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JULIUS PETERSEN

DIE WISSENSCHAFT VON DER DICHTUNG |#f0006 : RII|
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DIE WISSENSCHAFT
VON DER DICHTUNG

SYSTEM UND METHODENLEHRE DER LITERATUR-
WISSENSCHAFT.

Von
JULIUS PETERSEN


2. AUFLAGE


Mit Beiträgen aus dem Nachlaß herausgegeben von
ERICH TRUNZ
o. Professor an der Universität Prag
1944
JUNKER UND DÜNNHAUPT VERLAG / BERLIN

|#f0008 : RIV|

Einband: Dorothea Suffrian
Alle Rechte vorbehalten.

Copyright 1939 by Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin.
Printed in Germany
Clemens Landgraf Nachf., W. Stolle, Dresden-Freital

|#f0009 : RV|

EINLEITUNG
BEGRIFF UND ENTWICKLUNG
DER LITERARHISTORISCHEN METHODEN

Seite
1. Literaturwissenschaft als Methodenlehre1─20
a) Begriff der Literaturwissenschaft. Universalgeschichte und allgemeine
Literaturgeschichte / Literaturgeschichte als Nationalwissenschaft
/ Literaturvergleichung / Übersetzung als Notbehelf
/ Weltliteratur / Literaturwissenschaft im Verhältnis
zur Literaturgeschichte
1─13
b) Begriff der Methodenlehre. Bestimmung der Methode durch
Zielsetzung / Vielheit der Methoden / Stoffhuber und Sinnhuber
13─20
2. Geschichtliche Entwicklung der Aufgaben20─52
a) Anfänge der Literaturwissenschaft. Sammlung, Kritik und
nationale Selbstbesinnung
20─22
b) Zweite Runde: Reformations- und Barockzeit. Anfänge einer
Gliederung / Kulturpatriotische Rechtfertigungstendenz
22─24
c) Dritte Runde: Aufklärung und Sturm und Drang. Kritik und
Hermeneutik: Lessing und Herder
24─27
d) Vierte Runde: Klassik und Frühromantik. Allgemeine Literärgeschichte
/ Beteiligung der Dichter / Die älteren Romantiker
als Herders Diadochen
28─30
e) Anfänge der Nationalwissenschaft. Die jüngere Romantik / Die
erste Germanistentagung / Gervinus / Die Schule Hegels
30─35
f) Positivismus. Hettner / Taine / Scherer / Kritische Ausgaben
und Monographien / Goethe-Philologie / Poetik / Dilthey
35─41
g) Geisteswissenschaft. Philosophische und soziologische Einflüsse
/ Neue Grundsätze / Umwertungen / Sammelwerke
41─47
h) Neue Ziele. Nationale Biologie und Anthropologie / Vorgeschichte
/ Gegenwartsliteratur / Existentielle Literaturwissenschaft
47─51
|#f0010 : RVI|

Seite
ERSTES BUCH: DAS WERK
ERSTER HAUPTTEIL:
ÜBERLEITUNG UND AUSWAHL.
a) Wesen und Umfang. Schwebezustand des Wortkunstwerkes /
Konkretisierung / Ungleichheit und Ordnung des Überlieferten /
Doppelte Zuordnung übersetzter Werke
52─60
b) Beschränkung der Überlieferung. Dichtung und Literatur /
Croces und Ingardens Abgrenzungen / Dichter und Literat / Abhängigkeit
des Wertes vom Reichtum der Überlieferung / Überlieferung
als Kennzeichen des Zeitgeschmacks
60─70
c) Hilfsmittel zur Sichtung der Überlieferung. Handschrifteninventarisation
/ Literaturarchive / Volksliedarchiv / Goedecke /
Kritische Ausgaben
70─73
ZWEITER HAUPTTEIL:
TEXT UND VERFASSER.
a) Kritik der Überlieferung. Gefälschte Urschrift / Zuverlässigkeit
fremder Aufzeichnung / Indirekte Überlieferung
74─81
b) Kritik des Textes. Aufgaben der Philologie / Form- und Sachwissenschaft
/ Aufgaben des Herausgebers / Stammbaum und
Lesarten
81─89
c) Datierung und Zuverlässigkeit. Nachdrucke und Doppeldrucke /
Textverderbnisse / Grundlagen des Shakespeare-Textes / Datierung
89─97
d) Ermittlung des Verfassers. Anonyme und Pseudonyme / Mittel
der Aufhellung
98─103
e) Gemeinschaftsarbeit und Überarbeitung. Gemeinschaftsarbeit
und Widersprüche
103─105
f) Versteckspiel des Verfassers. Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“
/ Identifikation durch Schallanalyse / Fingierte
Chroniken
105─108
DRITTER HAUPTTEIL:
DIE ANALYSE.
1. Grundbegriffe109─112
Gliederung in drei Stufenreihen
2. Erste Stufe: Grundriß112─120
a) Stoff und Erlebnis. Der Stoff / Gestalteter Stoff als Quelle / Erlebnis
/ Stoff als Baugrund
112─118
b) Form. Beziehung von Stoff und Form118─120
|#f0011 : RVII|
Seite
3. Zweite Stufe: Innere Form120─136
a) Gattung. Die Gattungen / Schematisches Verhältnis der drei
Gattungstypen / Unterarten und Übergänge der Gattungen
120─128
b) Stimmung. Stimmung als innere Form / Tragische, komische,
humoristische Wirkungsart
128─131
c) Situation. Situation als fruchtbarer Moment / Beschränkte Zahl
möglicher Situationen
131─136
4. Dritte Stufe: Plan136─157
a) Fabel. Rationale Elemente des Kunstwerkes / Fabel als Abstraktion
von stofflichen Fakten
136─140
b) Absicht. Planloses und planmäßiges Schaffen141─142
c) Technik. Begriff der Technik / Gattungstechnik des Dramas /
Typen dramatischer Technik / Technik der Lyrik / Epische Gattungstechnik
/ Icherzählung und Zeitform / Standort und Gesichtskreis
des Erzählers
142─157
5. Vierte Stufe: Menschengestaltung157─169
a) Psychologie und Selbstdarstellung. Psychologischer Gehalt /
Selbstdarstellung / Psychologische Wissenschaft und Dichtung
157─162
b) Charaktere und Vorbilder. Vorbilder / Innere Urbilder der
Charaktere / Masken
162─169
6. Fünfte Stufe: Verknüpfung169─195
a) Motive. Begriff des Motivs / Stufenfolge: Bild, Zug, Motiv,
Problem, Idee / Abhängigkeit der Motive / Motive der Lyrik /
Gegenüberstellung zweier motivgleicher Gedichte / Leitmotive
169─180
b) Wirklichkeitsauffassung. Wirklichkeitsschichten im Drama /
Wirklichkeitsschichten in Epos und Roman / Drei Reiche: sichtbare
Wirklichkeit, symbolische Welt, Allegorie / Wirklichkeitsschichten
in Goethes „Faust“ ─ Realitätsstufen der Lyrik
180─190
c) Sprachform. Gattungscharakter der Versarten / Tonhöhe, Tonstärke
und Rhythmus
191─195
7. Der Stil195─232
a) Begriffliche Grundlagen der Stilforschung. Entwicklung des
Stilbegriffs / Kunstgeschichtlicher, soziologischer, geistesgeschichtlicher
Stilbegriff / Stilwandlungen
195─200
b) Methodische Richtlinien. Bestimmungen der Stilelemente durch
Lebensraum und Zeitwandel / Personalstil, Heimatstil, Generationsstil,
Zeitstil, Stammesstil / Nationalstil, Rassestil, Erdteilstil
200─207
|#f0012 : RVIII|

Seite
c) Wege der literarischen Stilforschung. Eingleisiger Sammelverkehr
/ Zwei- und mehrgleisiger Verkehr / Stiltypen
207─214
d) Ordnungsgrundriß. Wechselwirkung zwischen Ausdrucksform
und Ausdrucksinhalt / Stilbedeutung des Einzelwortes / Nominalstil,
Verbalstil, Beiwortstil / Wortzusammensetzungen / Wortstellung
/ Wortfolge, Satzgliederung und Periode / Rhythmische
Gliederung und Aufbau / Stilphysiognomik
214─232
8. Sechste Stufe: Das Persönliche232─243
a) Weltanschauliche Haltung. Parallele zwischen Weltanschauung
und Stilrichtung / Weltbild / Darstellung von Weltanschauungsgegensätzen
232─239

b) Problemstellung. Das Problem als Fragestellung / Die Grundprobleme
des Lebens in der Dichtung / Unterschiede dichterischer
und philosophischer Problemstellung
239─243
9. Siebente Stufe: Geist und Idee244─247
Aussprache der Idee in der Dichtung
10. Synthesen247─249
Verhältnis von Analyse und Genesis / Literaturgeschichtliche Zusammenfassung
VIERTER HAUPTTEIL
DEUTUNG UND WERTUNG.
1. Das Verstehen250─258
Bestimmung für verstehende Leser / Geschichtliches Verstehen /
Hermeneutik / Beschwören des Geistes
2. Wertung258─263
Das Verstehenswerte / Wert des Unverständlichen / Überästhetische
Werte
3. Wandel der Werte263─270
Wachstum / Aufstieg und Niedergang der Bewertung / Wirkungsgeschichte
4. Wertmaßstäbe270─276
a) Echtheit271─272
b) Größe273─274
c) Sinnbildhaftigkeit274─275
d) Geltung276
|#f0013 : RIX|

Seite
ZWEITES BUCH: DER DICHTER
ERSTER HAUPTTEIL:
DAS LEBEN.
1. Grundsätzliches277─282
Persönlichkeit und Werk / Dichteranalyse
2. Ererbtes283─287
Rasse, Stamm und Sippe
a) Rasse. Bildmaterial / Rassischer Zwiespalt / Erbanlagen /
Genealogie
287─293
b) Stamm. Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Stämme
und Landschaften“ / Stammeseigenschaften / Stamm und Rasse /
Stamm und Landschaft
293─297
c) Konstitution und Charakter. Erworbene Eigenschaften / Familienerbteil
und Berufstradition / Kretschmers Konstitutionslehre /
Vererbbarkeit der Dichtergabe
297─303
d) Genialität. Väterliches oder mütterliches Erbteil303─306
3. Lebensgang und Schicksal306─322
a) Daten306─308
b) Hilfsmittel308─310
c) Dichtungen als biographische Quellen310─313
d) Selbstbekenntnisse. Autobiographien / Tagebücher und Briefe /
Reiseeindrücke / Lebenswirklichkeit und Dichtung
313─317
e) Schicksal. Geburts- und Todesdatum / Periodizität und Lebensrhythmus317─322

4. Anpassung und Beeinflussung322─336
Erbgut und Umwelt
a) Familie324─325
b) Heimat. Kindheitseindrücke und Landschaft325─328
c) Lehrer und Leiter. Schule und Hochschule328─330
d) Einfluß und Nachahmung. Persönliche Abhängigkeit und Stileinflüsse331─334

e) Belesenheit. Bibliotheksbenutzung und Bücherbesitz334─336
|#f0014 : RX|

Seite
ZWEITER HAUPTTEIL:
SEELENLEBEN.
1. Eindrucksfähigkeit337─351
a) Sinneseindrücke. Visuelle und auditive Anlage / Motoriker338─343
b) Experimentalpsychologische Typenlehren. Statistik der Sinneseindrücke
/ Form- und Farbseher Eidetiker / Integrationstypen
343─348
c) Menschenkenntnis und Lebenserfahrung. Jungs Typenlehre /
Introversion / Antizipation / Verschmelzung von Wirklichkeitsbeobachtung
und Phantasie
348─351
2. Das Erlebnis352─372
a) Leben und Erleben352─353
b) Strukturpsychologische Typenlehren. Diltheys Weltanschauungstypen
und ihre Weiterbildung
354─358
c) Erlebnisinhalt. Urerlebnis und Bildungserlebnis / Begriffserlebnis
und Ideenerlebnis
358─361
d) Erlebnisqualität. Eindruckserlebnisse / Ausdruckserlebnisse /
Erlebnisse des immanenten Schicksalsbewußtseins
361─367
e) Erlebnis-Verlauf. Erlebnis des Ichbewußtseins / Du-Erlebnis
der ersten Liebe / Erwachen des Natursinnes / Durchbruchserlebnis
der religiösen Selbstbesinnung / Zentralerlebnisse / Dauererlebnisse
/ Umschwungserlebnisse / Kurzerlebnisse
367─370
f) Erlebnisbild. Goethes „Harzreise im Winter“ und „Willkommen
und Abschied“ / C. F. Meyers „Schlacht der Bäume“
370─372
3. Weltbild372─388
a) Einstellung372─373
b) Bedingtheit. Rassenpsychologie / L. F. Clauß / H. F. K. Günther
/ v. Eickstedt / Religiöse und gesellschaftliche Bedingtheit
373─379
c) Horizont. Inhalte und Stufen des Weltbildes nach Jaspers /
Wille und Schicksalsgedanke
379─382
d) Persönliche Prägung. Ich und Es / Das Unbewußte / Goethes
Weltbild / Lessings Weltbild / Kleists Weltbild
382─388
4. Phantasie, Traum- und Gefühlsleben388─406
a) Phantasie. Anschauliche und kombinatorische Phantasie
(Wundt und Elster) / Plastische und zerfließende Phantasie (Ribot)
388─391
b) Anschaulichkeit. Goethe / Balzac und Flaubert / Turgeniew
und Gontscharof / Otto Ludwigs Bekenntnisse über sein Verfahren
beim poetischen Schaffen
391─394
c) Erfindung. Motivverknüpfung / Veranschaulichung / Ausgemalte
Wunschträume
394─398
|#f0015 : RXI|

Seite
d) Traumleben. Theorien des Traumes / Psychoanalyse / Hebbel
/ Traumleben des Kindes / Dichterische Traumeinkleidung
398─403
e) Gefühlsleben. Analyse der Gefühle nach Dilthey und Elster /
Erlebnisechtheit / Liebe
403─406
DRITTER HAUPTTEIL:
DER SCHAFFENSVORGANG.
1. Lösung von der Wirklichkeit407─411
Aussagen der Dichter / Zeitliches Fernbild / Selbstopferung und
Selbstbefreiung
2. Produktive Stimmung und Konzeption411─421
Konzeption als Verschmelzung von Stoffwille, Erlebnis, Weltbild
und Sinnbildern der Phantasie / Typen der Inspiration und intuitiven
Konzentration / Meditative und reaktive Konzeption / Produktive
Kritik
3. Plan und Gestaltung421─434
a) Plan. Aufzeichnung / Goethes „Faust“ / Schillers Entwürfe /
Hebbel / Fontane
421─428
b) Wandlungen des Planes. Schillers „Don Carlos“ / Lessings
„Emilia Galotti“ / Theaterrücksichten / Goethes „Wilhelm
Meister“ / Fortsetzungen
428─432
c) Ausführung. Prosa und Vers / Arbeitstempo432─434
4. Arbeitsweise434─440
Klima und Jahreszeit / Tageszeit / Stimulantien / Arbeitsraum /
Schaffensbedingungen und Arbeitsgewohnheiten
VIERTER HAUPTTEIL
DIE EXISTENZ DES DICHTERS.
1. Spektrum441─444
Wort, Sinn, Kraft, Tat
2. Sprache444─448
a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit
3. Gesetz448─451
a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit
4. Glaube452─456
a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit
5. Sendung456─462
a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit
6. Widerhall462─464
|#f0016 : RXII|

FRAGMENTE UND VORARBEITEN
ZUM DRITTEN UND VIERTEN BUCH

AUS DEM NACHLASS
EINLEITUNG ZU BUCH III UND IV:
SYNTHETISCHE LITERATURWISSENSCHAFT.
Seite
1. Werke und Gattungen465─479
a) Gattungsgeschichte468─475
b) Bedingtheit der Gattung475─477
c) Überwindung der Gattung477─479
2. Dichtertypen479─508
a) Typenreihen480─491
b) Methoden der Typenbildung492─497
c) Geschichtliche Typenfolge497─500
d) Rasse- und Schicksalstypen500─508
3. Dichtung und Dichtkunst508─519
a) Unterscheidung508─510
b) Überblick über die Dichtung510─519
4. Die Dichtkunst zwischen den Künsten des Raumes
und der Zeit519─524
DIE LITERARISCHEN GENERATIONEN.
1. Bedeutung der Generationen für die Literaturgeschichte525─527
Das Problem der Periodisierung / Die Bedeutung der Generationen
2. Begriff der Generation527─534
Generation und Jahrhundert / Generationsfolge
3. Die Generationstheorien534─552
Lorenz / Pinder / Dilthey / Wechßler
4. Die generationsbildenden Faktoren552─577
Vererbung / Geburt / Bildungselemente / Persönliche Gemeinschaft
/ Generationserlebnisse / Führertum / Generationssprache
/ Erstarren der alten Generation
5. Die Reichweite des Generationsbildes577─582
Generation als zeitliche Ordnung, Stamm und Landschaft als
räumliche / Generation als Schicksal
PLAN ZU BUCH III UND IV583─585
ANMERKUNGEN586─645
PERSONENREGISTER646─663
|#f0017 : RXIII|

VORWORT DES HERAUSGEBERS
ZUR 2. AUFLAGE


Julius Petersen starb unerwartet und plötzlich am 22. August 1941
in seinem Landhaus bei Murnau. Auf seinem Schreibtisch lag das
fragmentarische Manuskript zum zweiten Band seines Werkes „Die
Wissenschaft von der Dichtung“, das ihn in den letzten Jahren
dauernd beschäftigt hatte. Zwar hatte er einige kleinere Arbeiten
dazwischengeschoben, die Ausgabe des Fontane-Lepel-Briefwechsels
und des Ifflandschen Regiebuches der ersten Berliner „Wallenstein“-
Aufführung, einen Grimmelshausen-Aufsatz u. a. m., und das ganze
letzte Lebensjahr hatte fast völlig den Arbeiten an der großen Schiller-Nationalausgabe
gehört, mit der er seine lebenslänglichen Schiller-Studien
krönen wollte. Mit Freude zeigte er mir deren erste
Korrekturfahnen, als ich ihn am 13.─15. August 1941 ─ eine Woche
vor seinem Tode ─ in Murnau besuchte. Er war wie immer mitten
in Plänen und Arbeiten: es drängte ihn jetzt zur Vollendung der
Methodenlehre, und als fernes Ziel leuchtete vor ihm sein seit langem
gehegter und vorbereiteter Plan einer Literaturgeschichte der deutschen
Klassik. Seines Herzleidens nicht achtend, stürzte er sich, nachdem
das mühereiche Berliner Kriegssemester zu Ende gegangen war,
in die neue Arbeit mit jugendlicher Frische und männlicher Tatkraft
wie immer. Und so ist er ganz, wie er immer war und sein wollte,
mitten in der Arbeit, uns entrissen.


„Die Wissenschaft von der Dichtung“ bleibt nun Fragment. Niemand
kann es vervollständigen, zu sehr ist es eine ganz persönliche
Leistung, die in dieser Art nur Petersen möglich war. Daraus ergab
sich der leitende Grundsatz für die neue Auflage: Sie enthält kein
Wort, das er nicht geschrieben hat. Die Gattin des Verstorbenen gab
mir die ehrenvolle Aufgabe, die Methodenlehre zu betreuen, und ich
sichtete aus dem Nachlaß alles diesbezügliche Material: Ein Handexemplar
des gedruckten Bandes enthielt Hunderte von kleinen Einschüben
und Verbesserungen; zu dem geplanten 2. Band lagen Manuskripte
vor; sodann bestand eine Sammlung früherer methodologischer
Aufsätze Petersens mit handschriftlichen Korrekturen für einen
Neudruck; schließlich riesige Mappen mit Materialsammlungen. Daraus
ergab sich die Gestaltung der Neuauflage. Die schon 1939 erschienenen |#f0018 : RXIV|

Teile sind in ihrem Aufbau unverändert geblieben, haben aber
in den Einzelheiten zahlreiche kleine Änderungen und Erweiterungen
erfahren. Neu kommen die für den 2. Band bestimmten Teile hinzu.
(Seite 465 des vorliegenden Bandes.) Während ihr Text sich aus den
Handschriften lückenlos herstellen ließ, hat Petersen die Anmerkungen
zu den Seiten 465─479 und 508─524 nicht mehr geschrieben,
sondern nur bezeichnet, wo Anmerkungen hinkommen sollten. Ich
habe die bibliographischen Notizen von mir aus hinzugefügt. Sodann
lag ein Plan des weiteren Gesamtwerks vor, der dessen umfassende
und großzügige Architektonik erkennen läßt; er ist ebenfalls zum Abdruck
gebracht (Seite 583) und ergänzt das, was Petersen im Vorwort
der 1. Auflage sagt.


Damit waren die unmittelbar druckreifen Teile der Methodenlehre
erschöpft, und es ergab sich die Frage, was mit dem weiteren Material
zu geschehen habe. Als nicht druckfähig erwiesen sich die
ungeheuren Materialsammlungen, deren Fülle auch den, der mit
wissenschaftlichen Arbeiten umzugehen gewohnt ist, in Erstaunen und
Bewunderung setzt. Es sind Tausende von Exzerpten und bibliographischen
Notizen, aber noch keine ausgeführten Partien. Und so ist
mit dem Verfasser, der uns genommen ist, auch dieses ungeheure Material
für uns verloren, denn nur er allein vermochte es lebendig zu
machen und daraus zu formen, was ihm vorschwebte. Petersen selbst
hat in früheren Jahren die wissenschaftlichen Nachlässe von Köster
und Weltrich betreut und hat ─ mit Recht ─ nur das herausgegeben,
was abgerundet und reif war. Er hat sich aber nicht gescheut, an
Kösters Literaturgeschichte einen sachlich hinzugehörigen Aufsatz
anzuhängen, der früher und als Einzelwerk geschrieben war. Ein
ähnlicher Weg schien nun auch bei seinem eigenen Werk möglich.
Es war also die Frage, ob etwas von Petersens früheren Aufsätzen
sich einem Druck der fragmentarischen Methodenlehre anfügen lasse.
In Frage kommen die Baseler Antrittsrede „Literaturgeschichte als
Wissenschaft“ (1913), sein Bekenntnis zur Einheit der Literaturgeschichte
und der Germanistik Jacob Grimmscher Prägung, die Aufsätze
„Literaturwissenschaft und Deutschkunde“ (Ztschr. f. Deutschkunde
1924), „Nationale und vergleichende Literaturwissenschaft“
(Deutsche Vierteljahrsschr. 1928) und „Zur Lehre von den Dichtungsgattungen“
(Festschr. f. Sauer, 1926), sodann die Methodenlehre im
Kleinen, das Buch „Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik“
(1926) und schließlich die Schrift „Die literarischen Generationen“
(1930). Es zeigte sich, daß mit Ausnahme der Schrift über das Generationsproblem
die früheren Arbeiten alle bereits als Ganzes oder |#f0019 : RXV|

zerstückelt in die ausgeführten Teile der Methodenlehre aufgegangen
und außerdem durch die Gesichtspunkte dieses Werks überholt waren.
Denn Petersen hatte ─ und das war das Lebendige, Fruchtbare in
seinem Schaffen ─ sich in dem jahrelangen Nachdenken über
methodische Fragen entwickelt und verfeinert. So sind also nur
„Die literarischen Generationen“ dem vorliegenden Werke angefügt
und in der Handhabung der Anmerkungstechnik dessen übrigen Teilen
angeglichen. Freilich hätte Petersen selbst den Aufsatz nicht
unverändert übernommen, so wie er auch die Abhandlung „Zur Lehre
von den Dichtungsgattungen“ nur in umgebildeter Form in die Methodenlehre
aufnahm (S. 120 ff.). Doch steht der Aufsatz über die
Generationen unter allen früheren methodologischen Arbeiten in seiner
Schreibweise der „Wissenschaft von der Dichtung“ am nächsten,
und noch nichts von ihm ist in deren ausgeführten Teilen vorweggenommen.
Dagegen wären alle anderen früheren Aufsätze hier nur
Wiederholungen und nicht Ergänzungen gewesen. An sich aber sind
jene Aufsätze als gerundete klare Zusammenfassungen über einzelne
Probleme von bleibendem Wert, und wertvoll sind sie uns auch als
Stationen von Petersens Werdegang und der Entwicklung unserer
Wissenschaft überhaupt. Aus diesem Grunde aber gehören sie nicht
in die Methodenlehre, sondern in Petersens „Kleine Schriften“, deren
Herausgabe in mehreren Bänden Wieland Schmidt vorbereitet, und
welche ein reiches Bild von Petersens geistiger Weite und methodischer
Strenge geben werden. Dort sind sie geradezu unentbehrlich,
um in dem Gesamtbild, das die Literaturgeschichte vom späten Mittelalter
bis zur Gegenwart, Theaterwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte
umfaßt, das für Petersen so wichtige Gebiet der Methodenlehre
nicht fortfallen zu lassen. Die „Kleinen Schriften“ und die
„Wesensbestimmung der deutschen Romantik“ bleiben also auch weiterhin
heranzuziehen: Sie bringen gleichfalls einerseits methodische
Fragen und andererseits ein Bild von Petersens wissenschaftlichem
Weitblick und Ethos.


Es würde den Rahmen einer Einleitung sprengen, hier von Petersen
als Menschen und Wissenschaftler ein Bild geben zu wollen. Die
zahlreichen Nachrufe haben es getan und haben erkennen lassen, wie
viele ihn liebten und verehrten. In der als Privatdruck erschienenen
Schrift „Julius Petersen zum Gedächtnis“ hat Eduard Spranger in
ergreifenden Worten den geistigen Menschen und sein reiches Leben
und Forschen geschildert, Alfred Bertholet hat seine Persönlichkeit
gewürdigt, Anton Kippenberg seine Verdienste um Goetheforschung
und Goethegesellschaft und Wieland Schmidt sein wissenschaftliches |#f0020 : RXVI|

Ethos und seine Berliner Lehrtätigkeit. In zahlreichen Zeitschriften
erschienen Aufsätze über Petersen (in der Ztschr. „Goethe“; „Dichtung
und Volkstum“; „Dt. Vierteljahresschr. f. Literaturwiss. u. Geistesgesch.“
u. a. m.). Und Herbert Cysarz ─ gewiß ein unvoreingenommener
Beurteiler, da er der Schule Scherers und Erich Schmidts
immer kritisch gegenüberstand ─ hat im Jahrbuch der Bayrischen
Akademie der Wissenschaften (1941, S. 32 ff.) weitblickend Petersens
Leistung in den Rahmen der wissenschaftlichen Gesamtsituation
seiner Zeit hineingestellt: „Petersen war der stärkste Pfeiler der
Überlieferung ... Ja es kann und muß bündig festgestellt werden:
Er war am Ende die einzige umfassende und unbestrittene Autorität
seines Faches ... Noch gibt es keinen, der mehr „alte“ Tugend mit
innigerer Aufgeschlossenheit, Aufnahmefähigkeit und -neigung für
alles schöpferisch Neue und Junge vereinte, keinen, der aus so abgeklärter
Distanz so gewaltige Fülle der Sichten und Überfülle der
Sachen so leibhaft zu heben vermöchte. Keinen gerechteren
Mittler ...“


Eben diese hier genannten Eigenschaften machten Petersen fähig,
eine Methodenlehre zu schaffen. Ihn beseelte in der Nachkriegszeit,
den Jahren der Methodenkämpfe und der intellektuellen Überspitzungen,
im Gegensatz zu vielen anderen seines Faches der Glaube,
daß die deutsche Wissenschaft nicht eine Gruppierung feindlicher
Fronten, sondern ein gegliedertes Ganzes sein müsse, er sprach es
1926 in der „Wesensbestimmung der deutschen Romantik“ aus, und
die Folgezeit zeigte, wie sehr er auf rechtem Wege war. In dieser
seiner Art, an große gemeinsame Aufgaben statt an individuelle Gegensätze
zu denken, lebt auch Petersen, der Mensch. Und er lebt auch
darin, daß er jeden Menschen unbedingt ernst nahm, in jedem
zunächst das Brauchbare und Tüchtige suchte und für jeden seinen
sinnvollen Platz innerhalb großer überindividueller Zusammenhänge
und Aufgaben zu erkennen strebte. In solchem Sinne geht seine Methodenlehre
an Hunderte und aber Hunderte von Werken heran. Sie
will weniger Programm und Forderung sein als vielmehr Zusammenschau
aller vorhandenen Kräfte und Wege. Was hier zum Ausdruck
kommt, kennzeichnet auch Petersen als Lehrer: Er verstand die
Kräfte seiner Schüler richtig anzusetzen, sie auf ihren Wegen zu
fördern, und indem er zur Forschung anleitete, damit auch wiederum
der Sache zu dienen.


Aber so reich Petersen als Wissenschaftler war, das, was seine Schüler,
die ihm persönlich nahestanden, vor allem an ihn band und was
ihnen sein Andenken unvergeßlich und leuchtend macht, ist seine |#f0021 : RXVII|

Menschlichkeit, das gütige Herz, die selbstlose Liebe, die unwandelbare
Treue. Er war ein wahrhaft väterlicher Freund, und sehr verborgen,
fast scheu war seine tiefe stille Herzlichkeit, die aus seinen
Augen, aus seinem Gespräch, auch aus seinen Briefen strömte. Wer
sie erfahren hat, ist ihm immer zu eigen. Darum werden seine Schüler
und Freunde die Herausgabe der Methodenlehre und der Kleinen
Schriften nicht nur als förderliche Leistung für die Wissenschaft, sondern
auch als Erinnerungswerk an den geliebten Lehrer empfinden.
Er hat in seiner bescheidenen Art nicht für sich und seine Bücher
ein Nachleben gewollt, wohl aber für den Geist der Wissenschaft, den
er seinen Schülern als lebendiges Erbe mitgab: Der Sache ergeben,
ehrfurchtsvoll, unbestechlich, genau im Kleinen, hochzielend im Großen,
fest wurzelnd in deutscher Art und weit ausblickend in die Welt
─ der Geist, in dem Jacob Grimm die Berliner Germanistik begründete
und in dem Petersen diese große geistige Überlieferung weiterführte.
Immer, wenn wir diesen Geist weiterhin zu verwirklichen
suchen, werden wir auch zu ihm, dem Lehrer und Menschen, zurückkehren.



Erich Trunz.

|#f0022 : RXVIII|
|#f0023 : RXIX|

VORWORT
ZUR 1. AUFLAGE


Genau ein Vierteljahrhundert ist dahingegangen seit der Antrittsvorlesung
über „Literaturgeschichte als Wissenschaft“, mit der ich
im Sommer 1913 mein Lehramt an der Universität Basel aufnahm.
Die Ausarbeitung erschien im folgenden Jahr als kleine Schrift, die
ebenso schnell vergriffen als überholt war. Der oft an mich herangetretene
Wunsch nach Erneuerung traf zusammen mit dem eigenen
Bedürfnis nach Rechenschaft über weiterführende Erfahrungen und
Zielsetzungen in Forschung und Lehre, die im Gleichschritt mit dem
Fortgang der Wissenschaft und der Dichtung, der Zeitentwicklung und
der politischen Schicksale sich ergeben mußten.


Nach der Behandlung von Teilgebieten in den Arbeiten über „Die
Wesensbestimmung der deutschen Romantik“ (1926), „Nationale oder
vergleichende Literaturgeschichte?“ (1928) und „Die literarischen
Generationen“ (1930) wage ich jetzt eine Zusammenfassung, die sowohl
Klärung der wissenschaftlichen Grundbegriffe als Ausgleich
zwischen den vielfach widerstreitenden Richtungen erstrebt und einen
kritischen Überblick bringen will über alle Methoden, die an literaturwissenschaftliche
Aufgaben anzusetzen sind. Rückschau, Umschau und
Ausschau sind vereint. Zwecks Einführung ist an der Veranschaulichung
durch Beispiele und Ergebnisse wie an Literaturangaben, die
zu den wichtigsten Hilfsmitteln geleiten, nicht gespart. Der gegenwärtige
Stand der Wissenschaft spiegelt sich in Auseinandersetzungen,
die auf Verständigung zielen. Die Ausführung und Weiterführung
liegt bei der Zukunft, der auch dieses Buch dienen möchte.


Von den vorausgegangenen Werken Elsters, Walzels, Ermatingers
u. a., die entweder die Psychologie des dichterischen Schaffens oder
das Erlebnis des Kunstwerkes zum einheitlichen Ausgangspunkt
nahmen, unterscheidet sich dieser Versuch durch den doppelten Blick
auf Werk und Dichter, die in einer sich steigernden Folge analysiert
werden. Die Zusammenfassung von Philologie, Literaturgeschichte
und Poetik mit Anthropologie, Volkstumsgeschichte und Völkerpsychologie
eröffnet die Perspektive auf weitere Synthesen. Die
organische Grundauffassung soll in den drei Büchern des zweiten
Bandes ihre Weiterführung finden: das dritte soll unter der Überschrift |#f0024 : RXX|

„Ordnungen“ die Kategorien von Raum, Zeit, Gesellschaft und
Geist behandeln; das vierte Buch „Völker und Zeiten“ wird in die
vier Hauptteile „Nationale Literaturgeschichte“, „Geistesgeschichte
und Stilgeschichte“, „Literaturvergleichung“ und „Weltliteratur“ zerfallen.
Die durchgehende Viergliedrigkeit mag im fünften Buch
„Darstellung“ ein Dach finden, das nach den vier Himmelsrichtungen
„Standort“, „Einfühlung und Intuition“, „Aufbau“ und „Sinn der
Literaturwissenschaft“ den wissenschaftlichen und künstlerischen Aufgaben
Grenzen setzt.


Mein Dank kann nicht alle einzelnen, die im Lauf vieler Jahre an
der Entstehung dieses Buches wissentlich oder unwissentlich mitgewirkt
haben, erreichen. Er gilt den einstigen Lehrern wie den
Freunden und Kollegen und nicht in geringem Maße auch den ehemaligen
und jetzigen Schülern, mit denen die Fragen dieses Buches
in praktischer Arbeit durchgesprochen und erprobt worden sind.
Unter den Kollegen, bei denen ich mir in letzter Zeit für die Zusammenhänge
mit benachbarten Gebieten Rates erholen durfte und
von denen ich wichtige Hinweise erhalten habe, nenne ich Ludwig
Deubner, Eugen Fischer, Paul Kluckhohn, Hermann Oncken, Robert
Roessle und Eduard Spranger. Für technische Hilfe bin ich Herrn
Bibliothekar Dr. Wieland Schmidt und seiner Frau Annemarie, geb.
Dahlke sowie Dr. Günter Skopnik in Berlin verpflichtet. Was ich
den Bibliotheken in Berlin und München wie der Bücherei des Nachbarn
Walter v. Molo im Murnauer Sommersitz schulde, kann allein
durch die Hoffnung aufgewogen werden, daß dieses Buch nicht nur
die Unzahl von Schriften, die ihm zugrundeliegen, um eine weitere
vermehren, sondern daß es für Bewältigung und zielbewußte Handhabung
des zu einer schwer übersehbaren Masse herangewachsenen
Arbeitsstoffes sich von Wert und Nutzen erweisen möge.


Berlin-Nikolassee, November 1938.


Julius Petersen.

|#f0025 : E1|

EINLEITUNG:

BEGRIFF UND ENTWICKLUNG
DER LITERARHISTORISCHEN METHODEN

1. Literaturwissenschaft als Methodenlehre.

„Nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt,
behandelt, unterscheidet den philosophischen Geist. Wo
er auch stehe und wirke, er steht immer im Mittelpunkt
des Ganzen; und so weit ihn auch das Objekt seines
Wirkens von seinen übrigen Brüdern entferne, er ist
ihnen verwandt und nahe durch einen harmonischen
Verstand; er begegnet ihnen, wo alle helle Köpfe
einander finden.“


Schiller.


a) Begriff der Literaturwissenschaft


„Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte?“
Gegen diese Nachbildung der berühmten Schillerschen
Fragestellung meldet sich sogleich ein sachliches Bedenken: es ist unbestreitbare
Tatsache, daß man gar nicht Literaturgeschichte studieren
kann in demselben Sinne, wie die Universalgeschichte als
Gebiet wissenschaftlichen Studiums betrachtet werden darf.


Freilich ist nicht zu verkennen, daß auch auf die eigentliche
Beziehung der Schillerschen Frage heute ein anderes Licht fällt als
damals, da sie gestellt wurde. Inwieweit kann man heute überhaupt
noch Universalgeschichte studieren oder gar erforschen? Die Ausbreitung
selbsterworbener Kenntnisse eines einzelnen über das ganze
Gebiet der Weltgeschichte ist durch die Unermeßlichkeit des Raumes
wie durch die nach vorwärts und rückwärts reichende Ausdehnung
des zeitlichen Umfanges neuerdings weit mehr behindert als vor
150 Jahren. Hinzugewachsen sind vielleicht ebensoviel Jahrtausende
am Anfang als Jahrzehnte am Ende, und mindestens ebenso viel alte
Kulturen sind entdeckt, deren Sprachen teilweise noch der Entzifferung
harren ─ wie sollte solche Unendlichkeit aus einem Blickpunkt
zu überschauen sein? Die schwere Zugänglichkeit und der verschiedenartige
Charakter der primären Quellen, sowohl was äußere |#f0026 : 2|

Erreichbarkeit als sprachliches Verständnis betrifft, macht die Aufteilung
in einzelne Forschungsgebiete unerläßlich. Es gibt Geschichten
der Zeitalter, der Erdteile, der Kulturkreise, der Völker, der
Staaten, der Städte, der Stände. Wenn deren Ergebnisse zusammengetragen
werden, so bleibt dem universalen Überblick eigentlich nur
die Feststellung gleichartigen oder gegensätzlichen Verlaufs, die Beobachtung
typischer Entwicklungsstufen und die Erkenntnis historischer
Gesetze als ein Knäuel von Forschungsaufgaben übrig, so daß
Universalgeschichte in Geschichtsphilosophie übergeht.


Wenn nun eine universale Literaturbetrachtung denselben Weg
gehen will, so gelangt sie zu gleichem Ziel: Literaturgeschichtsphilosophie.
Vermißt sie sich wirklich, die ganze Menschheitsliteratur in
geschichtlichem Zusammenhang schauen zu wollen, so tritt sie vor viel
unüberwindlichere Schwierigkeiten, als sich der Universalgeschichte
entgegenstellen. Einmal muß sie für die Erschließung der Zusammenhänge
eine Universalgeschichte voraussetzen oder deren Arbeit noch
einmal leisten; weiter aber sind es auf ihrem eigenen Gebiet nicht
allein die Quellen, sondern die Ereignisse selbst, die verschiedenste
Sprache reden. Die Ereignisse sind auf diesem Gebiet nicht Taten
und Begebenheiten, sondern Texte, die wiederum ihre Quellen
haben. Diese Texte sind nicht kurzgefaßte Urkunden, deren Wert
bei kritischer Schulung verhältnismäßig rasch zu durchschauen ist;
sie sind auch keine Gemälde, die von geübten Augen schon mit einem
Blick in charakteristischen Wesenszügen erfaßt werden können. Der
Totaleindruck jedes großen literarischen Kunstwerkes, der für persönliche
Beurteilung nicht entbehrt werden kann, braucht für seine
erste Herstellung schon Wochen und Monate des Lesens, ohne daß
von tieferdringendem Verstehen die Rede ist, und das letzte Durchdringen
kann die Aufgabe eines ganzen Lebens bilden. Vor allem setzt
die Aufnahme des Inhalts wie der Form bei jedem einzelnen literarischen
Werk die Beherrschung seiner Sprache voraus, der Sprache
eines Volkes, eines Zeitalters, einer Persönlichkeit. Die Literaturdenkmäler
sind nicht allein eingebettet in eigene Kulturzusammenhänge,
aus denen allein ihr Werden und Wesen zu verstehen ist, sondern
das Wortkunstwerk offenbart das Geheimnis seiner Form in
vollem Umfange nur dem, der das Wort in seinem ursprünglichen
Schöpfungsgehalt zu vernehmen und zu deuten vermag.


So kommt es, daß das, was man studieren kann, nicht allgemeine
Literaturgeschichte heißt, sondern Altertumswissenschaft oder Orientalistik,
und daß es für die neuere Zeit in Germanistik, Romanistik,
Anglistik, Slavistik und andere Gebiete zerfällt. Jedes der genannten |#f0027 : 3|

kulturkundlichen Fächer schließt eine oder mehrere Literaturgeschichten
in sich. Die Teilung aber bedeutet nicht etwa erstarrte, durch
äußere Bedingungen wie Prüfungszwang und Berufsrücksicht am
Leben erhaltene Hochschulüberlieferung, sondern sie ist naturgegeben
durch die Bindung jeder Literatur an eine bestimmte Sprache, die für
sie Mutterboden, Werkstoff, Lebensform, Daseinsgrundlage darstellt.


