wird abgelehnt, um der Literaturhistorie ihren
legitimen Gegenstand, d. h. die europäische Literatur, wiederzugeben und
diesen mit einer „exakten“, „philologischen“ und dem eigenen Wesen der
Literatur adäquaten Methode zu bestimmen. Diese europäische Li-

1
Fritz Ernst, One World. „Hesperia“ 2 (1950).
2
Fritz Ernst, Wilhelm Tell, Blätter aus seiner Ruhmesgeschichte. Zürich 1936. ─
Vom Heimweh. Zürich 1949.
3
Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern
1948. ─ Für die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts kommen hinzu: Kritische
Essays zur europäischen Literatur. Bern 1950.
|#f0163 : 157|

teratur ist nicht einfach die Summe der nationalen Literaturen, sie ist
auch nicht die virtuelle, über den nationalen Literaturen schwebende Idee
Europas, wie sie die vergleichende Literaturwissenschaft als Gespräch und
Beziehung zwischen den verschiedenen nationalen Ausprägungen verfolgt,
sie ist vielmehr die eine und konkrete, exakt nachweisbare Einheit, ein wirklicher
literarischer „Geschichtskörper“. Europäische Literatur tritt damit
stärker als bisher als fest umrissener Gegenstand der vagen Gesamtheit der
„Weltliteratur“ gegenüber. Es ist die von Homer bis Hofmannsthal real und
ausschließlich gesprochene künstlerische Sprache, deren bestimmtes symbolisches
Zeichensystem Curtius aufzuzeigen versucht. Den Schlüssel zu diesem
traditionellen Ausdruckssystem findet er nun in der mittellateinischen Literatur,
in der wie in einem Sammelbecken die antike Tradition zusammenkommt
und aus der dann, neben erneuten direkten Zuflüssen aus der Antike,
die abendländischen Literaturen bis zur neueren Zeit hinab gespeist werden.
Diese durchgehende antik-abendländische Konstanz aber läßt sich nun
nach Curtius „exakt“ bestimmen und verfolgen.


  Das zusammenhängende Ausdruckssystem stellt eine künstlerische Grammatik
aus Formen und Formeln dar und bildet den unentbehrlichen Anhalt,
an dem sich poetische Substanz erst kristallisieren kann. Curtius entwickelt
dieses Formelbuch als eine Art Rhetorica nova ─ er sammelt einen bestimmten
Bestand rhetorischer Form- und Motivelemente, sog. Topoi (z. B.
die Typik des Helden und Herrschers oder des Naturbildes, die Schauspiel-
oder die Buchmetapher, die Devotions-, Exordial- und Schlußtopik des
literarischen Werks). Es gibt dabei keinen Unterschied zwischen vornehmen
und verächtlichen Traditionselementen, denn sie gehören alle zum System.
Die Tradition dieser Formen ist nun auf verschiedene Weise gewährleistet.
Am wichtigsten ist die Bindung an das Bildungswesen, wie es vor allem in
der mittelalterlichen Schule mit ihrem eigentümlichen Unterricht in der
literarischen Kunst zu verfolgen ist; es gibt die bloße Nachahmung und die
produktive Weiterbildung; es gibt die revoltierende Auseinandersetzung
oder ein apathisches Verhalten; es gibt den unmittelbaren Anschluß oder
das Rückgreifen auf entlegene Bestände zurückliegender Jahrhunderte.
Curtius wirft so den Gedanken einer „Morphologie der Tradition“ als Forschungsaufgabe
auf. Je nach der Differenzierung der Traditionsart ergeben
sich Gliederungen des literaturgeschichtlichen Zusammenhangs.


  Es ist eine großartige Lektion, die Curtius damit einer neuen Literarhistorie
auf den Weg gibt. Die Frage ist, wie weit sie wirklich trägt. Zwei
Punkte bedürfen der Diskussion: erstens das Problem des „Schöpferischen“,
Ursprünglichen und seines Eingreifens in den Traditionszusammenhang und
zweitens die Frage, ob dieser Traditionszusammenhang materiell ausreichend
bestimmt ist.

|#f0164 : 158|

  Auch Curtius betont, am deutlichsten bei der Betrachtung Dantes, daß
„nur die schöpferischen Geister zählen“, ja man ist verwundert, wenn vom
Petrarkismus, einer beherrschenden Sprache abendländischer Lyrik, zweimal
gesagt wird, sie habe sich „wie eine Pest“ durch Europa ausgebreitet. In
einem Schlußkapitel über „Nachahmung und Schöpfung“ wird der einzige
Pseudo-Longin gegen zwei Jahrtausende herrschender Nachahmungslehre
ausgespielt. Curtius scheint also seine exakte, topologische Literarhistorie zu
beschränken auf die Darstellung des Zettels der Tradition, der erst zusammen
mit dem schöpferischen Einschlag zum Gewebe der Literatur würde.
Das wird in der polemischen Haltung Curtius' weitgehend wieder verdrängt,
denn es wäre damit zugegeben, daß es vielleicht noch mehr als auf
die Konstanz des Topos auf die je aus eigener Mitte lebende, ursprüngliche
Kraft ankommt. Nicht nur insofern, als die europäische Literaturgeschichte
nicht aus der mittellateinischen Literatur abgeleitet werden kann, diese vielmehr
nur ein Element der Auseinandersetzung mit andern Welten ist, sondern
vor allem insofern, als es bei jeder einzelnen künstlerischen Äußerung
die Ursprungsfrage neu zu stellen gilt: der Topos ist nichts Konstantes,
sondern hat in jedem Werk wieder anderen Stellenwert, geht in ein Neues
und Ursprüngliches ein. Mit den Ausdruckskonstanten sind weder die Werke
allein noch die Literaturen genügend bestimmt; so wirken auch die Sammlungen
von Curtius oft als etwas äußerliche Zusammenstellungen.