Wenn man mit außerordentlicher Anspannung mehrere dieser
philologischen Fächer im Studium vereinigen will, so können sie doch
kaum zu gleichem Recht kommen. Noch weniger ist es dem Forscher
gegeben, auf allen Gebieten eigene vorwärtsdringende Arbeit zu
leisten. Schon der Sprachkenntnis und noch mehr der Literaturbeherrschung
sind physische Grenzen gesetzt. Wohl gab es einmal
das Wunder Giuseppe Mezzofanti, der am Ende seines 75jährigen
Lebens einer Kenntnis von 58 Sprachen mächtig war; er konnte sie
sprechen und ihre Grammatik verstehen; aber in ebenso vielen Literaturen
sich Belesenheit erworben zu haben, dieser Leistung konnte
er sich nicht rühmen. Es gab eine philologische Genialität wie die
von Eduard Sievers, der sich zutraute, auch in Sprachen, die er nicht
verstand, das Echte und Verfälschte einer Überlieferung herauszuhören
mit den von ihm entwickelten Mitteln der Schallanalyse; aber
den Geist dieser Sprachen und Literaturen zu ergründen, dazu hätte
nicht so sehr die Fähigkeit als die Einstellung und Lebensdauer gefehlt.
In dem betagten Münchener Anglisten Josef Schick gibt es
einen Forscher, der alle Sprachen und Schriften des Orients, in denen
etwas von der Hamlet-Sage Zusammenhängendes überliefert ist,
eigens erlernt, um diese Texte in ihrer ursprünglichen Form mit
philologischer Gewissenhaftigkeit seinem „Corpus Hamleticum“ einzuverleiben;
aber diese Energie verschwendet ihre Stoßkraft in
einseitiger Richtung. Es gibt französische Literaturhistoriker elsässischer
Herkunft und Schweizer von interkantonaler Zugehörigkeit,
die durch mehrere Muttersprachen begünstigt sind. Auch in Arturo
Farinelli haben wir einen Forscher, den der Gang seines Lebens
und seine Begabung befähigten, sowohl die germanischen als die
romanischen Literaturen in ihren Sprachen mit bewundernswertem
Gleichmaß zu beherrschen. Aber das ist der höchste heute erreichbare
Umfang, und gerade Farinelli hat sich aufs entschiedenste
gegen die Möglichkeit einer Weltliteraturgeschichte erklärt: „Alles
Wirkliche hat ja sein Maß, all unser Forschen eine Beschränkung.
Nicht nach der Weite, sondern nach der Tiefe müssen wir streben;
nicht die unbegrenzte äußere Welt, sondern das unbegrenzte Individuum
sollen wir ergründen. Wozu die endlosen Gräberstätten der |#f0028 : 4|

Menschenkultur mit neuen Gerippen bereichern? Richten wir getrost
unseren Blick nach dem Innern. Nur im Labyrinth der Menschenbrust
regen sich die Fluten des ewigen Lebens.“


Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die sogenannte Neuphilologie
erst im Entstehen war, gab es Lehrstühle an den deutschen
Universitäten ─ und in kleineren Ländern gibt es sie wohl heute
noch ─, die mit Deutsch, Englisch und den romanischen Sprachen zugleich
belastet waren. Bei Erfüllung dieser Lehrverpflichtung konnte
es sich eigentlich nur um die verschiedenen Grammatiken und damit
zusammenhängende Textinterpretation, aber nicht um Literaturgeschichte
handeln. Je mehr sich aber nun die Literaturgeschichte
von der Sprachwissenschaft loslöste, indem sie eigene Forschungsaufgaben
in Angriff nahm, desto mehr mußte ─ so paradox es zunächst
klingt ─ ihre Bindung an die Sprache, nämlich an ein bestimmtes
Sprachgebiet sich festigen. Und diese naturgegebene philologische
Bindung scheint das weitere wesentliche Hindernis einer
allgemeinen Literaturgeschichte zu bilden.


Es gibt allerdings einen Weg des Vorwärtskommens zwischen den
einengenden Gattern, wenn man sich auf den großen Verkehrsstraßen
hält, die den Austausch zwischen den voneinander getrennten Gebieten
vermitteln. Man kann den Verkehr selbst zum Gegenstand
der Beobachtung machen, wenn man das Übersetzungswerk der verschiedenen
Nationen und die damit verbundene Vermittlung von
Ideen, Motiven und Stilformen als besonderes Forschungsgebiet betrachtet.
So wäre, wenigstens in gewissen Zeitaltern, im Mittelalter,
in Renaissance, Barockzeit und Aufklärung, zu einer europäischen
Geistesgeschichte auf dem Boden gemeinsamer Literaturgeschichte
zu gelangen.


Eine völlige Gleichschaltung aller Gebiete in einer Hand ist indessen
nicht nur durch den Umfang des Stoffes ausgeschlossen, sondern
auch durch die Lagerung der verschiedenen Ebenen. Jene Vogelschau
ist nicht durchführbar, die einmal der junge Herder von dem Geschichtsschreiber
verlangen wollte, „er schreibe als auf einer Wolke,
von welcher er die Nationen vor sich wegziehen lasse“. Der Geschichtsschreiber
kann nicht in Wolkenkuckucksheim wohnen; er kann
sich so wenig wie die Kunst, die er erforscht, losreißen von den
Wurzeln der Volks- und Zeitgebundenheit; er kann nicht allem gleich
nahekommen oder gleich fernbleiben; der archimedische Punkt dafür
ist nicht zu finden. Das Gebiet der Altertumswissenschaft ist räumlich
und zeitlich entlegen; die alten Sprachen sind, wenn nicht tot,
so doch in sich abgeschlossen. Wenn ein Einleben in die Welt des |#f0029 : 5|

Altertums von der Gegenwart aus möglich ist, so können die ewigen
Menschheitsideen, die von da aus in die moderne Welt übergingen,
Führer sein auf dem Weg in ihre Heimat; aber diesem Abhängigkeitsverhältnis
fehlt jede Gegenseitigkeit, es sei denn, daß in
rassischer Urverwandtschaft eine gleichartige Disposition erblickt
werden darf. Die neueren europäischen Sprachen dagegen stehen
nicht nur in Verwandtschaft, sondern in zeitlicher Gemeinschaft,
bewegt von den gleichen geistigen Strömungen, die in ihnen zu
verschiedenartigem Ausdruck gelangen. Bei der Wechselwirkung
des lebendigen Austausches von Ideen, Erlebnissen und Formen ist
ein Reisepaß, der den Zugang in die Nachbargebiete eröffnet, leichter
beschaffbar. Dem steht endlich die freie Bewegung im Bezirk
der eigenen Sprache und des eigenen Wesens gegenüber. Das Bürgerrecht
im geistigen Raum des eigenen Vaterlandes ist eine Gnade, die
jedem in den Schoß wirft, was er im anderen Lande erst mühevoll
erwerben müßte, aber es schließt zugleich die Pflicht strengeren
Arbeitsdienstes in sich. Wird der lange Anmarsch erspart, so kann
um so unmittelbarer der Aufstieg zu den Gipfeln erfolgen und zu
den Quellen, aus denen die Ströme des geistigen Lebens herniederfluten.
Es ist freilich ein Weg, der wie alles Steigen das Herz in
Anspruch nimmt.


Hat die Nationalwissenschaft von vornherein im Gegensatz zu den
anderen Philologien ihren Ansatzpunkt mehr im Innern, so hat sie
dafür auch die Pflicht, um so tiefer ins Innerste vorzudringen. Das
letzte Ziel, die Erschließung des eigenen Menschentums aus seiner
geistigen Welt, ist nur dem Bewußtsein eigener Zugehörigkeit erreichbar;
an der Deutung der Dichtung als höchsten Ausdruckes nationalen
Lebens und an der Erkenntnis ihres Zusammenschlusses zu einer
rassisch gegründeten und im Lauf der Geschichte schicksalsmäßig
vollendeten Einheit muß nicht nur Kenntnis, sondern Selbsterkenntnis
beteiligt sein. Das gilt für die Arbeit des deutschen Germanisten
ebenso wie für die des englischen Anglisten, der französischen, italienischen,
spanischen Romanisten oder der polnischen, tschechischen,
russischen Slavisten.


In keiner Weise soll damit die erprobte Leistung deutscher Anglisten,
Romanisten, Slavisten oder englischer, französischer, italienischer
Germanisten herabgesetzt werden. Ihnen liegen in vieler Hinsicht
weit schwerere Aufgaben ob, die vielleicht hie und da noch
größeres Verdienst in sich schließen. Die Erforschung fremder Literaturen
hat andere Ansatzpunkte schon dadurch, daß die Grundvoraussetzungen
sprachlichen Verstehens mühsamer zu erarbeiten sind. Der |#f0030 : 6|

Gast des fremden Landes, der sein wesentliches Arbeitsmaterial dort
findet, kann durch Einleben und Einfühlen in Kultur und Denkweise
künstlich ─ oder sollen wir sagen: auf wissenschaftliche Weise? ─
sich einen Ersatz jenes liebevollen Heimatgefühls verschaffen, das
natürliche Voraussetzung des Verstehens bildet. Der gleichwohl auferlegte
Abstand befähigt wieder in mancher Beziehung zu einer umfassenderen
Sicht. Aus der Ferne können Einheiten, Zusammenhänge
und charakteristische Züge erkannt werden, die nationaler Befangenheit
vielleicht verborgen bleiben. Das Verhältnis ist ungefähr das
gleiche, wie das zwischen menschlichem Sichselbstverstehen und
Fremdverstehen, wobei eines die Voraussetzung und den Maßstab
des andern darstellt. Wie man fremde Sprachen nur von der
Muttersprache aus lernen kann, so ist auch ein Eindringen in fremde
Literaturen nur von der eigenen aus möglich. Beidemal aber
schärft sich Gehör und Blick sowohl für das Fremde als für das
Eigene. Entwickelt sich vom Boden der eigenen Kultur aus eine
strengere Kritik am Fremden und umgekehrt von der fremden Kultur
aus am Eigenen, so verdient das, selbst wenn es Mißverstehen
bedeutet, auf der anderen Seite Beachtung, und wenn es zu richtigem
Verstehen gelangt, bringt es um so höheren Gewinn. Das
Bewußtsein, von anderer Seite verstanden zu werden, reizt und
steigert die Selbsterkenntnis, so daß sich ein fördernder Ausgleich
zwischen der fremden und der eigenen Beurteilung herzustellen
vermag:


Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben;
willst du die andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz.

Ein Beispiel solcher Wechselwirkung ist etwa Lessings Kritik an der
französischen Tragödie, die nicht nur die Absicht erreichte, Deutschland
von einer lähmenden Überschätzung zu befreien und zur Selbsterkenntnis
zu bringen, sondern die auch in Frankreich für die folgenden
Perioden starken Eindruck erzielte, etwa bis zu Victor Hugos
„Préface de Cromwell“ hin. Die Gegenkritik, die sich schließlich
dort durchsetzte, hat dann wieder die deutsche Wissenschaft zu
einem gerechten Verstehen der Formkunst, die aus dem französischen
Geiste zu begreifen ist, führen können.


Es bleibt aber dabei, daß die maßgebende nationale Literaturgeschichte
jedes Volkes, das eine große lebendige Literatur besitzt,
nur in seiner eigenen Sprache geschrieben werden kann; sie weist der
Wissenschaft sowohl für fremde Betrachtung der eigenen als für
eigene Betrachtung der fremden Literaturen den Weg. Es ist indessen |#f0031 : 7|

auffallend, wie selten solche Darstellungen bester Kenner, die
in ihrem eigenen Lande klassische Geltung besitzen, in fremde
Sprachen übersetzt werden. Ganz anders ist es bei philosophischen
oder geschichtlichen Werken und vor allem bei den Dichtungen
selbst. Die nationalen Literaturgeschichten fremder Völker leisten
den Ansprüchen der Leserkreise, die jene fremde Literatur vom
eigenen Standort aus sehen wollen, nicht Genüge. Damit erledigt
sich auch der Gedanke, etwa eine Geschichte der Weltliteratur
dadurch zu gewinnen, daß jede Nationalliteratur von einem Forscher
dieser Nation dargestellt würde. Auch wenn das polyglotte
Sammelwerk schließlich in eine einheitliche Sprache übersetzt
würde, wäre es doch keine Einheit, sondern das, was Ernst
Troeltsch einmal „Buchbindersynthese“ genannt hat: ein Nebeneinander
verschiedener Literaturgeschichten, die keinen Organismus
bilden und nicht ineinander gefügt werden können, weil sie alle
von verschiedenem Standort aus geschrieben sind. Der Standort, der
den Mittelpunkt bildet, ist der des Eigenerlebnisses. Das ist der
Sinn des Goetheschen Ausspruches: „Über Geschichte kann niemand
urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat. So geht es
ganzen Nationen. Die Deutschen können erst über Literatur urteilen,
seitdem sie selbst eine Literatur haben.“


Jede Darstellung einer fremden Literatur ist eine Art vergleichender
Literaturgeschichte, indem sie bewußt oder unbewußt Maßstäbe
des eigenen Geisteslebens zur Beurteilung heranzieht. Die „allgemeine
Literaturgeschichte“ oder „Literaturvergleichung“, die in
den meisten außerdeutschen Ländern neben den Philologien als
eigenes Hochschulfach gelehrt wird, will mehr. Sie wird in der
Regel als ein Überblick über das zeitgenössische Schrifttum aller
Kulturländer betrieben, also als Literaturkritik und angewandte
Ästhetik. Oder sie erscheint als europäische Literaturgeschichte der
Neuzeit, wobei die eigene Nationalliteratur als gebend und empfangend
so sehr im Mittelpunkt steht, daß das Gebiet sich beinahe
mit Geschichte der Nationalliteratur und ihren Ausstrahlungen
deckt. Beispielsweise überträgt die französische „littérature comparée“
das Prinzip des Völkerbundes auf die Wissenschaft, wobei
die Geltung des Französischen als Verhandlungssprache und die
Anerkennung der französischen Literatur als Repräsentantin des
europäischen Geistes Voraussetzung ist. Gleiches können andere
nationale Literaturgeschichten von ihrem Felde aus ebenfalls leisten,
z. B. hat Adolf Bartels für eine allgemeine Literaturgeschichte die
Beziehungen Goethes zur Weltliteratur als Leitfaden benutzt, wodurch |#f0032 : 8|

ihm eine stoffliche Beschränkung auferlegt war. Wieder nach einer
anderen Methode hat das Ehepaar Chadwick in Cambridge ein riesig
angelegtes Werk „The growth of literature“ begonnen, das die typischen
Entwicklungsstufen der griechischen, irischen und altgermanischen
Dichtung vom heroischen Zeitalter an in Parallele setzt, um
dann auf russische, jugoslawische und altindische Literatur zu kommen.
Der vorläufig unübersehbare Plan beschränkt sich (unter Verzicht
auf Ostasien) auf die den Bearbeitern bekannten Literaturen und
verzichtet damit auf den Anspruch universaler Literaturbetrachtung.


Bei der allgemeinen Literaturbetrachtung, die sonst vornehmlich
in den angelsächsischen Ländern unter dem Namen „literary
criticism“ als eigene Wissenschaft betrachtet zu werden pflegt,
ist die Übersetzung fremder Dichtungen den Originalen der
eigenen Literatur gleichgeordnet. Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit
eine Auslese, für die die Existenz von Übersetzungen,
seien es gute oder schlechte, überhaupt maßgebend ist. So leugnete
z. B. vor 25 Jahren ein als Literaturkritiker angesehener
Professor der Columbia-Universität die Existenz einer neuen deutschen
Lyrik von Bedeutung, weil ihm keine Übertragungen ins
Englische bekanntgeworden seien. Mit gleicher Logik könnte man
behaupten, es gebe in Deutschland keinen Frühling, weil die amerikanische
Reisezeit erst im Juni beginnt.


Wie weit Übersetzungen als wissenschaftliches Material oder als
Bildungsmittel zu betrachten sind, steht dahin. Das Arbeiten mit
ihnen genügt nicht dem fundamentalen Grundsatz, nach dem jedes
Werk in seiner ursprünglichen Gestalt auf Wirkung, Sinn und Wert
befragt werden muß. Aber es ermöglicht wenigstens persönliche
Teilkenntnis und läßt das allerunwissenschaftlichste Verhalten, nämlich
das genügsame Weiterschleppen fremder Urteile und toter Inhaltsangaben,
vermeiden.


Es gibt allerdings Fälle, in denen Hilfsmittel letzterer Art auch von
der Wissenschaft in Anspruch genommen werden müssen, falls nämlich
ein Original verloren ging. Wenn nichts anderes als der unvollkommene
Ersatz zur Hand ist, so bedeutet das für den Literarhistoriker
ungefähr dasselbe und stellt dieselben kritischen Aufgaben
wie für den Historiker der angezweifelte Quellenbericht über ein
unbezweifelbares geschichtliches Ereignis.


Auch Übersetzungen und Bearbeitungen können in solchem Fall
Lückenbüßer sein: man ist dankbar für die arabische Überlieferung
des Aristoteles und für die koptische Übersetzung des Mani als Inhaltsvermittlung
von Lehren, die uns sonst nur entstellt überliefert |#f0033 : 9|

oder ganz verloren wären. Für die Literaturgeschichte im besonderen
bedeutet es noch etwas mehr, wenn Sievers aus der angelsächsischen
Genesis die Existenz der altsächsischen Grundlage, einen
späteren Fund vorausnehmend, erschließen konnte, wenn Heusler in
Analogie zur Eddadichtung die deutschen Vorstufen des Nibelungenliedes
rekonstruierte oder wenn Bédier für die französische Literaturgeschichte
das großenteils verlorene Tristan-Epos des Thomas aus
Gottfried von Straßburg zurückzugewinnen suchte. Für ästhetische
Beurteilung aber bietet solcher Ersatz keine Handhabe.


Nun mag sprachliche Unzugänglichkeit des Originals in manchen
Fällen gleichviel bedeuten wie Verlust. Die Inanspruchnahme der
Übersetzung ist dann ein Notbehelf wie für den Kunstforscher Gipsabguß
und Photographie. Aber der Besuch Griechenlands, Spaniens,
Italiens, Frankreichs bleibt dem, der über die Kunst dieser Länder
arbeitet, unentbehrlich, ebenso wie der Geograph nicht mit Landkarten,
der Geologe nicht mit Steinsammlungen, der Botaniker nicht
mit Herbarien und botanischen Gärten sich begnügen kann. Nur vom
Astronomen kann man nicht verlangen, daß er die Sterne, die er erforscht,
selber bereist; er muß sich mit dem Teleskop begnügen. Für
den Literaturhistoriker aber heißt es: „Wer den Dichter will verstehn,
muß in Dichters Lande gehn.“ Das Land des Dichters ist seine
Sprache, und die Sprache ist Ausdruck seiner Volkheit.


Als Organismus ist jede Nationalliteratur nur innerhalb der
Sprache, in der sie west und wirkt, der sie eingeboren ist und die
in ihr geboren wird, zu fassen. Wohl können einzelne Stücke verpflanzt
werden wie die Ableger eines Baumes, der in fremdem
Boden sein verjüngtes Ebenbild erlebt; aber der urwüchsige
Baum bleibt da stehen, wo er in Jahrhunderten gewachsen ist;
er ist mit seinen weitgreifenden Wurzeln durch kein Übersetzungswerk
übertragbar. Noch weniger ist es der ganze Wald, dem er
angehört.


Wenn man den Blumenmarkt aufsucht, der die Austauschprodukte
aller Länder zur Schau stellt, gelangt man auf das Gebiet, das
Goethe zuerst als „Weltliteratur“ bezeichnet hat. Der Schöpfer des
Wortes hat keinen Zweifel gelassen, daß er darunter nicht die Gesamtheit
des literarischen Schaffens der Menschheit verstand, sondern
die jeweilige Zusammenstellung der edelsten und charakteristischsten
Gewächse aller Zonen, verpflanzt auf den gemeinsamen Boden einer
Übersetzungssprache:


Laßt alle Völker unter gleichem Himmel
sich gleicher Gabe wohlgemut erfreu'n.
|#f0034 : 10|


Es handelt sich um keinen Wald, sondern um einen botanischen
Garten, der die Fülle vielfältigsten Wachstums in einem alle geographische
Trennung überwindenden Überblick zu genießender Anschauung
und vergleichender Betrachtung übermittelt. Wenn dabei
nach Möglichkeit die Daseinsform jeder Pflanze in einer ihrem ursprünglichen
Wesen entsprechenden Gestalt erhalten wird, so ist es
das Ergebnis eines Zusammengehens von Kunst und Wissenschaft. Je
fremdartiger das Gewächs, desto mehr ist die gärtnerische Pflege
(und ihr entspricht die Kunst des Übersetzers) auf das vorausgegangene
wissenschaftliche Studium der geologischen, physiologischen
und klimatischen Lebensbedingungen, die an Ort und Stelle
zu erforschen sind, angewiesen.


Wie der botanische Garten in Zusammenstellung der ihrem
Mutterboden entrückten Gewächse die räumliche Trennung aufhebt,
so bedeutet das Pantheon der Weltliteratur, das Museum der Übersetzungskunst
eine Überwindung der zeitlichen Trennung. Mit dem
Verlust ihrer ursprünglichen Sprachform sind die literarischen
Denkmäler dem geschichtlichen Zusammenhang, dem sie entwachsen
waren, entzogen. Sie gehören in dieser Form nicht mehr der Geschichte
ihrer eigenen Literatur an, denn sie tragen das Kleid
fremden Schrifttums, innerhalb dessen sie nun gleichfalls ihre geschichtliche
Wirkung ausüben können. Eigentlich aber sind sie durch
Vervielfältigung ihres Sprachgewandes, durch die Zwischenschaltung
zwischen zwei oder mehr Literaturen, durch ihre Erklärung zum übernationalen
Gemeingut überhaupt dem Gebiet der Geschichte entrückt.
Sie sind in ein neues Sein verpflanzt, dessen ewige Dauer indessen
keineswegs verbürgt ist. Die Hauptsache ist die Vergegenwärtigung.
Jede Übersetzung stellt das übertragene Werk auf
die Probe der Gegenwartswirkung seines Gedankengehalts und
seiner sprachlichen Form. Am wenigsten tritt die damit verbundene
Umdeutung in Erscheinung, wenn das übertragene Werk der eigenen
Zeit und einem verwandten Kulturkreis angehört. Je weiter das
Original dagegen räumlich und zeitlich entlegen ist, desto mehr
bedeutet die Arbeit des Übersetzers eine gewaltsame Aktualisierung,
die trotz oder wegen ihrer Gegenwartsnähe in ihrer Willkürlichkeit
schneller veraltet als die Urform, die den ihr eignenden Ewigkeitswert
unveränderlich bewahrt. Übersetzungen müssen im Laufe der
Zeit immer revidiert und erneuert werden und können, weil ihnen
nie die Identität mit dem Original erreichbar ist, immer nur eine
relative Geltung beanspruchen. Schon Cervantes hat die Übersetzung
mit der Rückseite eines flämischen Gobelins verglichen, und Wilhelm |#f0035 : 11|

v. Humboldt bezeichnete alles Übersetzen als Versuch zur Lösung
einer unmöglichen Aufgabe.


Wenn ästhetische Kritik, ideelle Deutung der Probleme, Beobachtung
der Technik und des Stils sowie vergleichende Betrachtung
gegenüber Übersetzungswerken ihres Amtes walten, so kann es immer
nur mit dem Vorbehalte geschehen, daß zwischen der Ursprünglichkeit
und dem Betrachter ein fremdes Mittlertum steht, ein mehr
oder weniger durchsichtiger Schleier, dessen Dämpfung vielleicht
durch grellere Beleuchtung aufgehoben wird, der aber notgedrungen
eine verfälschende Färbung mit sich bringt.


Wir wiederholen: alle Literaturgeschichte hat es mit Nationalliteratur
zu tun; sie hat entweder auf dem vaterländischen
Boden oder innerhalb eines bestimmten Kulturkreises einzusetzen.
Trotz dieser Beschränkung darf sie keine Scheuklappen
tragen; sie hat das Auge nicht zu verschließen vor der
gleichartigen Arbeit, die auf anderen Gebieten geleistet wird. Ihr
Blickfeld muß viel weiter sein als ihr begrenztes Arbeitsgebiet.
Isolierung würde geistige Verarmung bedeuten. Die ideelle Möglichkeit
eines Zusammenschlusses der verschiedenen Literaturgeschichten
zu einer Gesamtschau, die dann allerdings nicht mehr rein
geschichtlich sein kann, bleibt im Auge zu behalten. Das wäre gewissermaßen
eine Literaturgeschichte des „Als ob“. Man lese, man
studiere, man forsche, man stelle dar, als ob eine universale Literaturgeschichte
zu schaffen sei. Das imaginäre Ziel, das wie der
Blickpunkt einer ins Unendliche führenden Perspektive im Hintergrund
steht, beherrsche von allen Standorten aus die Einzelforschung.
Sie hat sich einzuordnen einem System, das den strategischen
Grundsatz des Getrenntmarschierens und Vereintschlagens
verkörpert, das in seinen Signalen allen am Werk Befindlichen verständlich
ist, das Generalbaß, Harmonielehre und Notenschrift der
wissenschaftlichen Komposition bedeutet. Dieses System muß seiner
Idee nach allgemeine Literaturwissenschaft heißen; es muß Gültigkeit
haben für das Nächste wie das Fernste, muß jedem einzelnen gerecht
werden und darüber hinaus der Dichtung in ihrer höchsten Ganzheit
verschrieben sein.


Keine Wissenschaft ist ohne Forschung denkbar; aber Forschung
allein macht nicht die ganze Wissenschaft aus. Man muß auch Bildung,
Darstellung, Kritik und Lehre dazu rechnen, die Voraussetzung,
Begleitung, Richtung und Auswertung der Forschung bedeuten.
Ohne den Hintergrund weltliterarischer Umschau, ohne ästhetisches
Urteil, ohne künstlerischen Sinn und Gestaltungskraft, ohne Klarheit |#f0036 : 12|

über den Sinn der Arbeit, ohne sich mitteilende Liebe und erwärmende
Überzeugungskraft, die mit der Anleitung neue Aufgaben
stellt, ist alle literarische Forschung zur Unfruchtbarkeit verurteilt.
Dieser ganze belebende Umkreis muß in dem gekennzeichneten
System eingeschlossen sein.


Zusammenfassend können wir sagen: es gibt so viele Literaturgeschichten,
als es Literatursprachen gibt; aber es gibt nur eine
Literaturwissenschaft. Man hat sich zwar in Deutschland daran gewöhnt,
das Wort Literaturgeschichte ganz durch den neuen Ausdruck
zu ersetzen und die „deutsche Literaturwissenschaft“ als Forschungsgebiet
zu betrachten. Man müßte folgerichtigerweise dann auch von
französischer und englischer Literaturwissenschaft sprechen, aber
man tut es höchstens im Sinne der Zunft, nicht des Gegenstandes.


Wie kam es zu diesem Widerspruch? Man wollte der vielverkannten
Poetik einen ebenbürtigen Platz neben der Literaturgeschichte
erobern, indem man beide vereinte. Man glaubte, mit dem ängstlichen
Gebrauch des neuen Wortes eine Abkehr vom Historismus
zu vollziehen und der Deutung des Seienden, des lebendigen Kernes
in seinem ewigen Wert gegenüber der Überbewertung des Gewesenen,
der äußeren Umstände des Entstehungsvorganges und der
geschichtlichen Zusammenhänge zu ihrem Rechte zu verhelfen. Als
ob nicht alle Geschichtswissenschaft der Vergegenwärtigung diente
und jede wissenschaftliche Gegenwartsbetrachtung Geschichte würde!


Man konnte wohl versuchen, eine wissenschaftliche Betrachtung
der Gegenwartsliteratur zu rechtfertigen, indem man die in Anwendung
gebrachte ästhetische, formale, stilistische Kritik als Mittel der
literaturwissenschaftlichen, nicht der literarhistorischen Methode
ausgab. Aber wenn auch Sammlung und Kritik mit durchaus wissenschaftlichem
Ernst betrieben wurde, änderte sich nichts daran, daß
die Eingliederung des Gegenwartswertes bereits den Anfang geschichtlicher
Betrachtung bedeutet, und daß sich in deren Fortschreiten
bald eine andere Beurteilung einstellt. Man braucht bloß einmal die
verschiedenen Auflagen vielgelesener Darstellungen der Gegenwartsliteratur
zu vergleichen, um zu sehen, wie sich nicht Stoff und nicht
Methode, sondern der Standort desselben Betrachters verändert hat.


Früher, und zwar in Jahrhunderten, in denen es noch keinen
Historismus gab, hat man auch von „Naturgeschichte“ als Fach gesprochen.
Nachdem die Bezeichnung „Naturwissenschaften“ sich
durchgesetzt hatte, sind die „Geisteswissenschaften“ gefolgt, aber sie
haben dann wieder einen Zusammenschluß zur „Geistesgeschichte“
vollzogen. Der Ausdruck „Literaturwissenschaft“ kam genau in dem |#f0037 : 13|

Zeitpunkt auf, als die großen methodologischen Auseinandersetzungen
zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher
Begriffsbildung begannen und soviel Raum einnahmen, daß
die Literaturgeschichte selbst fast dahinter zurücktrat. Literatur-
wissenschaft wurde die Methodenlehre genannt, die aus jener
großen kritischen Selbstbesinnung hervorging, und wenn das, was
an Literatur geschichte übrig blieb, nun gleichfalls jenen
Namen erhielt, so wurde es als angewandte Methodenlehre gekennzeichnet.
Manche literarhistorische Untersuchung der letzten Jahrzehnte
ist in der Tat nichts anderes gewesen. Es ist aber nun wohl
an der Zeit, die Begriffe dahin zu klären, daß die einzelnen Literaturgeschichten
als Forschungsgebiete ihren Namen behalten, weil
jede Nationalliteratur als Ganzes allein der geschichtlichen Betrachtung
ihren organischen Zusammenhang erschließt. Die allgemeine
Literaturwissenschaft dagegen stellt die durchsichtige Kuppel eines
Mittelbaues dar, auf den sie alle hinlaufen. Sie gibt ihnen als gemeinsame
Methodenlehre Richtung und Licht.


b) Begriff der Methodenlehre


Wenn die Methodologie der Literaturgeschichte in letzter Zeit, in
Deutschland mehr als in anderen Ländern, beinahe ein eigenes
Wissenschaftsgebiet wurde, das zeitweilig die Forschung selbst aus
dem Vordergrund des Interesses zu verdrängen drohte, so war es
ein Krisenzustand, der kein normales Verhältnis darstellt und nicht
von Dauer sein kann.


Indem wir von Prinzipien einer Wissenschaft sprechen, erwecken
wir den Anschein, als ob Zielsetzungen, Wege zur Erkenntnis und
Anfangsgründe bereits vor der Forschung da wären. Das sind sie
gewiß als Idee: als Forderung und Wille zur Erkenntnis der Wahrheit.
Aber diese Idee wird materialisiert im Stoffe der Forschung;
sie hat erst Gelegenheit, in Erscheinung zu treten in praktischer
Arbeit. So entfaltet sich Methode erst innerhalb der gestellten Aufgaben;
sie wird diktiert durch die Ziele der Wissenschaft und erprobt
sich in ihrer Wirksamkeit durch den Erfolg der Annäherung
an das gestellte Ziel. Methodenlehre ist deshalb in erster Linie
Rechenschaftsbericht der Forschung; sie kann es in dem Maße sein,
daß ein Philosoph der Gegenwart, Nicolai Hartmann, die Methodologie
als Epigonenarbeit bezeichnet hat, die nicht geeignet sei,
Wege zu weisen. Daran ist richtig, daß die Methode von sich aus
keine Ziele setzt; wohl aber ist sie ein Wegweiser, der sinnlos wäre |#f0038 : 14|

ohne gebahnte Straßen, und diese wiederum hätten keinen Sinn
ohne Ausgangspunkt und Ziel. Jedes neue Ziel verlangt, daß neue
Wege eingeschlagen werden, die aber mit den bisher begangenen
Straßen in irgendeinem Zusammenhang stehen müssen. Das Ziel bedingt
die seiner Beschaffenheit angemessene Einstellung. Die Methode
wird durch das Ziel bestimmt, während eine Bestimmung des Ziels
von der Methode aus höchstens in sekundärer Übertragung durch
Analogie erfolgen kann.


Der Philosoph Hegel nannte zwar die Methode die schlechthin
unendliche Kraft, die alle Objekte widerstandslos durchdringt.
Eine alleinseligmachende Methode kann es indessen in keiner
Wissenschaft geben. Es gibt vielmehr ebenso viele Methoden, als
es Standorte und Zielsetzungen gibt; aber alle diese Wege müssen
das eine gemeinsam haben, daß sie der Arbeit eine planmäßige
Richtung geben und eines Ergebnisses sicher sind, dessen Wert in
einem gewissen Verhältnis zur aufgewandten Mühe steht. Methode
ist Denkordnung in der Arbeit. Methode ist der sicherste Weg vom
Standort zum Ziel; es braucht nicht der kürzeste zu sein, sondern
die Flugbahnkurve kann auch durch indirekte Zielbestimmung errechnet
werden. Man kann die Methode deshalb der Wahl des richtigen
Visiers für den Schützen vergleichen. Je näher das Ziel liegt,
desto größer die Treffsicherheit; je größer die Tragweite, desto
stärker die Wirkung. Aber Geschütz und Ladung müssen der Aufgabe
entsprechen. Ebenso kindisch ist es, mit Kanonen nach Spatzen
zu schießen als mit einem Blasrohr den Mond herunterholen zu wollen.


Methode ist nicht gleichbedeutend mit Fleiß. Man könnte sie sogar
den Gegensatz des bloßen Fleißes nennen, insofern sie überflüssigen
Arbeitsaufwand erspart. Wenn man gesagt hat, Genie sei
Fleiß, so kann doch keineswegs mit Umkehr dieses Satzes jeder
Fleiß genial genannt werden. Aber wohl trägt das wahre wissenschaftliche
Ingenium sowohl Fleiß als Methode in einem Antrieb, der
kaum der Anleitung bedarf, in sich. In diesem Sinne hat ein großer
Gelehrter wie Adolf v. Harnack einmal gesagt, Methode sei nichts
anderes als Mutterwitz. Wiederum wollte ein Darstellungsvirtuos
wie Friedrich Gundolf Methode mit unübertragbarer Erlebnisart
gleichsetzen. Beides bezeugt, daß Methode sich aus der Gelegenheit
herausbildet. Bloßer Fleiß ohne planmäßige und zielbewußte Anwendung
wäre Kraftverschwendung, daher überflüssig und geradezu
schädlich. Bloße Methode ohne praktischen Einsatz des Fleißes wäre
Leerlauf der Reflexion, ein bloßes Stimmen der Instrumente ohne
Musik. Methode ist Rationierung der Arbeitskraft; sie ist das ökonomische |#f0039 : 15|

Prinzip in der Wissenschaft, das unter Nutzbarmachung aller
bisherigen Erfahrungen und Hilfsmittel eine Kraftersparnis zum
Zwecke erhöhter Leistung bedeutet.


Köstliche Beispiele sinnlos angewandten Fleißes hat Jean Paul in
seinem aus fünfzehn Zettelkästen gezogenen „Leben des Quintus
Fixlein“ dem Spott überantwortet. Der armselige Pedant, der sämtliche
Druckfehler der deutschen Literatur sammelt, eine Statistik
der Vokale in Luthers Bibelübersetzung anlegt und außerdem errechnet,
welches der mittelste Buchstabe oder das mittelste Wort der
Bibel ist, stellt die idyllische Karikatur eines sportlichen Geduldspiels
dar, das man beileibe nicht philologisch nennen darf, weil es
nichts von Logos an sich hat. Aber es ist nicht zu leugnen, daß
literarhistorische Statistik nach naturwissenschaftlichen Methoden
gelegentlich ähnlich seltsame Früchte verschwendeten Fleißes gezeitigt
hat, die wiederum zu Unrecht das Sitzfleisch überhaupt in Mißkredit
brachten.


Ob Fleiß methodisch angewandt ist, ergibt sich erst nach erreichtem
Ziel. Entscheidendes Kriterium für die Richtigkeit der Methode
ist der fruchtbare Erfolg. Ist kein Ziel erreicht und kein Ergebnis
gewonnen, so war die ganze Mühe umsonst. Der Wert des Ergebnisses
hängt davon ab, ob wenigstens eine Etappe auf dem Weg zum
Ziel gewonnen ist, von der aus andere weiter vordringen können,
denn alle wissenschaftliche Forschung ist Gemeinschaftsarbeit in der
ablösenden Aufeinanderfolge des Stafettenlaufes, der sich von Zeit
zu Zeit wiederholt. Die Richtigkeit des letzten Ergebnisses hängt
jedesmal von der Folgerichtigkeit des ganzen durchlaufenen Weges ab
und von der zwingenden Beweiskraft der Schlüsse, die der letzte
Fackelträger zu ziehen hat. Er überbringt als Darsteller des Ganzen
die Meldung ans Ziel. Im Ziel rechtfertigt sich erst die angewandte
Methode; alle wissenschaftliche Kritik ist daher Prüfung der
Methode, und alle Methodenlehre kann nichts anderes sein als Kritik
des Ganges der Wissenschaft.


Nicht nur die Forschung selbst und der Weg der Untersuchung
müssen planmäßig sein, sondern auch die Darstellung des Ergebnisses
muß Überzeugungskraft haben. Erste Voraussetzung dieser
Überzeugungskraft wie der ihr gegenübergestellten Kritik ist Logik:
es kommt auf Klarheit der Begriffe und auf Schlüssigkeit ihrer Anwendung
an sowohl für die Darlegung als für das Verstehen. Das
Collegium logicum, das Mephistopheles dem ersten Semester empfiehlt,
ist elementare Methodenlehre, wie sie in der mittelalterlichen
Scholastik das vollständige wohlgeordnete Wissenschaftssystem des |#f0040 : 16|

trivium und quadrivium in sich schloß. Ein deutscher Philosoph,
dessen Wirkung noch in unsere Zeit hineinreicht, Wilhelm Wundt,
hat als letzter den Versuch gemacht, die gesamte Wissenschaftslehre
in einer dreibändigen „Logik“ zusammenzufassen, deren Vollendung
die Methodenlehre als Rechenschaft über alle bei der wissenschaftlichen
Erkenntnis wirksamen Denkgesetze sein sollte. Wenn schon
vor ihm John Stuart Mill unter demselben Titel eine moderne Klassifikation
der Wissenschaften aufgestellt hatte, so geschah es in der
Blütezeit des Positivismus, der kaum einen Unterschied zwischen
naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methode anerkannte
und auf beiden Gebieten die Erkenntnis von Gesetzen
mechanischen Geschehens als letztes Ziel ansah. Mechanisch war
jedenfalls die Beweisführung, bei der logische Schlüsse wie Identität
und Kausalität, Methoden wie Statistik, Vergleich und Analogie in
erster Linie angewendet wurde.


Die idealistische Gegenbewegung, die in Deutschland um die Jahrhundertwende
mit Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband und Heinrich
Rickert in Erscheinung trat, grenzte die Geisteswissenschaften
von der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ab und leugnete die
Möglichkeit unabänderlicher Gesetze im geistigen Geschehen. Da
die Geschichte es mit Individuen, die Naturwissenschaft mit Gattungen
zu tun hat, entstehen verschiedenartige Kausalreihen und
andere Begriffe des Wertes, die eine Umstellung der logischen
Denkens bedingen. Hier wurde Erleben und innere Schau zur
Methode.


Seitdem mußte noch eine stärkere Differenzierung der Grundbegriffe
bei allen Einzelfächern eintreten, wodurch einheitliche
Wissenschaftsmethode überhaupt in Frage gestellt und ein geradezu
chaotischer Zustand herbeigeführt wurde. Einesteils nahm man den
Kampf auf gegen das Spezialistentum, gegen die Einengung des
Horizontes auf beschränkte Gebiete, gegen die Anwendung mikroskopischer
Analyse in den Geisteswissenschaften, für synthetische
Betrachtung, für Universalismus, lebendige Totalität und Wechselwirkung
aller Wissenschaften in einem Organismus. Andererseits
stellte sich die Erkenntnis her, daß die verschiedenartigsten Blickpunkte
wesentlich andersgeartete Einstellungen und Zielrichtungen
bedingten, so daß die entgegengesetzten Methoden, die durch besondere
Lagerung der Arbeitsgebiete gegeben sind, sich gegenseitig zu
fördern und zu berichtigen haben.


In der Literaturwissenschaft, die in die Mitte dieses Strudels gezogen
wurde, gab es statt einer Methode auf einmal zwei Dutzend. |#f0041 : 17|

Neben die altbewährte, aber beschränkte philologische Praxis, die
man nicht ganz aufgeben konnte, traten die neuen Richtungen, mit
deren Namen vom Anthropologischen, Biologischen, Charakterologischen,
Deskriptiven, Ethnologischen, Formanalytischen, Geopsychischen,
Historischen, Ideengeschichtlichen, Kosmischen bis zum Zentralproblematischen
man ein ganzes Alphabet ausfüllen konnte. Die
Programme begannen zuweilen mit radikaler Bankrotterklärung aller
bisherigen Wissenschaftsbemühung und mit Ankündigung einer aus
dem Zusammenbruch phönixgleich aufsteigenden Neubildung, bis dann
den kreißenden Bergen ein Wesen entkroch, das man eigentlich schon
kannte, wenn es auch noch nicht den großartigen Namen getragen
hatte. Ein Forscher schien nichts zu gelten, wenn er nicht eine neue
Methode benamst hatte, die an der Wissenschaftsbörse gehandelt wurde.
Es war nicht nur in Deutschland eine Inflationszeit der Methoden, die
inzwischen einer beruhigenden Stabilisierung der Kurse gewichen ist,
nachdem erkannt wurde, daß die Unterschiede zum guten Teil weniger
in der Forschungsweise als in der Darstellungsart lagen, in der persönlichen
Bestimmung des Standortes und Blickpunktes, in der Gewichtsverteilung
der Akzente, also in Fragen der künstlerischen Gestaltung.


Die Freiheit künstlerischer Darstellung, die von der auf streng
sachliche und unpersönliche Mitteilung ihrer Forschungsergebnisse
eingeschränkten Wissenschaftlichkeit des Positivismus oft verschmäht
worden war, hat den neue Wege suchenden Richtungen eine öffentliche
Wirkung zurückgegeben, auf die alle Lehren sowohl der Kunstwissenschaft
wie insbesondere der Nationalwissenschaft gemäß ihren
Bildungsaufgaben Anspruch haben. Die Nationalliteratur kann nicht
ein Reservat exklusiver Gelehrsamkeit sein, sondern sie ist ein
allgemein zugängliches Eigentum der Nation. Die ihr dienende
Wissenschaft hat nicht nur dem eigenen Gewissen zu folgen, sondern
sie hat dies zu verantworten vor Volk und Gemeinschaft. Die Verwaltung
des höchsten geistigen Besitzes darf sich nicht in zunftmäßiger
Enge einkapseln, sondern muß heraustreten zu persönlichem
Führertum, zu Werbekraft und gemeinverständlichem Unterricht.
Lagen die Gefahren dieser Aufgabe früher in seichter Popularisierung,
so drohte, sobald tiefdringende Darstellung selbst zum Wortkunstwerk
werden und gleichwohl Wissenschaft bleiben wollte, die
Wendung in das Gegenteil. Der Subjektivismus einer oft mehr verdunkelnden
als erhellenden, geistreichen Künstelei, das Selbstgefühl
fesselnder schriftstellerischer Originalität und der Wagemut eigenwilliger
Konstruktion entgingen nicht immer der Versuchung, den
Boden der Tatsachenforschung, über den man sich erheben wollte, |#f0042 : 18|

unter den Füßen zu verlieren und das Gewissen für unumstößliche
Zuverlässigkeit zu verdrängen.