  Es sind zwar nicht alles nur Topoi, worauf Curtius sein Augenmerk
richtet: die Grenze zum Motiv, zur allgemeinen Vorstellungswelt, zur Stiltypologie
ist fließend, ja es werden selbst die Jungschen Archetypen herangezogen.
So ist anzunehmen, daß ein literaturgeschichtlicher Zusammenhang,
auch im bloßen Sinn der „Konstanten“, vielleicht nicht in erster Linie nur
die Topen betrifft, sondern an sich von jedem Element der poetischen Struktur
aus verfolgt werden kann und muß. Es macht ja das komplizierte und
komplexe Wesen jedes literaturgeschichtlichen Verlaufes aus, daß wir hier
nicht nur ganze Werke in historische Reihen ordnen, sondern daß es die Geschichte
auch der einzelnen Aspekte gibt: Versgeschichte, Problemgeschichte,
Artgeschichte usw. Die Kurven, die von der Geschichte dieser einzelnen
Aspekte beschrieben werden, brauchen durchaus nicht analog zu sein, sie
können voneinander abweichen, verschiedene Wellenlängen haben, Spannungen,
Interferenzen aller Art aufweisen ─ auch wenn es das Ziel der
umfassenden Literaturgeschichte bleiben wird, die Kurven aufeinander zu
beziehen und zu integrieren.


  Das zeigt sich ganz besonders, wo die auffälligen Konstanten einer europäischen
Literatur mit den individuell-variierenden Ausprägungen der nationalen
Literaturen
zusammenzusehen sind. Der Satz „durch die
Romania und ihre Ausstrahlungen hat das Abendland die lateinische Schulung |#f0165 : 159|

empfangen“ kann jedenfalls Zusammenhang und Gegenspiel der Nationalliteraturen
nicht erschöpfend charakterisieren. So wie es innerhalb des
Mittellateinischen biblisch-christliche Konstanten gibt, die bei Curtius neben
den antiken wohl etwas zu kurz kommen, muß es auch von Anfang an die
nationalsprachlichen geben. Die germanischen Literaturen erscheinen bei
Curtius nur in ihrer Abhängigkeit vom Romanisch-Lateinischen, die Germanistik
nur im polemischen Zusammenhang. Nationalsprachlich mindestens
teilweise bedingte gemeineuropäische Welten wie die der höfischritterlichen
Literatur sind vom Mittellatein aus kaum verstehbar. Geschichtsschreibung
bedeutet auch im Zusammenhang der europäischen Literatur ein
Zusammensehen von Konstanz und Wechsel, ein Achten auf den wechselnden
Stellenwert der Konstanten, ein Sehen der dramatischen Auseinandersetzungen
und immer neuen Kombinationen der unter sich oft antagonistischen
Traditionen oder individuellen Schöpfungen: vor allem im Hinblick auf
die Spannung zwischen christlicher und antiker, zwischen universaler und
nationaler Welt. Es genügt z. B. nicht, im Nibelungenlied französische Quellen
zu entdecken und es damit ans Romanisch-Mittellateinische anzuschließen;
die Tradition des germanischen Heldenliedes ist selber als Mit- oder
Gegenwirkung zum europäischen Geschehen einzusetzen. Das richtet sich
freilich weniger gegen Curtius, dessen Interessen topologisch und bewußt
einseitig sind, als gegen falsche Konsequenzen, die seine Darstellung gelegentlich
nahelegt.


  Es ist das große Verdienst dieses monumentalen Werkes, daß die Frage
der literarischen Tradition und ihrer Formen als Kernproblem jeder
Historik der Literatur wieder gestellt worden ist. Im ganzen kann dieses
Traditionsgeschehen auch aufgefaßt werden als eine beständige Modifikation
der Welt der Dichtung und ihres Selbstverständnisses überhaupt (so spricht
C. Brooks in seiner Untersuchung moderner Lyrik1 nach ihrem Verhältnis
zur Tradition von der „total conception of poetry“, die durch jeden Dichter
mehr oder weniger geändert wird, in oberflächlicheren oder grundlegenden
Verschiebungen).


  So wird die Synthese einer europäischen Traditionseinheit alle Ebenen
und alle Aspekte berücksichtigen müssen. Dabei kann unter Umständen auch
des Vorgehen nationaler Literaturwissenschaften Anregungen geben. Wir
denken etwa an Andreas Heuslers2 methodisch glänzende Darstellung
der germanischen Literatur mit ihrer Unterscheidung von Urgermanischem
(zeitlich und ursprünglich Gemeinsames), Gemeingermanischem (auch
nachträglich Gemeinsames) und Altgermanischem (gegenüber antiker oder

1
Cleanth Brooks, Modern Poetry and the Tradition. London 1948.
2
Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung. 2. Ausgabe. Potsdam 1941.
|#f0166 : 160|

christlicher Literatur); was Heusler unter diesem letzten und weitesten
Begriff durch die Abgrenzung von bestimmten Form- und Gattungsgeschlechtern
darstellt, ist nur noch in einem Kern die Literatur eines sozial und zeitlich
zusammenhängenden Trägers. Analog könnte man einen ureuropäischen
Kern, eine gemeineuropäische Literatur als nachträglich sich in Europa entwickelnden
Zusammenhang (d. i. der Gegenstand des Komparatismus) und
eine alteuropäische Literatur als Gesamtheit der auch unter sich u. U. nicht
verbundenen, aber aus gemeinsamem Geist erwachsenen Literatur unterscheiden.



  Das Ureuropäische ließe sich letzten Endes noch in die Vorgeschichte
zurückverfolgen, so wie es Baesecke1 ─ kaum im Sinne des nur
den geprägten Formgebilden zugewandten Andreas Heusler ─ für das Germanische
getan hat. Ein erstaunliches Material zu der Vor- und Frühgeschichte
nicht nur der europäischen Literatur (im ersten Band), sondern der Literatur
überhaupt hat das Ehepaar Chadwick2 in seinem imposanten Werk zusammengetragen,
um das Wachstum literarischer Urformen im Zusammenhang
primitiver Kultur vergleichend deutlich zu machen. Doch bleibt es im
wesentlichen bei der Feststellung bestimmter Typen der mündlichen Literatur.
Aber es ist ja kaum die Reduktion auf die Volkskunde, die uns hier
interessiert, Europa und seine Literatur sind eminent geschichtliche Größen.
Ein Letztes wird, wie das ja auch bei Curtius deutlich wird, immer die
Auseinandersetzung antiker, christlicher und nationaler Erbschaften bleiben.


  In diesem Sinne können auch als Ergänzung zu Curtius die beiden schon
genannten Werke Bezzolas (vgl. S. 148) und Auerbachs (vgl. S. 65 f.)
gelten. Auch Bezzolas großangelegte Darstellung der höfischen Tradition
des Mittelalters verfolgt eine Konstante, versucht eine Brücke von der Antike
zu der ersten „abendländischen“, nationalsprachlichen Literaturblüte des
Hochmittelalters zu schlagen. Aber es geschieht im Nachweis zugleich der
inneren Dialektik zwischen antiken und christlichen, geistlichen und feudalen
Kräften, wie sie zu immer neuen Lösungen und Synthesen führt. Auch
Bezzolas historisch-soziologisch orientierte Längsschnitte erfassen nicht die
gesamte Literatur, aber sie ebnen das literarische Leben auch nicht ein auf
ein konstantes System. Auerbach lehnt es zwar ab, eine Literaturgeschichte
zu schreiben, aber die chronologische Reihung seiner synchronistischen Interpretationen
und ihre Unterordnung unter gleichbleidende Gesichtspunkte ergeben
doch eine geschichtliche Sukzession. Die stilkritische Methode bringt

1
Georg Baesecke, Vor- und Frühgeschichte des deutschen Schrifttums. I. Halle
1940.
2
H. M. and N. K. Chadwick, The Growth of Literature. 3 vols. Cambridge
1932─1940.
|#f0167 : 161|

es höchstens mit sich, daß die Grundthese ─ der Gegensatz antik stiltrennender
und christlich stilmischender Traditionen in der dichterischen
Begegnung mit der „Wirklichkeit“ ─ in ihrer Allgemeinheit formelhaft und
unbestimmt bleiben muß, d. h. solang sie nicht kontinuierlich im geschichtlichen
Verlauf verfolgt wird.


  In den zuletzt besprochenen Werken wird jedenfalls deutlich, daß in einer
neuen Konzeption und Anwendung des historischen Gedankens ein eigentliches
Gebot der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Situation liegt.
Freilich: eine europäische Literaturgeschichte auf breiter Front und in vollständiger,
geschlossener Sicht zu schreiben, wird sich heute kaum jemand
vermessen dürfen. Doch kommt es nicht auf äußere Fülle und Vollständigkeit
an. Eine europäische Literarhistorie wird sich nicht durch umfassende,
abgeschlossene Resultate legitimieren müssen, sondern durch die Einheit,
Entschiedenheit und Beweglichkeit ihres Bewußtseins.


  Das gilt für die im Vorstehenden geschilderte Arbeit der Allgemeinen
Literaturwissenschaft überhaupt: die Synthese liegt nicht im Summieren und
Systematisieren einer fast uferlosen Masse von Gesichtspunkten und Erkenntnissen,
sondern in einer Gesinnung, die das dichterisch Menschliche als
Erbe und als Ursprung festhält und damit in jedem Einzelnen, das sie ergreift,
ein Ganzes faßt.

|#f0168 : E162|
|#f0169 : 163|

REGISTER

I. SACHEN


[Beginn Spaltensatz]

Aesthetik 41 ff.