Hier lag der Boden der kritischen Auseinandersetzung. Das starke
neue Leben, das auf allen Gebieten der Geisteswissenschaft erwachte,
das vom naturwissenschaftlich beengten Positivismus zu einem metaphysisch
gerichteten Idealismus hindrängte, das den Übergang von
der analytischen Methode zur synthetischen, von der Einzelbeobachtung
zu großen Überblicken erstrebte und das zugleich der Möglichkeit
tieferen Einblickes auf dem Wege der Intuition sich bewußt
war, begründete sein Dasein zunächst mit schonungsloser Kritik an
dem bisherigen Gange der Wissenschaft, also mit Methodologie, d. h.
Prüfung der bisher eingeschlagenen Wege und des Wertes der bisher
errungenen Ergebnisse.


Ein großer Aufwand schien schmählich vertan, und kein anderes
Zitat wurde lieber angewandt als die mephistophelische Ironie:


Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt leider nur das geistige Band.

Aber man brauchte nur ein paar Seiten in der Dichtung zurückzublättern,
so stieß man auf das Faustwort, das der sich so absurd
gebärdenden Jugend von den Alten entgegengehalten werden konnte:


Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.

Was in diesem Zeitpunkt als Generationsgegensatz in Erscheinung
trat, war im Grunde ein uralter, im Wesen des Gegenstandes gegebener
Unterschied. Schon Friedrich Theodor Vischer hat zu einer
Zeit, als noch kaum von literarhistorischer Disziplin die Rede war,
jene spöttische Gruppierung der Faustausleger in die Stoffhuber
Scharrer, Karrer, Brösamle und die Sinnhuber Deuterke, Grübelwitz,
Hascherl vorgenommen, die künftige Spannungen vorausahnte.


Das größte Werk der deutschen Dichtung, das zugleich überzeitliches
Denkmal der Menschheit ist, kann nicht allein aus dem nationalen,
zeitlichen und persönlichen Zusammenhang seiner Entstehung
erklärt werden, sondern fordert eine absolute Deutung seines Sinnes.
Wenn nun die philologischen Stoffhuber nach Kritik des Textes,
Quellennachweisen und Einzelerklärungen, die den Wortgebrauch des
Dichters und seiner Zeit zu Rate zogen, die Entstehungsgeschichte
unter Datierung jeder einzelnen Szene und unter Erkenntnis aller |#f0043 : 19|

Lebenszusammenhänge feststellten, so unterlagen sie der Neigung,
Widersprüche in Form und Stil aufzuspüren und als Niederschlag
verschiedener Arbeitsphasen zu erklären. Das Ganze war als persönliche
Bekenntnisdichtung in entwicklungsmäßigem Zusammenhang
mit besonderen Lebensproblemen Goethes und seiner Zeit zu sehen,
wobei in relativierter Betrachtung die unbedingte Einheitlichkeit des
Sinnes entschwand.


Den philosophischen Deutern dagegen kam es immer auf das Ganze
an, auf seinen Ewigkeitsgehalt, auf die von Goethes persönlichem
Leben loszulösende metaphysische Idee, in deren Gestaltung kein
Widerspruch zu finden war, wenn man nur den richtigen Schlüssel
der Deutung besaß. Zu Vischers Zeiten glaubte man ihn mit der
Hegelschen Philosophie in der Hand zu halten, später in anderen
Systemen, und wo der Gedankengehalt nicht auszulegen war, gebrauchte
man von außen herangebrachte Unterlegung, so daß der
Wandel der philosophischen Faustdeutungen in seiner Art ebenfalls
einen Relativismus darstellt, der durch die jeweilige persönliche
Einstellung des Deuters und seine Bindung an die Weltanschauung
des Zeitalters bedingt ist.


Beide Parteien pflegten sich mit Geringschätzung zu mustern: die
einen blickten von der Höhe ihres Siebenmeilenstiefelfluges mit
Verachtung auf die Steinklopferarbeit des Wegebaus und den
kleinlichen Kram nebensächlicher Tatsachen, durch die das Verständnis
des Wesentlichen nur verbaut und zugeschüttet wurde;
die anderen blickten mit Ingrimm auf die leichtfertige Anmaßung
des Nichtwissenwollens, mit der offenkundliche Tatsachen beiseite
geschoben oder umgebogen wurden, während blauer Weihrauchdunst
das Ganze umnebelte. Und doch war die Möglichkeit des Zusammengehens
da, wenn man den Schlüssel suchte in Goethes eigener Philosophie
und Lebensidee, die in allen erfahrungsmäßigen Wandlungen
doch einen ihm selbst bewußten einheitlichen Kern darstellt, und
wenn man den Mut aufbrachte zu kritischem Verständnis und verstehender
Kritik sowohl an dieser Lebensidee als an der künstlerischen
Ausprägung, die sie in den äußeren Wandlungen des Werkes
gefunden hat.


Vischers Meinung war jedenfalls, daß beide Parteien, die aneinander
vorbeiredeten, sich auf dem Holzwege befanden, und daß beide
Methoden in ihrer einseitigen Zielsetzung falsch seien. Wenn er schon
in seiner früheren Parade über die ersten Faustkommentatoren die
späteren Stoffhuber als die Nationalgarde des gesunden Menschenverstandes,
die Sinnhuber aber als das Linienmilitär der Philosophen |#f0044 : 20|

bezeichnet hatte, so konnte er beide Truppen als die zwei Flügel
einer Armee betrachten, die unter einheitlichem Kommando stehen
sollte. Ihre gegensätzliche Bewegung erweist sich in diesem Bilde als
Mangel strategischer Führung.


Aber auch die Strategie bedeutet nichts Unveränderliches. Als ein
System von Lehren, die durch jeden Feldzug auf neue Proben gestellt
und bereichert oder berichtigt werden, ist sie unter dem Fortschritt
der Technik, der Verbesserung der Waffen und dem Anwachsen des
Materials im Wandel der Zeiten einer Umstellung, nicht zwar ihrer
letzten Ziele, wohl aber ihrer Mittel unterworfen. Ebenso ist die
Methodenlehre in ständigem Fluß der Entwicklung Gegenstand eines
geistesgeschichtlichen Prozesses, in dessen rhythmischem Wechsel die
stoßende Gegensätzlichkeit den Motor des Fortschreitens bedeutet.
Jedes längere Beharren in einer einseitigen Richtung würde Erstarrung
nach sich ziehen, und Stillstand bedeutet den Tod der Wissenschaft.


2. Geschichtliche Entwicklung der Aufgaben

„Es gibt meines Erachtens keine bessere Methodologie
als die Geschichte jeder Wissenschaft.“


A. H. L. Heeren (1797)


a) Anfänge der Literaturwissenschaft


Angesichts des chaotischen Bildes, das die methodologischen Streitigkeiten
der letzten Jahrzehnte ergaben, glaubte Erich Rothackers
„Einleitung in die Geisteswissenschaften“ die Geschichte der neueren
Literaturwissenschaft nicht anders darstellen zu können „denn als
eine ziemlich diskontinuierliche Folge ungleich miteinander verbundener
Versuche, sich polyhistorisch, philosophisch, kritisch, politischhistorisch,
religionspolitisch, ästhetisch, schließlich philologisch und
neuerdings wieder ‚ideengeschichtlich‘ des literarischen Stoffes zu
bemächtigen, wobei erst ganz allmählich eine Tradition sich herausbildete“.
Wir glauben gleichwohl, in der Entwicklung dieser Wissenschaft
eine gesetzmäßige Folge wahrzunehmen, und vergleichen sie
der Wendeltreppe eines Turmes, die sich spiralförmig emporschraubt
und die gleichen Ausblicke unter Öffnung eines immer weiteren
Horizontes wiederholt. Der Turm wächst erst von einer gewissen
Höhe ab aus den Grundmauern der Gesamtwissenschaft heraus. Wenn
heute bereits ein bequemer Aufzug zur Arbeitsstätte emporführt, so
ist der Bau doch erst in mühsamer Arbeit von Jahrhunderten schrittweise |#f0045 : 21|

gefördert worden. Im Aufstieg überblicken wir die Stufenfolge
und sehen ringsum bald auf das noch nicht bearbeitete Baumaterial
herab, bald auf die Stätte, wo es behauen wird, bald erkennen
wir die Fügung des Mauerwerkes, die Konstruktion der Träger
und das Verhältnis zu den Nachbarbauten.


Die geschichtliche Darstellung von Sigmund von Lempicki läßt die
Literaturwissenschaft aus drei Quellen hervorgehen, die Literärhistorie,
ästhetische Literaturkritik und Geschichtswissenschaft genannt
werden. Wir können diese Entwicklungsgeschichte der deutschen
Literaturgeschichtsschreibung in allen ihren Zusammenhängen
als paradigmatisch für die Entstehung der europäischen Literaturwissenschaft
überhaupt übernehmen, um so mehr als das weniger
bedeutende englische Parallelwerk von O'Leary denselben Weg geht.
Nur werden wir statt Literärhistorie lieber Bücherkunde sagen und
die Steigerung der geschichtlichen Betrachtung zur Erkenntnis des
eigenen Wesens, zu nationalem Selbstbewußtsein und politischem
Bildungswillen als vierte Tendenz hinzufügen. Dann ergibt sich ein
Nacheinander von vier Gesichtspunkten: Sammlung, Kritik, Gliederung,
Deutung.


Fangen wir mit dem klassischen Altertum an, so hat es bereits
seine Denker geschichtlich geordnet, aber nicht seine Dichter. Zur
Erkenntnis entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhänge drang die
Betrachtung der Dichtung nicht vor. Dagegen wurden der ästhetischen
Kritik und der Stilkunde in Poetik und Rhetorik Grundlagen
gegeben, und für Bücherkunde sorgte der berüchtigte Alexandrinismus.



Im Mittelalter stehen sich wiederum Bücherkunde und ästhetische
Literaturkritik gegenüber. In deutschen Klöstern und Schulen wurden
biographische Kataloge nach bibliothekarischem Bedürfnis hergestellt.
Mönche wie Notker der Stammler von St. Gallen und Konrad
von Hirschau, Schulmeister wie der Bamberger Hugo von Trimberg,
Sammler wie Püterich von Reichertshausen reihen Namen von Dichtern
und Titeln ohne Gruppierung und Zusammenfassung aneinander.
Dagegen blüht die literarhistorische Umschau kritischen Charakters
in weltlichen Chroniken, epischen Dichtungen (Gottfried v. Straßburg)
und lyrischen Totenklagen. Geschichtlicher Rückblick wird
weiter gepflegt in der Herleitung des Meistersanges von den zwölf
alten Sängern, die vor Kaiser und Papst in Pavia Proben ihrer Kunst
abgelegt haben sollen. Diese Legende pflanzt sich nun fort in Liedern
und Berichten des 16. Jahrhunderts zu einer Zeit, da historische
Kritik bereits entwickelt war.

|#f0046 : 22|


Die Kritik ist eine Errungenschaft des Humanismus, dem allerdings
weniger die Fragen der Literaturgeschichte als die nach dem Wesen
der Dichtung, ihren Gesetzen, ihren Formen, ihrer Lehrbarkeit am
Herzen lagen. Immerhin unternahm der berühmteste Renaissancepoetiker
Julius Caesar Scaliger einen Vergleich zwischen den Alten
und Modernen, der auf eine Rechtfertigung der poetae recentiores
hinauslief und zu dem Grundsatz geschichtlichen Verstehens führte,
nach dem jede Dichtung mit dem Maßstab ihres Zeitalters zu beurteilen
sei.


In Deutschland aber ließ schließlich der Wettbewerb mit den
italienischen Humanisten den Stolz nationaler Selbstbesinnung ins
Bewußtsein treten. Schon Conrad Celtis als Entdecker der ältesten
deutschen Dichterin hat die Dramen der Hrotsvith von Gandersheim
nicht nur in bibliophiler Sammlerfreude, sondern in patriotischer
Begeisterung für die Vergangenheit des eigenen Volkes veröffentlicht.


Als sein Nachfolger hat der Schweizer Joachim von Watt (Vadianus)
an der Wiener Universität im Wintersemester 1512/13 die ersten
Hochschulvorlesungen über altdeutsche Literatur gehalten, die unter
dem Titel „De poetica et carminis ratione“ 1518 im Druck erschienen.
Die literarhistorischen Kapitel seines Buches, die deutscher Volksepik
wie geistlicher Dichtung des Mittelalters ihren Platz zwischen den
antiken Literaturen und dem zeitgenössischen humanistischen Schrifttum
zuweisen, fügen zum erstenmal die deutsche Dichtung in den
Gang der Weltliteratur ein. Damit ist die erste Runde beschlossen.


b) Zweite Runde: Reformations- und Barockzeit


Der Kreisgang von Sammlung, Kritik, geschichtlicher Gliederung
und Aufnahme in das Nationalbewußtsein beginnt von neuem. Ein
durch die Renaissance und durch die Erfindung des Buchdrucks
unendlich erweiterter Gesichtskreis regt die Wiederaufnahme bibliographischer
Tätigkeit an. Nachdem schon der Abt Trithemius, der
Entdecker Otfrids, in seinem „Catalogus illustrium virorum“ (1480)
zur mittelalterlichen Form des Schriftstellerverzeichnisses zurückgekehrt
war, worin der protestantische Theologe Flacius Illyricus
ihm folgte, erfuhr die Bücherkunde eine entscheidende Förderung
durch den großen Naturforscher Conrad Gesner, der nicht nur in
seinem „Mithridates“ den ersten Versuch vergleichender Sprachbetrachtung
machte, sondern in seiner „Bibliotheca universalis“ (1545)
das materielle Fundament für eine allgemeine Geschichte der Literatur
legte. Freilich blieb dieser bibliographische Grundriß auf Lateinisch, |#f0047 : 23|

Griechisch und Hebräisch als die sogenannten „heiligen
Sprachen“ beschränkt.


Auch die von den Humanisten entwickelte Kunst der Hermeneutik
ist im Reformationszeitalter hauptsächlich bei der Bibelauslegung
geblieben. Wenn durch Flacius Illyricus der „Heliand“ ans Licht
gezogen und Otfrids Evangelienbuch herausgegeben wurde, geschah
es, weil sie als geistliche Dichter und als Vorläufer von Luthers
Bibelübersetzung in einem „Catalogus testium veritatis“ auftreten
konnten und den Beweis lieferten, daß auch das Deutsche als eine
heilige Sprache, in der Gottes Wort verkündigt wurde, anzusehen sei.
Damit ist auch ein Hinweis auf die Größe der altdeutschen Heldendichtung,
der die Zuneigung Kaiser Maximilians gegolten hatte, verbunden.



Die vollständige Säkularisierung der Literaturgeschichte ist erst
im folgenden Jahrhundert erfolgt. Die Dichter der Barockzeit sind
wieder zu literarhistorischen Exkursen und ästhetischer Kritik zurückgekehrt,
und nach Opitz, Harsdörffer und Birken hat vor allem Hofmannswaldau
in der Vorrede seiner Gedichte eine Skizze der Weltliteratur
als Rückblick auf Vorläufer, Muster und Wurzeln seiner
Kunst gegeben. Eine wissenschaftliche „historia de literatura“, die
der „historia naturalis“ in einer universalgeschichtlichen Entwicklungsreihe
gegenübergestellt wurde, hatte bereits um die Mitte des
16. Jahrhunderts Christophorus Mylaeus skizziert, lange bevor Francis
Bacon in seinem Wissenschaftssystem ihr einen Platz als Teil der
„historia civilis“ zuwies. Nun aber wurde der nationalen Literaturgeschichte
die Aufgabe einer Gliederung gestellt, nicht nur der Eingliederung
in die universale Literaturgeschichte, sondern auch der
Gliederung in sich selbst. Der erste Versuch einer Periodisierung
der deutschen Dichtung steht mittelbar in Zusammenhang mit jenem
Dichterkreis, der der Opitzschen Reform Gefolgschaft leistete. Durch
August Buchner, den Professor der Poesie in Wittenberg, war sein
Schüler Karl Ortlob zu der Dissertation „De variis Germanae Poeseos
aetatibus exercitatio“ (1657) angeregt. Nach einem von Scaliger für
die römische Dichtung angewandten Schema und in einer Vergleichsform,
in der später noch Herders „Abhandlung über die Ode“ die
Lebensstufen der Dichtung entwickelte, wird eine Parellele zu den
menschlichen Lebensaltern durchgeführt, wobei allerdings Martin
Opitz und seinen Nachfolgern zuliebe an die „moribunda senectus“
noch eine fünfte Stufe „reflorescens felicitas“ angeschlossen wird.


Schließlich wird in diesem Jahrhundert, ähnlich wie bei den Humanisten,
eine kulturpatriotische Rechtfertigungstendenz aufs neue herausgefordert |#f0048 : 24|

durch die Überhebung anderer Völker. Namentlich ist
es der vielberufene französische Jesuitenpater Dominique Bouhours
gewesen, der durch seine freche Witzelei über die Undenkbarkeit
eines deutschen belesprit (Entretiens d'Ariste et d'Eugène 1671) die
Wache an die Gewehre rief. In aufgerütteltem Nationalstolz und in
der Berufung auf große Vergangenheit, deren Denkmäler ans Licht
gezogen werden mußten, bestand die Gegenwehr. Das ist die Tendenz,
aus der Daniel Georg Morhofs „Unterricht von der Teutschen
Sprache und Poesie“ (1682) hervorging, der schon in seinem Titel
die kulturelle Bindung von Nationalsprache und Nationaldichtung
festlegte.


c) Dritte Runde: Aufklärung und Sturm und Drang


Im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts setzt eine neue Sammeltätigkeit
ein, die sich nicht mehr auf das Ganze, sondern auf die
Nationalliteraturen bezieht. Während in Frankreich die Benediktiner
von St. Maur ihre „Histoire Littéraire de France“ (1733) beginnen
und während in England Cibbers „Lives of the Poets of Great Britain
and England“ (1758) alle biographischen Materialien zusammenstellen,
sammelt Gottsched Handschriften und Drucke des älteren
deutschen Dramas und gibt in seinem „Nötigen Vorrat“ (1757) das
Muster einer brauchbaren Bibliographie. Bodmer sieht aus den
Schlössern Vorarlbergs die von Obereit entdeckten Handschriften des
Nibelungenliedes aufsteigen und vermittelt in Herausgabe und Bearbeitung
verschiedene Proben aus der Poesie des „Schwäbischen“
Zeitpunktes. In seinem „Charakter der Teutschen Gedichte“ (1734)
war er vorher noch einmal zur gereimten Form der kritischen Literaturrevue
zurückgekehrt und hatte sie zu einem geschichtlichen Überblick
der Nationalliteratur durchgebildet.


Inzwischen kamen die Fortschritte der anderen Nationen zur Auswirkung:
die großen Perspektiven der französischen Aufklärung, die
auf völkerpsychologische Schlüsse hinzielten, die tiefdringenden Erkenntnisse
der englischen Ästhetik, die der Kritik eine neue Grundlage
gaben, und die Entdeckung des Begriffes „Genie“, die auf die
Individualität des Dichters und die Aufgaben des Verstehens hinlenkte.


Der erste, der das alles in sich aufnahm, war Lessing. In den
„Briefen die neueste Literatur betreffend“ gelangte er zur objektiven
Tageskritik und in der „Hamburgischen Dramaturgie“ zur Technik
des kritischen Vergleiches an Werken gleichen Stoffes aus verschiedenen
Literaturen. Der in der klassischen Philologie geschulte Textkritiker |#f0049 : 25|

erkannte zugleich die Mängel der bisherigen germanistischen
Herausgeberarbeit und legte für sich große lexikalische Sammlungen
an, wie sie editorischer Arbeit als Grundlage dienen mußten.


So zeigt das 18. Jahrhundert in seinen Ausblicken die Verbindung
bisher getrennter Gesichtspunkte: die bloße Sammeltätigkeit wird
durch die Gebote kritischer Textbehandlung gesteigert, wie die ästhetische
Beurteilung durch philosophische Geschmacksbildung, die geschichtliche
Betrachtung durch Parallelen und Vergleiche. Bei solcher
Hebung der Erkenntnisse und Forderungen muß auch das Urteil über
den Durchschnitt des Geleisteten anspruchsvoller werden, und es kann
im letzten Viertel des Jahrhunderts so vernichtend lauten wie das
des Popularphilosophen Gedike, der in der „Berlinischen Monatsschrift“
eine kritische Abrechnung mit dem Betrieb der geistlosen
Buchgelehrten, Kompilatoren, Polyhistoren und gelehrten Schuster
vornahm, bei denen Bücherkenntnis für Gelehrsamkeit und zusammengetragene
literarische Nachrichten für Wissenschaft angesehen
würden. Es heißt, die Weisheit der meisten Literarhistoriker bestehe
darin, daß sie auf ein Haar zu sagen wissen, was andere Leute gedacht
oder geschrieben haben, und daß sie von der Mühe des Selbstdenkens
dispensiert zu sein glauben. „Nirgends ein allgemeiner Überblick,
nirgends ein wichtiges oder wichtig scheinendes Resultat, nirgends
Auflösung eines rätselhaften Problems oder Erklärung eines seltnern
Phänomens am literarischen Horizont, nirgends ein Wink, wie und
wozu die so mühsamgemächlich zusammen getragenen Materialien
genutzt werden könnten.“


So hieß es im Jahre 1783 und hätte ebensogut 125 Jahre später
geschrieben sein können, ist es doch am Anfang unseres Jahrhunderts
mit fast gleichen Worten oft gesagt worden. So scheint sich die
Wissenschaft im Kreise zu drehen, wie der Zeiger einer Uhr, fortschreitend
von Sammlung des Stoffes, philologischer Kritik, vergleichender
ästhetischer Analyse und geschichtlicher Betrachtung bis zur
Selbstkritik und Abrechnung mit ihrem bisherigen Verlauf, dem die
Forderung umfassender Totalität gegenübergestellt wird. Da ist der
große Stundenschlag geistesgeschichtlicher Synthese gekommen, bei
dem der Turm zittert, wenn das Mittagsgeläute aller Glocken auf einmal
einsetzt.


Zur gleichen Zeit, als Gedike seine Forderungen aufstellte, hatte
sich bereits das großartige Programm einer neuen literarhistorischen
Methodenlehre geformt, in der Johann Gottfried Herders dynamische
Geschichtsbetrachtung ihre Ziele aufstellte. Die Dichtung bot sich
dar als organischer Ausdruck des Geisteslebens einer Nation und zugleich |#f0050 : 26|

in ihrer Ganzheit als ein nach Sprache, Sitten, Gewohnheiten,
Temperament, Klima und Akzent seine Gestalt wandelnder Proteus
unter den Völkern. Den Geist der Literatur auf seiner Wanderung
durch die Geschichte der Menschheit zu verfolgen, war die Aufgabe,
in deren Problemstellung die mannigfaltigsten Fragen lagen: „Wie
hat der Geist der Literatur sich nach den verschiedenen Sprachen
geändert, in die er eingetreten? Was nahm er von dem an, was er
vor sich fand? und was entstand für ein Ding aus der Vermischung
und Gärung so verschiedener Materie?“


Vielseitigste Einwirkungen fließen in diesem Aufgabenkreis zusammen.
Anregungen von Montesquieu, der schon in Bacon und
Huarte seine Vorläufer hatte, wenn er die Eigentümlichkeit jedes
Nationalgeistes aus klimatischen und anthropogeographischen Bedingungen
erklärte, fanden ihr Gegengewicht in der Monadenlehre von
Leibniz, wonach alle natürlichen Veränderungen einem inneren
Prinzip entstammten, auf das äußere Ursachen ohne Einfluß waren.
Dieser Gegensatz einte sich in einer genetischen Betrachtungsweise,
bei der die Entfaltung der inneren Anlagen von Völkern und Individuen
als ein immanentes Prinzip literarhistorischer Entwicklung
erschien und die Analogie ein wichtiger Grundsatz der Deutung
wurde. Hume und Winckelmann zeigten auf religionsgeschichtlichem
und kunstgeschichtlichem Gebiet, wie geistige Entwicklungsprozesse
im Zusammenhang eines Kultursystems zu erfassen waren. Während
sie auf das Ganze gingen, wies Shaftesbury den Weg zu intuitiver
Erschließung der Individualität. Die bei Vico vorausgenommene
Lehre von den Kulturkreisen, deren jeder sein einmaliges Maximum
im Gleichgewicht der Kräfte und in der vollen Entfaltung aller Anlagen
erlebte, überwand den geradlinigen Fortschritts- und Vervollkommnungsgedanken
der Aufklärung. So konnte nach Wartons Vorgang
auch dem Mittelalter ein gewisses Recht zugeteilt werden.
An den Anfang der Kultur aber führte die von Hamann übernommene
Auffassung der Sprache als Urdichtung, durch deren metaphorische
Hülle bis zu dem Kern der leidenschaftsbewegten Volksseele durchzudringen
war.


Es entsprach nicht der sprunghaften und relativistischen Betrachtungsweise
Herders, zu einem geschlossenen lehrbaren System zu
gelangen. Wohl aber sah er von Anfang an die verschiedenen Ziele
in einem Wechsel analytischer und synthetischer, entwicklungsgeschichtlicher
und vergleichender Anschauung nebeneinander liegen.
Die sprachpsychologische Auffassung des Wortkunstwerkes erschien
als erste Aufgabe. Daran reihte sich die geschichtliche Erkenntnis |#f0051 : 27|

des Stils, der sowohl in seinem individuellen Charakter als Ausdruck
einer literarischen Persönlichkeit wie in seinem Zeitcharakter als
Ausdruck des herrschenden Geschmackes zu verstehen war. Unabhängig
von stilgeschichtlicher und geschmacksgeschichtlicher Deutung
blieb die ästhetische Aufgabe der Kritik als einer Sache des anschauenden
Gefühls und der eindringenden Intuition. Dagegen wurde
die philosophische Einstellung der Hermeneutik wieder zu einer Abhängigkeit
von Augenpunkt und Gesichtskreis, und verschiedentlich
(in den „Briefen an Theophron“, in der Psalmenexegese der Schrift
„Vom Geist der ebräischen Poesie“ wie in den „Briefen über das
Lesen des Horaz“) wurden besondere Anweisungen vermittelt, die
Dichtung aus dem Geist einer Zeit und einer Nation heraus historisch
zu verstehen.


So erscheinen Sprache, Geschmackswissenschaften, Geschichte und
Weltweisheit als „die vier Ländereien der Literatur, die gemeinschaftlich
zur Stärke dienen und beinahe unzertrennlich sind“. Philologie,
Geschichte, Ästhetik und Philosophie werden zu vereintem
Wirken berufen: „Studieren heißt freilich zuerst den Wortverstand
erforschen, und das so gründlich, als es zu folgenden Stücken gehört:
man suche aber auch mit dem Auge der Philosophie in ihren Geist zu
blicken, mit dem Auge der Ästhetik die feineren Schönheiten zu zergliedern,
die den Kritikern sonst meist gemeiniglich nur im Übermaß
erscheinen, und dann suche man mit dem Auge der Geschichte Zeit
gegen Zeit, Land gegen Land und Genie gegen Genie zu halten.“


Hatten schon die „Fragmente“ von 1767 ein Gegenstück zu Winckelmanns
Kunstgeschichte gefordert in einer vom Gedanken immanenter
Entwicklung beherrschten Literaturgeschichte, die den entweihten
Namen einer Geschichte des menschlichen Verstandes als Werk
historisch-philosophischer Scheidekunst wieder zu Ehren bringe, so
blieb der Plan bis zu den „Briefen zur Beförderung der Humanität“
(7. und 8. Samml. 1796) lebendig. Ausgeführt hat Herder selbst nur
einen kleinen Teil davon in seiner Schrift „Vom Geist der ebräischen
Poesie“ (1781/83). Das ganze 19. Jahrhundert indessen steht im
Zeichen seiner Anregungen, und Franz Schultz hat in seinem Aufsatz
„Die Entwicklung der Literaturwissenschaft von Herder bis Wilhelm
Scherer“ treffend hervorgehoben, wie die verschiedensten Richtungen
der Neuzeit sich auf diesen Propheten hätten berufen dürfen. Ja,
noch vor wenigen Jahren hat der Deutschamerikaner Martin Schütze
von den faktualistischen und metaphysizierenden Einseitigkeiten
neuer Richtungen, die er der Kritik unterzog, wieder zur Herderschen
Methode zurückführen wollen.

|#f0052 : 28|

d) Vierte Runde: Klassik und Frühromantik


Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann eine neue Sammeltätigkeit,
auf die wiederum Kritik und Hermeneutik folgten. Zunächst
ging Herders Saat auf in der sogenannten „Allgemeinen Literärgeschichte“,
wie sie in Göttingen durch den orientalischen Theologen
Johann Gottfried Eichhorn und den Ästhetiker Friedrich Bouterwek
betrieben wurde. Hält man vergleichsweise Umschau unter
den Zeitgenossen, so trifft man auf die „Handbücher“ von Bouginé
und Wachler, die kaum etwas anderes als Bücherkunde geben. Die
Göttinger aber gingen zur Darstellung über. Mit ungeheurem Stoffhunger
wagten sie sich, wie Eichhorn schreibt, „in den Ozean der
Literatur, um denen die ihn später durchschiffen wollten, Zeit und
Mühe zu ersparen“. Im Dienste eines polyhistorischen Unternehmens,
der „Allgemeinen Geschichte der Künste und Wissenschaften“, legten
sie in Dutzenden von Bänden die damals erreichbaren Daten des
vorschristlichen und europäischen Schrifttums einschließlich der
Wissenschaftsgeschichte innerhalb großer Perioden in parallel laufenden
Bahnen nebeneinander. Bouterwek, der in seiner zwölfbändigen
„Geschichte der Poesie und Beredsamkeit“ (1801─19) die
einzelnen Nationalliteraturen Italiens, Spaniens, Portugals, Frankreichs,
Englands, Deutschlands aufeinander folgen ließ, erwog auch
eine andere Darstellungsweise, nämlich eine „synchronistische Bearbeitung
der Fortschritte des ästhetischen Geistes und Geschmacks
in den verschiedenen Sprachen des neueren Europas“. Das hätte dem
Herderschen Programm, die Wanderung des Geistes der Literatur
durch die Geschichte der Menschheit zu verfolgen, noch besser entsprochen;
dieser Gesichtspunkt trat aber nur im systematischen Sachregister
des 12. Bandes in Erscheinung.


Der gefühlsselige und gelehrte Hofrat Bouterwek ließ seinen Geist
in vielen Farben funkeln; er stand im Zwielicht zwischen Sturm und
Drang und Romantik; er war Kantianer und gab zugleich als Popularphilosoph
eine Sammlung zur Philosophie des Lebens und zur Beförderung
der häuslichen Humanität heraus; er war nicht nur Verfasser
des „Graf Donamar“ und anderer empfindsamer Romane, sondern
er ließ auch Vorlesungen über Ästhetik drucken. So stand er in
einem Zwiespalt zwischen Gelehrsamkeit und Dichtung, den er darstellerisch
nicht ganz bewältigen konnte.


Die neue Situation war nun die, daß die Schranken zwischen
registrierender Gelehrsamkeit und schöpferischem Schauen niedergelegt
waren. Das Dichtertum kam in der Beobachtung seines eigenen |#f0053 : 29|

Wesens wieder zu Wort. Wenn die Weimarer Dioskuren noch bei
älteren Fragestellungen blieben, indem Goethes Autobiographie den
Mutterboden seines dichterischen Werdens in einer ichbezogenen
Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts fand, während durch Schillers
Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ die
jahrhundertelang von Franzosen und Engländern erörterte „querelle
des anciens et des modernes“ in neuer Optik zu einem gewissen Abschluß
gebracht wurde, fühlten sich die Romantiker als Herders
Diadochen und teilten sich in die Fülle der von ihm hinterlassenen
Probleme.


Friedrich Schlegel, der ursprünglich gleichfalls ein Winckelmann
der Poesie werden wollte, gab einen Beitrag zur Kulturkreislehre,
indem er die Schulen der griechischen Poesie in ihrem Gang von
der Natur durch Bildung zur Schönheit und Erhabenheit des attischen
Höhepunktes und in ihrem Wiederabsinken zu Luxus, Eleganz und
Entartung des Alexandrinismus als Paradigma gesetzmäßiger Entwicklung
darstellte. In seinem weiteren Werdegang kehrte sich der
Prophet der progressiven Universalpoesie, als welche er die Romantik
verkündete, rückwärts zum Feld der Geschichte und endete schließlich
nach Durchgang durch die Anfänge vergleichender Sprachwissenschaft
mit seinen letzten Vorlesungen über „Philosophie der Sprache
und Worte“ (1830) in Literaturmetaphysik.


Fiel ihm das Erbe der Herderschen Sprachlehre zu, so war der
Formsinn seines älteren Bruders August Wilhelm, der nicht nur als
Übersetzer in Herders Fußstapfen trat, vor allem zur ästhetischen
Kritik berufen. In seinen Vorlesungen führte er neben der systematischen
Trennung klassischen und romantischen Stils zuerst eine soziologische
Gliederung der deutschen Literaturgeschichte durch, indem
er mönchische, ritterliche, bürgerliche und gelehrte Epochen schied.
In einer echten Gelehrsamkeit, die den schwerfälligen Wust des
Nichtwissenswerten beseitigte, erblickte er zugleich ein wichtiges
Bildungselement dichterischen Schaffens. Die pragmatische Sinngebung,
die damit der Literaturgeschichte auferlegt wurde, offenbarte
wieder den auf Werte ausgehenden kritischen Gesichtspunkt.


Der eigentliche Gelehrte unter den Frühromantikern aber war
Friedrich Daniel Schleiermacher, der ebenso wie Wilhelm v. Humboldt
aus dem Herderschen Programm die Aufgaben der Hermeneutik
in Angriff nahm als Kunst der Auslegung und Deutung mit
dem Ziel eines vollkommenen Verstehens der Individualität und ihrer
stilistischen Ausdrucksform. Durch seinen Schüler August Boeckh,
der mit den Heidelberger Romantikern in Verbindung stand, wurde |#f0054 : 30|

die Erklärung des geistigen Zusammenhanges als Zentralproblem in
den Mittelpunkt der philologischen Enzyklopädie gestellt. Die geschichtlichen
und nationalen Aufgaben dagegen fielen Ludwig Tieck
zu, dem früher schon Herdersche Lehren durch Erdwin Julius Koch
vermittelt waren. Hatte doch dessen Programm „Über deutsche
Sprache und Literatur“ (1793) ein philologisches Studium vom
Standpunkt der Nationalidee aus gefordert. Tiecks enthusiastische
Vorrede zu seinen „Minneliedern aus dem schwäbischen Zeitalter“
(1803) war es nun, die Jakob und Wilhelm Grimm für das Studium
der deutschen Altertumswissenschaft gewann.


e) Anfänge der Nationalwissenschaft


Will man eine fünfte Runde mit dem Eintritt in das 19. Jahrhundert
beginnen lassen, so liegt die Caesur nicht zwischen den Klassikern
und den Romantikern, sondern zwischen der älteren und
jüngeren Romantik. Die Durchführung Herderscher Gedanken kam
noch nicht zum Abschluß, aber sie bildete die Plattform für einen
Aufstieg, der in neuem Ansatz gewissermaßen von vorne anfangen
mußte. Wenn durch die jüngere Romantik die Germanistik als
Nationalwissenschaft ausgebaut und im Sinne Herders zur Wissenschaft
vom deutschen Geiste, ja mehr noch vom deutschen Volkstum
erhoben wurde, so forderten die neuen Gesichtspunkte eine Wiederaufnahme
grundlegender Sammeltätigkeit, eine Entdeckung und Bergung
bisher unbeachteter Schätze, die der Auslegung harrten. Was
Arnim und Brentano als Sammler des Volksliedes taten, geschah von
Joseph Görres für die Volksbücher, von den Brüdern Grimm für
Volksmärchen und -sagen, von Savigny als Begründer der historischen
Rechtsschule für das Volksrecht. Auch Eichendorff, der jüngste unter
den Heidelberger Romantikern, ist hier zu nennen. Er war der einzige,
der in nachromantischer Zeit noch zur Abfassung einer „Geschichte
der poetischen Literatur Deutschlands“ (1846) gelangte. Er
blieb dabei sammelnder Liebhaber. Im Durchschweifen der deutschen
Literatur suchte er überall das Grundwesen der Volkspoesie auf
Quellen religiösen Erlebens zurückzuführen. Von den vier Gesichtspunkten
des Aufbaues, die er ähnlich wie Herder als ästhetisch,
chronologisch-geographisch, national und religiös unterschied, war
ihm der religiöse der umfassendste; er schloß auch den nationalen
in sich, denn alle Poesie war als der seelische Leib der inneren Geschichte
der Nation aufzufassen; die innere Geschichte der Nation
aber fand Eichendorff in ihrer Religion.

|#f0055 : 31|


Was dem allem zugrunde liegt, ist eine kollektivistische Auffassung
vom Volksgeist, dessen unbewußtes Wirken als Realität, nicht als
Abstraktion galt. Man glaubte an ihn. Wenn der Individualismus der
Frühromantik in A. W. Schlegels Rezension der Grimmschen „Altdeutschen
Wälder“ (1815) an dem aristokratischen Bekenntnis festhielt,
das Erhabene und Schöne könne zu allen Zeiten nur ein Werk
ausgezeichneter Geister sein, machten die Angegriffenen die verspottete
Andacht zum Kleinen ernstlich zu ihrer Losung, denn in
jedem Laut und Zeichen vernahmen sie die schöpferische Sprache
und singende Natur der Volksseele, darin Poesie, Sage und Geschichte
eins wurde.


Während nun in stiller leidenschaftsloser Arbeit die Methoden der
klassischen Textphilologie durch die kritischen Ausgaben der Beneke,
Lachmann und Haupt auf die werdende germanische Altertumswissenschaft
übertragen wurden, schlug das Dichtertum Ludwig Uhlands
in biographischer Darstellung, Sagenforschung und kritischer
Volksliedersammlung eine Brücke zur Gelehrsamkeit und suchte jenseits
der eigentlichen Literatur in Mythos, Sage und Volksgesang die
nationalsten Erzeugnisse des geistigen Lebens. Während vornehme
Dilettanten wie die Herren von Laßberg, von Meusebach, von Aufseß
die Schätze der Vorzeit zusammentrugen, wie es dem Sammeltrieb
der Biedermeierzeit entsprach, hielt die philologische Arbeit zugleich
den Zusammenhang mit Sprachwissenschaft, Mythologie, Rechtsgeschichte
und politischer Geschichte aufrecht. Die Einheit der Ziele
trat hervor auf der ersten Germanistentagung, die 1846 in Frankfurt
a. M. die Brüder Grimm und Lachmann mit den Historikern
Dahlmann und Gervinus im Bekenntnis zu einer Wissenschaft vom
deutschen Wesen verband. Damals entstand der Einheitsbegriff einer
Germanistik, der nachmals durch die Neubildungen „Deutschkunde“
und „Deutschwissenschaft“ charakterisiert worden ist.


Es war eine Zeit politischer Hochspannung. Der Volksgeist, der
sich in der deutschen Erhebung von 1813 als mächtig wirkende Kraft
offenbart hatte, blieb auch weiter unterirdisch tätig trotz aller Unterdrückung.
Wie ein Vulkan, dessen Ausbruch bevorsteht, rumorte er
in der Bewegung, die auf deutsche Freiheit und deutsche Einheit
gerichtet war. Die Literaturgeschichte trat in engste Beziehung zur
Politik, und die Übertragung der Gegenwartsspannungen auf die Vergangenheit
berief die Geschichtsforscher auf das Feld der Literaturbetrachtung.
So war es auch in anderen Ländern. In England war
der Historiker Henry Hallam der erste, der eine wirkliche Literaturgeschichte
schrieb in seiner „Introduction to the Literature of Europe |#f0056 : 32|

in the Fifteenth, Sixteenth and Seventeenth Century“ (1837─1839).
In Deutschland aber entstand genau zu derselben Zeit die erste große
Gesamtdarstellung der „Geschichte der poetischen Nationalliteratur
der Deutschen“ als Werk eines politischen Historikers, des Georg
Gottfried Gervinus, dessen fünf Bände (erste Auflage 1835─40) in
ihrem durchgebildeten Aufbau den im Stoff erstickenden „Grundriß
der Geschichte der deutschen Nationalliteratur“ von August Koberstein
(1827) überragten.


Nicht die großen Künstler, sondern die gesinnungsstarken Ideenträger
und Repräsentanten des Zeitgeists waren die Helden des Gervinus:
der Volksgeist in seiner nie versiegenden Kraft bildete durchgehendes
Thema und Leitmotiv des Aufbaues. Das Zeitlose und Überzeitliche
blieb gleichgültig; die Goethesche Idee einer Weltliteratur
wurde bekämpft; nur das Eigenleben der Nationalliteratur sollte
gesucht und dargestellt werden. Mit belletristischer Kritik wollte
Gervinus nichts zu tun haben; schon 1833, als er von der Literaturgeschichte
als werdender Wissenschaft sprach, ließ er die Ästhetik
nur als Hilfsmittel gelten, etwa in der Bedeutung, die für den
Historiker die Politik habe. Tatsächlich aber war selbst dem Literarhistoriker
Gervinus die Politik viel wichtiger als die Ästhetik. Die
ästhetische Erziehung, das Ideal der klassischen Zeit, hatte ihre Aufgabe
erfüllt; nun sollte die Literaturgeschichte als „Stimme der
patriotischen Weisheit und Verbesserin des Volkes“, wie Herder sie
genannt hatte, zu nationalem Selbstbewußtsein und tatkräftigem Wollen,
zu Staatsgesinnung und politischer Arbeit am Aufstieg der Nation
wirken. Von der Dichtung war für die Zukunft nichts mehr zu
erhoffen; die höchste Blüte der Literatur, auch wenn sie keinem
Maximum der Gesamtkultur entsprach, gehörte der Vergangenheit an.
„Unsere Dichtung hat ihre Zeit gehabt; und wenn nicht das deutsche
Leben still stehen soll, so müssen wir die Talente, die nun kein Ziel
haben, auf die wirkliche Welt und den Staat locken, wo in neue
Materie neuer Geist zu gießen ist.“ So ist im vierten Band zu lesen.
Mit anderen Worten: „Die Literatur ist tot; es lebe die Literaturgeschichte
als Erweckerin zu tätigem Leben.“


Es war eine merkwürdige Mischung romantischer und jungdeutscher
Tendenzen, die beide von Gervinus verabscheut wurden und von
denen er gleichwohl berührt war. Romantisch mutet der rückgewandte
historische Sinn an und die Ideologie des Volksgeistes, jungdeutsch
die Richtung auf das politische Leben der Gegenwart. Jungdeutsch
gebärdete sich Gervinus gegenüber den Romantikern, romantisch
gegenüber den Jungdeutschen, deren verwandte Einstellung er verkannte. |#f0057 : 33|

Gerade die Kräfte seiner Zeit, die er der Dichtung entziehen
und dem politischen Leben zuführen wollte, waren ja innerhalb der
Zeitdichtung um dieselbe Gegenwartsforderung politischer Zielsetzung
bemüht. Um so schmerzlicher traf die Verleugnung der politischen
Zeitdichtung ihre Vertreter.