Alexandriner 100


Archetypus (Text) 34 f.


Archetypus (psychol.) 122 f.


„Aspekte“ 48, 56, 71 f.,
93 ff., 145


Ausdruck 52, 58, 69


Ballade 79


Barock 44, 139, 141, 144 f.


Bibliographie 7 f., 29, 151 f.


Bild 103, 122 f.


Biographie s. Dichter


Chronologie 134, 136, 155,
160


Criticism, new 22


Dichter, Dichterbiographie
31, 114 ff., 135


Distichon 79


Drama, Dramatik 74 ff.,
84 ff.


Editionstechnik 33 ff.


Einbildungskraft, Phantasie
11, 17, 44 f., 62, 101 f.


Elegie 79 f.


Epik 75 f., 80 ff.


Epoche s. Periodisierung


Epos 81


Erlebnis 13, 29, 40, 42 f.,
114


Erzählung 74 f., 84


Essai 150, 155 f.


Europäische Literatur 24,
65 f., 150 ff.


Existentialismus 10 ff.,
16 ff., 20 f., 133, 137


Existenz 61, 70, 117 f., 133


Expressionismus 11 f., 14


„Fabel“, Geschehen, Vorgang
83, 102 f.


Figuren 102


Form 59 f., 66 f., 93 f., 137
innere 74


Ganzheit 54 f., 57, 67 ff.


Gattung, Art, Klasse, Genre
(vgl. Typologie) 64, 71 ff.,
145 f.

[Spaltenumbruch]

Gedanke (Sinn, Problem)
64 f., 106 f.


Geistesgeschichte 13 f., 24 ff.,
40, 51, 132, 147 ff.


Generation s. Periodisierung


Gesellschaft 92, 126 f., 135


Gestalt 67 ff., 93 f., 138


Größe 109 ff.


Handschriftenstammbaum
34 ff.


Historie (Literarhistorie, Geschichtlichkeit)
4, 24 f., 77,
105, 113, 115, 132 ff.


Humor 87 ff., 92 ff.


Hymnus 79


Idee (vgl. Gedanke) 94 f.,
106, 114


Idealismus 9 f., 13 f.


Individualität 64 f.


Inhalt 54, 59 f., 93 f.


Innerlichkeit 78


Klassik 142


Komik, Komödie 85 ff., 91 ff.


Komparatismus 151 ff.


Kritik 22 f., 27 ff., 109, 129,
150


Kulturphilosophie 124 ff.


Kunstgeschichte 15, 43 f., 58,
143 f.


Kunstpsychologie 43


Kunstwissenschaft, vergleichende
Geschichte der
Künste 43 ff., 143 f.


Laut, Lautsymbolik 48, 95 ff.


Lebenswissenschaft 11, 20


Lexika 28 ff., 151


Lied, 75, 78 f.


Literatur, „Pseudoliteratur“
45, 51 f., 115, 133, 135 f.


Literaturgeschichte s. Historie



Literaturwissenschaft


Allgemeine 4


allgemeine Entwicklung
9 ff.


angelsächsische 21 ff.,
27 ff.


existentielle 14, 18, 20 f.


französische 23

[Spaltenumbruch]

italienische 23


„volkhafte“ 18 ff., 120 f.


Gliederung 24 f.


Geschichte der Lw. 26,
30 ff.


Systematik der Lw. 25 ff.


Lw. und moderne Dichtung
11 ff.


Lyrik 61, 75 f., 77 ff., 96,
159


Märchen 65, 81, 83


Marxismus 14, 129 ff.


Metapher 103 f.


Methodologie 5, 25, 161


Metrik s. Vers


Mimus 85


Mittelalter 32, 36, 63 f., 85,
143


Morphologie (vgl. Gestalt)
16, 66 ff., 157


Motiv 104 f., 146 f.


Mystik 36, 111, 118, 148


Mythus 15, 84, 123


Nachahmung 66, 158


Nationalliteratur 24, 139,
149 ff., 155 ff.


Nihilismus 10, 12 f.


Novelle 82, 84


Ode 78 f.


Originalität 112 f., 157 f.


Periodisierung 139 ff.


Personalstil 116


Perspektive 43, 63 f.


Phänomenologie 10 f., 16


Philologie (vgl. Textkritik)
30 f.


Phonologie 95


Physiognomik 11


Poesie, absolute 12


Poetik 25 ff., 31 f., 40 ff.,
152 f.


Problem, Problemgeschichte
(vgl. Gedanke) 64 f.


Prosa (und Poesie) 51 ff.,
98 ff.


Psychoanalyse, Psychologie
s. Tiefenpsychologie


Publikum 127 f.

[Ende Spaltensatz] |#f0170 : 164|

[Beginn Spaltensatz]

Quelle 105, 146


Raum 63 f.


Reim 99


Relativismus 13 f., 55 f.,
110


Religion und Dichtung 66,
92, 111 f.


Rhetorik 53, 157 f.


Rhythmen, freie 98 f.


Rhythmus 96 f., 100 f.