Mit den dichtenden Zeitgenossen hat Gervinus es gründlich verdorben,
indem er die deutsche Literaturgeschichte mit Goethes Tod
aufhören ließ und einen Schlagbaum errichtete, der noch mehrere
Jahrzehnte, wenn auch angefochten, an seinem Platze blieb. Man
begnügte sich nicht mit dem Widerspruch gegen solchen Historismus,
sondern der Protest gewann praktische Gestalt, indem nun gerade
die jungdeutschen Literaten und politischen Dichter sich auf das Feld
verlegten, das bei Gervinus links liegen geblieben war: die Literatur
der Gegenwart. Neben die Literaturgeschichte trat damit die Literaturkritik,
denn alle die sogenannten Literaturgeschichten der neuesten
Zeit, sei es, daß ihre Verfasser Wolfgang Menzel, Heinrich Laube,
Ludwig Wihl, Heinrich Kurz, Johannes Scherr, Rudolf Gottschall
oder sogar Julian Schmidt hießen, waren, wie Friedrich Hebbel gegenüber
Wihl feststellte, doch im wesentlichen kritische Repertorien.
Oder sie gehörten sogar zur Literaturpolemik wie Heinrich Heines
ursprünglich für französische Leser bestimmte Auseinandersetzung
mit der „Romantischen Schule“, in der Schillers Polarität von naiv
und sentimentalistisch unter saintsimonistischem Einfluß in die
Zweiteilung von Hellenen und Nazarenern umgeschaltet wurde. Was
er in seiner Münchener Zeit vergeblich angestrebt hatte, wurde einem
anderen politischen Dichter 1849 zuteil: Robert Prutz erhielt eine
außerordentliche Professur der neueren deutschen Literaturgeschichte
an der Universität Halle. Weitere Dichter fanden später Sinekuren
an den Technischen Hochschulen. Aber das Extraordinariat an den
Universitäten bedeutete für mehrere Jahrzehnte eine Unterordnung
der neueren Literaturgeschichte als Anhängsel der germanistischen
Wissenschaft. Das Ringen um wissenschaftliche Anerkennung wurde
schließlich einer der psychologischen Gründe für die Philologisierung
des Faches, das in exakter Tatsachenforschung seine Gleichberechtigung
erweisen wollte.


Nun aber gab es noch eine wissenschaftliche Großmacht, die die
Verwaltung der Literatur als Ausdruck des ganzen geistigen Lebens
im weitesten Sinne für sich in Anspruch nehmen durfte: die Philosophie.
Nach Herders Einteilung fiel ihr die Deutung der Kunstwerke
aus dem Geist ihrer Zeit zu. Auch die biographische Deutung großer
Persönlichkeiten lag zunächst in den Händen der Philosophen. So |#f0058 : 34|

entstanden Klassikerbiographien wie Hofmeisters „Schiller“ (1835
bis 1842), Danzel-Guhrauers „Lessing“ (1850─53), Hayms „Herder“
(1877─85) und schon vorher dessen „Romantische Schule“ (1870),
die mehr Biographienkranz als Geistesgeschichte war.


Aber schon vorher hatte der spekulative Geist den ganzen Bezirk
der Künste unter seine Herrschaft gezwungen. Über Herder hinaus
war aus Klassik und Romantik das gewaltige Denksystem Hegels erwachsen,
das die ganze Weltgeschichte als selbstbewußten Gang des
absoluten Geistes deutete und in diesem grandiosen Bau auch den
Künsten ihre gesetzmäßige Funktion zuwies als Vorstufen auf dem
Weg zur Selbstverwirklichung der Vernunft.


In der Einzelerklärung der Dichtung freilich, die nicht nach dem
Geist ihrer Zeit, sondern nach dem der Hegelschen Philosophie eingestellt
wurde, führte die schülerhafte Anwendung des dialektischen
Dreischrittes manchmal zu seltsamen Blüten. Beispielsweise hat H.
F. W. Hinrichs in seiner Auslegung „Schillers Gedichte nach ihren
historischen Beziehungen und ihrem inneren Zusammenhang“ (1837)
die Meisterballade „Der Kampf mit dem Drachen“, das unreife
Jugendgedicht „Graf Eberhard der Greiner“ und den matten Balladennachklang
„Der Graf von Habsburg“ im Gegensatz zur Chronologie
wie zur ästhetischen Bewertung in eine aufsteigende Reihe gebracht
und vom rechten Schillerverständnis verlangt, sie in dieser Folge zu
lesen, weil im ersten der Held, der sich selbst bezwingt, im zweiten
der Held, der andere bezwingt, im dritten der Held, dem Neigung und
Gesinnung mit Tat und Handlung in Gehorsam und Demut vor Gott
eins geworden sind und der dadurch die völlige Einheit mit den allgemeinen
vernünftigen Gesetzen erreicht hat, das Thema bilden. Diese
Art abstrakter Hermeneutik ist allerdings von jeder Gabe künstlerischen
Verstehens verlassen.


Aber auf der anderen Seite darf keineswegs verkannt werden, daß
der geschichtsphilosophische Bauplan der dialektischen Methode zu
großartiger Sinnesdeutung der Gesamtentwicklung gelangen konnte
und vielleicht die einzige Möglichkeit einer darstellerischen Bewältigung
der Weltliteratur bildete. So hat Karl Rosenkranz („Die Poesie
und ihre Geschichte“, 1855) den Gang des objektiven Geistes in der
Stufenfolge von Freiheit, Wahrheit und Schönheit durch die Weltliteratur
verfolgt und Moritz Carrière („Das Wesen und die Formen
der Poesie“, 1859; „Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwicklung“,
1863) den Aufbau der gesamten Menschheitsdichtung nach
den drei Entwicklungsstufen Natur, Gemüt und Geist zu gliedern
unternommen. Derartige Versuche einer großen geschichtswissenschaftlichen |#f0059 : 35|

Systematik nahmen allerdings auf die volkhaften Unterschiede
und sprachlichen Formen wie auf die geschichtlichen Zusammenhänge
und Wechselwirkungen wenig Rücksicht und griffen
aus der literarischen Überlieferung immer nur das heraus, was sich
in die Deduktion einfügen wollte.


f) Positivismus


Gegen eine Vergeistigung, die zur Abstraktion und metaphysischen
Spekulation hindrängte, erhob sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts
der literarhistorische Positivismus. Eine realistische Beschränkung
in bezug auf Zeit und Raum und eine intensivere Verstofflichung
bedeutete bereits die literaturästhetische Richtung Hermann Hettners,
der von den Junghegelianern, von Feuerbachs sensualistisch-naturalistischer
Schule seinen Ausgang genommen hatte. Wenn seine „Literaturgeschichte
des achtzehnten Jahrhunderts“ (1855 ff.) einen Querschnitt
zog durch die europäische Literatur des Aufklärungszeitalters
unter Trennung der drei hauptbeteiligten Länder England, Frankreich
und Deutschland, so wurde das gesamte Geistesleben dieser Gebiete
in allen seinen philosophischen und ästhetischen Bewegungen beleuchtet
mit der ausgesprochenen Absicht, nicht Geschichte von
Büchern, sondern Geschichte von Ideen zu geben. Die Grundrichtung
des Zeitgeistes, die für Gervinus nebensächlich erschienen war, trat
in den Vordergrund, während der Blick für den Organismus der
Nationalliteratur in seiner volkhaften Raumgebundenheit über den
Querverbindungen verloren ging.


Auf diese Kräfte der Eigenkultur wurde nun aber von anderer
Seite und in anderem Sinne wieder das Augenmerk gelenkt, als der
von Auguste Comte in Frankreich begründete Positivismus zur Herrschaft
kam, der unter Ablehnung jeder Transzendenz und Metaphysik
sich an exakte Beschreibung des Gegebenen und an Erkenntnis
kausaler Zusammenhänge nach naturwissenschaftlichen Gesetzen hielt.
In Hippolyte Taines „Histoire de la littérature anglaise“ (1864) wurde
seine Anwendung durchgeführt. Mit dem hier vollzogenen Ausbau
der Milieutheorie, deren Keime bis auf Montesquieus Lehre vom
Klima zurückgehen, war ein strenger Determinismus Postulat geworden,
der den einzelnen und sein Werk durch die Umwelt bedingt
sein ließ und damit wieder einen Übergang zur Kollektivbetrachtung
anbahnte. Wenn gleiche äußere Umstände gleiche Produkte hervorbringen
mußten, so war der individuelle Heldenbegriff, wie ihn ein
Thomas Carlyle gepflegt hatte, so gut wie preisgegeben, und von ferne |#f0060 : 36|

wurde bereits das Ideal einer „histoire sans noms“, das Comte sogar
zu einer „histoire sans peuples“ steigern wollte, gesehen. Auch hier
sind die mächtigen Nachwirkungen Hegels noch zu verspüren, der
den einzelnen als ausführendes Organ des Weltgeistes betrachtete,
aber diese Teleologie ist nunmehr in ein mechanisches Walten naturgesetzlicher
Kräfte aufgelöst.


In Deutschland ist es Wilhelm Scherer gewesen, der den zeitgemäßen
Positivismus mit dem Historismus eines Gervinus vereinigte.
Vor seinen Augen stand ein ähnliches Programm wie das Herders,
nur war es in ausgesprochener Weise national zusammengeschlossen
zum Begriff einer universalen Wissenschaft vom Deutschtum, worin
Grammatik, Literatur, Charakter- und Kulturgeschichte der Nation
zusammengefaßt wäre. Aus historischer Selbsterkenntnis war ein
System nationaler Ethik zu gewinnen. Diesem Ziel wollte auch die
„Geschichte der deutschen Literatur“ (1883) dienen als ein Volksbuch
im Geiste des Liberalismus, das die aus der Zeit des Vormärz stammende
religiös beengte populäre Literaturgeschichte von Vilmar
(1845) zu verdrängen bestimmt war.


Scherer kam von Sprachwissenschaft und Textphilologie her, von
Jakob Grimm und Müllenhoff. Aber die Romantik, aus deren Geist
die germanische Wissenschaft hervorgegangen war, erschien jetzt
bereits als ein verklungenes Märchen. Nicht die Geschichte noch die
Philosophie, sondern die Naturwissenschaft galt als führende Disziplin
der Zeit; ihr gleichzukommen an Exaktheit der Methoden und Sicherheit
der Ergebnisse, wurde als Kriterium der Wissenschaftlichkeit
überhaupt angesehen. An Stelle der inneren Gesetze, denen sich die
Darstellung des Gervinus unterworfen hatte, mußte eine äußere Gesetzmäßigkeit
von mathematischer Präzision treten, die doch nichts
anderes war als geschichtsphilosophische Konstruktion. Unter Einfluß
von Comte, Buckle, Mill, Taine war die Entwicklung der Dichtung
als kausal bedingter Naturprozeß aufzuzeigen. Die mechanische
Generationstheorie des Historikers Ottokar Lorenz vermittelte mit
der Aufstellung dreihundertjähriger Perioden ein brauchbares Zahlenschema
und so ergab sich im Wechsel männlicher und weiblicher
Zeitabschnitte eine schicksalsmäßige Wellenbewegung, die in den
Jahren 600, 1200 und 1800 ihre Höhepunkte fand. Ob auch schon
zu Christi Geburt und 600 Jahre vorher Gipfel verlorener Urdichtung
anzusetzen wären und ob für 2400 die Gewißheit neuen Glanzes
vorherzusehen sei, war nicht ausgesprochen. Aber für solche methodische
Reflexion ist überhaupt nur in der Einleitung Platz. Die Darstellung
selbst, die das Gerüst mit glänzenden Charakteristiken voller |#f0061 : 37|

Sinn für Individualität umkleidet und der großen geistesgeschichtlichen
Ausblicke nicht entbehrt, ist alles andere als die Konstruktion
eines öden Mechanismus. Der Bau steht fest, auch wenn man das
Gebälk der Hilfskonstruktion ihm entzieht.


Eine neue Plattform war erreicht, indem man in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts die neuere Literaturgeschichte als eine
philologische Disziplin zu organisieren begann. Nun setzt im Zeitalter
des Positivismus die sechste Runde ein. Wieder ist Sammeln
und Herausgeben der Anfang. Der erste ordentliche Fachvertreter
an der Universität Göttingen, der von der Journalistik herkommende
Karl Goedeke, widmete seine wissenschaftliche Arbeit den Grundsteinen,
indem er in seinem „Grundriß zur Geschichte der deutschen
Dichtung“ eine neue Bücherkunde schuf, die sich als unentbehrliches
Fundament aller Forschung erwies. In seiner Historisch-Kritischen
Schiller-Ausgabe (1867─76) organisierte er unter Teilnahme klassischer
Philologen eine vorbildliche wissenschaftliche Klassikerausgabe,
die allerdings den literarhistorischen Ansprüchen mancherlei
schuldig blieb. Auch der in München Schule bildende Michael
Bernays suchte sein Verdienst darin, die streng kritischen Grundsätze
der klassischen Philologie auf das Studium der neueren Literatur
zu übertragen. Künstlerisch gehandhabte Textkritik und Textvergleichung
blieben für ihn die Grundlagen aller feinsinnigen Deutung
und Stilbeobachtung, die große Ausblicke in die Weltliteratur suchte,
ohne doch zur Zusammenfassung zu gelangen.


Über solche Vorarbeiten war Wilhelm Scherer, der konstruktive
Kopf, der große Kombinationen liebte und die Küstenschiffahrt verabscheute,
hinausgekommen. Er hatte schon im Jahre 1868 ausgesprochen:
„Wir sind es endlich müde, in der gedankenlosen Anhäufung
wohlgesichteten Materials den höchsten Triumph der Forschung
zu erblicken.“ Die folgende Generation (nicht nur seine Schule)
hat indessen diese Müdigkeit nicht gekannt. Hatte Scherers letzter
Blick noch der großen Weimarer Goethe-Ausgabe gegolten, die aus
den schier unerschöpflichen Schätzen des endlich erschlossenen Nachlasses
aufzubauen war, so fand nun ein ganzes Geschlecht von Forschern
Beschäftigung in Textkritik, Datierung, Kommentierung und
aller damit zusammenhängenden, keineswegs nutzlosen Kleinarbeit,
die die volle Beherrschung einer exakten wissenschaftlichen Methode
beanspruchte. Der gewissenhafte Dienst am Wort brachte die Andacht
zum Kleinen aufs neue zu Ehren, aber zugleich die Gefahr, daß
Akribie in Mikrologie ausartete. Bausteine wurden zusammengetragen
und behauen, ohne daß den fleißigen Steinmetzen der Aufriß des |#f0062 : 38|

weiteren Baues vor Augen stand. Das gilt nicht nur von der textphilologischen
Leistung, sondern ebenso von den stoffgeschichtlichen
Reihen, den motivgeschichtlichen Vergleichen, den stilgeschichtlichen
Parallelen, den festgestellten Quellen, Vorbildern und Einflüssen und
den Beobachtungen zur poetischen Technik, die unermüdlicher Sammeleifer
ohne letzte geistige Durchdringung zur Strecke brachte.


Als Aufgabe der Könige, die das Werk der Kärrner zu nutzen
hatten, galt damals die große Monographie. Dem Berliner Nachfolger
Scherers, Erich Schmidt, der in souveränem Kennertum eine
königliche Erscheinung darstellte, war in jungen Jahren die zweibändige
Biographie Lessings geglückt, die den Helden in den Mittelpunkt
seiner Zeit stellte und in dem ihn umgebenden Netz, das alle
Fäden literarischer Beziehungen verknüpfte, eine Enzyklopädie der
Literatur des 18. Jahrhunderts entrollte. Der Wiener Schererschüler
Jakob Minor hat seine ähnlich angelegte Schillerbiographie nach dem
zweiten Band, der bis zum „Don Carlos“ führte, liegen lassen; noch
ärger erging es Richard Weltrich, dessen Lebenswerk auf 900 Seiten
nur bis zu den „Räubern“ gelangte. Es lag nicht an der philologischen
Methode, wie es sich hier zeigt, denn Weltrich betrachtete den
Ästhetiker Friedr. Theod. Vischer als seinen Lehrer. Auch der Philosoph
Wilhelm Dilthey kam mit seinem Schleiermacher (1870) nicht
über den ersten Band hinaus. Es lag an dem naturwissenschaftlichen
Vollständigkeitswahn und der Tatsachenanbetung des Positivismus,
die sich ad absurdum führte. Es mußte sich herausstellen, daß die
enzyklopädische Biographie, die den gesamten Stoff nicht nur verarbeitete,
sondern wiedergab, indem sie zugleich Nachschlagebuch für
alle Lebensdaten und Beziehungen, Erschließung der ganzen inneren
Entwicklung und Kommentar aller Werke sein wollte, formlos werden
mußte und den Darsteller vor künstlerisch unlösbare Aufgaben
stellte.


Die Vorstellung, welche Ausmaße eine nach solchen Grundsätzen
unternommene Goethebiographie hätte in Anspruch nehmen können,
ist schwindelerregend. Einmal hätte dieses Werk erst nach der großen
Weimarer Ausgabe, deren Abschluß mehrere Jahrzehnte erforderte,
richtig in Angriff genommen werden können; sodann hätte die Kraft
und Lebensdauer eines einzelnen zur Bewältigung nicht ausgereicht.
Es ist bezeichnend, daß 1885 in Weimar beabsichtigt war, gleichzeitig
mit der Sophienausgabe eine mehrbändige Goethebiographie in Auftrag
zu geben als vierspännige Hofequipage, in die sich mindestens
vier Bearbeiter, Literarhistoriker, Philosoph, Naturwissenschaftler
und Historiker teilen sollten. Das Ergebnis wäre nicht ein Goethe |#f0063 : 39|

gewesen, sondern ein Nebeneinander von ebensoviel Goethebildern,
als Bearbeiter in großherzoglichem Auftrag zusammengeschirrt worden
wären.


Es fehlte nicht an kritischer Einsicht und an Protesten. Im Jahre
1891 schrieb Anton Bettelheim einen Aufsatz „Die Unmöglichkeit
einer Goethe-Biographie“. Im folgenden Jahr 1892, in dem Stefan
Georges „Blätter für die Kunst“ dem Naturalismus in der Dichtung
absagten, erschienen Friedr. Braitmaiers Streitschrift „Goethekult
und Goethephilologie“ und Hugo Falkenheims Betrachtung „Kuno
Fischer und die literarhistorische Methode“. Auch in Frankreich,
dem Stammland des Positivismus, hatte es bereits eine Wendung gegeben,
indem Emile Hennequin (La critique scientifique, 1888) als
ungetreuer Schüler Taines zu den Ideen Carlyles zurückkehrte und
die Erforschung der Individualität und der Psychologie des Genies
in einer „Esthopsychologie“ genannten Methode zum Programm
erhob.


Taine selbst hatte in der psychologischen Analyse eine zu besonderer
Feinheit entwickelte französische Kunst erblickt, die er bei den
Deutschen vermißte: „si les Allemands ont la supériorité philosophique
et de mémoire, nous avons celle de la psychologie.“ Bei der großen
Tradition biographischer Kritik, die in den westlichen Ländern seit
Matthew Arnold und Sainte-Beuve bestand, wuchs der Gedanke immer
mehr an Bedeutung, die Kritik des Einzelwerkes wissenschaftlich zu
fundieren durch eine Verbindung der ästhetischen Bewertung und
Charakteristik mit Aufhellung des Entstehungsvorganges. Das gesuchte
System, das die kritischen Normen der Ästhetik und die Formbegriffe
der Stilistik mit der Psychologie des dichterischen Schaffens
in Zusammenhang stellte, schien nun bald im Gegensatz zur geschichtlichen
Zusammenfassung die Hauptaufgabe der Literaturwissenschaft
zu verwirklichen. In England und Amerika wurde sie mit dem Worte
„literary criticism“ festgelegt.


In Deutschland hatte Scherer (anders als Gervinus) gegenüber der
Ästhetik keine ablehnende Haltung eingenommen, sondern einen
Streit zwischen Literaturgeschichte und Ästhetik nur dann für möglich
gehalten, wenn eine von beiden Wissenschaften oder beide auf
falschen Wegen wandelten. Den falschen Weg der Ästhetik sah er
in ihrer spekulativen Richtung, während eine empirisch von unten
aufbauende, induktive Ästhetik die Forderung der Zeit war. Nach
Abschluß der Literaturgeschichte war Scherer daran gegangen, ihr in
der „Poetik“ eine Theorie der Dichtung zur Seite zu stellen, deren
Wesen charakteristischerweise aus ihrer Entstehung erschlossen |#f0064 : 40|

werden sollte: die dichterische Hervorbringung, die wirkliche und
mögliche, vollständig zu beschreiben in Hergang, Ergebnissen und
Wirkungen war das Ziel, dessen naturwissenschaftliche Bedingtheit
schon an der Forderung „vollständiger Beschreibung“ zu erkennen
ist. Mit der Herausgabe des skizzenhaften Kollegheftes, das eine
bedenkliche naturalistische Enge verrät, wurde dem Andenken des
Frühverstorbenen kein Gefallen erwiesen. Dieser unzulängliche Versuch
wurde in seiner Wirkung erdrückt durch die „Bausteine zu
einer Poetik“, die Wilhelm Dilthey gleichzeitig in seiner Abhandlung
„Von der Einbildungskraft des Dichters“ (1886) zusammentrug. Die
Werke der beiden Freunde, die sich als Arbeitsgenossen fühlten und
auf verschiedenen Wegen schließlich zusammentreffen und sich
gegenseitig zu stützen hofften, sind nicht völlig grundverschieden
im Ausgangspunkt. Auch Dilthey suchte zunächst naturwissenschaftliche
Gesetzlichkeit; ihm schwebte eine Entdeckung wie die der
grammatischen Lautgesetze vor, die seine analytisch hergestellten
Elementarvorgänge zu einer das Wesen der Dichtung erschließenden
Formel, etwa einem Kreislauf von Leben, Ausdruck, Verstehen oder
von Persönlichkeit, Weltanschauung und Kunstwerk zu binden erlaubt
hätte. Sein Streben in dieser Richtung endete mit Resignation. Im
Alter sprach er von der Unmöglichkeit, die Fülle der historischen
Individualitäten zu systematisieren und die ganze geschichtlich-gesellschaftliche
Art nach Allgemeinbegriffen zu ordnen und zu erklären.
Was möglich blieb, war die Gründung eines Zwischenreiches zwischen
der generellen, rationalen Psychologie des Experimentes und der
irrationalen Individualpsychologie des Nacherlebens in einer beschreibenden,
vergleichenden Psychologie, die zur Erkenntnis geistesgeschichtlicher
Weltanschauungstypen gelangte. Hier lag der eine
bedeutsame Anstoß, den die deutsche Literaturwissenschaft jetzt
wieder von seiten der Philosophie, und zwar von einem Philosophen,
der den Positivismus in sich überwunden hatte, empfangen konnte;
der andere bestand in der Vertiefung des Begriffes der Hermeneutik.
Die Grundsätze der Auslegung und des deutenden Verständnisses
hatte Dilthey von Schleiermacher her weiterentwickelt und vom einzelnen
Werk auf die geistige Struktur und den seelischen Werdegang
schöpferischer Persönlichkeiten ausgedehnt. Im Jahre 1895 hatte er
eine Sammlung „Dichter als Seher der Menschheit“ geplant, in der
er unter höchsten pädagogischen Gesichtspunkten der Literaturgeschichte
„einen Impuls in die Tiefe des menschlichen Bewußtseins“
geben wollte. Diesen richtunggebenden Anstoß hat zehn Jahre später
die Sammlung „Das Erlebnis und die Dichtung“ ausgeübt, die unter |#f0065 : 41|

Beschränkung auf die deutsche Dichtung nur einen Teil des ursprünglichen
Planes mit Benutzung älterer Aufsätze, die jetzt eine ganz
frische Wirkung taten, zur Ausführung brachte.


g) Geisteswissenschaft


Im neuen Jahrhundert vollziehen in allen Ländern umstürzlerische
Richtungen ihren Aufmarsch, und fast jede Jahreszahl bedeutet die
Aufstellung eines neuen Programms: 1900 fand in Paris ein „Congrès
international d'histoire comparée“ statt, dem im nächsten Jahr das
Buch von Fernand Baldensperger folgte, das der schon früher in
Deutschland geübten Literaturvergleichung, dem Studium der internationalen
Strömungen und der Wechselwirkung von Land zu Land
im Sinne einer Zentralstellung Frankreichs zu neuem Aufschwung
verhelfen sollte.


1901 gab ferner der Engländer Courthope („Life in Poetry“) das
Programm einer Literatursoziologie, wie sie schon vorher von dem
Deutschamerikaner Kuno Francke („Social Forces in German Literature“,
1896) vertreten war. Diese Richtung kam durch den deutschen
Anglisten L. Schücking („Soziologie der literarischen Geschmacksbildung“)
zur Weiterführung, während sie später unter der Nachwirkung
des Historikers Lamprecht durch Brüggemann und Merker
zu „psychogenetisch“ und „sozialliterarisch“ genannten Lehren ausgebaut
wurde.


Vor allem aber begann mit dem 20. Jahrhundert der Kampf, den
eine neue Lebensphilosophie gegen den Psychologismus aufnahm,
auch die Literaturwissenschaft in ihren Bann zu zwingen und zu
vertiefter Problemstellung zu veranlassen. Aus dem abgeschlossenen
Jahrhundert ragte die Gestalt Nietzsches herüber, der nicht nur zur
Zertrümmerung des Historismus das Signal gegeben hatte, sondern
als Prophet einer Monumentalhistorie nachwirkend den Weg wies.
Vor ihm war es die Leidenschaftlichkeit Kierkegaards gewesen, die
zu verinnerlichtem Verantwortlichkeitsbewußtsein und persönlicher
Entscheidung aufrief. Er erreichte Deutschland gleichzeitig mit
Nietzsche, da die erste Übersetzung erst 1885 erschien. Weiter ging
man zurück auf Kant. Über den Neukantianismus hinaus wiederholte
sich die Entwicklung, die sich ein Jahrhundert zuvor in den Systemen
des deutschen Idealismus abgespielt hatte, und die Probleme Fichtes,
Schellings, Hegels wurden neu aufgerollt durch drei Philosophen der
Neuzeit. In Deutschland war es Edmund Husserl, dessen „Logische
Untersuchungen“ (1901) durch phänomenologische Betrachtung vom |#f0066 : 42|

Ich aus in den existentialen Wesenskern des Kunstwerkes einzudringen
forderten; gleichzeitig griff in Frankreich Henri Bergsons „Introduction
à la Métaphysique“ die Intuition als Mittel eindringenden Weltverstehens
auf; in Italien erschien 1902 die „Estetica“ von Benedetto
Croce, die alle Kunst, nicht nur die Dichtung, als menschlichen
Sprachausdruck betrachtet wissen wollte, der historisch zu erklären,
aber nicht zu bewerten sei. Ihm schloß sich das Auftreten des deutschen
Romanisten Karl Voßler an, der gegen den mechanisierenden
Positivismus und für einen ästhetischen Idealismus in der Sprachwissenschaft
kämpfend der Stilerforschung neue Bahnen öffnete und
die Sprachentwicklung als geistigen Vorgang in den Kulturzusammenhang
stellte (1903).


In den so gelockerten Boden fiel das Erscheinen der alten Aufsätze,
die Wilhelm Dilthey 1905 zusammenfaßte, als fruchtbare Saat.
In diesen essayistischen Meisterstücken, die eine große Leserschaft
auch außerhalb der Fachwissenschaft anzogen, lagen Vorbilder für
einen Formwandel der Monographie, die von der realistischen zur
idealistischen Methode, von der Kategorie des Werdens zu der des
Seins hinübergeleitet wurde. Von der Stofflast belangloser Tatsächlichkeiten
befreit, drängte die Darstellung nun zur Herausarbeitung
der zentralen Probleme, der Urgründe des Schaffens, der Wege des
Verstehens und des Sinnes der Existenz.


Auch die Dichter begannen, sich den theoretischen und historischen
Problemen ihrer Kunst wieder zuzuwenden, als Ricarda Huch 1902
ihr Werk über die Romantik beendete, als Wilhelm v. Scholz 1905
seine „Gedanken zum Drama“ und 1906 Paul Ernst seinen „Weg zur
Form“ veröffentlichte, ohne daß allerdings die wissenschaftliche Betrachtung
der Formprobleme dadurch zunächst bemerkenswert beeinflußt
worden wäre. Ein anderer Dichter, der selbst wenig über die
Dichtung schrieb, gewann mehr Einfluß. Haltung und Zurückhaltung
Stefan Georges sollten bald eine vorbildhafte Wirkung von immer
größerer Tragweite auf den wachsenden Kreis der Anhänger und auf
die in ihm betriebene Schau großer Persönlichkeiten ausüben.


Zunächst stand freilich für die deutsche Literaturgeschichte und
ihre synthetischen Aufgaben das Problem der Gliederung im Vordergrunde.
Es kam darauf an, Grundbegriffe des organischen Aufbaues
und der Überschau zu finden, die als inneres Ordnungsprinzip an
Stelle mechanischer Zahlengerüste treten konnten. Hatte R. M. Meyer
noch 1900 für seine „Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts“
eine Gruppierung nach Dekaden bequem gefunden, so wurde
er schon ein Jahr später durch die einhellige Kritik dieses Verfahrens |#f0067 : 43|

zur prüfenden Untersuchung der „Prinzipien wissenschaftlicher
Periodenbildung“ veranlaßt. Dabei dachte er noch nicht an
das geistesgeschichtliche Zeitmaß der Generation, das sein Nachfolger
Friedrich Kummer (1909), einem Gedanken Diltheys folgend, bei der
Neugliederung des eben zurückgelegten Jahrhunderts anwandte.


Neben der zeitlichen Gruppierung kam aber auch eine räumliche in
Betracht. Im Jahre 1907 hielt August Sauer seine Prager Rektoratsrede
über „Literaturgeschichte und Volkskunde“ und empfahl, auf
Scherersche Gedanken zurückgreifend, die Berücksichtigung der
stammhaften und landschaftlichen Eigentümlichkeiten und Zusammenhänge
für Aufbau und Einteilung. Sauers Schüler Josef Nadler
hat den Anregungen in der großartigen Stoffbewältigung seiner „Literaturgeschichte
der deutschen Stämme und Landschaften“ (1912 ff.)
Folge geleistet, indem er nicht nur Steinmassen häufte, sondern aus
ihnen lebendige Quellen schlug.


1908 trat Rudolf Unger mit seinem weitschauenden Vortrag „Philosophische
Probleme in der neueren Literaturwissenschaft“ hervor,
dessen Programm sich im Anschluß an Dilthey in jahrzehntelangem
Reifen und vielfacher fruchtbarer Anwendung zur Forderung verdichtete,
die „Literaturgeschichte als Problemgeschichte“ zu behandeln
(1924).


1909 stellte Oskar Walzel der herkömmlichen analytischen Betrachtung
das Verlangen nach einer synthetischen Literaturgeschichte
gegenüber und öffnete damit der stilgeschichtlichen Periodisierung
die Tür, die mit dem Ziel einer wechselseitigen Erhellung der Künste
schließlich die Parallele zu Wölfflins kunstgeschichtlichen Grundbegriffen
verfolgte und sie mit Diltheyschen Weltanschauungstypen
in Einklang zu bringen suchte.


1910 kam der Deutschamerikaner Kuno Francke mit der deutschen
Ausgabe seines schon vorher genannten Werkes heraus, mit dem
ersten Band seiner „Kulturwerte der deutschen Literatur in ihrer
geschichtlichen Entwicklung“, einer konstruktiven Soziologie, in der
ein regelmäßiger Wechsel zwischen kollektivistischen und individualistischen
Strömungen als Grundzug aufgefaßt war.


1911 ist das Jahr des Abschlusses für Ernst Elsters „Prinzipien
der Literaturwissenschaft“, deren zweiter Band alle Stilformen mittels
der Wundtschen Apperzeptionspsychologie erfassen wollte und vielleicht
deshalb nur geringe Wirkung tat, weil dem jetzt im Vordergrund
stehenden Bedürfnis nach historischer Periodisierung nicht
entsprochen wurde. Um so stärkeren Einfluß haben zwei andere
Erscheinungen dieses Jahres ausgeübt, nämlich Gundolfs „Shakespeare |#f0068 : 44|

und der deutsche Geist“ und Ungers „Hamann und die Aufklärung“,
weil sie, wenn auch in gänzlich verschiedener Richtung, das
Problem des sprachlichen Ausdrucks künstlerisch und philosophisch
in den Vordergrund stellten.


Wie sehr die neuen Richtungen auch auf andere Länder zu wirken
begannen und dort sogar als Bedrohung empfunden wurden, kann
man aus der Abwehrstellung des ausgezeichneten französischen
Literaturkritikers Emile Faguet ersehen. In einem Aufsatz der „Revue
des deux mondes“ befürwortete er 1910 das Festhalten an philologischen
Methoden mit besonderer Rücksicht auf den französischen
Nationalcharakter, der ohnehin immer zu jenen Verallgemeinerungen
dränge, auf deren Wichtigkeit sich der Deutsche in seiner umgekehrten
Tendenz von Zeit zu Zeit besinnen müsse.


Als eine deutsche Mahnung, die Philologie nicht ganz preiszugeben,
darf in diesem Zusammenhang des Verfassers Baseler Antrittsvorlesung
„Literaturgeschichte als Wissenschaft“ (1913) genannt werden,
die gegen die Trennung einer älteren, philologisch behandelten und
einer neueren, geisteswissenschaftlichen Literaturgeschichte den Gedanken
eines einheitlichen Organismus ausspielte, der von Anfang an
auf philologischer Grundlage geistesgeschichtlich zu erfassen sei. Eine
durch die immanente Entwicklungstendenz des nationalen Geistes
bestimmte spezifisch deutsche Linie in der Dichtung wie in Malerei
und Musik sollte sich in ihrem Verlauf als rhythmischer Wechsel
zwischen rationalen und irrationalen Perioden und daraus aufsteigenden
Gipfeln der Zusammenfassung darstellen.


Wenn nach dem Weltkrieg die programmatischen Richtlinien der
Vorkriegsjahre wieder aufgenommen wurden, so ergab sich eine durch
die Problemstellung bedingte Vorliebe für bestimmte Perioden. Hatte
die schon im vorausgehenden Jahrhundert in Deutschland betriebene
vergleichende Literaturgeschichte sich mit Renaissanceforschung verbunden,
so fand die stilgeschichtliche Richtung vornehmlich in der
Barockzeit ihr Feld, auf das ihr die Geistesgeschichte folgte; die
Geistesgeschichte wiederum bevorzugte von vornherein die irrationalen
Zusammenhänge zwischen Sturm und Drang und Romantik, wohin
sie die Stilgeschichte nach sich zog. Schließlich fand die stilästhetische
Betrachtung nach Wölfflinscher Methode Gelegenheit zur
Kontrastierung zweier aufeinanderfolgender Perioden wie Klassik
und Romantik mit vielen ausgezeichneten Einzelbetrachtungen und
mit schiefer metaphysischer Formulierung des Gegensatzes als Vollendung
und Unendlichkeit bei Fritz Strich (1922). Die geistesgeschichtliche
Betrachtung konnte hier keine Polarität sehen, sondern |#f0069 : 45|

fortschreitende Entwicklung, wie sie H. A. Korff in den drei Phasen
Sturm und Drang, Klassik, Romantik als „Geist der Goethezeit“
(1923 ff.) darzustellen sich vornahm. Wenn hier die klärende Begriffsführung
Simmels in mancher Beziehung vorbildlich erscheint, so wird
jetzt überhaupt die Übertragung und Ausdehnung der Grundsätze
der Personalmonographie auf die Periodendarstellung sichtbar, am
deutlichsten unter Bergsons und Gundolfs Einfluß in den dionysischen
Anfängen von Herbert Cysarz.


Die vollkommene Umwertung der biographischen Aufgaben war
im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zuerst sichtbar geworden
in der schnellen Aufeinanderfolge neuartiger Goethe-Darstellungen,
die bei aller Verschiedenheit von Form und Auffassung das gemeinsam
hatten, daß sie nicht mehr die Teile, sondern die Ganzheit, persönlich
geschaut, in durchgeistigter, künstlerischer Form vermitteln
wollten. H. St. Chamberlain (1912) suchte die Totalität, indem er den
Naturerforscher in den Vordergrund stellte; G. Simmel (1913) bemühte
sich, den Sinn der Existenz Goethes auf eine Formel zu bringen,
über der das blutvolle Leben und Erlebnis allerdings verblaßte;
Fr. Gundolf (1916) fand die Einheit von Leben und Dichtung im
Kunstwerk der Gestalt. Diese Lösungen wären schwerlich möglich
gewesen ohne die Grundlagen, die die vorausgegangene entsagungsvolle
Arbeit der Goethe-Philologie geschaffen hatte; es war deren
Schicksal, in eben dem Zeitpunkt, da sie das ihrige getan hatte, bereits
als überholt und beinahe überflüssig angesehen zu werden. An
die Stelle der aus dem Material aufgebauten Biographie von außen
trat die Biographie von innen, wie man sie genannt hat. Und deren
Ansprüchen genügte, wie der spanische Philosoph José Ortega y
Gasset im Jahre 1932 sagte, auch das Buch von Simmel, das er das
einzig lesbare nannte, noch lange nicht.


Solange nun ein Gleichgewicht von Gehalt und künstlerischer Form
gewahrt wurde, eine „wirklich reine unkupplerische Versöhnung des
historischen Denkens mit der anschauenden Phantasie“, wie K. Voßler
es genannt hat, konnte die Forderung eines Ranke, der die Historie
als Synthese von Wissenschaft und Kunst aufgefaßt sehen wollte, in
der Monographie erfüllt werden. Es gelang, solange man die Wesensmitte,
aus der gestaltet werden sollte, im Gegenstand suchte. Aber je
mehr die Innenrichtung überging vom Gegenstand zum Verfasser, der
für seine eigenschöpferische Vision und die Virtuosität der schriftstellerischen
Leistung Beifall forderte, desto mehr glitt das Lebensbild
aus dem Bereich der Wissenschaft in den der schönen Literatur
hinüber und wurde selbst zum Wortkunstwerk, ja zum Virtuosenstück. |#f0070 : 46|

Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft mußten die gleiche
Öffnung ihrer Grenzen erleben. Wohl unterschied sich die moderne
geistesgeschichtliche Monographie in ihren Grundlagen von den
Dichterromanen und von den als „historische Belletristik“ oder
„biographie romancée“ gekennzeichneten Zwischenleistungen; aber
was auch ihr allmählich verloren ging, war die objektive Gültigkeit.
Der Franzose H. Bourdeau hat schon 1888, allerdings von einer
extrem positivistischen Wissenschaftsauffassung aus, behauptet, hervorragende
Einzelpersönlichkeiten seien nicht Gegenstand ernster
Wissenschaft, sondern schöngeistiger Geschichtserzählung, die er
„histoire littéraire“ nannte. Wenn dreißig Jahre später Ernst Bertram
die Ziele seines „Nietzsche“ (1918) mit den Worten „Mythologie“
und „Legende“ charakterisierte, so lag darin wohl der skeptische
Verzicht auf Erkennen, „wie es eigentlich gewesen sei“, aber zugleich
die Anerkennung geschichtsbildender Kräfte, denen der zeitgebundene
Darsteller sich unterworfen fühlte. Aber wenn im dritten Jahrzehnt
des Jahrhunderts der Gestalt Heinrichs von Kleist fast gleichzeitig
vier Monographien gewidmet wurden, von denen jede ein anderes
Leitmotiv erklingen ließ, so daß der eine (Witkop, 1922) den Metaphysiker
zeichnete, der andere (Gundolf, 1922) den expressionistischen
Hysteriker, der dritte (Muschg, 1923) den Erkenntnisproblematiker,
der vierte (Braig, 1925) den Büßer auf dem katholischen Heilsweg,
so bestanden die einander widersprechenden Ergebnisse solcher
prophetischen Optik nicht mehr in Wissenschaft, sondern in Glaubenslehren.
Es ist dann von Gerhard Fricke in seinem Buch „Gefühl und
Schicksal bei Heinrich v. Kleist“ (1933) der Versuch gemacht worden,
dieser unmethodischen Willkür einen gesicherten Weg gegenüberzustellen,
der von der strengen Interpretation des Dichters und seiner
Selbstzeugnisse ausging und in der Erkenntnis der Gefühlsgewißheit
als Wesenskern wirklich eine Darstellung von innen gab.