Roman 82 ff., 87, 93, 130


Romantik 26, 44, 123


Rußland 28


Sage 81


Schallanalyse 48, 96


Schönheit, das Schöne 41 f.,
110 ff.


Seelengeschichte 148 f.


Semantik 47 f., 51 f.


Sequenz 80


Sinneswelt 101


Soziologie der Literatur
123 ff.


Spiel 85 f., 126


Sprache, Sprachstil, Sprachstilistik
45 ff., 58


Sprachpsychologie 46 f.


Sprachsoziologie 124

[Spaltenumbruch]

Sprachstatistik 49 f.


Sprachwissenschaft 15,
45 ff.


Spruchdichtung 79


Stammesgeschichte 19, 150


Stil 42, 55, 57 ff., 115,
135 f.


Stilgeschichte 136 ff.


Stilkritik 16 f., 53 ff.,
57 ff., 111


Stilmischung 66, 82, 110,
112


Stimmung 61


Stoff 104, 146 f.


Symbol 47 f., 69 ff., 94,
105, 121 ff., 125


Synaesthesie 101


Syntax 49 ff.


Textkritik 33 ff.


Theater 85


Tiefenpsychologie 10, 14,
71, 115, 119 ff.


Topos, Topik 104, 147,
157 ff.


Totenkult 12, 125


Tradition 24, 77, 135,
156 ff.


Tragik, Tragödie 85 ff.
tragische Literaturgeschichte
119


Trauerspiel 90

[Spaltenumbruch]

Typologie, Typen
(vgl. Gattung) 15, 62 ff.,
66, 71 ff., 100 f., 121,
138, 141 f.


Vers (gebundene Form)
53, 97 ff.


Versgeschichte 146


Verstehen 60 f.


Volkskunde 120, 125, 128


Volkslied 37, 128


Vorgang s. „Fabel“


Vorstellungswelt 101 ff.


Welt 59 f., 62 ff., 148


Weltanschauung (vgl. Gedanke)
106 f., 109


Weltliteratur 24, 29 f., 144,
150 ff.


Werk (dichterisches Kunstwerk,
Werkinterpretation)
42 f., 48, 53 ff.,
59 ff.


Werkgeschichte 37 ff.


Wert, Wertung 52, 76,
107 ff., 142


Wirklichkeit 65 f.


Wirtschaftsgeschichte 127


Wort, Wortschatz, Wortfeld
49 f.


Zeit 61 ff., 75 f., 133 ff.


Zeitschriften 8, 21, 54, 151


Zyklus in der Lyrik 80.

[Ende Spaltensatz] |#f0171 : 165|

II. NAMEN


[Beginn Spaltensatz]

Ackerknecht, E. 55


Aeschylus 85, 130


Alewyn, R. 21, 139


Anton Ulrich v. Braunschweig
102


Aristophanes 153


Aristoteles 88


Auerbach, E. 21, 54 f., 65 f.,
82, 110, 112, 127, 160


Augstein, K. 12


Babits, M. 153 f.


Bachelard, G. 17, 23, 63,
101 f.


Baden, H. J. 90


Baesecke, G. 160


Baier, C. 7


Baker, H. 90


Baldensperger, F. 7, 151,
154


Bally, Ch. 15, 46


Baumgart, W. 147


Beall, Ch. C. 151


Beausire, P. 12


Beck, M. 143


Behrens, I. 73


Beißner, F. 38 f., 79, 97,
100


Bennet, E. K. 84


Benz, R. 44, 144


Berger, B. 83


Berger, K. 44


Beriger, L. 53, 70, 107 f.


Bergson, H. 41, 92


Berkenkopf, G. 92


Bertoni, G. 47


Bertram, E. 15


Betz, L. P. 154


Bezzola, R. R. 148, 160


Blackall, E. A. 23


Böckmann, P. 31, 74 f.,
115, 137 f., 145


Bodkin, M. 120


Bodmer, M. 151


Boesch, B. 32, 145


Boeschenstein, H. 22


Bollnow, O. F. 13, 60 f.,
137


Boor, H. de 148


Borcherdt, H. H. 83


Brändle, J. 78


Brendle, E. 90


Brentano, B. v. 117


Brentano, C. 33, 62


Brinkmann, D. 42

[Spaltenumbruch]

Brinkmann, H. 32


Brock, E. 17, 48


Brod, M. 37


Brooks, C. 159


Bruford, W. 127


Brüggemann, F. 120, 128


Brunner, O. 127


Burckhardt, J. 117


Burger, H. O. 54, 78


Burke, K. 125


Busch, E. 90


Busse, G. v. 19


Büttner, L. 121


Cassirer, E. 15


Castle, E. 80


Caudwell, Chr. 128, 130 f.


Cazamian, L. 69, 93


Cervantes 93


Chadwick, H. M. und N. K.
160


Chiavacci, G. 41


Chicoteau, M. 151


Clark, A. M. 99


Clemen, W. 104


Closs, A. 99


Corneille, P. 88


Courthope, W. J. 126


Croce, B. 23, 40 f., 47, 52,
58, 73, 133, 154


Curtius, E. R. 14 f., 32, 73,
104, 139, 142, 144,
147 ff., 156 ff.