War man zeitweilig versucht, die Biographie preiszugeben, weil sie
mehr als schriftstellerische denn als wissenschaftliche Leistung einzuschätzen
war, so standen alle anderen Aufgaben im Zeichen methodischer
Bemühung um strengste Zuverlässigkeit. Die neue geisteswissenschaftliche
Literaturbetrachtung wollte aus philologischer Enge,
historischer Materialbelastung und psychologischem Mechanismus erlösen
und trotzdem nicht minder wissenschaftlich sein als die Naturwissenschaften.
Herbert Cysarz hat sie sogar in seiner Methodologie
(1926) als die Geisteswissenschaft schlechthin betrachtet und sie in
dieser Bedeutung ausgesprochenermaßen von der Literaturgeschichte
als Fachwissenschaft unterschieden. Andere sind, indem sie nach Klärung |#f0071 : 47|

der Grundbegriffe aus dem Wesen und den inneren Gesetzen
der Dichtung suchten, zu einer Verbindung mit Poetik und Stilistik
gelangt wie Walzel in seinem Kompendium „Gehalt und Gestalt im
Kunstwerk des Dichters“ (1923) und Emil Ermatinger in seinem
„Dichterischen Kunstwerk“ (1921) sowie in der von ihm herausgegebenen
Sammlung „Philosophie der Literaturwissenschaft“ (1930).


Es bleibt noch die Literaturgeschichte als Gegenstand des Buchhandels
zu betrachten. Weniger durch autonome wissenschaftliche
Fragestellung als durch verlegerische Bestellung sind, wie in England
die „Handbooks“ und die „Cambridge History of English Literature“,
auch in Deutschland zyklische Darstellungen ins Leben gerufen worden,
die die Behandlung der einzelnen Perioden verschiedenen Bearbeitern
anvertrauten, so in kleinem Maßstab der von Korff und Linden
herausgegebene „Aufriß der deutschen Literaturgeschichte“, in
größerem die mehrbändigen „Epochen der deutschen Literatur“, die
Zeitler leitete, und in größtem Umfange Walzels „Handbuch der
Literaturwissenschaft“, dem auch sein oben genanntes methodologisches
Werk angehört, ohne irgendwie die Richtlinien für eine gleichmäßige
und übereinstimmende Behandlung der verschiedenen Gebiete
der Weltliteratur festlegen zu wollen und zu können. Was aber durch
das Gelingen solcher Sammelwerke bewiesen wird und was die Voraussetzung
der Verteilung bildet, ist, daß man über Aufbau und
abgrenzende Gliederung der Nationalliteraturen bis zu einem gewissen
Grade ins reine gekommen ist.


Nach Feststellung dieser Lösung stehen wir vor der vierten Stufe
der sechsten Runde. Wenn sich der Kreislauf in der bisherigen Betrachtung
als gesetzmäßig erwiesen hat, so tritt jedesmal an den
Schluß der Reihe die Deutung und Wertung der Nationalliteratur als
religiöse und politische Erzieherin. Die Dichtung wird in ihrer Ganzheit
als Ausdruck des Volksgeistes aufgefaßt, ihre Geschichte als
Niederschlag und Rechenschaft des Werdens zur Gemeinschaft und
als Mittel zur Erkenntnis der eigenen Wesensart. Es bleibt nur die
Frage, wie weit diese Wendung durch eine besondere politische Lage
hervorgerufen ist oder aus eigener Notwendigkeit zur Politisierung
des Lebens beiträgt.


h) Neue Ziele


In allen Ländern, die am Weltkrieg teilgenommen haben, ist die
Wertung der Dichtung und der ihr geltenden Wissenschaft als Pfeiler
eines Wiederaufbaus, der auf Sichselbstfinden ausgeht, unverkennbar.
In Deutschland am stärksten, weil es durch den gewaltigsten Umschwung, |#f0072 : 48|

den es je erlebt hat, am meisten auf sich selbst zurückgeführt
worden ist. So bedeutet die letzte Entwicklungsphase, die zu
erreichen war, nicht nur Abschluß der Runde, sondern bereits Anfang
eines neuen Aufgabenkreises, der bestimmt ist durch den veränderten
Standort nationalsozialistischer Weltanschauung, die zwischen dem
Einzelnen und der Menschheit das Volk als den eigentlichen Mittler
und Lebensträger erblickt. Wie das Volk für den Einzelnen Repräsentant
der Menschheit ist, so ist der Einzelne vor der Menschheit
Repräsentant seines Volkes.


Es kann sich bei solcher Grundauffassung weder um Preisgabe
feststehender Ergebnisse der bisherigen Forschungsweise handeln,
noch um Verwerfung der alten Methoden, sondern um ihre Nutzbarmachung
zu neuen Zielsetzungen. Hören wir auf die ersten Heroldsrufe,
die den kommenden Gang des Turniers ankündigen, so werden
die Wappen der neu einreitenden Kämpfer mit den stolzen Feldzeichen
Volkheit, Rasse und Existenz geschmückt sein. Für eine
„volkhafte Lebenswissenschaft“ (Kindermann) soll alles, was in drei
vorausgehenden Perioden geleistet war, nur Vorstufe bedeuten: die
philologisch-historische Disziplin des Positivismus bietet eine Materialsammlung,
auf der weiterzubauen ist; die kunstwissenschaftliche Richtung
aus der Zeit des Impressionismus muß mit dem, was sie für
Kritik und ästhetische Stilforschung erobert hat, dem Leben näher
gebracht werden; die extreme Geisteswissenschaft des Expressionismus,
die alles andere hinter der Deutung zurücktreten ließ, ist durch
den Ganzheitsanspruch der neuen Weltanschauung dem überindividuellen
Lebensideal der Gemeinschaft zuzuführen.


Eine neue Poetik wird gefordert, die „sich zu grundsätzlichen Einsichten
in das Wesen der dichterischen Formen innerhalb des deutschen
Sprachgebiets erhebt“, eine deutsche Poetik, die „eine tiefste,
letzte Wesens- und Existenzbeziehung zwischen dem Genius des Dichters
und des Volkes“ erkennt und zugleich die Aufgabe übernimmt,
„zu klaren, haltbaren Vorstellungen über Sinn, Aufgabe und Mission
des Dichters im volkhaften Staate zu kommen“ (Obenauer).


Dichtungsgeschichte wird als nationale Biologie betrachtet. Im
Erlebnis der Heimat soll die rationale Trennung zwischen Naturwissenschaft
und Geisteswissenschaft, die vom Geist der Natur wie
von der Natur des Geistes gleich fern bleiben ließ (Krannhals), wieder
aufgehoben werden. Das bedeutet keine Rückkehr zur Vormachtstellung
der Naturwissenschaft, wie sie im mechanisierenden Positivismus
bestand, sondern die organisierenden Richtlinien des Geistes
sollen die Führung behalten. Wenn es auch manchmal den Anschein |#f0073 : 49|

hat, als sollte die Vormacht des Geistes durch einen anderen hypostatischen
Begriff, durch den des Blutes, verdrängt werden, so ist doch
eine Aufhebung des Gegensatzes möglich in einem organischen Weltbild,
für das Geist und Blut eines sind (Franz Koch).


Dichtung wird als psychische Anthropologie angesehen, und die
Rassenprobleme zwingen zur Verbindung naturwissenschaftlicher und
geisteswissenschaftlicher Gesichtspunkte. Durch Hans F. K. Günther
und Ludw. Ferd. Clauß, die von Literaturgeschichte und phänomenologischer
Philosophie herkommen, hat die Rassenforschung geisteswissenschaftliche
Antriebe erhalten, die wieder der naturwissenschaftlichen
Stützung bedürfen. Es kann kein Zweifel sein, daß die deutsche
Literaturgeschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit
dem wachsenden Hervortreten artfremder Elemente, die schließlich
in unerträglicher Weise Literatur, Kritik und Theater zum Geschäftsbetrieb
machten, rassenkundliches Beobachtungsmaterial aufdrängt.
Wenn indessen die Rassenkunde ernstlich zu einer Grundlage literaturwissenschaftlicher
Forschung gemacht werden soll, so kann es nicht
getan sein mit Feststellung und Bekämpfung des jüdischen Anteils am
europäischen Geistesleben der letzten Jahrhunderte, sondern die
positiven Fragestellungen beginnen mit der rassischen Zusammensetzung
der verschiedenen Völker, mit den Zusammenhängen von
Rasse und Seele, Rasse und Weltanschauung, Rasse und Stil und den
aus Erhellung dieser Bindungen hervorgehenden Folgerungen für den
Charakter des Denkens und Dichtens einer Nation, für die rassischen
Merkmale bestimmter Stämme und einzelner Persönlichkeiten in
bezug auf ihr literarisches Schaffen.


Die Beantwortung dieser Fragen, die für die Selbsterkenntnis des
deutschen Menschen nicht unwesentlich sein kann, muß um Jahrtausende
zurückgehen auf frühgeschichtliche Wurzeln, die vor jeder
literarischen Überlieferung liegen. Was die Wissenschaft des Spatens
an Felsenzeichnungen, Gräberfunden und Ausgrabungen alter Siedlungen
ans Tageslicht fördert, stellt keine Literatur dar, wohl aber
Kulturdenkmäler, die von dem Seelenleben des Menschen, dem sie
entstammen, Zeugnis ablegen. Durch das Weiterleben des Ahnenerbes
kultischer Urformen im Brauchtum des Volkes findet sich eine
schon von den Romantikern geahnte Vermittlung zwischen Altertumskunde
und Literaturgeschichte, wie sie neuerdings für die Genesis
des mittelalterlichen Dramas fruchtbar gemacht wird (Höfler, Stumpfl,
Wolfram). Damit ist der Bereich der Literaturgeschichte erstreckt in
Zonen, in denen es noch keine Literatur gab.


Umgekehrt wachsen Gebiete, die noch kaum Geschichte sind, ihr |#f0074 : 50|

zu, wenn die Darstellung des Weltkriegs in der Gegenwartsliteratur
zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht wird
(Cysarz, Pongs). Konnte man früher bezweifeln, ob die Dichtung der
Lebenden überhaupt wissenschaftlicher Behandlung zugänglich sei
und nicht vielmehr vorläufig nur den Gegenstand einer wandelbaren
Kritik bilde, so mag das für in voller Entwicklung befindliche Dichterpersönlichkeiten
nach wie vor gültig sein, aber nicht für diesen ungeheuren
Erlebnisstoff und seine Probleme. Der ist abgeschlossen,
und die Beobachtung, wie solches Geschehen allmählich entstofflicht,
symbolisiert, zum Mythos umgebildet wird, bietet eine einzigartige
Gelegenheit, nicht nur das Verhalten der verschiedenen Völker gegenüber
gleichartigem Erleben zu vergleichen, sondern auch Rätsel der
Urzeit, die in der Entstehung großer Heldensagen und Volksepen
gegeben sind, durch erlebte Analogie der Lösung näherzubringen.


Vor allem aber hat der Existenzkampf des Weltkriegs und seiner
Nachwirkungen Völker und Menschen der Gegenwart vor Wirklichkeitserkenntnisse
und Fragen des eigenen Seins geführt, die über
ästhetische Maßstäbe hinaus Selbstbesinnung, Gewissensentscheidung,
Glaubensverantwortung und Wertung tiefster Innerlichkeit verlangen.
Eine existentielle Philosophie zieht mit der Ganzheit des Menschen
auch seine Kunst und die ihr gewidmete Wissenschaft in ihren Bereich.
Eine sich als „existentiell“ bezeichnende Literaturwissenschaft
will den ausschließlichen Ästhetizismus des „l'art pour l'art“ durch
die Frage nach der Existenzmöglichkeit des Werkes bekämpfen,
indem sie den Künstler mit seinem ganzen Sein schicksalmäßig eingeordnet
sieht in seinem Volk: „in Rasse und Blut, im Geist der
Ahnen, im Einwirken von Umwelt und Mitwelt, in der Muttersprache,
im Jasagen zum Kulturwillen des Volkes, das ihn trägt, in allen unbewußten
Grundkräften, die die letzten Entscheidungen im Leben
lenken.“ (Pongs.)


Alle Verheißungen geben von den neuen Richtungen vorerst mehr
das Bild dessen, was sie sein wollen, als dessen, was sie heute schon
sind. Die vielseitige Bereicherung und Vertiefung der Wissenschaftsaufgaben
führt dahin, daß von allen Seiten ein neuer Vormarsch in
unentdecktes oder aus dem Auge verlorenes Gebiet beginnt. Wieder
handelt es sich zunächst um Sammlung und Erschließung von
Material; wieder muß Kritik das Wesentliche herausheben; wieder
muß die Gliederung des Ganzen überprüft und im Blickpunkt der
Gegenwart neu geordnet werden; wieder ist Umwertung und erlebnismäßige
Deutung des Einzelnen im großen Zusammenhang des Ganzen
das Letzte.

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Aber was vom großen Organismus der Nationalliteratur gilt, ist in
seiner Art auch Erfordernis gegenüber dem Mikrokosmos des in sich
geschlossenen Einzelwerkes. Für dessen Aneignung bleibt in sammelndem
Erkennen, Echtheitsprüfung, gliedernder Wertung und verstehender
Deutung die gleiche Reihenfolge unabänderlich maßgebend.

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ERSTES BUCH: DAS WERK

ERSTER HAUPTTEIL

ÜBERLIEFERUNG UND AUSWAHL

„Im Anfang war das Wort.“


a) Wesen und Umfang


Die fortschreitende Sublimierung der geistesgeschichtlichen Aufgaben,
die zur Sicht metaphysischer Probleme aufsteigt, könnte es
beinahe vergessen lassen, daß die Literaturwissenschaft ihr Arbeitsmaterial
nicht unmittelbar im Geist, sondern zuerst im Buchstaben
findet. Nach Ausgangspunkt und Grundlagen kann sie nichts anderes
sein als Wissenschaft von der Literatur, Erforschung des Geschriebenen
und seiner Zusammenhänge. Der Gegenstand besteht aus Wortkunstwerken,
die in Handschrift oder Druck überliefert sind.


Neben der Literatur stehen Sage, Märchen und Volkslied, die in
mündlicher Übertragung sich fortpflanzen. Sie können schon einmal
Literatur gewesen sein und werden es aufs neue, sobald sie zur Aufzeichnung
kommen. Dabei wahren sie aber ihre eigene literarische
Form, die sich aus der ursprünglich mündlichen Überlieferung erklärt.


Außerhalb der Literatur steht das Brauchtum, aus dem derartige
Volksüberlieferung hervorgegangen ist. Dieser vorliterarischen Voraussetzung,
die bis in die Frühgeschichte und Vorgeschichte zurückgeht,
steht endlich eine nachliterarische Wirkung gegenüber, bei der
es sich um Werke handelt, die einmal überliefert waren und inzwischen
verloren gingen. Uralte Heldendichtung kann mit ihren
ethischen Idealen erziehend und formend auf den Volksgeist weitergewirkt
haben, aus dem sie hervorging. Was sich aber von dem geschichtlichen
Nachleben aller verlorenen Dichtung, sei es, daß sie der
frühesten oder einer späteren Zeit angehörte, erfassen läßt, ist lediglich
literarische Überlieferung, Niederschlag des Eindrucks in Ruhm
oder Klage, in Nachahmungen oder Gegenbildern.


Wie die Wortkunst selbst, so führt der Gang der ihr gewidmeten
Forschung nach und nach dahin, alles Geschriebene, das Bedeutung
hat, zur Vervielfältigung zu bringen; wir scheinen uns also einem
Zeitpunkt zu nähern, da die Literaturwissenschaft es im wesentlichen |#f0077 : 53|

nur noch mit Gedrucktem zu tun haben wird. Der einzelne Forscher
mußte sich von jeher die wissenschaftliche Bearbeitung und dauernde
Benutzung der Manuskripte durch Abschriften sichern; an deren
Stelle tritt neuerdings das leichter zu beschaffende und zuverlässigere
Hilfsmittel der Photokopie. Der Gemeinschaftsarbeit wird das handschriftliche
Material dagegen erst zugänglich durch Faksimilierung,
und die letzte, endgültige Form des Weiterlebens aller Texte ist die
mit wissenschaftlicher Kritik geprüfte Druckausgabe. Fast scheint es
also, daß bei dieser Entwicklung der Arbeitstechnik, bei dieser ständigen
Metamorphose von Wort in Schrift und Schrift in Druck das
Fundament der Literaturwissenschaft am sinnfälligsten durch das holländische
Wort „Letterkunde“ umschrieben wäre.


Allerdings bleibt neben der schriftlichen Überlieferung noch eine
mündliche, die sich nicht nur auf die Volkskunde beschränkt; sie
kann auch im Einzelnen weiterleben als Erinnerung an gesungene
Lieder oder erzählte Märchen der Kindheit, an Improvisationen eines
Dichters, an den Vortrag eines Redners, an die Kunst eines Sprechmeisters,
an das Erlebnis eines Schauspiels. Es gibt also die verschiedenartigsten
Vermittlungsmöglichkeiten eines ungedruckten Textes.
Aber für wissenschaftliche Behandlung braucht das Gedächtnis
des einzelnen eine Stütze, und die Mitarbeit der vielen benötigt eine
zuverlässige Vorlage. Auch bei der mündlichen Überlieferung ist es
also nicht anders: jeder Text tritt in den Bereich wissenschaftlicher
Betrachtung erst dadurch, daß er aufgezeichnet wird, sei es von dem
Vortragenden selbst, sei es von bestellten Stenographen, sei es von
einem Herausgeber zum Zweck der Veröffentlichung. Auch die Schallplattenaufnahme
eines Volksliedes, die dem Eindruck mündlicher
Überlieferung durch mechanische Vervielfältigung Dauer gibt, wird
dem Studium erst erschlossen durch Übertragung der Worte und Töne
in Buchstaben und Noten.


Selbst ein Theaterstück kann, indem es gespielt wird, nicht zur
Literatur gerechnet werden, sondern gehört einem eigenen Kunstgebiet
an, auf dem vielerlei andersartige künstlerische Kräfte mitwirken,
nicht nur im Dienste der Dichtung, sondern mit dem Anspruch,
als eigenschöpferisch anerkannt zu werden. Als nichtliterarische
Produktionsform steht das Theater in ähnlichem Verhältnis
zur dramatischen Dichtung wie Liedvertonung und Gesang zur Lyrik,
Buchillustration und Verfilmung zum Roman. Aber Bühnenmanuskript
und Liedtext fügen sich in die Literatur ein, sobald sie als Aufzeichnungen
zugänglich werden. Dabei enthält das Buchdrama ebenso wie
das Bühnenmanuskript allerdings in seinen der Vorstellung (im dopdelten |#f0078 : 54|

Sinne: des Theaters und der Leserschaft) gewidmeten Regiebemerkungen
einen eingeklammerten Nebentext, der auf der Bühne
nicht gesprochen, sondern gespielt wird und deshalb streng genommen
nicht zur dramatischen Dichtung als Wortkunst gehört. Man erkennt
daraus, daß nicht alles im Dienst der Kunst Geschriebene literarisches
Kunstwerk ist; wohl aber bleibt es gewiß, daß alles, was Gegenstand
der Literaturwissenschaft bildet, einmal geschrieben sein muß. Literatur
ist Sprache gewordener Geist, aber sie ist zugleich Schrift gewordener
Sprachausdruck.


So befindet sich das Wortkunstwerk in einem Schwebezustand
zwischen Buchstabe und Geist. Es gleicht dem Fesselballon, den wir
zur Erde herunterholen müssen, ehe wir mit ihm aufsteigen. Vor
der ersten Fahrt liegt die leere Hülle (nichts anderes ist die buchstäbliche
Überlieferung) auf dem Boden ausgebreitet und muß geprüft
und geflickt werden, damit sie die Zuverlässigkeitsprobe der Dichtigkeit
bestehen kann. Je älter die Hülle ist, desto mehr Flickarbeit
muß geleistet werden. Mit der pneumatischen Füllung tritt erst die
Struktur in Erscheinung. Der Gehalt gibt Form; die Form öffnet sich
dem Gehalt. Und schließlich wird der Aufstieg zum Erlebnis. So weit
indessen da oben der Blick in die Welt reicht, so ist der Himmelfahrt
schließlich doch durch gefesselte Erdgebundenheit eine Grenze gezogen.
Wird die Fessel abgeschnitten, so entschwebt das Fahrzeug in
den Äther, um schließlich, wenn es gut geht, aus der dünnen Eisluft
der Stratosphäre verschrumpft und ausgepumpt zurückzukehren.


Damit ist gleichnishaft der Weg gewiesen, der von der überlieferten
Schrift zur emportragenden Sprache und vom Aufschwung der
Sprache zum Ausblick ins geistig Bedeutsame vordringt. Die erste
Etappe ist bei unverständlichen Schriftzeichen und Lauten einer toten
Sprache zunächst technische Entzifferungsaufgabe der Sprachwissenschaft
oder der Völkerkunde. Bei Texten, deren äußeres sprachliches
Verständnis keine Schwierigkeiten bereitet, ist die erste Interpretation
bereits eine Sache der Vortragskunst, die Klanggebung mit Sinndeutung
vereinigt. Auch das stille Lesen ist eine Reproduktion, eine
stumme Vortragskunst ohne Zuhörer, die nach innen gerichtet ist und
sowohl Klanggebung als Sinndeutung an das innere Gehör und die
innere Anschauung vermittelt. Beides gehört zum Verstehen, das nun
von unbewußter Eingebung zur bewußten Klarheit wissenschaftlicher
Kunsterkenntnis gesteigert werden kann. Dazu gehört allerdings die
Heranziehung weiterer Literatur, die nicht mit dem Werk selbst überliefert
ist. Dieser Ballast füllt die dem Ballon angehängte Gondel,
die alle Apparate der Beobachtung enthält. Da sind die Lebenserzeugnisse |#f0079 : 55|

des Verfassers, die Briefe, Tagebücher und aufgezeichneten Gespräche
ausgebreitet, die seine noch ungestalteten Erlebnisse verraten
und seine Absichten kundtun. Seine Vorarbeiten sind erhalten;
dabei stellen sich andere Schöpfungen und Pläne desselben Dichters
zum Vergleich, und zu ihnen gesellen sich die Werke von Vorgängern
und Zeitgenossen, mit denen er in Zusammenhang stand. Um das
Werk schart sich außerdem der Kreis seiner Kritiker. Endlich ist
das, was im besonderen Sinn als zum Gegenstand gehörige „Literatur“
bezeichnet wird, zu berücksichtigen; als orientierende Karten dienen
die bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten über das Werk; sie sind
die Protokolle früherer Auffahrten.


Soll ein literarisches Kunstwerk in dem von Herder verlangten
historischen Sinne aus dem Geist seiner Zeit verstanden werden, so
gehört dazu ferner die ganze geistige Umwelt und Bildungsatmosphäre,
in der der Verfasser gelebt hat; nicht nur, was er gelesen hat an
theologischen, philosophischen, ästhetischen und geschichtlichen Werken,
die zum Aufbau seiner Weltanschauung beitrugen, sondern auch.
was er gesehen und gehört hat an Landschaftseindrücken, an bildender
Kunst und Musik; was ihm Erlebnis wurde an religiösen Krisen
und Erschütterungen des Zeitalters; was er erfuhr in der Gesellschaft
der Menschen; was ihn bewegte im Gefühl politischer Gemeinschaft
oder in Sehnsucht nach einer solchen oder in tragischer Vereinsamung,
die er als Schicksal mit anderen Zeitgenossen teilte. Was in allen
Lebens- und Ausdrucksformen als gleichgerichtet zu erkennen ist,
darf als symptomatisch für den Zeitgeist angesehen werden, aus dem
das Werk zu deuten ist. Auch die sprachliche Kunstform muß als Stil
in diese Abhängigkeit einbezogen werden.


Wenn dagegen in umgekehrter Richtung nicht der Zeitgeist zur
Erklärung des Werkes, sondern das Werk zur Erkenntnis des Zeitgeistes
herangezogen wird, ändert sich die wissenschaftliche Fragestellung.
Gelangt nur die geistige Quintessenz zur Auspressung,
während die Schale wegfällt, so ist die Frucht zerstört; die Kunstform
der sprachlichen Überlieferung ist aufgegeben, um ein in ihr
verborgenes Gedankensystem zu enthüllen, das begriffen und umschrieben
werden muß in anderer Sprache als der der Dichtung. Bei
Lehrdichtungen, in denen die Kunstform tatsächlich nur das Organ
philosophischer Ideen war (Parmenides, Lukrez), tut diese philosophische
Auswertung dem Werk kein Unrecht. Aber meist haben die
Dichter selbst gegen solche Einschätzung Einspruch erhoben. So wollte
Schiller seine Gedankenlyrik nicht als Philosophie in Versen, sondern
als Dichtung angesehen wissen. Und noch strenger ist Stefan George |#f0080 : 56|

für das Wesentliche der sprachlichen Gestalt eingetreten: „Den Wert
der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (sonst wäre sie etwa Weisheit,
Gelahrtheit), sondern die Form, d. h. durchaus nichts Äußerliches,
sondern jenes Tieferregende in Maß und Klang, wodurch zu
allen Zeiten die Ursprünglichen, die Meister sich von den Nachfahren,
den Künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben.“


Bleiben wir zunächst bei der Überlieferung des einzelnen Werkes
und sehen von allen Trabanten, die ihm beigeordnet sind, ab. Mit
der Aufnahme durch den Leser gelangt es, wie Roman Ingarden in
seiner scharfsinnigen phänomenologischen Untersuchung gesagt hat,
zur „Konkretisierung“, die einen Mittelzustand zwischen Idealität
und Realität darstellt. In zahllosen Konkretisierungen kann das Werk
ebenso wie in der vielfältigen Überlieferung Wandlungen durchmachen,
die ein Beweis seines Lebens sind. Aber welches ist seine
eigentliche Seinsweise? Man hat gesagt, daß die Dichtung in den Erlebnissen
und der Konzeption des Dichters ihre ideelle Existenz habe
und in der Aufnahme durch den Leser sie wiedergewinnen müsse.
Das würde bedeuten, daß die Sprachgestalt, die der Dichter seinem
Werk gegeben hat, unter seinem Wollen geblieben sei, was neuplatonischer
Auffassung entspricht und mit gelegentlichen Klagen Goethes
über die Unvollkommenheit der Sprache übereinstimmt. Aber der
Leser ist am wenigsten imstande, diese Unvollkommenheit zu heilen.
Tatsächlich wird die Dichtung zum Kunstwerk erst in der Sprachform,
und oft bestätigt sich sogar in ihrem Werden, was Heinrich
von Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken
beim Reden“ beobachtet: „L'idée vient en parlant.


Man hat auch ungeschrieben gebliebenen Dichtungen einen existentiellen
Wert beimessen wollen, und in der Tat mögen sie, was unkontrollierbar
bleibt, bei manchem mittelmäßigen Dichter seine besten
gewesen sein oder bei frühverstorbenen Genies das Beste zu werden
versprochen haben. Aber wenn wir von Plänen der größten Dichter
nur Titel oder skizzenhafte Szenare haben, so kann diese Überlieferung
lediglich durch Beziehung zu anderen ausgeführten Werken
literarischen Wert gewinnen; allenfalls auch durch einen Einblick in
die Arbeitsweise, der zu Analogieschlüssen auf die Entstehung anderer
Werke berechtigt. Daß Lessing eine „Virginia“ plante, hat Bedeutung
für die spätere „Emilia Galotti“. Daß Goethe in Italien an
eine „Iphigenie in Delphi“ dachte, beleuchtet in gewissem Sinne das
Ende der „Iphigenie in Tauris“. Daß Schiller in seinen Titelverzeichnissen
„Der sich für einen andern ausgebende Betrüger“ notierte,
zeigt, in welcher Weise er schon vor der Stoffindung um die Probleme |#f0081 : 57|

des „Demetrius“ und „Warbeck“ kreiste. In Kleists „Peter der Einsiedler“,
von dem wir nur den Titel überliefert haben, gewinnen wir
durch den Stoffkreis eine Vorstufe zum „Robert Guiskard“. Aber gar
nichts anfangen können wir mit der Nachricht über einen ausgeführten
zweibändigen Roman Kleists, solange das Manuskript nicht auftaucht.
Das Suchen nach solcher verlorenen Handschrift zieht oft
dilettantische Mißgriffe nach sich und läßt Kuckuckseier in das Nest
des Dichters gelangen, wie es mit der Unterschiebung von Weidmanns
„Faust“ bei Lessing, des Altonaer „Josef“ beim jungen Goethe oder
Tiecks „Vittoria Accorombona“ bei Kleist geschehen ist. Mit der
Widerlegung solcher Fehlfunde hat sich die Forschung dann eine
Zeitlang zu beschäftigen, und diese an sich unfruchtbare Arbeit kann,
wie es beim „Josef“ der Fall war, wenigstens die Methode der Verfasserbestimmung
fördern. (Vgl. S. 79 f.)


Die halb psychologistische, halb mystische Theorie, die das Sprachkunstwerk
nur als Medium und Brücke zwischen der Phantasie des
Dichters und dem Wiederaufbau in der Phantasie des Lesers gelten
lassen will, muß die eigentliche Dichtung als unerreichbares Ding an
sich auffassen. Denn wenn die Tatsache des unterschiedlichen Verstehens,
die als Ungleichheit aller Konkretisierungen in Erscheinung
tritt, eine vollkommene, objektive Gleichstellung zwischen Leser und
Dichter ausschließt, so kann auch der Literarhistoriker bei aller Einfühlungsgabe
und Fähigkeit zur Nachdichtung, die von ihm verlangt
wird, nicht die Identität mit dem Schöpfer erreichen, die dazu nötig
wäre, das Ideal, das in der Seele des Dichters lag, herauszuarbeiten.
Er hat sich an das zu halten, was ihm zugänglich ist, und das sind
zunächst die überlieferten Texte. Sie stellen Papiergeld dar, Schatzanweisungen
und Wechsel, die einzulösen und als gemünzte Werte in
Umlauf zu setzen sind; aus der Papierform lebloser Buchstaben, in
die sie einfroren, müssen die Literaturwerke befreit werden. Die
lebendige Sprachform, die ihren Sinn und Wert erschließt, ist wiederherzustellen.
Die schriftliche Überlieferung ist eine Verpuppung, ein
Schlummerzustand der Literatur. Die Bibliotheken sind also nicht
nur Schatzkammern, sondern Schlafkammern für die Schriftwerke,
die darauf warten, geweckt zu werden. Manche sind immer wach und
lebendig; manche sind schlafwandelnd unterwegs; manche treten wie
die Siebenschläfer der orientalischen Legende erst nach tausend
Jahren aus ihrer Höhle; manche sind in ewigen Schlummer versenkt
und durch den Lethestrom der Vergessenheit vom Leben getrennt.


Der Bibliothekswissenschaft fällt der Wachdienst zu, der alles
Schrifttum mit gleicher Sorgfalt betreut. Die Literaturwissenschaft, |#f0082 : 58|

die den Weckruf erschallen läßt, hat nur den einen Flügel der
Bücherkaserne unter sich, in dem die schöne Literatur untergebracht
ist. Der Weckruf ertönt in verschiedenen Sprachen, und nun gruppieren
sich die Literaturen der einzelnen Länder. Das Kommando
fällt jetzt an die einzelnen Literaturgeschichten. An Stelle der alphabetischen
Anordnung des Bücherkatalogs tritt eine Musterung nach
dem Größenverhältnis oder eine Einteilung nach Gattungen oder eine
historische Reihenfolge nach dem Lebensalter der Dichter oder nach
dem Geburtsjahr der Bücher. Die Perioden werden formiert. Aber
nun zeigt sich, daß keine uniformierte Truppe beieinander steht,
sondern daß die sprachliche Montur auch des einzelnen Kulturkreises
in Farbe und Schnitt sehr mannigfaltig ist, unterschieden nicht nur
durch die Perioden der Sprachentwicklung, sondern innerhalb derselben
auch durch Mundart und fremden Sprachanteil.


Auf deutschem Boden ist mancherlei fremdsprachliche Literatur
erwachsen, die man durchaus als Erzeugnis deutschen Geistes und
Blutes würdigen muß. Zeitweilig hat die römische Dichtung deutscher
Nation sogar ein Übergewicht gehabt wie in der ottonischen Renaissance,
da Stoffe deutscher Heldensage und Motive deutscher Märchen
(Waltharius, Ruodlieb) in lateinische Hexameter gebracht wurden.
Gerade die stärksten nationalen Regungen haben auch in der
Hohenstaufenzeit (Archipoeta, Tegernseer Antichrist) wie später bei
den Humanisten und Neulateinern (Wimpheling, Hutten) das fremde
Gewand umgetan. Auch französische Literatur ist auf deutschem Boden
gepflegt worden, nicht nur von Refugiés und herbeigeholten Philosophen,
sondern von Leibniz und Friedrich dem Großen. Ja, noch
Dichter unserer Zeit wie Stefan George und Rilke haben sich in englischen
und französischen Gedichten versucht, die sie dann zum Teil
selbst wieder ins Deutsche übersetzten. Wiederum haben Schriftsteller
ausländischer Herkunft, z. B. der geborene Franzose Adalbert
von Chamisso, der Engländer H. St. Chamberlain, der Italiener Silvio
di Casanova nur in deutscher Sprache gedichtet. Die Wahl der Sprache
war in diesen vereinzelten Fällen Ausdruck einer Gesinnung, kraft
deren sie in besonderem Maße der deutschen Literatur zuzurechnen
sind.


Andere Literatursprachen haben ausgebreitetere Weltgeltung, aber
sie sind nicht mehr von einem einheitlichen Volkstum getragen. Die
Dichtung des erdumspannenden englischen Kolonialreichs, des ehemaligen
wie des jetzigen, läßt sich nicht mehr in einer englischen
Literaturgeschichte zusammenfassen. Wohl besteht noch eine Spracheinheit,
obwohl Sonderentwicklungen bemerkbar sind; aber die |#f0083 : 59|

geistige Einheit ist gelockert; es trennen sich die Erdteile und die
Rassen; die englische Literatur Amerikas, Indiens, Australiens beginnt
sich in bodenständiger Eigenkultur zu verselbständigen. Gleiches gilt
vom spanischen und portugiesischen Südamerika. Dagegen kann die
auslanddeutsche Dichtung, die fern vom geschlossenen Sprachgebiet
ihr Leben führt, der deutschen Literaturgeschichte einverleibt bleiben,
und zwar nicht nur in einzelnen Vertretern, die noch mit dem Mutterland
in enger Beziehung stehen, sondern in Stadt- und Adelskulturen,
wie in den ehemaligen russischen Ostseeprovinzen, und in bäuerlichen
Volkstumsgruppen, die in Südrußland, in Siebenbürgen, in Pennsylvanien,
in Texas mit Sprache, Brauch und Sitte auch ihr altes Lied
sich erhielten. Diese deutsche Literatur fremder Länder kann trotz
der geographischen und politischen Ferne in ihrer konservierenden
und produzierenden Funktion noch als Ausstrahlung der deutschen
Nationalliteratur betrachtet werden. Andererseits besteht aller Anlaß,
daß eine Geschichte der amerikanischen Nationalliteratur, sobald sie
einmal in großem Umfang geschrieben wird, die Einwandererdichtung
mitberücksichtigt.


Ein schwieriger Grenzfall stellt sich dar, wenn Auswanderer die
Laute ihrer Heimat aufgegeben haben, ohne daß die Sprache ihres
Blutes damit ausgelöscht werden konnte. Als Nachwirkung der Völkerwanderung
macht sich in Kunst und Literatur des Südens noch jahrhundertelang
das Blut der Goten, Vandalen, Langobarden und anderer
germanischer Stämme bemerkbar, die in fremdem Volkstum aufgegangen
sind. Nicht anders ist es mit Normannen und Burgundern in
Frankreich. Die Feststellung der Rassenmerkmale dieser verlorenen
Söhne des germanischen Geistes fällt in den Bereich der Romania.
Die deutsche Literaturgeschichte dagegen muß suchen, auf ihrem
Sprachgebiet das fremdstämmige Element zu erkennen. Es handelt
sich dabei nicht nur um Schriftsteller jüdischen Blutes, deren Rasse
in Weltanschauung und Stil am leichtesten bemerkbar sein wird, sondern
auch um romanische oder slavische Abkunft (Moscherosch, de
la Motte Fouqué, Fontane, Nietzsche), deren Wesensart Fremdartiges
analysieren läßt und in der Blutmischung ihre Erklärung findet.


Eine Zugehörigkeit zu mehreren Nationalliteraturen kommt den
Werken zu, die durch künstlerische Neuschöpfung in einer anderen
Sprache Bürgerrecht erhalten haben. Sie gehören nach ihrem geistigen
Gehalt dem Lande ihres Ursprungs an, nach ihrer letzten sprachlichen
Form dem Lande, das sie zu Gaste lud. So wenig Homer, Shakespeare,
Dante durch Übersetzungen eine Beeinträchtigung ihres Platzes
in der griechischen, englischen und italienischen Literatur erfahren, |#f0084 : 60|

so wenig auch die meisterhafteste Übertragung vollen Ersatz für
das Original bieten kann, so wenig kann man die Leistungen der Voß,
Schlegel, Regis, Gildemeister und anderer aus der deutschen Literaturgeschichte
streichen.


Anders steht es mit den fingierten Übersetzungen, die vom großen
Einfluß bestimmter fremder Dichter Zeugnis ablegen. Wenn Wilhelm
Häring seine ersten Romane unter dem Namen Walter Scott erscheinen
ließ, während Balzac eine seiner früheren Erzählungen als Werk
Hoffmanns ausgab, so bedeuten diese Tatsachen weniger Fälschungen
als Zugeständnisse einer bis zur Nachahmung gehenden Abhängigkeit.
Mit Auflösung des Pseudonyms ist die auf den Verfasser selbst
zurückgehende Überlieferung berichtigt, ohne daß die Literaturen,
denen die Namen Scott und Hoffmann angehören, mehr damit zu tun
haben, als daß sie starke Ausstrahlungen ihrer Wirkung zu buchen
berechtigt sind.


b) Beschränkung der Überlieferung


Das Ergebnis der ersten äußerlichen Abgrenzung, die dem Material
der literarhistorischen Forschung zuteil werden kann, besteht darin,
daß das Gebiet der Literaturwissenschaft sich in so viele Literaturgeschichten
aufteilt, als es Literatursprachen gibt. Jede Nationalliteratur
hat den Einklang von Sprache und Volkstum zum Kern,
aber Sprache und Volkstum brauchen so wenig wie Blut und Boden
sich immer vollständig zu decken. Es gibt Kolonien auf fremder Erde
und Minderheiten im Mutterlande; es kann sowohl nationaler Geist in
fremder Sprache seinen Ausdruck gefunden haben als fremder Geist
in der Nationalsprache.


Voraussetzung dieser Abgrenzung ist die Beschränkung auf Dichtung
und schöne Literatur. Die Wortkunstwerke, nicht die Spracherzeugnisse
überhaupt bilden den Gegenstand. Aber wo ist die
Scheidelinie? Hier hat sich die literaturwissenschaftliche Methodenlehre
ziemlich erfolglos bemüht, zu einem eindeutigen Ergebnis zu
gelangen. Der Rumäne Michel Dragomirescu behilft sich in seinem
an französischer Literaturästhetik orientierten dreibändigen Werk
„La science de la littérature“ mit einer Dreiteilung von „œuvres
pratiques“, „œuvres artistiques“ und „chefs d'œuvre“. Bei der ersten
Klasse handelt es sich um alle Zweckliteratur, also auch um Werke
der Wissenschaft. Sie vermitteln geistige Werte unter Aufwand von
mehr oder weniger Sprachkunst, und manche Geschichts- oder Lebensdarstellung
kann ihrer Form nach vollen Anspruch erheben, als |#f0085 : 61|

Kunstwerk angesehen zu werden. Es bleibt trotzdem fraglich, wie
weit solches Schrifttum in den Bereich der Literaturwissenschaft gezogen
werden kann. Den weitesten Rahmen hat wohl die „Cambridge
History of English Literature“ (14 Bände, 1907─16) gespannt, indem
sie „the literature of science and philosophy, and that of politics and
economics; parliamentary eloquence; the work of schools and universities
and libraries; scholarship; the pamphlet literature of religious
and political controversy; the newspaper and the magazine, the
labours of the press and the services of booksellers; homely books
dealing with precept and manners and social life; domestic letters
and street songs; accounts of travel and records of sport“ in ihre
Gemeinschaftsarbeit einbeziehen wollte. Dieses Programm greift auf
dem Gebiet der Nationalliteratur nicht weniger weit aus als seinerzeit
auf dem Gebiet der Weltliteratur jene polyhistorische Göttinger „Allgemeine
Geschichte der Künste und Wissenschaften“ (1796 ff.), die
die schönen Redekünste aller Länder zur allgemeinen Überschau zu
bringen bemüht war (vgl. oben S. 28).


Sollte solche Darstellung in der Hand eines einzelnen bleiben, so
dürfte, wie Ernst Elster bemerkt, der Literarhistoriker oder vielmehr
der universale Geistes- und Kulturgeschichtler, der an seine Stelle zu
treten hätte, einer selbständigen Würdigung aller wissenschaftlichen
Werke vom Standpunkt des betreffenden Faches aus unmöglich gewachsen
sein. Ein solcher Querschnitt aus der universalen Kulturgeschichte
steht außerdem vor ähnlichen darstellerischen Unmöglichkeiten
wie die universale Literaturgeschichte, die dasselbe Gebiet im
Längsschnitt zu durchmessen hätte. Für eine Behandlung als Selbstzweck
innerhalb der Literaturgeschichte können Erscheinungen reiner
Wissenschaft, wenn sie auch noch so epochemachend für ihr Zeitalter
und noch so symptomatisch für den Zeitgeist waren, nicht in Betracht
kommen. Wie weit die Erfindung der Infinitesimalrechnung Leibniz
oder Newton zuzuschreiben ist, gehört weder in die deutsche noch in
die englische Literaturgeschichte. Aber als Gesamterscheinung kann
der Verfasser der „Theodicee“ und „Monadologie“ unmöglich ausgeschlossen
werden, und die intensive Beobachtung der Spiegelung,
die diese geistesgeschichtlichen Taten in der Dichtung gefunden
haben, macht sie zum Gegenstand nicht eines philosophischen Exkurses,
sondern zwingt dazu, sie in eine Schau literarhistorischer Tatsachen
einzufügen.


Während Scherer in seiner Anzeige der Hettnerschen Literaturgeschichte
des 18. Jahrhunderts verlangt hatte, daß die Geschichte
der Wissenschaften in die Literaturgeschichte hineinbezogen werde, |#f0086 : 62|

kam später seine eigene Darstellung dieser Forderung kaum nach,
aber Richard Heinzel übte trotzdem an der Literaturgeschichte seines
Freundes Kritik, weil sie nicht reine Kunstgeschichte im Sinne
Winckelmannscher Stilperiodisierung, sondern Geschichte des geistigen
Lebens geboten habe. Ein ähnlicher Standpunkt ist neuerdings häufiger
vertreten worden, indem man den Ausdruck Literaturgeschichte
durch „Dichtungsgeschichte“ zu ersetzen vorschlug. Das bedeutet nicht
nur Eindeutschung; als solche hätte das Wort „Geschichte des Schrifttums“
genügt; sondern es sollte ein Gegenstück zu Kunstgeschichte
und Musikgeschichte sein. Dabei wurde aber zu wenig beachtet,
wieviel enger als jene Künste die Dichtung mit philosophischer und
religiöser Literatur durch gleiche Themen und gleiche sprachliche
Ausdrucksmittel verbunden ist. Auf geistesgeschichtlicher Seite setzte
denn auch der lebhafteste Widerspruch ein bei Rudolf Unger und
besonders bei Herbert Cysarz, der an Stelle der „törichten Trennungsversuche“
die fortschreitende Erkundung der Wechselbeziehungen
treten lassen will als „Einsicht, daß jegliches Bild der Dichtung an
letzten Erkenntniswerten, zumindest letzten Fragen der Erkenntnis
teilhabe, daß anderseits jegliche Philosophie, jegliche Wissenschaft
des Menschen und der Welt, auch die ästhetische Sphäre einschließe“.


Das führt zu Fragen der Deutung und Darstellung, die späteren
Erörterungen vorzubehalten sind. Um was es sich zunächst handelt,
ist die Abgrenzung des überlieferten Stoffes, wobei das Verhältnis
zwischen „Dichtung“ und „Literatur“ zu klären ist. „Literatur“ gilt
selbst in der Fassung „schöne Literatur“, die einen Abstand von der
„wissenschaftlichen Literatur“ herstellt, allgemein als der weitere
Begriff, so daß alle Dichtung als schöne Literatur, aber keineswegs
alle schöne Literatur als Dichtung genommen wird. Ein davon abweichender
Versuch Hermann Hefeles, Dichtung als persönliche und
private Angelegenheit eines liberalistischen Subjektivismus, Literatur
dagegen als Ausdruck des volkhaften Gemeinschaftserlebnisses zu
erklären mit dem Verlangen, daß alle Dichtung Literatur werde,
widersprach so vollständig dem herkömmlichen Sprachgebrauch, daß
er sich nicht durchsetzen konnte.


Allerdings ist eine Erweiterung des Begriffes „Dichtung“ geschichtlich
zu beobachten. Die augenfällige Trennung von metrischer und
prosaischer Sprachform spielt heute nicht mehr die Rolle wie in
früherer Ästhetik. Noch Joh. Joach. Eschenburgs „Theorie und Literatur
der schönen Wissenschaften“ (1789) sonderte beispielsweise
den Roman von den epischen Dichtungsarten ab und stellte ihn mit
Charakteren, Biographien und Historie zusammen zur Rhetorik. |#f0087 : 63|

Dieser dritten Hauptgattung wurde die gesamte Kunstprosa zugerechnet.
Auch Schiller hat den Romanschreiber nur als Halbbruder des
Dichters gelten lassen wollen, Bernhardis „Sprachlehre“ nannte die
Form des Romans halbpoetisch, und noch Paul Ernst sprach vom
Roman als Halbkunst. Dagegen schreibt ein Dichter unserer Tage,
wie Erwin Guido Kolbenheyer, dem Naturalismus das Verdienst zu,
den Roman zur Dichtung gemacht zu haben, und Oswald Spengler
hielt ihn für die größte Wortkunstform des Jahrhunderts. Ist in dieser
Richtung der Begriff erweitert, so hat er umgekehrt eine Verengerung
erlebt, indem aller lehrhafte Reimgebrauch mehr und mehr aus
der als Ausdrucksform begriffenen Dichtung ausschied. Es wird deutlich,
daß nach Kriterien der äußeren Sprachform keine Unterscheidung
zu treffen ist.


Der Abgrenzung von „Dichtung“ und „Literatur“ hat Benedetto
Croce jüngst ein eigenes Buch gewidmet, nachdem er alle möglichen
Werke der Ästhetik, Poetik und Rhetorik vergebens nachgeschlagen
hatte, um eine befriedigende Erklärung zu finden. Was er selbst beiträgt,
dürfte auch noch keine endgültige Lösung darstellen. Der Dichtung
als innerlicher Weltschöpfung, die alle Teile zu einem harmonischen
Ganzen verknüpfend, aus der Enge des Endlichen ins Unendliche
hinüberträgt und dem einzigen Kriterium der Schönheit unterworfen
ist, wird die „espressione letteraria“ als eine auf gesellschaftlichen
Grundlagen beruhende Geistesform anderer Art gegenübergestellt;
daneben findet noch eine prosaische, eine rednerische, eine
empfindsame und eine leidenschaftliche Ausdrucksform der Sprache
ihren Platz. Praktisch aber bleibt die schon früher vertretene Auffassung
in Geltung, daß nur die schöpferischen Geister zur Geschichte
der Dichtung gehören. Für die überragenden eigenschöpferischen
Werke, die über alle nationale und zeitliche Gebundenheit erhaben
sind, bleibt die ästhetische Methode anwendbar, die das Große vereinzeln
muß oder allenfalls miteinander vergleichen kann, aber es
nicht nach seinen Ursprüngen zu begreifen sucht. Wenn dabei die
historische Betrachtungsweise ausdrücklich ausgeschlossen wird, kann
man dann eigentlich von Geschichte der Dichtung sprechen? Die von
Croce anerkannte „storia della poesia“ ist angewandte Ästhetik, aber
keine Geschichte. Anders darf es bei den kleinen Geistern sein; alle
Werte, die zeitlich und räumlich gebunden sind, sollen nach historischer
Methode behandelt werden; dafür sind sie aber nicht der Dichtungsgeschichte,
sondern der Geschichte der Kultur, der Neigungen
und der Zielsetzungen verschiedener Völker zuzusprechen.


Bei solcher Gebietsaufteilung zwischen einer auf geschichtliche |#f0088 : 64|

Grundlagen verzichtenden Poetik, die sich der Kritik und Ästhetik
hoher Dichtung widmet, und einer Literaturgeschichte, die nur Teil
der Kulturgeschichte wäre und wirkliche Dichtung auszuschließen
hätte, würden Gipfel getrennt, die in den reinen Äther ragen, und
Täler, in denen die arbeitenden Menschen sich drängen und jagen;
dazwischen aber läge eine undurchdringliche Wolkenschicht. So kann
es indessen unmöglich gemeint sein, daß die für geschichtliche Betrachtung
freigegebene Rumpfliteratur, der die Dichter fehlen, als
abgerahmte Magermilch und als Kuchen, aus dem die Rosinen herausgepickt
sind, übrig bliebe. Vielmehr stehen auch die großen Dichter
mit ihren Füßen in der Kulturgeschichte, in der die Voraussetzungen
ihres Werdens liegen; mit Leib, Herz und Sinnen gehören sie der
Literatur- und Geistesgeschichte ihrer Völker an, die ohne sie nicht
zu denken ist; nur die Häupter ragen in eine Sphäre, zu der die
Literaturgeschichte wohl den Ausblick bietet, die aber in ihren überzeitlichen
Werten den geschichtlichen Bedingungen entrückt ist.


Mit der ganz anderen Methode einer „Wesensanatomie“ bemüht
sich der Phänomenologe Roman Ingarden, das literarische Kunstwerk
von dem Grenzfall des wissenschaftlichen Werkes zu trennen. Dem
wissenschaftlichen Werk wird eine analoge Polyphonie im Schichtenaufbau
sprachlicher Lautgebilde und Bedeutungseinheiten dargestellter
Gegenständlichkeiten und schematisierter Ansichten zugestanden,
nur daß die Gewichtsverteilung eine andere ist. Die eigene Funktion
des Wissenschaftswerkes wird gesehen im Gebrauch echter Urteile
und in der Unterordnung der ästhetischen Wertqualitäten unter die
Festlegung gewonnener Erkenntnisresultate. Aber der Grenzfall tritt
in Wahrheit erst ein, wenn die Urteile nicht echt sind, sondern sich
einer künstlerischen Absicht unterordnen, so daß die ästhetischen
Wertqualitäten über die Erkenntnisresultate dominieren. Auf diese
Weise kommen zur schönen Literatur die Predigten und politischen
Reden, die Erzählungen für die Jugend, die Aphorismensammlungen,
Kritiken und satirischen Skizzen, die Reisebeschreibungen, Selbstbiographien,
Briefe und Tagebücher, ja fast das ganze Zeitungsfeuilleton.
Alles kann einen gewissen Anspruch erheben, als sprachliches
Kunstschaffen angesehen zu werden.


Wenn man nun als Zwischenfeld zwischen Wissenschaft und Dichtung
die Belletristik, also die „schöne Literatur“ im engeren Sinne,
ansieht, gelangt man zu einer Abstufung, die mit der Einteilung
Dragomirescus von „œuvres pratiques“, „œuvres artistiques“ und
„chefs-d'œuvre“ ziemlich übereinstimmt. Aber das bedeutet eine
ästhetische Wertskala, wie sie Ingarden vermeiden wollte. Er hatte |#f0089 : 65|

seiner ontologischen Untersuchung jede Spielart des literarischen
Kunstwerkes unterworfen, gleichviel ob „irgendein Kriminalroman
aus einer Zeitung oder ein banales Liebesgedicht eines jungen
Schülers“ vorlägen. Erst nach Bereinigung der allgemeinen Begriffsbestimmung
sollte an die ästhetische Schätzung herangegangen werden.


Soviel erkenntnistheoretische Berechtigung dieses planmäßige Vorgehen
der phänomenologischen Methode haben mag, und so viel Wert
ihm für die Abtrennung der wissenschaftlichen von der schönen
Literatur zukommt, so wenig ist es doch für die Sichtung dessen,
was übrig bleibt, brauchbar; die Praxis der Literaturwissenschaft
kommt bei diesem langsamen Tempo nicht vorwärts. Wir können
nicht beliebige Beispiele herausgreifen, um an ihnen begrifflich zu
experimentieren, sondern wir stehen zunächst der ungeheuren Masse
einer kaum übersehbaren Überlieferung gegenüber, die es zu bewältigen
gilt. Wir müssen von vornherein den Unterschied machen
zwischen Literatur und Makulatur. Damit erkennen wir eine Auslese
an, die bereits die Zeit vollzogen hat. Das schülerhafte Liebesgedicht
kann uns höchstens etwas angehen, wenn der Verfasser später ein
großer Mann geworden ist und wenn sich in den tastenden Anfängen
bereits Merkmale der Genialität erkennen lassen. Wir greifen also
innerhalb der geschichtlichen Folge wieder auf das bibliothekarische
Ordnungsprinzip des Namenkatalogs zurück und fassen das zusammen,
was der Persönlichkeit eines Dichters zugehört und zu ihrem
Ausdruck geworden ist. In diesem Zusammenhang gewinnen auch
Literaturwerke Bedeutung, die man nicht zur Dichtung und vielleicht
nur mit Einschränkung zur schönen Literatur rechnen kann wie
Goethes „Italienische Reise“, seine Winckelmann-Biographie, seine
Cellini-Übersetzung, seine Farbenlehre. Das alles möchte Benedetto
Croce ausdrücklich aus der Geschichte der Dichtung ausgeschlossen
wissen. Wenn wir ihm nicht folgen wollen, so müssen wir an Stelle
solcher Dichtungsbetrachtung, die keine Geschichte ist, den Begriff
einer „Dichtergeschichte“ setzen. Das klingt wie eine Analogie zur
„Künstlergeschichte“, die etwas abseits von der eigentlichen Kunstwissenschaft
ihren Platz hat. Aber bei dem, was wir „Dichtergeschichte“
nennen wollen, handelt es sich nicht um Aneinanderreihung
von Biographien, die der Gesamtbetrachtung ein chronologisches
Material zugrunde legen. Das Leben jedes einzelnen Dichters
braucht nur in Betracht zu kommen, soweit die daraus erwachsenen
Dichtungen zu ihm in Beziehung stehen, aber diese gehaltlichen,
problemhaften und stilistischen Lebenszusammenhänge sind enger
und unlösbarer als bei jeder anderen Kunst. In ihnen beruht nicht |#f0090 : 66|

nur eine zeitliche und ursächliche Folge für das ordnende Verstehen
der aus diesem Leben hervorgegangenen Dichtungen, sondern zwischen
den einzelnen Dichtern, deren Werk unter ihrem Namen als Einheit
zu erfassen ist, bestehen wieder zeitliche, räumliche und kausale Beziehungen
der Schicksalsgemeinschaft, der Wechselwirkung und der
Abhängigkeit; Dichtergruppen schließen sich in räumlicher Nachbarschaft
und zeitlichem Nacheinander zu Gemeinschaften zusammen;
größere Gemeinschaften sind durch Stammeszusammenhänge und
periodischen Wechsel erkennbar; so stellt sich Ineinanderwirken und
Aufeinanderfolge in Dauer und Wechsel schließlich als großer geschichtlicher
Zusammenhang dar. Auf dem Wege über die Dichter
und nur über sie gelangen wir zu einer geschichtlichen Betrachtung
der Dichtung, ohne sie der Kulturgeschichte unterordnen zu müssen.


Aber wo bleibt dann neben der Dichtung die schöne Literatur?
So schwer der Unterschied von Dichtung und Literatur in allgemeingültiger
Begriffsbestimmung zu treffen scheint, so klar liegt eine
andere Trennung vor uns, nämlich die zwischen Dichter und Literat
in bezug auf Persönlichkeit, Berufung und Schaffensweise. Schon das
18. Jahrhundert hat, als ihm der Begriff des Schöpferischen aufging,
den Unterschied zwischen Natur und Geist, zwischen Genie und
witzigem Kopf, zwischen Dichter und Versifikateur gesehen. So Klopstock,
Lessing und Herder, indem sie sich gegen nivellierende Auffassungen
wie die des französischen „bel esprit“ wehrten. Die Situation
wiederholte sich im ersten Viertel unseres Jahrhunderts, als
Josef Ponten in einem „Offenen Brief an Thomas Mann“ gegen die
Überschätzung des Schriftstellerischen Einspruch erhob. Unter den
mehr als zwanzig Antithesen, durch die er die Begriffe zu klären
suchte, waren einige sehr schlagend, z. B. „Schriftstellerisch: das ist
Gewand und Schneiderkunst; Dichterisch: ist das dem nackten Leib
aufgewachsene Naturgewand“ ─ „Das Schriftstellerische ist Arbeit,
Ernst, Eifer, Geduld, Erfahrung, Wissen, Belesenheit, Reife, Talent,
Geschmack, Zucht, Opfer, Entsagen, Fleiß, Vernunft; das Dichterische
ist nichts als Gnade und Wunder.“ ─ „Das Schriftstellerische ist „Literatur“
in reinster und strahlendster Bedeutung; das Dichterische ist
─ Geheimnis“ ─ „Schriftstellerisch ist Zeit, Dichterisch ist Ewigkeit.“


Alle diese Gegensätze führen auf die wesensverschiedene Art des
äußeren und inneren Berufs, des Geschäftigen und des Schaffenden
zurück. Der Dichter, dessen dämonische Phantasie in der Zauberkraft
neuer Ausdrucksprägung ihre Befreiung findet, bleibt Schöpfer, auch
wo er Literatur schreibt. Dem fingerfertigen Literaten dagegen kann
nie eine wirkliche Dichtung glücken, so geschäftig er sich um die |#f0091 : 67|

Form bemühen mag. Die Werke des Literaten kommen deshalb für
die Literaturgeschichte nur als Literatur zweiten Ranges, als Nachahmungen
oder Gegenbeispiele wirklicher Dichtung in Betracht; die
Werke des Dichters aber, auch wenn sie keine Dichtungen sind, verdienen
um des Verfassers willen in der Dichtergeschichte ihren Platz.


Damit ist es aber noch nicht getan. Auch andere Werke und Begebenheiten,
die weder als Dichtungen noch als Werke eines Dichters
anzusehen sind, müssen Beachtung finden, wenn sie für das dichterische
Schaffen eines großen Einzelnen oder eines ganzen Zeitalters
von einflußgebender Bedeutung waren. Auch sie gehören zu den
zusammenhangvermittelnden Bindegliedern als Voraussetzungen dichterischer
Schöpfung, so wie Kritiken und Nachahmungen als deren
Ausstrahlung sich anschließen.


Kehren wir noch einmal zur Frage nach dem Verhältnis, das
zwischen Dichtung und anderen geistesgeschichtlich bedeutsamen
Werken innerhalb der Literaturgeschichte bestehen kann, zurück, so
ist es Sache der Darstellung, die erst am Schluß des Ganzen erörtert
werden soll, zwischen vier verschiedenen Schichten ein Verhältnis
herzustellen, das auch durch den zur Verfügung stehenden Raum mitbestimmt
wird. Hauptsache bleiben die Werke der Dichter, sie müssen
in jeder Untersuchung und Darstellung in den Vordergrund treten.
Die Werke der Literaten schließen sich an als der Chor, der hinter
den Protagonisten steht. Wenn sie auch keine eigenschöpferische
Bedeutung haben, so legen sie in ihrer Gefolgschaft Zeugnis ab für
die bahnbrechende Wirkung großer Dichtungen und für den stilbildenden
Zug der Zeit. Als drittes kommen alle großen geistigen
Ereignisse außerhalb der Dichtung und schönen Literatur (es kann
sich um religiöse Gemeinschaftserlebnisse, um politische Bewegungen,
um Kunstwerke, Erfindungen, Entdeckungen und Umgestaltungen
des Weltbildes handeln) in Betracht; sie sind repräsentative Symbole
des Zeitgeistes, die die Vorgänge der Dichtung beleuchten und in ihr
sich auswirken. Als viertes ist alle weltanschauliche Literatur an die
Dichtung heranzuziehen, soweit sie Quelle ihrer Gestaltung und
Mittel für ihr Verstehen bedeutet. Die Reihenfolge und Bewertung
dieser Schichten wird davon abhängen, ob eine mehr ästhetische,
mehr kulturgeschichtliche, mehr ethnologische, mehr geistesgeschichtliche
Einstellung vorwaltet. Immer aber muß es notwendiger Ordnungsgrundsatz
sein, daß die Masse im Hintergrund bleibt und auch
als Chor nur durch repräsentative Auswahl vertreten ist, während die
stimmführenden Dichter im Vordergrund stehen.


Diese Grundsätze, die der Vorstellung einer „histoire sans noms“ |#f0092 : 68|

vollständig entgegengesetzt sind, versagen allerdings bei der anonymen
Überlieferung älterer Zeiten. Aber da bleibt auch gar nicht die Freiheit
der Auswahl, sondern wir haben, wenn nichts anderes da ist, in
der ältesten Überlieferung auch solche Stücke dankbar in Empfang
zu nehmen, die ihrem Inhalt nach für heutige Begriffe Makulatur
wären. Runeninschriften und Glossen werden nicht nur als Sprachdenkmäler
zu betrachten sein, sondern als Stellvertretung verlorener
Dichtung. So konnte der „deutsche Abrogans“, der nichts weiter als
ein Wörterbuch ist, durch Baesecke als Anfang althochdeutscher
Literaturgeschichte an einen Ehrenplatz gestellt werden.


Es besteht eine Relativität des Wertes, die von Mangel oder Reichtum
der Überlieferung abhängt. Quantität und Qualität können in
umgekehrtem Verhältnis stehen: je größer die Menge des Überlieferten
ist, desto höhere Ansprüche dürfen an das, was wir als bleibend
zu betrachten haben, gestellt werden; je weniger blieb, desto höher
ist der Seltenheitswert. Es ist nicht anders als mit den Sibyllinischen
Büchern, mit deren Vernichtung der Preis des Übrigbleibenden sich
potenzierte. Das kleinste Bruchstück muß uns eine verlorene Totalität
repräsentieren, die, wie Niebuhr vom Historiker verlangte, aus den
Überbleibseln zu rekonstruieren ist; umgekehrt stellt die Massenhaftigkeit
der neueren Überlieferung noch keine Totalität dar, diese
muß erst durch Auswahl des Repräsentativen gewonnen werden.


Das bedeutet bewußte Durchführung eines Herganges, den für das
Altertum der Zahn der Zeit besorgte. Planmäßige Auswahl tritt an
die Stelle zerstörenden Zufalls. Der blinde Zufall, wenn dieses Wort
hier nicht Gotteslästerung ist, hat mit Naturkatastrophen wie Überschwemmung,
Erdbeben, Feuersbrunst, Revolution und Krieg Wertvollstes
zerstört; er hat auch merkwürdigerweise Wertvolles erhalten
aus keinem anderen Grunde, als weil es seinerzeit als wertlos erachtet
wurde. Die Schätze der alexandrinischen Bibliothek sind nicht auf
uns gekommen; aber was im alten Ägypten als Makulatur galt, läßt
sich jetzt aus erstarrtem Nilschlamm herauslösen, und die Papyri,
die zur Umhüllung von Mumien verwendet wurden, haben uns die
älteste Überlieferung des Alten Testaments erhalten, die nur deshalb
nicht verloren ging, weil sie schon im zweiten Jahrhundert vor
Christus weggeworfen worden ist. Das ist ein Sonderfall. Im allgemeinen
aber ist die Erhaltung wertvoller Handschriften nicht Zufall,
sondern kennzeichnet die besondere Schätzung, die vergangene
Zeiten dem aufbewahrten Literaturdenkmal entgegengebracht haben.
Insbesondere bedeutet die Kostbarkeit des äußeren Gewandes eine
Ehrenerweisung, die schon für frühe Zeiten Zusammenhänge zwischen |#f0093 : 69|

Literatur- und Geschmacksgeschichte erkennen läßt. Die Bibelübersetzung
des Wulfila wäre nicht in so prunkvoller Ausstattung überliefert
worden, wenn sie nicht bei den christianisierten Goten als
Heiligtum der Religion und der Nation gegolten hätte; sie hätte
anderseits die Stürme der Völkerwanderung nicht überstanden und
wäre nicht aus der Brandung des Dreißigjährigen Krieges als Strandgut
gerettet worden, wenn sie nicht als Codex argenteus auch äußerlich
eine begehrenswerte Beute dargestellt hätte.


Auch in der Neuzeit ist der Aufputz bibliophiler Luxusdrucke,
wenn wir von erotischen Sondergelüsten des Snobismus absehen, in
der Regel Texten zuteil geworden, denen dauernder Wert zuzuschreiben
ist. Das Wort Dauerwert kann allerdings als Pleonasmus empfunden
werden. Wir werden besser von Dauerwirkung sprechen, denn wir
können einen unvergänglichen Wert aus der unveränderlichen Dauer
der Wirkung erschließen, aber nicht in der gegenwärtigen Wirkung
eine ewige Dauer des Wertes verbürgt sehen.


Die Buchüberlieferung der Neuzeit läßt nun aus Folge und Zahl
der Auflagen eine Kurve des Erfolges ablesen; der Verhältniskoeffizient
zwischen der Zahl der Auflagen und dem Zeitraum, über
den sie sich erstreckt, gibt eine Statistik der Wirkung, die nicht ohne
weiteres mit dem Wert gleichzusetzen ist. Unter den Büchern sind,
wie bei Rennpferden, Flieger und Steher zu unterscheiden. Die einen
setzen sich schnell in Führung und sind nach kurzer Strecke ausgepumpt;
die anderen entwickeln ihre Kraft und Wirkung erst auf
langer Bahn. Außerdem gibt es klassische Renner, die Schnelligkeit
und Ausdauer vereinen; das sind Bücher, die im Augenblick die
Ewigkeit fanden.


Hier trennen sich nun Ästhetik und Geschmacksgeschichte. Für
die eine ist die Dauer von größerer Bedeutsamkeit, für die andere
der Augenblick. Die eine sucht die Ursachen des Erfolges mehr in
den Qualitäten des Werkes, die andere mehr in denen der Leserschaft.
Die eine hat sich für ursächliche Aufschlüsse mehr an den Verfasser
zu halten, die andere mehr an Buchhändler, Leihbibliotheken und
Kritiker.


Die Literaturwissenschaft hat zwischen diesen beiden Schwestern,
der absoluten und der relativen Geschmackslehre, eine vermittelnde
Stellung inne. In späteren Abschnitten ist zu erörtern, wie der Ästhetik
in Urteil und wertbestimmter Auswahl die Hand gereicht und wie
ihr für die Entstehungsfragen, wenn sie sich darum kümmert, Material
geboten werden kann. Ebenso wird erst an anderer Stelle zu betrachten
sein, bis zu welchem Grade die schriftstellerische Produktion |#f0094 : 70|

jedes Zeitalters in soziologischer Abhängigkeit von Gesellschaftsklassen
und Leserschichten zu sehen ist. Hier handelt es sich zunächst nur
um die Überlieferung, über die unsere Literaturwissenschaft zu gebieten
hat, und um Feststellung, daß sie imstande ist, der Geschmacksgeschichte
ein fast unerschöpfliches Material für die Fragen der Verbreitung
und des Erfolges bereitzustellen.


Auch bei den Handschriften des Mittelalters kann von Auflagenziffern
gesprochen werden, so wie es an Stelle der Druckereien
Schreiberwerkstätten gab. Die Zahl der Handschriften, in denen derselbe
Text unter zunehmender Entstellung überliefert ist, die Zeit
ihrer Entstehung, die mundartliche Herkunft und die landschaftliche
Verbreitung reden eine vernehmliche Sprache und lassen, wenn auch
lückenhaft, erkennen, welches der zeitliche und räumliche Aktionsradius
eines Werkes von seiner ersten Aufzeichnung bis zur Anwendung
des Buchdrucks gewesen ist. Auch die Auswahl der ersten
Werke, an denen die Druckereien die neue Kunst der Vervielfältigung
erprobten, stellt einen geschichtlichen Wertmesser und ein Kriterium
des Zeitgeschmacks dar. Die Wiegendrucke, d. h. die Werke, die vor
1500 aus den Offizinen hervorgingen, sind seit langem in Inkunabelverzeichnissen
zusammengestellt, die das Hilfsmittel einer eigenen
Wissenschaft vom Frühdruck bilden.


c) Hilfsmittel zur Sichtung der Überlieferung


Bei aller Überlieferung weist das erste Gebot auf vollständige
Sammlung und übersichtliche Ordnung des Erhaltenen hin. Hier
liegen organisatorische Aufgaben der Wissenschaft, denen sich der
Einzelne nur im Dienste eines Gesamtplanes widmen kann, so wie die
Gemeinschaftsleistung der Einzelarbeit eine sichere Grundlage gibt.
Wer sich dem Gemeinnutz der fundamentalen Sammelarbeit hingibt,
macht sich zum Glied eines Räderwerkes, dem er seine eigene Triebkraft
opfert; er kann seine Arbeit nicht ohne persönlichen Anteil
verrichten, aber er hat alle Vorliebe, alle ausscheidende Wertung und
Darstellungsfreude zugunsten der Zuverlässigkeit zurücktreten zu
lassen.


In welcher Weise die Ordnungsarbeit vorgenommen wird, sei an
einigen Beispielen zweckmäßiger deutscher Wissenschaftsorganisation
gezeigt. Für die Handschriften des Mittelalters war man bisher auf
die Kataloge der einzelnen großen Bibliotheken angewiesen. Vor
einem Vierteljahrhundert aber ist von der Deutschen Kommission der
Preußischen Akademie der Wissenschaften unter Gustav Roethes |#f0095 : 71|

Leitung das große Unternehmen eines Handschriftenarchivs ins
Leben gerufen worden, das die Beschreibungen sämtlicher deutschen
Handschriften bis 1520 und die der poetischen Handschriften auch
darüber hinaus systematisch zusammenträgt und die Überlieferung in
einem vollständigen Überblick ausbreitet. Wenn die Ergebnisse dieser
großen Inventarisation einmal veröffentlicht werden, so ist für die
Geschmacksgeschichte zu ersehen, daß es nicht durchaus die größten
Werke der deutschen Dichtung gewesen sind, die die weiteste Verbreitung
gefunden haben. Dann schlägt auch eine neue Stunde für die
Literaturwissenschaft; erst dann kann eine deutsche Literaturgeschichte
des Mittelalters geschrieben werden, die auf der gesamten Überlieferung
beruht, ohne daß sie mit der Vollständigkeit eines Nachschlagewerkes
die Darstellung zu belasten brauchte.


Die Handschriften der Neuzeit haben eine andere Bedeutung für
die Forschung; sie bilden nicht mehr, wie vor der Erfindung des Buchdrucks,
die eigentliche Form der Veröffentlichung; vielmehr stellen
sie das dar, was ihr vorausging: ungedruckt gebliebene Vorarbeiten
und unausgeführte Entwürfe, die in die Werkstatt der Dichter Einblick
gewähren und in frühe Stadien des Werdens zurückführen. Vor
fast einem halben Jahrhundert hat der Philosoph Wilhelm Dilthey,
der seine große Schleiermacher-Monographie aus dem handschriftlichen
Material aufbaute, zur Gründung von Literaturarchiven in
Deutschland aufgefordert, um Dichter- und Gelehrtennachlässe zu
bergen und vor Verstreuung zu bewahren. Dieser Aufruf hat die
Gründung der Berliner Literaturarchiv-Gesellschaft zur Folge gehabt,
die aber bei ihren geringen Mitteln auf Schenkungen angewiesen war
und keine zentrale Bedeutung gewinnen konnte. Dagegen haben
die großen Dichtergedächtnisstätten wie das Goethe- und Schiller-
Archiv, das Nietzsche-Archiv, das Rilke-Archiv in Weimar, das Schwäbische
Schiller-Museum in Marbach, das Freie Deutsche Hochstift in
Frankfurt am Main, die Grillparzer-Sammlung der Stadt Wien, die
Gottfried-Keller-Stiftung in Zürich ebenso wie ähnliche Anstalten in
anderen Ländern die Nachlässe, die ihnen großenteils durch Vermächtnis
zuteil geworden sind, pietätvoll bewahrt und vermehrt. Die
großen Nationalbibliotheken der Landeshauptstädte wie Berlin, Wien,
München, Paris, London, Washington und altberühmte Universitätsbibliotheken
wie Oxford, Cambridge, Upsala, Heidelberg haben die
mittelalterlichen Bestände ihrer Handschriftenabteilungen durch Erwerb
neuzeitlicher Manuskripte großzügig ergänzt. Daneben gibt es
große Privatsammlungen, die wie der einzigartige Goethe-Tempel Kippenbergs
in Leipzig ihren Erwerb durch Katalog und Jahrbücher der |#f0096 : 72|

Wissenschaft zugänglich machten. Andere Privatsammler verhalten
sich allerdings wissenschaftfeindlich, und die Gefahr besteht, daß
ihre eifersüchtig zurückgehaltenen Schätze ebenso wie mancher zu
lange in den Händen der Nachkommen verbliebene Nachlaß eines
Tages auf dem Wege der Versteigerung in alle Winde zerstreut werden.
Aber es wird nicht anders gehen als mit privaten Gemäldesammlungen;
über kurz und lang wird sich doch das Wertvollste und
Wesentlichste in öffentlichem Besitz wieder zusammenfinden. Einstweilen
ist es zu begrüßen, daß Nordamerika, das so vieles Wertvolle
entführt hat, für die in den Stammländern der deutschen Literatur
verbliebenen Handschriften einen Wegweiser zu ihren Fundorten herstellen
ließ, den im Auftrag der „Modern Language Association“
durch Wilhelm Frels bearbeiteten Katalog „Deutsche Dichterhandschriften“,
der naturgemäß noch allerlei Lücken aufweist.


Zwischen der Handschrift, die das erste Entstehen eines Textes
festhält, und dem Druck, der seine endgültige Gestalt überliefert,
nimmt die veränderliche mündliche Überlieferung des Volksgutes, des
gesungenen Liedes, des erzählten Märchens, der berichteten Sage eine
Zwischenstellung ein. Im Deutschen Volksliedarchiv zu Freiburg im
Breisgau, das eine Gründung John Meiers ist, sind alle Volksliedtexte,
wie sie in den verschiedensten Gegenden des deutschen Sprachgebietes
gesungen wurden und noch gesungen werden, zusammengetragen
und nach Liedanfängen registriert. Nach dem Vorwort des
großen Volksliedwerkes, das diese Sammlung auswertet, sind über
200 000 Aufzeichnungen vereinigt. Eine Filiale ist das Musikarchiv
des deutschen Volksliedes in Berlin, das alle Melodien nach einem
eigenen Verfahren katalogisiert, so daß auch deren Verbreitung in
allen Spielarten und Variationen überblickt werden kann.


Ein viertes Sammelwerk, das als Grundlage der Forschung in keinem
anderen Lande seinesgleichen hat, ist der von Karl Goedeke begründete
„Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung“, der ursprünglich
wohl eine Literaturgeschichte mit vollständiger Bibliographie
sein wollte und schließlich eine vollständige Bibliographie
mit Spuren literarhistorischer Anordnung geworden ist, wobei sich
der Umfang von der ersten bis zur dritten Auflage für einzelne Abschnitte
beinahe verzehnfachte. In diesem Anschwellen zeigen sich
Gefahren eines Alexandrinismus. Die Vollständigkeit in der Überlieferung
aller Drucke, aller Auflagen, auch aller Nachdrucke jedes
Dichters macht diese Summa Summarum aller Bücherkataloge, diesen
Baedeker der Literaturgeschichte, den man einer Logarithmentafel
verglichen hat, zum unschätzbaren und unentbehrlichen Handwerkzeug |#f0097 : 73|

jedes Bibliothekars, jedes Antiquars, jedes Forschers. Aber die
wahllose Vollständigkeit in bezug auf alle Zeitungsaufätze, die
einmal über einen Dichter oder über ein Werk geschrieben und abgeschrieben
worden sind, führt ins Absurde und bringt den Anfänger
außerdem in Versuchung, nicht mehr aus den Quellen zu arbeiten,
sondern bereits Gesagtes wiederzukäuen und sich in den Papierschnitzeln
zu verfangen, die an den Schwanz des im Aufstieg schwebenden
Drachen angehängt sind.


„Das schwierigste am Sammeln ist das Wegwerfen“ hat Albert
Köster einmal in das Album der Berliner Germanistenkneipe geschrieben.
Überwindung der Vollständigkeit sowohl durch Konzentration
des Wesentlichen als Ausscheidung des Unwesentlichen muß der
nächste Schritt der Wissenschaft sein, nachdem die notwendige Sammelarbeit
zu Ende geführt ist. Nach Sichtung der Überlieferung handelt
es sich zunächst um Zusammenziehung dessen, was sich wiederholte.
Die Arbeit, denselben Text immer wieder in einer anderen
Handschrift zu lesen, wird ein für allemal erspart durch eine
auf Kenntnis sämtlicher Handschriften beruhende zuverlässige kritische
Ausgabe, die nach Möglichkeit den Wortlaut herstellt, der den
endgültigen Absichten des Dichters entspricht, und alles davon Abweichende
in die Lesarten verweist. Ist der Text durch verschiedene
Drucke überliefert, so hat eine kritische Ausgabe dieselbe Konzentration
durchzuführen, indem sie alles, was durch den Dichter selbst in
Neuauflagen und Umarbeitungen verbessert worden ist, nach seiner
früheren überwundenen Form in die Lesarten bringt und diese rückläufige
Aufrollung der Textgeschichte noch durch Hinzuziehung der
vor dem Druck liegenden Handschriften weiterführt. Die Zusammenziehung
aller Werke eines Dichters einschließlich seiner Entwürfe
in einer Gesamtausgabe gehört gleichfalls zur Ordnung und Klärung
der Überlieferung. Dabei ist alles, was, ohne daß er sich selbst dazu
bekannt hat, ihm zugeschrieben wird, auf Echtheit zu prüfen. Auf die
Sammlung der Überlieferung folgt somit auch bei der Betrachtung
des einzelnen Werkes die zweite Arbeitsstufe der Kritik.

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ZWEITER HAUPTTEIL

TEXT UND VERFASSER

Heil den wahren Philologen! Sie wirken Göttliches, denn
sie verbreiten Kunstsinn über das ganze Gebiet der Gelehrsamkeit.
Kein Gelehrter sollte bloß Handwerker sein.


Friedrich Schlegel.


a) Kritik der Überlieferung


Jede Wissenschaft geht ebenso wie jede Kunst den Weg klärender
Vereinfachung. Jede Gedankenarbeit beginnt mit dem Blick auf eine
verwirrende Vielheit, die als Einheit begriffen werden soll. Alle
Begriffe und alle Schlüsse zielen dahin, Ordnung zu stiften und ein
Chaos zum Kosmos zu wandeln, wenn es auch nur ein Mikrokosmos
ist. Wenn in Sammlung eines chaotischen Materials und Sichtung
einer vielfältigen Überlieferung die ersten grundlegenden Schritte
jedes planmäßigen Erkenntniswillens bestehen, so muß das letzte
Ziel, auf das die Methode gerichtet ist, in der durchdringenden Sinndeutung
des Gegebenen und Beobachteten gesehen werden.


Als nächste Zwischenstation dieser Strecke ist für die Wissenschaften,
die es mit Fertigkeiten des menschlichen Geistes zu tun
haben, die Kritik einzuschalten. Sowohl das Ganze wie seine Teile
wie alle Einzelheiten der Überlieferung sind einer Echtheitsprüfung
zu unterwerfen. Bei geschichtlichen Quellen regen sich Zweifel gegen
die Glaubwürdigkeit des Berichts, bei philosophischen Darstellungen
gegen die Reinheit der Begriffe und die Überzeugungskraft der Beweisführung;
bei religiösen Offenbarungen kann die Wahrhaftigkeit
des Erlebnisses und Bekenntnisses, bei Denkmälern irgendeiner Kunst
die Folgerichtigkeit der Form, die als organischer Ausdruck der Idee
betrachtet werden soll, in Zweifel gezogen werden.


So verschiedenartig diese Abwandlungen des Begriffes „Kritik“
nebeneinander stehen, so laufen sie doch alle darauf hinaus, hinter
dem geistigen Erzeugnis eine ausdruckgebende Individualität zu
suchen, eine geschlossene Persönlichkeit, deren Wesenszüge und Absichten
sich unverfälscht abspiegeln müssen. Wo dem angenommenen
Urheber nicht die volle Verantwortung für jede Einzelheit aufgeladen
werden kann, muß mit Störungsmomenten des Ausdrucks und des |#f0099 : 75|

Eindrucks gerechnet werden. Es fehlt, was Goethe in seinem bekannten
Spruch über die Aufgaben der Philologie als „Kongruenz des
Überlieferten“ bezeichnet.


Die Echtheitsprobe, gleichviel ob sie dogmatisch, logisch, psychologisch,
ästhetisch oder philologisch gemeint ist, bezieht sich immer
auf die Wahrscheinlichkeit und Wahrhaftigkeit einer inneren Übereinstimmung
zwischen Persönlichkeit und Werk wie auf die Frage, ob
beides im Großen wie im Kleinsten zur Deckung gebracht werden
kann. Wo eine Trennung sichtbar wird, liegen Mängel an Folgerichtigkeit
und treffendem Ausdruck vor, die dem kritischen Zweifel recht
geben und den Verdacht begründen, daß im Zeichen irgendwelcher
fremden Einmischung entweder das vorliegende Werk oder die angenommene
Persönlichkeit Brüche aufweisen, so daß sie weder in
sich allein noch im gegenseitigen Verhältnis als harmonierende Einheiten
aufzufassen sind.


Beim Wortkunstwerk hat die kritische Prüfung bereits mit dem
Buchstaben der Überlieferung zu beginnen. Die eigenhändige Niederschrift
des Dichters hat höheren Wert, wenn sie erster Wurf ist und
nicht spätere Reinschrift. Die Bedeutung steigert sich, wenn die
Urschrift von den späteren Fassungen abweicht, wenn sie gelegentliches
Schwanken zwischen verschiedenen Ausdrücken oder Spuren
suchender Selbstkritik in Ausstreichungen, Einfügungen und anderen
Verbesserungen erkennen läßt, die unmittelbar in das Stadium des
Werdens zurückführen. Aber auch ohne solche Eierschalen der Entstehung
hat die Urschrift nicht nur einen Wert als Autogramm, sondern
sie wird ein besonderer Gegenstand graphologischer Beobachtung,
wenn sie dem Schriftkenner über die Lebensstimmung und Geistesverfassung,
aus der die Niederschrift hervorging, Aufschluß zu geben
vermag. Der Fetzen, auf den Goethe den Anfang seines „Ewigen
Juden“ schleuderte, bestätigt in regellosen Schriftzeichen die erlebte
Situation des Eingangs; es ist nächtlich zu Papier gebrachte Sturm-
und Drang-Inspiration:


Um Mitternacht wohl fang ich an,
Spring aus dem Bette wie ein Toller,
Nie war mein Busen seelenvoller,
Zu singen den gereisten Mann.


Wenn nun die Herkunft solcher Uraufzeichnung aus dem Nachlaß
des Verfassers nicht unbedingt gesichert ist, so bleibt immer Vorsicht
geboten. Das Schriftstück kann unecht sein, was sich unter Umständen
schon aus der Beschaffenheit des verwendeten Papiers ergibt. So
konnte im 18. Jahrhundert Malone, der berühmte Kritiker der Shakespearetexte, |#f0100 : 76|

in einem angeblich eigenhändigen Manuskript des „König
Lear“ über zwanzig verschiedene Wasserzeichen als Kennzeichen der
Unechtheit nachweisen. Die Handschrift stammte von William Henry
Ireland, der aus Shakespeare-Enthusiasmus zum Fälscher geworden
war; er hatte sich das verschiedenartige alte Papier aus Vorsatzblättern
von Drucken der Shakespearezeit zusammengeschnitten.