Cysarz, H. 20, 52, 126, 139


Daiches, D. 28, 127


Dante 106, 111, 143, 147 f.,
155, 158


Darwin, Ch. 22


Dehn, F. 20


Dessoir, M. 43


Dietrich, M. 151


Dilthey, W. 13 ff., 40, 60,
132, 137


Donohue, J. J. 73


Dragomirescu, M. 133


Dünninger, J. 31


Duval, M. 41


Ebisch, W. 127


Eckhart, Meister 36, 153


Ehrismann, G. 148


Eichendorff, J. v. 101


Eliot, T. S. 107, 111, 136


Elster, E. 25

[Spaltenumbruch]

Empson, W. 47


Emrich, W. 70, 105, 134,
138, 147


Engels, F. 130


Eppelsheimer, H. W. 7, 144,
153


Erbeling, E. 102


Ermatinger, E. 13, 16, 26,
44, 66 f., 69, 73, 87, 108,
114 f.


Ernst, F. 154 ff.


Ertle, M. 22


Erxleben, W. 13


Estève, C.-L. 12


Faesi, R. 83


Fairley, B. 23


Faral, E. 32


Fechter, W. 127


Fenz, E. 48


Ferré, A. 146


Fife, R. H. 9, 139


Fiser, E. 69


Flaubert, G. 111


Foerster, M. 141


Foerster, N. 22


Forster, E. M. 83


Francke, K. 126


Fränkel, J. 138


Frauwallner, K. 151


Frazer, J. G. 22, 125


Freud, S. 22, 121 f.


Frey, J. R. 82


Fricke, G. 20, 90, 104, 148


Friederich, W. P. 7, 151 f.,
154 f.


Frings, Th. 128


Gaitanides, H. 49


Gebser, J. 43, 63


George, St. 15, 114, 116,
133


Gerson, J. 50


Geßner, S. 99


Getto, G. 23, 31


Giebisch, H. 151


Giedion, S. 63


Giraud, V. 115


Glunz, H. H. 32


Goethe, J. W. v. 33, 37, 49,
54, 62, 68 f., 73, 78, 90,
93, 105, 107, 109, 115,
117 f., 122, 126 f., 130 f.,
135, 150 f.


Görland, A. 41

[Ende Spaltensatz] |#f0172 : 166|

[Beginn Spaltensatz]

Gotthelf, J. 33, 106, 118,
128


Gove, Ph. B. 83


Greene, Th. M. 45


Greg, W. W. 35


Grimmelshausen, Ch. v. 128


Gryphius, A. 104


Guardini, R. 54


Guérard, A. L. 127, 152,
155


Gumbel, H. 50


Gundolf, F. 13, 15, 122,
130


Günther, J. Ch. 116


Günther, W. 12


Güttinger, F. 84, 92


Haecker, Th. 42, 112


Halbach, K. H. 142, 155


Hamann, J. G. 78


Hankamer, P. 117, 145


Hankiss, J. 102, 150


Harnisch, K. 101


Harsdörffer, G. Ph. 95


Hartl, E. 85


Hartmann von Aue 35


Hartmann, N. 16, 120, 136,
145


Hatfield, H. C. 8


Häusermann, H. W. 22


Hebbel, F. 90


Hederer, E. 111


Hegel, F. W. 10, 140


Heidegger, M. 16 f., 21,
59 ff., 76, 118, 133, 135


Heimeran, E. 128


Heimsoeth, H. 137


Heine, H. 153


Heinitz, W. 96


Heinse, W. 101


Heinzel, E. 151


Helbling, C. 38


Herder, J. G. 46, 58, 78,
101, 150


Hesiod 140, 142


Hesse, H. 12, 72, 120


Heusler, A. 15, 78, 97 f.,
146, 159 f.


Hobbes, Th. 91


Hoffmann, E. Th. A. 101,
123


Hoffmann, F. J. 120


Hofmannsthal, H. v. 19,
157


Hohberg, W. H. v. 127


Hohlfeld, A. R. 49

[Spaltenumbruch]

Hölderlin, F. 12, 16, 33,
38 f., 51, 54, 97, 100 f.,
130


Homer 76, 81, 157


Hoss, K. 121


Horaz 153


Howald, E. 12, 81, 88


Hübscher, A. 144


Huizinga, J. 126


Hyman, St. E. 22, 27 f., 48,
120 f., 125, 129 f.


Jachmann, G. 34


Jacobi J., 122


Jaeger, H. P., 51


Jaffé, A., 123


Janentzky, Chr. 91


Jaspers, K. 134


Ingarden, R. 16, 42, 59, 93 f.


Joel, K. 140


Jones, H. M. 150


Joos, M. 49


Joyce, J. 12, 103, 120


Jung, C. G. 14, 72, 103, 115,
121 ff.


Jünger, E. 10, 46, 95


Jünger, F. G. 92


Kaegi, W. 117


Kafka, F. 12, 37


Kallimachos 34


Kant, I. 63, 67, 72, 91


Kaßner, R. 11, 17


Katz, D. 67


Kayser, W. 7, 21, 34, 46,
54 ff., 79, 86, 94 f., 97 f.,
101 f., 104, 111, 115, 132,
134


Kehr, Ch. 83


Keller, G. 38, 62, 101


Kerenyi, K. 84, 123


Kierkegaard, S. 10, 14, 16 f.