Ein anderes Beispiel: Durch Max Herrmann wurde einmal der Berliner
„Gesellschaft für deutsche Literatur“ ein Buch vorgelegt, dessen
ehemalige Zugehörigkeit zu Luthers Bibliothek durch dessen eigenhändigen
Besitzvermerk gewährleistet schien. Auf seinem Vorsatzblatt
war in des Reformators eigener Hand das Lied „Ein feste Burg ist
unser Gott“ zu lesen. Es mußte, ohne daß besondere Erregungszeichen
der Schrift es verrieten, die Uraufzeichnung sein, denn sie überlieferte
in dem nachher durchgestrichenen und ersetzten Anfang „Mein Gott
ist eine feste Burg“ eine bisher unbekannte Fassung. Schriftsachverständige
hatten die Züge der Lutherischen Normalschrift anerkannt.
Aber der Gerichtschemiker, dem das corpus delicti vorgelegt wurde,
entschied anders. Das Papier der Aufzeichnung war alt, und echt war
nur dieses. Die Tinte war von einer im 16. Jahrhundert nicht gebräuchlichen
Zusammensetzung. Bei mikroskopischer Vergrößerung
zeigten sich Tintenspritzer, die dem bloßen Auge nicht erkennbar
waren; sie verdankten einem Wurmloch, an dem die Feder hängen
geblieben war, ihre Entstehung. Also war die Einzeichnung in einem
Zeitpunkt erfolgt, in dem der Bohrwurm seine Tätigkeit bereits durchgeführt
hatte; das Buch muß damals schon einige hundert Jahre alt
gewesen sein. Und nun stellte sich heraus, daß das Berliner Kriminalmuseum
ein paar Dutzend auf denselben Vater zurückgehende Geschwisterkinder
aufbewahrte als Erinnerung an einen Prozeß, der
Jahrzehnte vorher einem gewerbsmäßigen Fälscher namens Kyrieleis,
der sich auf Herstellung von Lutherhandschriften verlegt hatte,
gemacht worden war. In derselben Weise war um die Mitte des
19. Jahrhunderts dem Weimarer Gerstenbergk als fabrikmäßigem Hersteller
von Schillerhandschriften das Handwerk gelegt worden.


Solche Prozesse hat die Geschichtswissenschaft in unzähliger Menge
vor ihrem eigenen Tribunal zu führen, nur daß die Schuldigen nicht
mehr erreichbar sind. Auch sind sie nicht eigentlich in den unbekannten
Herstellern gefälschter mittelalterlicher Urkunden zu
sehen, die es vielleicht für Gotteslohn taten, sondern in den Auftraggebern,
für die weit größere Belange an politischen Rechtsansprüchen
auf dem Spiel standen. Da aus dem Mittelalter fast ebensoviel unechte
Urkunden, Annalen, Chroniken und Memoiren überliefert sind |#f0101 : 77|

als echte, hat sich ein eigenes System historischer Hilfswissenschaften
entwickeln müssen, das unter Zuhilfenahme aller Mittel der Technik
in Paläographie, Diplomatik und Sphragistik die Methoden der Echtheitsprüfung
bis zur höchsten Feinheit ausgebildet hat. Die Literaturgeschichte
des Mittelalters kommt in die Lage, nicht nur für Ausschluß
von Fälschungen, sondern auch für Datierung und Textkritik
handschriftlich überlieferter Dichtung dieselben Methoden als eine
literaturgeschichtliche Hilfswissenschaft in Anwendung zu bringen.
Und wo die historische Kritik allzu mißtrauisch war, wie bei den
Dramen der Hrotswith von Gandersheim, die Aschbach als Fälschungen
des Celtis ansehen wollte, kann sie auf Grund handschriftlicher
Funde wieder zur Überzeugung von der Echtheit zurückkehren.


Läßt sich die Zuverlässigkeit handschriftlicher Überlieferung mittels
hochentwickelter Prüfungsmethoden beurteilen, so ist wenig geholfen,
wenn etwas anderes als die Echtheit der Schrift in Frage steht. Es
kann Fälle geben, bei denen die Schrift gleichgültig ist, während es
nur auf die Echtheit des Inhalts ankommt. Der Zufall hat es gewollt,
daß von den beiden größten Werken Goethes die erste Fassung nur in
fremder Abschrift erhalten ist. Da sich der „Urfaust“ im Nachlaß des
Fräulein von Göchhausen, der „Urmeister“ in dem der Frau Bäbe
Schultheß gefunden hat, kann die Identität der Handschrift leicht
festgestellt werden, und die äußere Zuverlässigkeit der Überlieferung
steht außer Zweifel. Die innere Zuverlässigkeit ist damit noch nicht
erwiesen; hier muß erst Übereinstimmung mit den Daten der Entstehungsgeschichte
hergestellt werden; dann fällt es der sprachlichen
Untersuchung zu, unter Zuhilfenahme des späteren, umgearbeiteten
Druckes und unter Heranziehung von Goethes damaligem Sprachgebrauch
und Stil allerlei Flüchtigkeiten, Auslassungen und Verschreibungen,
ebenso wie alle orthographischen und mundartlichen Eigentümlichkeiten
der Abschreiberinnen als ihre Beimischung auszuscheiden,
um dem Text den Wert der verlorenen Vorlage wiederzugeben,
für die er Ersatz zu bieten hat.


Ebenso wie Fehler der Abschrift auf Grund des späteren Druckes
zu erkennen sind, könnte auch möglicherweise der Drucktext auf
Grund der Abschrift zu berichtigen sein. Ein zweifelhafter Fall liegt
z. B. vor, wenn das Lied Mignons in der Abschrift des „Urmeister“
alle drei Strophen mit dem Kehrreim „Möcht' ich mit dir, o mein
Gebieter ziehn“ schließen läßt. „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ bringen
statt dessen die Steigerung „Geliebter“, „Beschützer“, „Vater“. War
nun „Gebieter“ ein Schultheßscher Schreib- oder Lesefehler? Oder
ist umgekehrt „Geliebter“ ein Fehler des ersten Druckes, dem alle |#f0102 : 78|

späteren Ausgaben folgten? Würde nicht die sinngemäßere Steigerung
„Gebieter“, „Beschützer“, „Vater“ den eingestandenen Gefühlen
Mignons für Wilhelm entsprechen? Diese Frage kann eigentlich nur
aus einer Analyse des Mignon-Charakters beantwortet werden. Und
wenn sie zugunsten der Abschrift ausfiele, so würde dennoch der Text
des Liedes so, wie er gesungen wird, gleich einem zersungenen Volksliede
sein Recht behalten. Die in diesem Falle durch den Dichter
selbst anerkannte Tradition ist nicht mehr rückgängig zu machen.


Wo die fremde Vermittlung eines Schreibers anzunehmen ist, besteht
immer ein Unsicherheitsfaktor. So erklären sich einige Fehler in
Schillers „Prosaischen Schriften“ wie in einer Neuauflage des „Abfalls
der Niederlande“ dadurch, daß als Druckvorlage nicht der durchkorrigierte
Erstdruck, sondern die Zwischenstufe einer neuen Abschrift
benutzt wurde. Bei der Billigkeit der Schreiberlöhne wurden
diese Kosten dem Aufopfern eines Druckexemplars vorgezogen. Weglassungen
von Worten oder ganzen Satzteilen sind nun als Flüchtigkeiten
des Abschreibers, nicht als Streichungen des Verfassers zu
verstehen.


Schon ein Text, der als Diktat aufgenommen wurde, ist auf Hörfehler
und Mißverständnisse zu prüfen. In viel höherem Grade sind
nachträgliche Aufzeichnungen von Gesprächen der unwillkürlichen
Verfälschung aus getrübter Erinnerung oder auch der tendenziösen
Umbiegung in redigierter Form ausgesetzt. Was in Platons Dialogen
oder bei Xenophon als Rede des Sokrates festgehalten ist, kann natürlich
nur für stilisierte Wiedergabe seiner Lehre und Sprechweise
genommen werden; aber auch das, was Eckermann Goethe in den
Mund legte, dürfte nicht, wie meist geschieht, mit den „Sprüchen in
Prosa“, den „Maximen und Reflexionen“ und den Briefen auf gleiche
Stufe gestellt und ohne weiteres als authentischer Ausspruch zitiert
werden. So sinngetreu die Wiedergabe sein mag, so fehlt ihr eben
doch die persönliche Prägung. Aber auch die sinngemäße Treue der
Wiedergabe ist von der zeitlichen Entfernung zwischen Aussprache,
Aufzeichnung und Ausarbeitung abhängig, und die Methode der Zuverlässigkeitsprüfung
wird diesen Abstand in Rechnung ziehen müssen.


Kehren wir zur Dichtung zurück, so können größere Schwierigkeiten
bestehen, wenn nur die Abschriften der Abschriften erhalten
sind, wie es bei den Sesenheimer Liedern der Fall ist. Lange nach
dem Tode der Friederike Brion hat ihre überlebende Schwester noch
Aufzeichnungen einzelner Lieder in Besitz gehabt, die sie Besuchern,
die danach fragten, vorlegte. Deren Berichte widersprechen sich,
sowohl was die Zahl der Lieder als den Charakter der Schrift betrifft, |#f0103 : 79|

in der teils Goethes, teils Friederikens, teils fremde Hände erkannt
wurden. Es gab damals noch kein photographisches Verfahren, um
die Schriftzüge für genaue Untersuchung festzuhalten. Die Vorlagen
sind verloren; man ist nur auf die Abschriften des späteren Dramatikers
Kruse angewiesen. Das kritische Problem verwickelt sich dadurch,
daß Friederike sowohl von Goethe als von Lenz besungen
wurde. Vergleiche mit der anderen gleichzeitigen Produktion beider
Dichter, Untersuchungen des Klanges, des Stils, des Sprachgebrauchs,
insbesondere der Qualität der Reime, die bei dem Livländer Lenz eine
andere sein mußte als bei dem Rheinfranken Goethe, haben zur
Klärung des beiderseitigen Anteils geführt bis auf ein noch umstrittenes
Gedicht, bei dem eine etwas erkünstelte Hypothese Kontamination
annahm, nämlich Erweiterung eines ursprünglich dreistrophigen
Goethe-Liedes durch drei für den Gesang Friederikes eingefügte
Strophen von Lenz.


Mit solchem Zuwachs, der aber anonym bleibt, haben wir es durchgehend
im Leben des Volksliedes zu tun. Dort bestehen ganz andere
Echtheitsbegriffe: echt ist alles, was und wie es gesungen wird, und
unecht ist nur das Künstliche, Gemachte, das Volkslied sein will, aber
den Ton nicht findet und nicht Gesang wird. Die schriftliche Aufzeichnung
spielt beim wirklichen Volkslied nur insofern eine Rolle,
als sie den in Gemeinschaft gesungenen Text zuverlässig wiederzugeben
hat; je mannigfaltiger aber die Überlieferung zersungener
Texte sich darstellt, desto willkommener ist das vielfältige Material
für die Beobachtung des Geschmackes der Zeitalter und Landschaften,
die in der zersetzenden Aneignung eines ursprünglich individuellen
Liedes eigene stilbildende Kraft entfalten. Während die philologische
Zielsetzung auf Wiederherstellung des reinen Urtextes ausgeht, der
zweifellos einmal als Kunstlied eines unbekannten Verfassers vorhanden
war, wendet sich die volkskundliche Liebe der vielseitigen
Verzweigung zu, deren Wert gerade in der allmählichen Verfälschung
des ursprünglichen Wortlautes gesehen werden muß.


Von volkskundlichem Wert kann auch eine selbständige, unbeholfene
Stümperei sein, wie sie etwa in der von Piper ausgegrabenen Altonaer
Josef-Kantate vorliegt. Man hat sie dem jungen Goethe, der seinen in
Prosa geschriebenen „Josef“ dem Feuer überantwortete, in die Kinderschuhe
schieben wollen, und es haben sich Schriftsachverständige bereitgefunden,
die Handschrift als die jenes Frankfurter Schreibers Clauer,
der im Goethischen Hause tätig war und nach Diktat des Knaben
Wolfgang sein Werk zu Papier gebracht haben soll, zu erkennen. Ein
emsiges Bemühen um Quellennachweise suchte zu belegen, daß die |#f0104 : 80|

zugrunde liegende Belesenheit des Josef-Dichters nirgends anders als
in der Bibliothek des Herrn Rat zu erwerben war. Die Karikatur
philologischer Methoden führte auf Irrwege. Stärker waren, von
Geschmacks- und Stilkritik abgesehen, die unwiderleglichen sprachlichen
Kriterien. Nach Reimgebrauch und Wortschatz ist dieses Werk
eines frommen Pietisten, wie sich auf Grund des Deutschen Sprachatlas
geographisch abgrenzen läßt, nach Norddeutschland, und zwar
gerade in die Gegend von Altona zu verweisen, womit jeder Anteil
des jungen Goethe ausgeschlossen wird. Ein einziges Wort, nämlich
das nord-ostdeutsche „Scheune“ statt des südwestdeutschen „Scheuer“
hätte hierfür schon entscheidend sein können.


Wenn in diesem Falle die Beurteilung der Handschrift nicht maßgebend
sein konnte, so gibt es wiederum Fälle, bei denen überhaupt
nicht die Echtheit der Schrift anzuzweifeln ist, sondern nur die des
Textes, der einem anderen als dem Schreiber zugesprochen werden
kann. Daß es sich um keine Urschrift, sondern um eine fremde Abschrift
handelt, kann sowohl durch die mechanische Sauberkeit der
Schriftzüge als durch Verschreibungen und Auslassungen sich verraten.
So stellte Jos. Bédier in einer berühmt gewordenen scharfsinnigen
Untersuchung fest, daß die Schrift „Le paradoxe sur le
comédien“ nicht deshalb Diderot aberkannt zu werden braucht, weil
sie in der Handschrift Naigeons erhalten ist, denn diese erweist sich
als Abschrift.


Ungeklärt ist der Fall bei einem in Tiecks Nachlaß befindlichen
Drama „Das Reh“, das in der Handschrift des vielleicht beteiligten
Freundes Schmohl überliefert ist; von dessen eigenem Stil liegen zu
wenig Proben vor, als daß eine Untersuchung angestellt werden könnte.
Noch schwieriger ist die Entscheidung bei einem in Lessings Nachlaß
gefundenen einaktigen Drama „Zorade“, dessen Handschrift nicht
die Lessings ist, während einige kritische Randbemerkungen möglicherweise
ihm zuzuschreiben sind. Solange die Hand des Schreibers
nicht ermittelt ist, läßt sich zu keinem Schluß über die Verfasserschaft
kommen. Sobald man aber nicht an Lessing als Verfasser zu denken
hat, besitzt das Stück keine Bedeutung mehr.


Klarer sieht man bei dem als „Ältestes Systemprogramm des deutschen
Idealismus“ bezeichneten Schriftstück, das als Niederschrift
Hegels in seinem Nachlaß gefunden wurde. Die Interpretation der
Schriftzüge stellt außer Zweifel, daß es sich um keine erste Aufzeichnung,
sondern um die Wiederholung eines fremden Textes handelt.
Und nun wird um die Priorität der Freunde Schelling oder Hölderlin
gestritten ─ eine Frage, die wegen der gleichen Herkunft und |#f0105 : 81|

Lebensgemeinschaft nicht durch mundartliche und beinahe ebenso
wenig durch stilistische Kriterien entschieden werden kann, sondern
nur durch Entwicklung der Ideenkreise, in denen sich jeder von beiden
in jenem Zeitpunkt bewegte.


Ein anderes Beispiel betrifft gleichfalls Hölderlin, diesmal als
Schreiber. In seinem Nachlaß fand sich ein eigenhändig aufgezeichnetes
Gedicht, das vor vielen Jahrzehnten in eine Ausgabe des Dichters
aufgenommen wurde; es stellte sich nachher als Abschrift Klopstockscher
Verse heraus. Einem noch schlimmeren Mißgeschick fiel ein
Entdecker zum Opfer, der in einem Brief des Grafen v. Loeben ein
bisher unbekanntes geistliches Lied mit dem Titel „Trostsegen“ zitiert
fand. Hier liegt dreifaches Verschulden vor, denn erstens war die
Unterschrift, die „Tersteegen“ lautete, falsch gelesen, zweitens reichte
die literarhistorische Beschlagenheit nicht aus, um diesen großen
pietistischen Lyriker des 17. Jahrhunderts zu erkennen, in dessen
Gedichten sich das Lied findet; drittens hätte eine richtige Stilanalyse
zum mindesten die Unmöglichkeit der Zuweisung an den Romantiker
ergeben müssen. Auch bei Novalis hat sich ein Gedicht als übersetzte
Horazische Ode, ein anderes als überarbeitetes Gesangbuchlied erwiesen,
und unter den „Fragmenten“ wurden einige als Exzerpte aus
Hemsterhuis erkannt, so daß alles dies aus den Eigenschöpfungen
mehr oder weniger ausscheiden muß.


Diese Beispiele genügen statt vieler andern, um vor Leichtfertigkeit
und Leichtgläubigkeit zu warnen. Es zeigt sich, daß schon für die einfachen
Vorsichtsmaßnahmen der Fundamentierung eine erfahrungsmäßige
Kenntnis des ganzen Fachwerkes vonnöten ist. Dem Schriftkenner
und Techniker der Entzifferung muß der Wortforscher und
Stilkenner über die Schulter sehen und mit seinem Verständnis beispringen.



b) Kritik des Textes


Indem wir uns nun von der Schrift dem Wort zuwenden, betreten
wir das Gebiet, das im engeren Sinne der Philologie und ihren
Methoden eignet. Entgegen einer zeitweiligen Überschätzung dieser
Methoden als der alleinseligmachenden, die vor jeder Willkür sichern,
ist man heute eher geneigt, die Philologie als ein niederes Handwerk
einzuschätzen, das mit seiner Vereinzelungstendenz dem synthetischen
Aufbauwillen der eigentlichen Wissenschaft entgegengesetzt ist.
Bestenfalls wird sie als Kunst des Feinmechanikers anerkannt, dessen
Räder in das Uhrwerk des Meisters eingesetzt werden. Aber oft wird
Philologie nur als Frondienst der Tagelöhner angesehen, deren Arbeit |#f0106 : 82|

unentbehrlich, aber nicht vollwertig ist. Es wird ihr manchmal kein
anderes Verdienst zuerkannt, als die Straßen zu pflastern und zu
reinigen, damit den königlichen Karossen, die zu ihrem Ziele fliegen,
unterwegs kein Unglück passiert.


In der Tat kann man sagen, daß alle geschichtlichen Wissenschaften,
die auf Auswertung sprachlicher Quellen angewiesen sind, die philologischen
Handlangerdienste in Anspruch nehmen müssen, um auf
dem festen Boden zuverlässiger Textüberlieferung und eindeutiger
Interpretation über keine Unebenheiten zu stolpern. Jede Fakultät
hat in diesem Sinne ihr sprachliches Wegebauamt; Exegese des Alten
wie des Neuen Testamentes und der Kirchenväter, römische wie
deutsche und vergleichende Rechtsgeschichte, Philosophiegeschichte
wie Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin betrachten
die Philologie als ihre Hilfswissenschaft. Das tut jede Wissenschaft,
die sich als Mittelpunkt fühlen muß, gegenüber ihren Nachbargebieten,
mit denen sie im Austausch steht. Nun aber wird die Philologie
ihrerseits von soviel Nachbarschaften in Anspruch genommen, daß sie,
ähnlich wie die Philosophie, eine zentrale Stellung in den Geisteswissenschaften
einzunehmen scheint. Allerdings ist der Kreis, dessen
Mittelpunkt jene bildet, größer; die Philosophie ist allen Einzelwissenschaften
übergeordnet; die Philologie ist den verschiedenen
Geisteswissenschaften beigeordnet. Aber da die Mittelpunkte der
beiden Kreise auseinander liegen, können sie als Brennpunkte erscheinen,
die im Verhältnis einer gewissen Polarität, um nicht zu
sagen Rivalität, zueinander stehen.


In der Literaturwissenschaft ist dieses Kräftespiel, wie bereits der
geschichtliche Überblick zeigte, geradezu verfassungsmäßige Struktur
und Gesetz des Blutumlaufes. Wenn Literaturwissenschaft, wie im
Eingang erklärt wurde, nichts anderes als Methodenlehre ist, so muß
ihr die Aufgabe zufallen, zwischen philosophischer und philologischer
Methode einen Ausgleich herbeizuführen.


Man hat sowohl der Philosophie als der Philologie den Charakter
der Einzelwissenschaft abstreiten wollen und in ihnen überhaupt nur
Methoden des Denkens und Deutens erblickt. Daß es einmal im
Sinne einer Bedeutungssteigerung, das andere Mal im Sinne einer
Bedeutungsminderung geschehen ist, indem der Philosophie eine allbeherrschende,
der Philologie eine alldienende Stellung beigemessen
wurde, ist hier nicht von so großer Wichtigkeit. Aber wohl ist festzustellen,
daß neben dieser allgemeinen Bedeutung beide Wissenschaften
den Anspruch auf ihre Eigengebiete in der Praxis bewahrt
haben. Nur daß wir dann nicht mehr von einer Philologie sprechen, |#f0107 : 83|

sondern genau wie bei den Literaturgeschichten von der Mehrzahl
klassischer, orientalischer, germanischer und romanischer Philologien,
deren Lage und Umfang jedesmal durch die Kreuzung von Sprachgeschichte,
Literaturgeschichte und Volkskunde bestimmt sind. In
diesem Sinne sprach Scherer von der Philologie als der Wissenschaft
von der Nationalität. Heute pflegt man die Bezeichnung Kulturkunde
vorzuziehen.


Wenn jede Literaturgeschichte somit einer Philologie zugehörig ist,
so spielt diese nicht mehr die Rolle der benachbarten Hilfswissenschaft,
sondern die des Herrn im Hause, der mit allen seinen Mitbewohnern
in Lebensgemeinschaft verwachsen ist.


Sicher ist das Verhältnis der Literaturwissenschaft (als Methodenlehre)
zur Philologie (als Methode) ein viel engeres als zu allen
anderen Wissenschaftsgebieten außer der Philosophie. Es liegt an der
Sprache, die überall sonst Vermittlerin von Tatsachen und Meinungen,
hier aber künstlerisches Ausdruckselement ist. Der Text des Wortkunstwerkes
ist für die Literaturwissenschaft nicht Quelle, die verlassen
werden kann, nachdem ihr Inhalt ausgeschöpft ist, sondern
er bleibt dauernd der Gegenstand unerschöpflicher Beobachtung,
gewissermaßen ein heiliger Gral, dessen speisende Kraft sich stetig
erneuert und dessen geheimnisvolle Wunder die Frage nach der Enträtselung
immer aufs neue zu stellen aufgeben. Man kann sich gleichgültig
abwenden, dann ist man nicht berufen; man kann in ehrfürchtigem
Staunen verharren, dann ist man nicht auserwählt; aber wenn
man die Frage nach den Geheimnissen stellt und sich Rechenschaft
geben will über das Erlebte, so muß man nach dem Schlüssel greifen,
der die Zusammenhänge eröffnet, oder nach der Lanze, die die
geöffnete Seite wieder schließt. Man muß die Werkzeuge der Philologie
benutzen, die scharf und schneidend sind wie das Seziermesser
des Anatomen und zugleich formend und glättend wie der Bossiergriffel
des Bildhauers. Die Philologie befindet sich auf ihrem eigensten
Gebiet, wenn sie dem sprachlichen Kunstwerk gegenübersteht,
dessen Form zu ergründen und nachzuschaffen ist. Philologie ist die
auf sprachliche Formen bezogene Kunstwissenschaft, und gleichzeitig
kann man sie die auf künstlerische Formen bezogene Sprachwissenschaft
nennen.


Jakob Grimm hat in seiner Gedächtnisrede auf Karl Lachmann
zwei Arten von Philologen unterschieden: solche, die die Worte um
der Sachen; solche, die die Sachen um der Worte willen treiben. Er
selbst rechnete sich wohl zu den Vertretern der Sachwissenschaft,
aber der entgegengesetzten Richtung Lachmanns ließ er alle Gerechtigkeit |#f0108 : 84|

widerfahren: „Jeder wird eingeständig sein, daß die Form mit
dem Wesen einer Schrift und gar eines Gedichts innig zusammenhänge
und auf allen Fall der eines großen Teils ihres wahren Gehalts
sicher habhaft werde, dem es in diese Form einzudringen gelungen
sei, während Rücksicht auf die Sache selbst von der Eigenheit einzelner
Werke abzusehen und bienenartig auf den Honig bedacht zu
sein pflegt, der aus mehreren zusammengesogen werden soll.“


Wir werden die beiden hier einander gegenübergestellten philologischen
Richtungen lieber in eine Aufeinanderfolge bringen, die die
Gegensätzlichkeit aufhebt, indem wir Formwissenschaft als Voraussetzung
und Vorstufe der Sachwissenschaft betrachten. Aber wir
werden den nicht unbeträchtlichen übrigbleibenden „Teil des wahren
Gehaltes“, dessen weder Formphilologie noch Sachphilologie habhaft
werden können, der philosophischen Sinnesdeutung als höchster
Kunst des Verstehens überlassen. Nur werden wir guttun, die Reihenfolge
nicht mit einer einfachen Ablösung der Philologie durch die
Philosophie fortzusetzen, sondern von vornherein die Anwendung der
philologischen Methode philosophisch bestimmt sein lassen. Ebenso
verlangen wir von der philosophischen Betrachtungsweise, die an sich
der Sachwissenschaft nähersteht, daß sie von vornherein die philologisch
und ästhetisch zu erkennenden Formprobleme nicht außer acht
läßt, sondern in den Dienst ihrer Deutung stellt. Auch hier kann ein
Fragment Friedrich Schlegels zitiert werden: „Die einzige Art, die
Philosophie auf die Philologie oder, welches noch weit nötiger ist, die
Philologie auf die Philosophie anzuwenden, ist, wenn man zugleich
Philolog und Philosoph ist.“


Wie das Wesen des literarischen Kunstwerkes eine grundsätzliche
Untersuchung gefunden hat, ist auch das Wesen der philologischen
Arbeit philosophischer Betrachtung unterworfen worden. Aber die
„Kritischen Studien über philologische Methode“, die der aus Rickerts
Schule stammende holländische Sprachphilosoph H. J. Pos im Jahre
1923 veröffentlicht hat, wählen insofern einen ungünstigen Ausgangspunkt,
als sie an Studien über die Herausgabe des Kirchenvaters
Orosius anknüpfen, also auf einem Gebiete bleiben, wo die Philologie
wirklich nur Hilfswissenschaft ist. Wenn nun gezeigt wird, daß die
Entdeckung der Eigengesetzlichkeit des Originaltextes erst eine Errungenschaft
kritischer Wissenschaft darstellt, während vor dem
Humanismus es als Recht und Pflicht eines Herausgebers betrachtet
wurde, die Texte nach Normen vermeintlicher Klassizität umzugestalten,
und wenn weiter der Sinn des kritischen Verhaltens von
den Elementarbegriffen bis zu den Aufgaben der Stilerforschung |#f0109 : 85|

analysiert wird, so gelangt man schließlich nur zu dem Ergebnis, daß
die Aufgabe der Philologen darin bestehe, aus einem angeblichen Text
den wirklichen zu rekonstruieren. Darin liegt eine doppelte Beschränkung,
indem einmal die philologische Tätigkeit nur auf Textherstellung
festgelegt wird und indem ihr auch in diesem engen Rahmen die
besondere Aufgabe des künstlerischen Nachschaffens vorenthalten
bleibt. Wenn wir dagegen den Philologen, der ein Wortkunstwerk
herauszugeben hat, als Testamentsvollstrecker des Dichters bezeichnen,
werden wir den Verbindungslinien, die er vom Text zum Dichter und
vom Dichter zum Text herzustellen hat, besser gerecht. Indem er den
letzten Willen des Dichters vollzieht, erscheint seine Tätigkeit als
eine künstlerische Einfühlung in das Werk, die vom Einzelnen zum
Ganzen strebt, und als ein künstlerisches Nachschaffen, das den
Werdegang vom Schöpfer zur Form wiederholt. Auch der Schöpfer
hat sich die saure Mühe der Herstellung eines Textes, indem er Buchstabe
für Buchstabe, Wort für Wort, Zeile für Zeile schrieb, nicht
verdrießen lassen und ist deshalb doch kein Schreiber, sondern ein
Dichter gewesen. So hat auch der Philologe nicht den Schreibergeist,
sondern den Dichtergeist in sich lebendig zu fühlen, und die Hauptaufgabe
seiner Kritik wird sein, den fremden Schreiber- und Setzer-
Ungeist, der sich zwischen Dichter und Werk gedrängt hat, auszuschalten
und den echten Dichtergeist in seiner wahren Form wiederherzustellen,
um ihn zu deuten. In der Wiederherstellung liegt sogar
bereits ein Stück Deutung, so wie die Deutung erst die rechte Wiederherstellung
ist.


Der Freiheit sind allerdings Grenzen gesetzt, jenseits deren philologische
Selbstherrlichkeit in Schreibergeist ausarten würde. Wenn
Theodor Birt im „Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft“
als stolzeste Höchstleistung philologischer Kritik die Rekonstruktion
des Inhalts verlorener und die Ergänzung des Inhalts unvollständiger
Werke bezeichnet, so ist wohlweislich nur vom Inhalt, nicht von der
Form die Rede. Vom Testamentsvollstrecker wird nicht verlangt, daß
er aus eigenem Vermögen etwas hinzufügt. Es gibt nun Grenzfälle in
der neueren Literatur, wo die Überlieferung eine Entscheidung schwer
macht. Eduard Mörikes Roman „Maler Nolten“ liegt in zwei Fassungen
vor: in dem vom Dichter verworfenen Erstdruck und in der
von ihm nicht zu Ende geführten Umarbeitung. Diese Umarbeitung,
über der er hinwegstarb, war sein letzter Wille. Wenn nun Julius
Klaiber, um die Werte der Umarbeitung nicht verloren gehen zu
lassen, ihre Lücken durch eigene Zutaten ausfüllte, so konnte diese
schriftstellerische Leistung in der Form nicht ebenbürtig werden, so |#f0110 : 86|

wenig wie die vielen Ergänzungen von Schillers „Geisterseher“ und
„Demetrius“, von Hölderlins „Empedokles“ oder Grillparzers „Esther“.
Ein neuer wissenschaftlicher Herausgeber des Romans kann nun, wenn
ihm der Raum zur Verfügung steht, sowohl die vollständige Urfassung
als den Torso der Umarbeitung zum Abdruck bringen und vielleicht
die Klaibersche Fortsetzung, wenn kein urheberrechtliches Bedenken
besteht, im Anhang anfügen. Das würde dem musealen Gebrauch entsprechen,
neben einem antiken Torso die moderne Rekonstruktion
eines Archäologen in Zeichnung oder Gipsabguß zum Vergleich zu
stellen. Aber nicht tunlich ist die Vermengung (Kontamination)
beider Texte, nämlich die Ergänzung der unvollendeten Umarbeitung
durch den Schluß aus der Urfassung. Ebenso wenig könnte es als
philologische Leistung gelten, wenn der Herausgeber das, was Klaiber
getan hat, noch einmal selbständig wiederholte. Das käme auf den
früheren Museumsbrauch hinaus, an Marmorbruchstücke eines alten
Kunstwerkes, etwa des Laokoon, die fehlenden Arme und Beine in
schlechterem Material durch die Willkür eines modernen Bildhauers
ansetzen zu lassen.


Anders würde es sich verhalten, wenn etwa das alte Kunstwerk,
sei es Plastik oder Dichtung, schon im Altertum durch eine fremde
Hand ergänzt worden wäre. Solche durch die Überlieferung von Jahrtausenden
geheiligte Verbindung pflegt man, auch wenn sie stilkritisch
erkannt ist, nicht auseinanderzureißen. In der mittelalterlichen Epik
dagegen werden trotzdem die fremden Fortsetzungen zu „Tristan“
und „Willehalm“ schon aus Gründen des Umfangs von den Texten
Gottfrieds und Wolframs getrennt.


Die handschriftliche Überlieferung, in der die Werke des
Altertums und des Mittelalters vermittelt sind, und die gedruckte
Überlieferung der Neuzeit bedingen eine wesentlich verschiedene
Handhabung der Textkritik. Während im einen Fall die Entfernung
von der Urform eine fortschreitende Verderbnis darstellt (denn ein
von fremder Hand abgeschriebener Text kann eigentlich niemals besser
werden, vielmehr bedeutet jede von Unberufenen beabsichtigte
Verbesserung eine Verschlechterung), ist bei den Drucken mit beiden
Möglichkeiten zu rechnen. Sie werden von Auflage zu Auflage
schlechter, wenn sie der Willkür des Druckers ausgeliefert sind. Solange
dagegen das gewissenhafte Auge des Dichters ihre Herstellung
überwacht (und nur so lange), wird eine fortlaufende Verbesserung
des Textes durch Überprüfung und Umarbeitung anzunehmen sein,
wobei es allerdings immer noch fraglich bleibt, ob alle diese autorisierten
Änderungen wirklich zum Besten der Dichtung dienen.

|#f0111 : 87|


Die Vergleichung der Handschriften untereinander bezweckt die
Abstufung ihres Wertes. Durch Feststellung gleicher Eigentümlichkeiten
und Fehler, die sich, wenn sie einmal eingedrungen sind, forterben
(seien es sinnstörende Auslassungen oder sinnlose Einfügungen
oder Verschreibungen), kann die Abhängigkeit einzelner Handschriften
untereinander geklärt werden. So finden sich Handschriftenfamilien
zusammen. In dem Stammbaum (Stemma), der dieses Verhältnis
veranschaulicht und die Entstehung der Abweichungen erklärt,
bleibt die Urfassung meist eine unbekannte Größe, ein U oder X, dem
noch verschiedene hypothetische Y und Z folgen können, um die
Anfänge der Verzweigung zu begründen. Endlich kommen die überlieferten
Handschriften A, B, C an ihren Platz. Diejenige unter
ihnen, die dem angenommenen X am nächsten gerückt werden kann,
wird auch in der Bewertung meist obenan stehen. Haften auch ihr
Fehler an, die aus anderen Zweigen der Überlieferung nach Möglichkeit
verbessert werden müssen, so ist sie doch als die zuverlässigste
Grundlage des herzustellenden Textes anzusehen. Indessen kann
solcher Stammbaum sehr verwickelt und sehr umstritten sein. Man
erinnert sich an die erbitterten Kämpfe um die Ahnentafel des
Nibelungenliedes, die seinerzeit die ganze Germanistik zerrütteten
und die schließlich in einem unentschiedenen Waffenstillstand beigelegt
wurden.


Während nun die Geschichte eines handschriftlich überlieferten
Textes rückwärts führt aus sichtlicher Verworrenheit zu einem nicht
erhaltenen, aber rekonstruierbaren Archetypus und damit zur Person
des Dichters, schreitet der neuere Text unter der Hand des Dichters
entwicklungsgeschichtlich vorwärts von der ersten handschriftlichen
Skizze bis zu der Form, die ihm als endgültige Gestalt bestimmt ist.


Diese fertige Gestalt ist der beiderseitige Endpunkt, dem von entgegengesetzten
Richtungen beigekommen wird. Er kann in der älteren
Philologie mit viel mehr Aufwand an Mühe und kritischem Scharfsinn
doch nur annäherungsweise erreicht werden, während er in der
neueren Überlieferung so gut wie gegeben ist. Es müssen schon besondere
Fälle fremder Redaktion sein, wo dies nicht zutrifft, z. B.
posthume, von einem Herausgeber überarbeitete Drucklegung oder
ein Druck nach zuverlässigen Abschriften, der nicht vom Verfasser
beaufsichtigt wurde, oder Vergewaltigungen, die ein vom Verfasser
Bevollmächtigter sich erlaubte, oder endlich Verstümmelung eines
Textes durch die Zensur. Dann ist auch dem neueren Philologen die
Aufgabe auferlegt, durch einen entstellten Text zur verlorenen Urschrift
durchzudringen.

|#f0112 : 88|


Hat der ältere Philologe in der Regel einen Text erst neu zu
schaffen, während dessen einstmaliges Werden im Dunkel bleibt, so
ist der neuere in der glücklicheren Lage, dieses Werden unmittelbar
zu erfassen; er hat im allgemeinen das Entstehen und die Weiterbildung
eines Textes als Vorgang, der sich ohne sein Zutun im Licht
der Öffentlichkeit abspielt, beobachtend zu verfolgen. Trotzdem bedeutet
das, was hier als Schaffen bezeichnet ist, eine mehr negative
Haltung, indem die ältere Textkritik sich hauptsächlich auf Erkennung
und Ausschaltung von Fehlern richtet, während die beobachtende
neuere Textkritik, die ihr Augenmerk hauptsächlich auf Verbesserungen
einzustellen hat, mehr bejahenden Charakter besitzt.


Der Apparat an Lesarten, der der wissenschaftlichen Ausgabe eines
Textes beigefügt wird, dient bei der älteren Philologie im wesentlichen
der Rechtfertigung des Verfahrens, das einer Kritik der Kritik
unterworfen ist, während beim Werk der neueren Literatur der Benutzer
instand gesetzt wird, nicht nur die kritische Arbeit, sondern
vor allem das Werden des Textes selbst Schritt für Schritt mitzuerleben.
Das kann ein Genuß sein und eine Schulung für sprachkünstlerisches
Empfinden. Schon Goethe hat in diesem Sinne zu einer
Vergleichung der verschiedenen Ausgaben Wielands aufgefordert und
daran die Behauptung geschlossen, „daß ein verständiger, fleißiger
Literator ... allein aus den stufenweisen Korrekturen dieses unermüdet
zum Besseren arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des
Geschmacks würde entwickeln können“. Er selbst hat im gleichen
Sinne eigene Werke, die er als Marksteine seiner Entwicklung auffassen
mußte (Götz von Berlichingen, Iphigenie) in verschiedenen
Fassungen seiner Gesamtausgabe einverleibt.


Der Lesartenapparat eines neueren Literaturwerkes, das viele Veränderungen
durchlaufen hat, erspart die selbständige Vergleichung der
verschiedenen Texte. Dem Zweck der Stilbeobachtung ist es zuwider,
wenn dabei Zeile für Zeile jede Abweichung der Schriftzeichen gebucht
wird, wie es die Rechtfertigung der Textherstellung verlangt. Dafür
genügt es, wenn zunächst die einzelnen Drucke in ihrem Wert und
ihren Eigenarten durch Belege charakterisiert und die eigenen Emendationen
angefügt werden. Die Hauptsache aber bleibt der Überblick
über die Entwicklungstendenzen des Textes, und dieser Zweck wäre
am besten erfüllt, wenn das Beobachtungsmaterial nach stilistischen
und sachlichen Kategorien, die in den Umarbeitungen des Dichters
zu erkennen sind, geordnet würde. Daß es nicht geschieht, läßt die
Lesartenapparate der neueren Literaturgeschichte oft so steril erscheinen
und zeigt, daß man hier, ohne die Vorteile der andersartigen |#f0113 : 89|

neueren Überlieferung auszunutzen und die besonderen eigenen Zwecke
lebensvoller Textgeschichte wahrzunehmen, bei dem bewährten Muster
der klassischen Philologie und der ihr nachgebildeten mittelalterlichen
Textausgaben geblieben ist, die allein auf Rechtfertigung ihrer Textherstellung
angewiesen waren. Was im übrigen in beiden Fällen
gleiche Geltung hat, ist die unbedingte Sauberkeit und Zuverlässigkeit
buchstabengetreuer Wiedergabe, für die der Herausgeber mit
der Ehre seines Namens bürgt. Mit ihr steht und fällt der Wert der
ganzen Arbeit, und diese Genauigkeit ist nicht als besonderes wissenschaftliches
Verdienst anzusehen, sondern als selbstverständliche
Pflicht, zu deren Erfüllung nicht jeder geboren ist, zu der man aber
erzogen werden kann. (Ebenso selbstverständlich ist die buchstäbliche
Zuverlässigkeit jedes Zitates nach den ursprünglichen Quellen.
Jedes Zitat aus zweiter Hand zeugt von Mangel wissenschaftlichen
Ernstes und bringt Gefahren der Entstellung und Mißdeutung mit
sich, weil jede aus ihrem Zusammenhang herausgehobene Stelle sich
im Sinn und oft auch im Wortlaut verändert.)


c) Datierung und Zuverlässigkeit


Die als „recensio“ bezeichnete kritische Musterung der Überlieferung
spielt bei den in Jahreszahlen festgelegten Drucken der Neuzeit eine
geringere Rolle. Die Klarstellung der Reihenfolge ist nur dann nötig,
wenn die Drucke undatiert sind oder wenn die gleiche Jahreszahl auf
verschiedenen Drucken desselben Werkes eine Entscheidung der Priorität
und des Wertes erforderlich macht. Es kann sich dabei um
Ausscheidung von Nachdrucken handeln, die darauf berechnet waren,
entweder Autor und Verleger oder nur den Autor in seinem Verdienst
zu schmälern. Die eigentlichen Nachdrucke sind gänzlich unrechtmäßig
und textlich wertlos, wenn sie von einem fremden Verleger
ohne Wissen des Verfassers und gegen seinen Vorteil hinterrücks auf
den Markt geworfen wurden; von zweifelhafter Geltung sind dagegen
die sogenannten Doppeldrucke, die der rechtmäßige Verleger veranstaltete,
wenn seine Auflage der Nachfrage nicht genügte. Es kann so
liegen, daß die ersten Bogen in einer Auflagenhöhe gedruckt waren,
die den Bestellungen nicht genügte. Für die weiteren Bogen wurde
die Auflagenhöhe verdoppelt und die ersten Bogen wurden neugedruckt.
Wenn dabei Druckfehler berichtigt wurden oder hineinkamen,
entstanden Mischexemplare. Anders steht es, wenn zwei Drucke,
welche dieselbe Jahreszahl tragen, durch Fehlerhaftigkeit sich durchweg
unterscheiden. Dann liegt der Verdacht vor, daß die Jahreszahl |#f0114 : 90|

des ersten Erscheinens zu Unrecht wiederholt ist und daß der Autor
um seine Rechte an der zweiten Auflage geprellt wurde. Dieser Verdacht
ist unbegründet, wenn die Doppelausgabe vertraglich vorgesehen
war, wie beispielsweise Cotta seine erste Gesamtausgabe von Goethes
Werken aus Gründen des Druckprivilegs in Wien nachdruckte und
von der endgültigen Gesamtausgabe gleich mehrere im Format und
Papier verschiedene Fassungen herstellen ließ.