Kindermann, H. 18, 20, 151


Klages, L. 46, 96 f.


Kleist, H. v. 100, 106


Klopstock, F. G. 113


Kluckhohn, P. 86


Knauer, K. 96


Kobel, E. 63


Koch, F. 19 f.


Koch, M. 154


Köchlin, E. 155


Kohler, P. 73


Kohlschmidt, W. 49


Kolbenheyer, E. G. 19


Kommerell, M. 15 f., 51,
54 f., 60 f., 78, 88, 99

[Spaltenumbruch]

Korff, A. H. 13


Körner, J. 7, 57, 146


Korrodi, El. 83


Kosch, W. 7, 30


Koskimies, R. 82 f.


Krämer, W. 116


Kraus, C. v. 35


Krauß, W. 82


Kromer, H. 109


Kuhn, K. G. 99


Kunze, H. 128


Lachmann, K. 34 f.


Lafontaine, J. de 127


Lange, V. 22


Langenbeck, C. 90


Langenbucher, H. 20


Lavalette, R. 154


Lee, I. J. 47


Lempicki, S. v. 30 f.


Lessing, G. E. 88, 90


Lewis, C. D. 103


Leyen, J. v. d. 81


Linden, W. 20


Lohenstein, D. Casper v. 90


Longinos 158


Lorenz, O. 140


Lüdtke, G. 146


Lugowski, C. 20, 64 f., 102


Lukàcs, G. v. 82, 126, 130 f.


Lunding, E. 14, 16, 18


Luther, A. 146


Lüthi, M. 81, 104


Lützeler, H. 92, 96


Maaß, J. 71, 121


McGalliard, J. C. 22


Maeder, H. 51, 63, 100


Magnus, L. 144, 154


Magny, C.-E. 84


Mahrholz, W. 26, 52, 132,
154


Mallarmé, St. 12, 153


Mann, Th. 12, 83 f., 107,
120, 123, 126


Markwardt, B. 31 f., 42


Marjasch, S. 129


Marouzeau, J. 46


Martini, F. 30 f., 74, 147 f.


Marx, K. 22, 129 f.


Matz, W. 64


Maulnier, Th. 12


Maurer, F. 49, 148


May, K. 54, 105, 133


Medicus, F. 44


Meier, J. 37

[Ende Spaltensatz] |#f0173 : 167|

[Beginn Spaltensatz]

Meng, H. 72


Mergell, B. 155


Merker, P. 28, 146


Merrick, J. 8


Meyer, H. 104


Meyer, P. 138


Milch, W. 144, 151


Millett, F. B. 22, 55


Milton, J. 112


Minnesangs Frühling 35


Molière, J.-B. 92


Morris, Ch. 47


Morrow, Ch. 83


Moser, H. 150


Müller, C. 69


Müller, G. 16, 42, 64, 67 f.,
78 f., 83, 109, 148 f.


Muschg, W. 14, 19, 118 f.,
123, 129


Mustard, H. M. 80


Nadler, J. 14, 19, 121, 136,
150


Nagel, B. 104


Nahm, M. C. 41


Naumann, H. 148


Newald, R. 28, 148


Nickel, O. 19


Nicolai, H. 94


Nietzsche, F. 11, 51, 72


Novalis 12, 51, 76, 99


Nußberger, M. 44


Obenauer, K. J. 20, 94


Oberholzer, O. 151


Ogden, C. K. 47


Olbrich, W. 102


O'Leary, J. H. 22


Olzien, O. H. 51


Opitz, M. 127


Oppel, H. 18, 21, 30, 68,
115 f.


Otto, W. F. 123


Pasquali, G. 34


Paul, O. 98


Peacock, R. 23, 85


Pearson, N. H. 73


Pepper, St. C. 108


Perpeet, W. 16, 41


Peterich, E. 42


Petersen, J. 25 ff., 30, 34, 48,
56 f., 72 f., 75, 87, 94,
106 f., 109, 114 f., 139


Petrarca, F. 158


Petsch, R. 73 f., 78 f., 81 ff.,
96, 101 f., 137

[Spaltenumbruch]

Peuckert, W.-E. 148


Peyre, H. 109, 129, 140 f.


Pfeiffer, A. 89


Pfeiffer, J. 16, 54 f., 61


Pfeiffer, R. 34


Philippson, E. A. 81


Pinder, W. 139


Platon 34 f., 130


Pleßner, H. 87


Plümacher, W. 72


Pollock, Th. C. 51 f.


Pongs, H. 18, 21, 70, 103,
120


Pottle, F. A. 111


Presser, H. 51


Pretzel, U. 99


Prévost, J. 84


Proust, M. 12, 69, 120


Pyritz, H. 38, 117


Quint, J. 36


Radermacher, L. 88


Rank, O. 14, 121


Ranke, F. 33 f., 81


Ranke, L. v. 116


Ransom, R. C. 22


Rasch, W. 90


Raymond, M. 51


Rehm, W. 12


Reiners, L. 58


Richards, I. A. 47, 51


Richter, W. 21


Rilke, R. M. 12, 33, 54, 120


Ritter, J. 91


Romein, J. 117


Rommel, O. 91


Roßmann, K. 19


Rößner, H. 15


Rothacker, E. 112


Roulet, C. 12


Rourke, C. 125


Rüegg, A. 148


Russo, L. 23


Rütsch, J. 102


Rychner, M. 150


Sainte-Beuve, Ch.-A. de 115


Sappho 54


Saran, F. 98


Sartre, J. P. 16 f.


Saussure, F. de 46


Schachner, W. 140


Schadewaldt, W. 49, 54, 81


Schaufelberger, F. 90


Scheffler, J. 100


Scheidweiler, F. 49


Scheler, M. 119 f.

[Spaltenumbruch]

Scherer, W. 142


Schiller, F. 54, 71 ff., 100,
121, 126


Schlegel, A. W. 117


Schlegel, F. 53, 72, 150


Schmitz, R. 150


Schneider, H. 142 f., 145 f.


Schneider, R. 112


Schneider, W. 48


Schöffler, H. 127


Scholl, E. H. 98


Schramm, W. R. 22


Schücking, L. L. 127


Schumann, F. K. 138


Schwarz, J. 76, 78


Schweizer, H. 25


Schwietering, J. 143


Schwinger, R. 94


Seckel, D. 61, 97, 101


Segerstedt, T. T. 124


Ségur, N. 154


Seidel, E. 95


Seidler, G. 100


Seneca 88


Sengle, F. 90, 117


Shaftesbury 74, 94


Shakespeare, W. 35, 93, 104,
143


Shipley, J. T. 7, 29 f., 153


Siebels, E. 11


Siebenschein, H. 92, 127


Sievers, E. 48, 96


Spanner, H., 81


Spengler, O. 63


Spiller, R. E. 22


Spitteler, C. 11


Spitzer, L. 21, 46 f., 58


Spoerri, E. 100


Spoerri, Th. 17, 63, 92, 97,
111, 127


Springer, O. 7


Spurgeon, C. 104


Staël, G. de 130


Staiger, E. 16, 44, 46, 48,
54, 61 ff., 68, 75 ff., 85,
89, 91, 95, 97, 106, 110


Stammler, W. 28 ff., 36


Stauffer, D. 53


Steinen, W. v. d. 80


Sterzinger, O., 43


Stifter, A. 23, 37, 101, 153


Stoeßl, F. 147


Storz, G. 100


Strauß, L. 79


Strich, F. 15, 38, 43, 51, 69,
72, 106, 120, 138, 151


Stroh, F. 49

[Ende Spaltensatz] |#f0174 : 168|

[Beginn Spaltensatz]

Suberville, J. 98


Suchier, W. 98


Szerb, A. 82


Taine, H. 130


Thomas a Kempis 50


Thompson, A. R. 85


Thomson, G. 128, 130


Thorp, W. 22


Tieck, L. 101


Tieghem, Paul van 73, 144,
154 f.


Tieghem, Philippe van 23


Tiemann, H. 155


Toggenburger, K. 73


Toynbee, A. J. 149


Trier, J. 49


Troeltsch, E. 149


Turnell, M. 142


Twaddell, W. F. 49


Uhland, L. 150


Unger, R. 13, 64, 106, 137


Urban, W. M. 47


Utitz, E. 43

[Spaltenumbruch]

Valéry, P. 12, 126


Vendryès, J. 95


Vergil 106


Vico, G. 130


Viëtor, K. 14, 21, 79


Villon, F. 119


Voser, H. U. 90


Voßler, K. 15, 58


Wais, K. 44, 154


Walther v. d. Vogelweide
35, 106


Walzel, O. 15, 43, 53, 72


Warren, A. 7, 9, 22, 28, 43,
74, 94, 101, 107, 110 ff.,
127, 136, 140 f.


Wartburg, W. v. 46


Weckherlin, G. R. 49


Wechßler, E. 139 f.


Wehrli, M. 83, 93, 136


Wehrli, R. 101


Weinhandl, F. 67


Weise, G. 44


Weisgerber, L. 45 f.


Weizsäcker, V. v. 67

[Spaltenumbruch]

Wellek, R. 7, 9, 22, 28, 43,
74, 94, 101, 107, 110 ff.,
127, 136, 139 ff.


Wentzlaff-Eggebert, F.-W.
148


Werkmeister, W. 44


Westendörpf, K. 104


Wiegand, J. 64, 79


Wieland, Chr. M. 117


Wiese, B. v. 90, 141


Wieser, Th. 11


Winkler, E. 46


Witte, W. 127


Wolff, Chr. 127


Wolff, E. G. 42, 59, 134


Wolff, L. 20


Wölfflin, H. 15, 43, 58, 72,
121, 138


Wolfram v. Eschenbach 93,
155


Wundt, W. 25


Young, K. 85


Yule, G. U. 50


Zinn, E. 33

[Ende Spaltensatz] |#f0175 : E169|
|#f0176 : E170|
|#f0177 : E171|
|#f0178 : E172|