In bezug auf Überlieferungswert für die Kritik des Textes ist es
wohl möglich, daß Doppeldrucke, wenn sie auf dieselbe Druckvorlage
zurückgehen, sich ergänzen, indem der eine die Fehler des anderen
wieder gut macht, aber seinerseits neue Fehler hineinbringt. Auf jeden
Fall sind immer nur diejenigen Drucke für Kritik des Textes von
Wert, an denen der Verfasser irgendwelchen Anteil hatte. Mit dem
Tod des Verfassers oder schon mit seiner beginnenden Interesselosigkeit
hört die Zuverlässigkeit auf; Änderungen späterer Auflagen können
günstigstenfalls die Bedeutung von überlegten Konjekturen haben;
in der Regel aber sind es nur gedankenlose Vernachlässigungen. Man
erinnert sich, welche Klagen Jakob Grimm 1859 in seiner Schillerrede
über die Verwahrlosung der privilegierten Cottaschen Klassikertexte
führte, nachdem schon vorher Joachim Meyer seine Besserungsvorschläge
zum Schillertext gemacht hatte. Ein ähnlicher Fall spielte
sich 30 Jahre nach Theodor Storms Tod ab; als Albert Köster eine
neue Gesamtausgabe seiner Werke überwachte, stellte sich heraus,
daß der Text, von einfachen Druckfehlern abgesehen, an mehr als
1550 Stellen durch Zurückgehen auf die frühen Drucke von eingedrungenen
und fortgeschleppten Entstellungen zu reinigen war.


Solche Fehler können sich allerdings auch unter den Augen des
Dichters einschleichen. Goethe z. B. hat bei seiner 1786 in Karlsbad
vorgenommenen Umarbeitung von „Werthers Leiden“ bequemlichkeitshalber
den gewissenlosen Nachdruck des Berliners Himburg
(1779) zugrunde gelegt und bei der Durchsicht eine Reihe von Flüchtigkeiten
unbemerkt gelassen, die nun über die Ausgabe letzter Hand
hinaus weiter geschleppt wurden, bis Michael Bernays den Sachverhalt
aufdeckte. Ähnliches scheint sich bei Grimmelshausens „Simplicissimus“
abgespielt zu haben, wo der Verfasser bei späterer Umarbeitung
bewußtermaßen die in Rechtschreibung und Satzbau sehr eingreifenden
Änderungen eines Nachdruckers, gegen den er im übrigen wetterte,
sich zu eigen gemacht hat. Der letzte Wille des Dichters ist
in diesen beiden Fällen verschieden auszulegen: während man beim
„Simplicissimus“ die einheitlich durchgeführte Anpassung an die planmäßigen
Eingriffe anerkennen muß, wird man beim „Werther“ zwar |#f0115 : 91|

die Ausgabe letzter Hand zugrundelegen, aber die auf Himburg zurückgehenden
Verderbnisse durch Zurückgreifen auf die erste Ausgabe ausmerzen
müssen, um echtgoethesche Ausdrucksform wieder herzustellen.


Mit Goethes Text haben sich noch merkwürdigere Dinge ereignet.
Von der „Erklärung der zu Goethes Farbenlehre gehörigen Tafeln“,
auf deren Druck im Jahre 1810 besonders liebevolle Sorgfalt verwendet
war, wurde zwei Jahre später durch Geistinger in Wien ein
unrechtmäßiger Nachdruck veranstaltet. Hier war der Verfasser ganz
unbeteiligt, wenn die Verballhornung mit ihren sinnentstellenden
Fehlern allen späteren Goethe-Ausgaben, auch denen, die höchste
wissenschaftliche Ansprüche stellten, als authentische Fassung galt.
Erst 1937 kam es heraus, daß die wegen ihrer kleinlichen Akribie so
viel verspotteten Goethe-Philologen auf den Leim gegangen waren,
indem sie es versäumten, alle erreichbaren Einzelausgaben in Vergleich
zu ziehen.


Ein verhältnismäßig einfaches Beispiel aus dem Goethe-Text konnte
das philosophische Gewissen zeitweilig in Konflikte bringen. Die Zueignung
zu Goethes „Faust“ bringt im ersten Druck den Vers „Mein
Leid ertönt der unbekannten Menge“. Goethes Tagebücher des
Jahres 1809 enthalten ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten
Teiles das von dem Philologen Riemer, der bei der Drucklegung half,
zusammengestellte Druckfehlerverzeichnis; darin steht: „8. Bd. S. 5
Z. 21 Leid: lies Lied.“ Ohne Zweifel hat Goethe damals diese Bemerkung
gebilligt. Trotzdem blieb „Leid“ in den folgenden Ausgaben
von 1817 und 1828 stehen; nur in einer Einzelausgabe des Jahres
1816 ist „Lied“ eingesetzt, ebenso in allen Ausgaben nach Goethes
Tod (zunächst unter Mitwirkung Riemers), bis die Weimarer Ausgabe
wiederum auf „Leid“ zurückgriff. Sie mußte sich dahin entscheiden
gemäß dem Grundsatz, in zweifelhaften Fällen die Ausgabe letzter
Hand (1828) als maßgebend anzusehen. Die Handschrift, die
über den ursprünglichen Wortlaut hätte Aufschluß geben können,
ist nicht erhalten. Es wäre möglich, daß in der Druckvorlage
„Lied“ stand (was Riemer wußte), daß aber Goethe an dem
Druckfehler „Leid“ Gefallen fand, weil ihm dadurch über das, was
er eigentlich gefühlt hatte, die Augen geöffnet wurden. Der Druckfehlerteufel
hätte damit einmal etwas Gutes eingegeben, denn es kann
kein Zweifel sein, daß das Wort „Leid“ viel mehr persönlichen Lebensgehalt
gerade in bezug auf das Selbstbekenntnis der „Zueignung“
offenbart als das banalere „Lied“, so daß ihm der Vorzug zu geben ist.
Hier also ist ein Beispiel, wie das tiefere Verstehen und die Sinnesdeutung
bei der Textkritik mitzusprechen haben; es bleibt bloß die |#f0116 : 92|

Frage, ob diese Gründe des Geschmacks und der besseren Erklärung
ausgereicht hätten, das Wort „Leid“ auch ohne jede Überlieferungsgrundlage
als konjekturale Emendation in den Text einzusetzen.


Es gibt eine gewisse psychologische Gesetzmäßigkeit des Schreib-
und Druckfehlers wie des Versprechens; z. B. kann das nachfolgende
Wort mit Anlaut oder Auslaut in klanglicher Attraktion vorauswirken,
oder es kann ein ganzer Satzteil vom Auge des Setzers übersprungen
sein, weil dasselbe Wort wiederkehrt. Auch kann ein bequemerer,
gebräuchlicherer Ausdruck ähnlichen Klanges für das
seltenere und stärkere Wort eintreten, z. B. „Zaudern“ statt „Haudern“
in Goethes „Schwager Kronos“. Ungewollte Änderungen haben
manchmal die Wahrscheinlichkeit für sich, so daß die Entstellung
ohne Vergleich mit dem Urtext gar nicht bemerkt wird.


Aber schon die erste Überlieferung kann mit Sinnwidrigkeiten
behaftet sein. Die seit über einem Jahrhundert in Umlauf befindlichen
Klassikertexte weisen noch manches auf, was nur als Hörfehler
beim Diktat oder Schreibfehler der Druckvorlage oder unbemerkt
gebliebener Druckfehler erklärt werden kann. Witkowski gibt in
seinem Buch über Textkritik einige Beispiele wohlbegründeter Berichtigungen
(Konjekturen), die trotz ihrer Wahrscheinlichkeit nicht
berücksichtigt wurden, weil die bisherigen Herausgeber ohne überlieferungsmäßige
Deckung die Verantwortung scheuten. Manchmal
sind solche Besserungsvorschläge allerdings zu rationalistisch, um
überzeugend zu wirken. Über den Vorschlag, in Schillers Jugendgedicht
„Meine Blumen“ statt der rätselhaften Wendung „vom Dom
umzingelt“ das glattere „vom Dorn umzingelt“ zu lesen, hat im Jahre
1915 eine Umfrage stattgefunden, die vielseitigste Erörterung nach
sich zog mit dem Ergebnis, daß man es bei dem überlieferten Text
bewenden ließ. Wenn sich auch keine völlig befriedigende Erklärung
fand, so gehören Dunkelheit, Verstiegenheit und Reimzwang eben zur
Stilcharakteristik der Laura-Gedichte.


Verwickelter liegt der Fall, wenn der Dichter weder in der Lage
war, die Drucklegung seines Werkes selbst zu beaufsichtigen noch
überhaupt eine zuverlässige Druckvorlage herzustellen, so daß er
einen anderen zur letzten Redaktion bevollmächtigen mußte. Dies
scheint mit Heinrich v. Kleists Erstlingsdrama geschehen zu sein, das
er in der Schweiz zurückließ und zu dessen von Ludwig Wieland
besorgter Druckform er sich nach dem Erscheinen kaum mehr bekennen
wollte. Der Druck der „Familie Schroffenstein“ wimmelt von
Fehlern, die sich nach der glücklicherweise erhaltenen Kleistschen
Handschrift, die den Titel „Die Familie Ghonorez“ trägt, berichtigen |#f0117 : 93|

lassen. Nachdem diese Handschrift zum Abdruck gekommen war, versuchte
Eugen Wolff den Nachweis, daß in ihr allein der echt Kleistsche
Text erhalten sei, während die gesamte Umarbeitung einschließlich
der Übertragung von Spanien nach Deutschland, der Änderung
der Namen und der Versifikation des Schlusses auf den jungen Wieland
zurückgehe. Diese Annahme hätte zur Folge haben müssen, daß
„Die Familie Schroffenstein“ zugunsten des älteren Bruders aus den
Kleist-Ausgaben ausgestoßen worden wäre. Hermann Schneider hat
den Gegenbeweis angetreten, durch den der verlorene Sohn wieder
ins Vaterhaus zurückgeführt wurde. Die Methode war die, daß alle
Verschlechterungen als Druckfehler erkannt wurden, die nicht durch
Eingriffe Wielands, sondern höchstens durch seine Nachlässigkeit verschuldet
waren (z. B. „die Diener“ statt „die Deinen“, die „neugebornen“
statt „ungebornen“ ─ lauter Unsinnigkeiten, die auch durch
Konjektur zu beheben waren). Auf der anderen Seite konnten aber
die wesentlichen Umänderungen als sinngemäß durch stilistische Parallelen
aus Kleists späterer Dichtung bestätigt werden.


Handelt es sich um aufeinanderfolgende rechtmäßige Auflagen desselben
Textes, so ist der früheren Ausgabe immer dann recht zu
geben, wenn die Änderungen der späteren Texte nicht auf den Verfasser
zurückzuführen sind. Ist dies aber der Fall, dann muß der
letzte Wille maßgebend sein, auch wenn das, was der Dichter für Verbesserung
hielt, beim heutigen Geschmack keinen Beifall findet, weil
es als Verlust ursprünglicher Frische und als Abschwächung sinnkräftiger
Wirkung empfunden wird. Um die Unmittelbarkeit der Urform
zu retten, bleibt dann nichts anderes übrig, als erste und letzte Fassung
nebeneinander zu drucken, wie das gelegentlich auch bei einer
nur handschriftlichen Überlieferung, z. B. Hölderlinscher Gedichte,
geschehen ist; in keinem Fall aber darf, wie das manchmal populäre
Ausgaben sich erlauben, eine eklektische Mischform nach Willkür und
Belieben hergestellt werden.


Ein synoptischer Druck verschiedener Fassungen rechtfertigt sich
auch bei unentschiedener Priorität. Es kann sich dabei sogar um verschiedene
Sprachen handeln. Das älteste Jedermann-Drama ist holländisch
als „Elckerlijk“, englisch als „Everyman“ überliefert und nur
an Hand des Nebeneinander kann geprüft werden, welches die Urform,
welches die Übersetzung ist, wobei als dritte Möglichkeit immer
noch das Zurückgehen beider Texte auf eine verlorene gemeinsame
Vorlage offen bliebe.


Auf ganz unsicherem Boden steht die Überlieferung, wenn unzuverlässige
Abschriften, mit denen der Dichter nichts zu tun hatte, die |#f0118 : 94|

Vorlagen der ältesten Drucke bildeten. Das ist bei Shakespeare anzunehmen.
Die Unterschiede der voneinander unabhängigen Ausgaben
in Folio und Quarto sind so erheblich, daß sie beiderseits nicht auf
authentische Handschriften, sondern nur auf Nachschriften von Aufführungen,
auf Rollenhefte, Soufflierbücher und ähnliche Zwischenglieder
zurückgeführt werden können. Ihr Wert ist deshalb kaum ein
anderer als der von Nachdrucken, ohne daß ein rechtmäßiger Vordruck
vorhanden wäre. Damit stellen sich auch in der Drucküberlieferung
Verhältnisse dar, die denen der mittelalterlichen Handschriftenüberlieferung
nahekommen. Für jedes einzelne Stück mußte
erst ein eigener Text aufgebaut werden in Abwägung des Wertes der
verschiedenartigen Überlieferung und nach Maßgabe eines Gesamtbildes
vom echten Shakespeare in seiner charakteristischen Schreibweise
und Ausdrucksform. Aber da dieses Gesamtbild erst aus den
Einzeltexten zu gewinnen war, bewegt sich die Kritik des Shakespeareschen
Textes in Zirkelschlüssen, mit deren Auflösung nach jahrhundertelanger
Arbeit alles wieder in Fluß kommt. Ähnlich wie Lachmann
die mittelhochdeutschen Klassikertexte nach gewissen grammatischen
und metrischen Grundsätzen, die er als allgemeingültig
erkannt zu haben glaubte, normalisiert hat, war auch ein einheitlicher
Shakespearestil, hauptsächlich auf Grund der Folio-Ausgabe hergestellt
worden, der für alle kritischen Einzelfragen die Richtlinie gab. Seit
nun aber neuere Forschung (J. Dover Wilson, J. M. Robertson) für
einzelne Texte (z. B. Hamlet) den Quartausgaben den Vorzug gibt, ist
der Bau ins Wanken geraten und muß gestützt oder erneuert werden.


Durch solche Umwälzung werden die anderen außerordentlichen
philologischen Leistungen der Shakespeare-Forschung keineswegs hinfällig.
Ein großer Gewinn, der unerschüttert bleibt, ist die in mühseliger
Einzelforschung gewonnene Feststellung der Reihenfolge seiner
Werke. Die Entstehungszeit jedes einzelnen Stückes war durch eine
Einkreisung zu ermitteln, die von zwei Punkten auszugehen hatte,
dem terminus a quo, dem Zeitpunkt, vor dem es nicht geschrieben
sein kann, und dem terminus ante quem, vor dem es geschrieben sein
muß. Die Grenze nach unten ist durch die Spiegelung bestimmter
Zeitereignisse und datierbarer literarischer Einflüsse, durch Anspielungen
auf geschichtliche Vorgänge und Persönlichkeiten und damit
zusammenhängende politische Tendenzen, wie durch Quellen, die erst
von einem bekannten Zeitpunkt ab zugänglich waren, festgelegt; die
Grenze nach oben durch Aufführungsberichte und datierbare literarische
Anspielungen auf das fertige Werk, durch Polemik, wie durch
andere sichtbare Einwirkung auf die Dichtung der Zeitgenossen. Die |#f0119 : 95|

auf diese Stützpunkte äußerer Chronologie begründete Reihenfolge
stellt ein Gerüst dar, das nun durch Ermittlung der inneren Zusammenhänge
mit Erlebnissen und Schicksalen des Dichters, mit dem
dadurch bedingten Wandel seiner Stimmung, Erfahrung, Lebensauffassung
und Weltanschauung und mit dem fortschreitenden Gang
seiner Problem- und Stilentwicklung unterbaut, gestützt und ausgefüllt
werden muß.


Weiter war die bei Shakespeare besonders schwer zu lösende Frage
des fremden Anteils, nicht nur an der Überlieferung, sondern an der
Stoffgestaltung zu beantworten, da es bei manchen Stücken, z. B. dem
ersten Teil von Heinrich IV., zweifelhaft bleibt, bis zu welchem Grade
er nur der Bearbeiter oder Fortsetzer eines Vorgängers war. Endlich
kommt dazu die Reihe der ihm zugeschriebenen Stücke, die nicht
sicher beglaubigt sind. Die sogenannten „doubtful plays“, wie
„Perikles“, „London prodigal“, „Arden of Feversham“ tragen Züge
des elisabethanischen Zeitgeists, der auch die Form Shakespeares
bestimmte. Hier ist nun Gelegenheit, die Elemente von Personal- und
Zeitstil kritisch zu sondern. Daran schließt sich die Frage, wie weit
Shakespeare als Dichter überhaupt an die Bühne dachte, was schon
von Herder und Goethe bestritten wurde, während andere es als den
eigentlichen Zugang zu seiner Form und Technik betrachteten. Und
zu guter Letzt wird auch immer wieder die Frage aufgeworfen, ob der
kleine Schauspieler Shakespeare als Dichter nicht überhaupt ein Pseudonym
war, ein Strohmann, dessen sich ein Großer wie Lord Bacon
oder Lord Rutland bediente, weil er sich nicht selbst als Dichter bloßzustellen
wagte. Gegen die literarhistorischen Hintertreppenromane,
die mit Pseudomethoden dilettantischer Mystik wie Aufdeckung verborgener
Schlüssel, Zahlenkabbalistik und geheimer Zeichenschrift in
Szene gesetzt werden, ist die Shakespeare-Forschung immer im Abwehrkampf,
ohne dem Obskurantismus ein Ende machen zu können.
Man möchte sagen: „Ist dies auch Unsinn, hat es doch Methode“,
wenn nicht gerade die Art der angewandten Methoden den Unsinn
bewiese.


Alle Einzelfragen aus dem in der Shakespeare-Forschung zusammengeballten
Bündel philologischer Probleme finden auch in anderen
Literaturgeschichten ihr Vorkommen. So hat die Altertumswissenschaft
durch Methoden der Sprachstatistik (Bernhard Ritter, Hans
v. Arnim) die Reihenfolge der platonischen Dialoge zu bestimmen
gesucht, ohne damit freilich den vollen Beifall der philosophischen
Hermeneutik zu finden. So wird die Chronologie der mittelhochdeutschen
Epik und Lyrik aus dem Netzwerk gegenseitiger Bezugnahme |#f0120 : 96|

von Dichtern wie Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach
und verschiedener Redaktionen des Nibelungenliedes oder aus den
Beziehungen zwischen Reinmar von Hagenau und Walther von der
Vogelweide wie aus der Erwähnung von Kreuzzügen oder von fürstlichen
und königlichen Gönnern herausgesponnen.


Mit Beginn des Buchdrucks macht die Datierung poetischer Werke
geringere Schwierigkeiten; das Jahr des Erscheinens pflegt auf dem
Titelblatt zu stehen, und sogar die Jahreszeit läßt sich in der Frühzeit
des Buchdrucks durch jene Kataloge ermitteln, in denen die zur Frühjahrs-
oder Herbstmesse in Frankfurt oder Leipzig vorgelegten Neuerscheinungen
als „Libri his nundinis prodituri“ angekündigt wurden.
Das sind die Vorläufer des „Wöchentlichen Verzeichnisses“ von Hinrichs
und des Buchhändlerbörsenblattes, mittels deren heute die Ausgabe
eines Buches fast auf den Tag bestimmbar ist.


Die Datierung spielt in der Neuzeit eigentlich nur noch bei einzelnen
Stücken lyrischer Sammlungen, die nicht nach der Reihenfolge
des Entstehens geordnet sind, eine Rolle. Da ist zunächst lediglich
der „terminus ante quem“ mit dem Erscheinen des Buches gegeben
oder mit dem Vorabdruck einzelner Gedichte in Zeitschriften und
Almanachen. Um ein Beispiel aus dem 16. Jahrhundert zu geben, so
ist das Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ im Jahre 1529 zum
erstenmal gedruckt worden. Es kann schon früher entstanden sein.
Um seine Entstehung aus einer bestimmten Bedrängnis zu erklären,
suchte man verschiedene Anlässe in den vorausgehenden Jahren. Wer
war mit dem „alt bösen Feind“ gemeint? Der Teufel, der Kaiser,
der Papst oder der Türke? Bezieht sich die Abwehr auf die Türkengefahr,
wie Georg Wolfram zuletzt wahrscheinlich machte, so muß
das Kampflied im Jahre seines Erscheinens entstanden sein als Aufruf
an die ganze Christenheit, nicht als Trutzlied des Protestantismus.


Die persönliche Beziehung und Sinndeutung Goethescher Gedichte
hängt gleichfalls oft von der genauen Datierung ab. Goethe selbst
hat seinem „Wanderer“ eine Beziehung zu Charlotte Buff gegeben,
indem er im Mai 1773 an den Bräutigam Kestner schrieb: „Du
wirst in der Allegorie Lotten und mich und, was ich zu hunderttausendmal
bei ihr gefühlt, erkennen.“ Nun aber war das Gedicht
bereits im April 1772 in Darmstadt vorgelesen worden, zu einer Zeit,
da Goethe Charlotte Buff überhaupt nicht kannte. Das berüchtigte
„Hier irrt Goethe“ scheint in diesem Falle zuzutreffen, wenn man die
Beziehung nicht so deuten will, daß Goethe das Gedicht, dessen
Thema eine idyllische Rast im Anblick ehelich-mütterlichen Glückes
darstellt, später als symbolische Antizipation seiner Wetzlarer Erlebnisse |#f0121 : 97|

aufgefaßt hat. Ein anderer Fall ist der des Weimarer Mondliedes
„Füllest wieder's liebe Tal“, das mit Melodie handschriftlich in
den Briefen an Frau von Stein überliefert ist. Es stellt sich heraus,
daß die Melodie von dem Schweizer Kayser stammt und in dessen
„Gesängen mit Begleitung des Klaviers“ (1777) an den Text eines
Mondliedes von Heinrich Leopold Wagner gebunden war; vor dem
März 1778 aber sind Goethes Text und Kaysers Melodie bereits in
einem handschriftlichen Liederbuch, das für Frau von Stein hergestellt
wurde, aufgenommen. Von der Datierung hängt es nun ab,
ob die Entstehung des Gedichtes mit dem Goethe tief erschütternden
Selbstmord der Christel von Laßberg, die am 17. Januar 1778 in die
Ilm ging, zusammenhängt, oder ob es schon vorher entstand und nur
von der Liebe zu Frau von Stein erfüllt ist, oder ob es, wie Josef
Körner mit wenig Überzeugungskraft glaubhaft zu machen suchte,
noch früher als freundschaftliche Huldigung für Lavater geschaffen
wurde.


Handelt es sich in diesen Fällen um Deutung des ursprünglichen
Sinnes, so kann auf der anderen Seite eine chronologische Festlegung
sich als notwendige Grundlage für die Betrachtung der Stilentwicklung
erweisen. Umgekehrt ist die Stilentwicklung brauchbarstes Hilfsmittel
für die Ermittlung der Chronologie. Aus diesem Strudel kommt
man nur heraus, wenn man außerhalb liegende feste Stützpunkte
finden kann, wie sie gegeben sind in biographischen Daten, Erlebnissen
und brieflichen Zeugnissen, die auf die Entstehungsursache
hinweisen. Auch dann ist zwischen biographischen und stilistischen
Indizien nicht immer Einklang herzustellen. Clemens Brentanos Altersgedicht
„Alhambra“ zum Beispiel könnte nach inhaltlichen Kriterien
teils auf Caroline von Günderode, teils auf Emilie Linder bezogen
werden. Der Biograph Diel nahm infolgedessen die Teilung zwischen
einer Urfassung aus dem Jahr 1803 und einer nach 31 Jahren erfolgten
Umarbeitung und Fortsetzung vor. Dem hat sich neuerdings
Wilhelm Fraenger (mit einer etwas abweichenden Unterscheidung der
Bestandteile) angeschlossen. Aber nach wie vor besteht Reinhold
Steigs Hinweis auf die stilistische Einheit, die sich in so langer
Arbeitspause nicht hätte erhalten können. Lassen sich Reste des
Jugendstils nicht erkennen, so ist die Hypothese hinfällig, und es
bleibt nur die Wahl zwischen Luise Hensel und Emilie Linder, also
den Jahren 1817 oder 1837.

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d) Ermittlung des Verfassers


Das Verhältnis zwischen inhaltlichen und formalen Kriterien läßt
sich ändern bei datierbaren Werken, deren Verfasser unbekannt ist.
Die Frage der Zugehörigkeit ist für die anonym erschienenen Werke
aller Literaturen ein mit gleicher Methode zu erforschendes Problem.
Die Ergebnisse der „recherche de la paternité“ sind lexikalisch
zusammengefaßt in brauchbaren und unentbehrlichen bibliothekswissenschaftlichen
Hilfsmitteln wie Holzmann-Bohattas „Deutschem
Anonymen-Lexikon“, das seine Vorläufer schon bei Placcius, Dahlmann,
Mylius im 18. Jahrhundert und bei den englischen, französischen,
italienischen, holländischen Werken von Cushing, Barbier,
Melzi, Doorninck im 19. Jahrhundert hatte. Er ist nachträglich noch
durch ein „Deutsches Pseudonymen-Lexikon“ der beiden österreichischen
Bibliothekare ergänzt worden. Für das Mittelalter ist
das von Wolfgang Stammler herausgegebene Verfasserlexikon „Die
deutsche Literatur des Mittelalters“ ein aufschlußgebendes Nachschlagewerk;
für das dunkle Gebiet der erotischen Literatur ist die
„Bibliotheca Germanorum Erotica et Curiosa“ von Hugo Hayn und
Alfred N. Gotendorf ein zuverlässiger Führer; zur Ermittlung entfallener
Verfassernamen bei bekannten Titeln der neueren Literatur
empfiehlt sich das „Deutsche Titelbuch“ von Max Schneider, das als
Gedächtnishilfe neben Büchmanns „Geflügelten Worten“ seinen Platz
beanspruchen darf. Endlich kann in einzelnen Fällen über die Verfasserschaft
anonymer oder pseudonymer Bücher und Zeitschriftenbeiträge
aus den Honorarbüchern alter Verlagsarchive (Brockhaus,
Cotta) Aufschluß gewonnen werden, wenn die noch bestehenden
Firmen für ihre eigene Geschichte interessiert sind.


Die Summe aller Bemühungen um Erhellung der Anonymität läßt
nicht nur im Altertum, sondern auch in neuen Zeiten beträchtliche
Lücken, deren Ausfüllung mehr oder weniger hoffnungslos ist. Jede
Literatur weist bedeutende Werke von großer Wirkung auf, über
deren Verfasser, obwohl die Umstände des Erscheinens feststehen,
ein Schleier gebreitet ist. In der spanischen Literaturgeschichte fehlt
der Verfassernamen des ersten Schelmenromanes „Lazarillo de Tormes“
(1554), der früher zu Unrecht Mendoza zugeschrieben wurde.
Der deutschen Literaturgeschichte ist es bisher nicht gelungen, den
Familiennamen jenes „Arigo“ zu ermitteln, der die erste deutsche
Übersetzung des Boccaccioschen „Decamerone“ in Ulm erscheinen
ließ. Zuerst lag der bekannte Übersetzer Heinrich Steinhöwel nahe,
und unter diesem Namen gab Adalbert Keller das Werk neu heraus. |#f0123 : 99|

Aber zwischen den beglaubigten Arbeiten Steinhöwels (Aesop, Apollonius,
Von etlichen frowen usw.) und dem deutschen Decamerone
bestehen solche Unterschiede in Wortschatz, Lautstand, Syntax, Stil
und Übersetzungstechnik, daß diese Identität aufgegeben werden
mußte. Nun ist mancher andere Heinrich (Leubing?, Schlüsselfelder?)
zu ermitteln, dessen Lebensumstände und literarische Umwelt es
möglich erscheinen lassen, daß er der Gesuchte sei, aber immer fehlt
es an anderen beglaubigten Werken desselben Mannes, durch deren
stilistische Übereinstimmung die Identität unabweisbar gesichert
wäre. Und was hilft der Literaturgeschichte ein Name, wenn sich
damit nicht auch das Bild einer Persönlichkeit verbindet?


Ähnlich stand es bisher mit jenem Johann von Saaz, der 1399 das
Gespräch des Witwers mit dem Tod verfaßte, das als „Der Ackermann
aus Böhmen“ berühmt geworden ist. Ein glücklicher Zufallsfund
zog 1934 aus einer Freiburger Sammelhandschrift, in der sie
nicht zu vermuten war, die Abschrift der lateinischen Widmung ans
Licht, mit der Johann von Tepl seinem Landsmann Peter Rothirsch
in Prag das Werk überreichte. Nun bestätigt sich die Identität mit
einem schon vorher in Frage gezogenen Johannes (Henslini) de Šytboř,
der von 1386─1411 Rektor der Stadtschule und Notar in Saaz war.
Ein weiteres Werk von geringerer Bedeutung und sogar ein Bild des
Ackermann-Dichters vom Jahre 1404 haben sich gefunden; aber für
die Familienverhältnisse ist enttäuschenderweise beurkundet, daß
Johann von Tepl bei seinem Tode im Jahre 1415 eine Witwe mit
vier Kindern hinterließ, und diese Tatsache stellt den ergreifenden
persönlichen Erlebnisgehalt in Frage. Gewiß kann der Witwer in
einer zweiten Ehe neues Glück gefunden haben, aber es wäre auch
möglich, daß die Situation des Klagenden nicht selbsterlebt war. Ist
der Dialog nur eine rhetorische Kunstübung, als welche er in der
Widmung betrachtet wird, so verliert er die Bedeutung einer Erlebnisdichtung,
auch wenn er nach Sprachform und Ideengehalt ein zu
jener Zeit einzig dastehendes Werk bleibt.


Falsche Zuweisungen an einen bekannten Namen haben manchmal
zu biographischen Trugschlüssen geführt. Einigen in die posthume
Gesamtausgabe Grimmelshausens aufgenommenen Kurzgeschichten
mußte man z. B. entnehmen, daß der Verfasser eine Zeitlang protestantischer
Parteigänger des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz
gewesen sei, was zu Grimmelshausens späterem Aufenthalt im
Schwarzwald und zu seinem katholischen Bekenntnis nicht passen
will. Nachdem aber entdeckt worden ist, daß Moscheroschs Bibliothekskatalog
die früher erschienene Einzelausgabe der einen Satire |#f0124 : 100|

dem pfälzischen Hofmann Balthasar Venator zuschrieb, hat eine
Untersuchung von dessen Lebensumständen und Stileigentümlichkeiten
diese Angabe völlig bestätigt. In die Gesamtausgabe gelangten die
drei kleinen Schriften, um die es sich handelt, vermutlich weil Grimmelshausen
eine von ihnen für seinen Verleger umgearbeitet hat;
anderes unechtes Gut ist aufgenommen worden, weil es den Namen
Simplicius auf dem Titel trug.


Derartige Irreführung erledigt sich meist durch Vergleich mit unzweifelhaft
echten Werken des Verfassers. Lange Zeit haben die in
Penig gedruckten „Nachtwachen von Bonaventura“ (1804), ein
romantisches Nachtstück, das in der Nachfolge Jean Pauls steht, als
Werk Schellings gegolten, weil einige Gedichte des Philosophen unter
dem Pseudonym „Bonaventura“ erschienen waren. Aber für Pseudonyme
gibt es keinen Musterschutz. Franz Schultz konnte leicht aufzeigen,
wie grundlos sich diese Legende gebildet hatte und wie
unhaltbar sie sei. Schwerer war es, den richtigen Verfasser zu entdecken,
der kein unbedeutender Schriftsteller gewesen sein kann.
Hier gelang es, frühere Hypothesen, die auf Caroline Schlegel, E. Th.
A. Hoffmann und Clemens Brentano deuteten, zu verdrängen, indem
die Verfasserschaft von J. G. Wetzel durch Vergleich mit seinen
übrigen Schriften zu großer Wahrscheinlichkeit, wenn auch nicht
zu absoluter Gewißheit geführt wurde.


Ähnlich steht es, wenn der anonyme Roman „Der Kettenträger“
(1796), der einmal auf den jungen Heinrich von Kleist großen Eindruck
machte, für Friedrich Maximilian Klinger in Anspruch genommen
wird. Hanna Hellmann hat überzeugend nachgewiesen, warum
der einstige Stürmer und Dränger, wenn er der Verfasser war, als
russischer General sich zu diesem politischen Roman nicht bekennen
durfte. Aber die letzte Durchschlagskraft des Beweises für die Verfasserschaft
fehlt, zumal sich in Klingers Nachlaß, auch in seiner in
Dorpatbefindlichen Bibliothek, keine Spur davon findet. Ein schwaches
Indizium ist neuerdings durch die Tatsache bekannt geworden, daß
der fränkische Edelmann und Sammler Christian von Truchseß, der
viele literarische Beziehungen und Einblicke besaß, schon vor mehr
als hundert Jahren in seiner Bibliothek auf der Bettenburg das Werk
unter den Namen Klinger gestellt hat.


Manchmal mag die Deutung des Pseudonyms zur völligen Aufdeckung
des Geheimnisses verhelfen, so daß ein Indizienbeweis durch
das Geständnis des Überführten gekrönt und die Urteilsfällung über
jeden Zweifel erhoben wird. Ein methodisches Meisterstück dieser
Art konnte Albert Köster liefern, als er 1897 den Verfasser der 1660 |#f0125 : 101|

in Hamburg unter dem Namen Filidor der Dorfferer gedruckten
Gedichtsammlung „Die geharnschte Venus“ ermittelte. Als Verfasser
war fälschlich Jakob Schwieger angenommen worden, bloß weil er
in der Nähe Hamburgs saß und einen ähnlichen Titel „Die verlachte
Venus“ gebraucht hatte. Aber Köster konnte nachweisen, daß die
Sprache der „Geharnschten Venus“ nicht auf Altona deutet, sondern
nach Mitteldeutschland weist, und durch Untersuchung der Reime (z. B.
entwiechen : verbliechen) ließ sich mit Hilfe des in Marburg befindlichen
deutschen Sprachatlas das Gebiet der Herkunft auf Thüringen
einengen. Die Gedichte selbst wiesen inhaltlich nach Leipzig und
ließen stilistische Zusammenhänge mit den Traditionen des dortigen
Gesellschaftsliedes erkennen; andererseits offenbarten sie in Stil und
Wortschatz (Marjelle, Kosenamen Buschgen für Barbara) Beziehungen
zu Königsberg. Die Widmung an einen gewissen „Pranserminto“
klärte sich auf, als in der Königsberger Matrikel ein Magister Martin
Posner, der aus Gera stammte, nachzuweisen war. Nun waren auch
die „Gerenschäfer“ Glykander, Hypsilus und Dafnis, denen eine zweite
Widmung galt, zu deuten; wie die Nürnberger Pegnitzschäfer sich
nach dem Flüßchen, an dem sie ihre Weide fanden, benannt hatten,
so wies der Flußname Gera auf die Stadt Erfurt, und Filidors Beiname
„Dorfferer“ offenbarte sich als Anagramm für „Erfforder“.
Daraufhin war die Königsberger Universitätsmatrikel der vorausgehenden
Jahre auf Studierende, die aus Erfurt stammten, durchzusehen,
und es fand sich 1653 „Casparus Stieler, Erfurto-Thuringus“
eingetragen. Das ist der bekannte Lexikograph, der zuerst in Leipzig
studiert und dann in Königsberg sein Ostsemester absolviert hatte.
Von da war er als Dragoner des Großen Kurfürsten in den Krieg
geritten, und nach seiner Rückkehr hatte er in Hamburg die Lieder,
die er der in Königsberg zurückgelassenen Geliebten gewidmet hatte,
zu der in Druck gehenden Sammlung zusammengefaßt. Die Sprache
entspricht den Regeln, die er später in seinem großen Werk „Der
Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs“ (1691) aufstellte.
Ein letzter Schlußstein aber konnte der Beweisführung eingefügt
werden, indem der Beiname „Peilkarastres“, den sich der Dichter
einmal beilegt, als Anagramm des wahren Namens aufzulösen war.
Es ist fast zu vermuten, daß diese glückliche Entdeckung am Anfang
der ganzen Untersuchung stand und daß die anderen Indizien erst
nachträglich zur Unterbauung herangeholt wurden, so daß die Untersuchung
gerade den umgekehrten Gang nahm, als Beweisführung und
spannungerregende Darstellung ihn wählen mußten.


Ähnliche Entdeckungen waren aus urkundlichem Material ans Licht |#f0126 : 102|

getreten, als Friedrich Zarncke in Leipziger Universitätsakten den
Studenten Christian Reuter als Verfasser des Lügenromans „Schellmuffsky“
ermittelte und als es Adolf Stern gelang, den Dichter der
„Insel Felsenburg“, der sich Gisander nannte, in Johann Gottfried
Schnabel zu erkennen. Wieder eine andere Darstellungsmethode
wählte Richard Alewyn, als er 1932 in Johann Beer einen großen
Barockerzähler ans Licht zog. Dieser Name war bisher nur der
Musikgeschichte bekannt gewesen, während die Literaturgeschichte
allein die Pseudonyme Jan Rebhu und Wolfgang Willenhag kannte.
Vergebens hatte man sich um die naheliegende anagrammatische Deutung
des Namens Rebhu bemüht und allerorten einen Johann Huber
gesucht, den man als Verfasser annehmen könne. Alewyn mußte
von dem autobiographischen Gehalt der 18 Romane ausgehen, die
sich so genau in die Lebensgeschichte Beers einfügen, daß an der
Richtigkeit des Nachweises kein Zweifel sein kann. Mit der Erkenntnis
der Zusammenhänge zwischen Leben und Schaffen war aber mehr
gewonnen als ein bloßer Name; zusammenhanglose Titel, die nur als
solche in den Bibliographien verzeichnet waren, rundeten sich zu
einem Gesamtwerk, aus dem das lebensvolle Antlitz des Künstlers
hervorblickt, und so waren mit einemmal für die Literaturgeschichte
des 17. Jahrhunderts neue Werte erobert.


Ein gleichartiges Ergebnis hatte die Entdeckung des Verfassers der
berühmten Reformationssatire „Eccius dedolatus“ durch Paul Merker.
Die Schrift war lange Zeit dem Nürnberger Willibald Pirkheimer
zugeschrieben gewesen und hatte als eine Art literarischen Kommentars
zu dem berühmten Dürerschen Porträt ihre besondere Bedeutung.
Die minderte sich, als der Zusammenhang mit Pirkheimer aufgegeben
werden mußte. Nun ist durch Merkers Nachweis, der sich sowohl auf
Deutung anagrammatischer Spielereien wie auf biographische Ermittlungen
stützt, der Straßburger Humanist Nikolaus Gerbel zur Ehre
der Verfasserschaft gekommen. Nachdem in ihm ein bedeutender
lateinischer Satiriker entdeckt worden ist, führen Spuren zu anderen
Schriften, die ihm zuzuschreiben sind. Der allerdings nicht unbestritten
gebliebene Beweis läuft in neue Hypothesen aus, die sogar mit
einer Beteiligung Gerbels an der Gemeinschaftsarbeit der „Epistolae
obscurorum virorum“ rechnen. Deren hauptsächliche Mitarbeiter
Crotus Rubeanus und Ulrich von Hutten hatte vorher Walter Brecht
in einer scharf beobachtenden Stiluntersuchung bereits im wesentlichen
auseinandergehalten. Hier stand die kritische Sonderung vor
besonderen Problemen, weil die Dunkelmännerbriefe als mimische
Satire die Parodie fremder Ausdrucksweise und das zu karikierende |#f0127 : 103|

Mönchslatein vor Augen hatten. Der Stilunterschied zwischen den
verschiedenen Bearbeitern war also in der Mischung von selbstentäußerter
Durchführung dieser Aufgabe und temperamentvoll durchbrechendem
Eigenausdruck zu erkennen.


e) Gemeinschaftsarbeit und Überarbeitung


Die Zusammenarbeit mehrerer an einem Werk kann nur das
Ergebnis enger künstlerischer Lebensgemeinschaft sein, wie es außer
dem Erfurter Humanistenkreis, der die Dunkelmännerbriefe ersann,
schon der Fall gewesen ist bei Aristophanes und Eupolis in Athen,
später bei den Studierenden der Londoner Rechtsschulen, aus denen
die Lustspieldichter Beaumont und Fletcher hervorgingen. Sprühender
Witz und geistreicher Spott schlagen reichere Funken bei gegenseitigem
Anreiz als in der Einsamkeit; Zeugnis dafür sind auf der
Höhe die „Xenien“ Goethes und Schillers; in den Niederungen liegen
Doppelfirmen routinierter Lustspielfabrikanten, von denen der eine
mehr für Fabel und Situationen, der andere für den Dialog aufkommt.
Seltener ist ernste Gemeinschaftsarbeit, wie sie vorliegt bei den Brüdern
Goncourt und dem holländischen Ehepaar C. und M. Scharten-
Antink im Roman, bei Arno Holz und Johannes Schlaf, als sie „Papa
Hamlet“ und „Familie Selicke“ schrieben, und bei den Kriegskameraden
Graff und Hintze als Verfassern der „Endlosen Straße“. So hat
auch Jean Paul in den „Flegeljahren“ von einem Roman, den die
Zwillingsbrüder Walt und Vult gemeinsam schreiben wollten, gesprochen,
und der Berliner Romantikerkreis der Bernhardi, Chamisso,
Fouqué, Neumann, Varnhagen hat den Gedanken in die Tat
umgesetzt. Aber ihr Gemeinschaftsroman „Die Versuche und Hindernisse
Karls“, dessen erster Band 1808 erschien, war mehr ein Gesellschaftsspiel,
bei dem der eine Teilnehmer dem anderen Schwierigkeiten
bereitete und Fallen stellte, als daß der Anspruch auf ein
Kunstwerk von innerer Form bestanden hätte. Ebenso war der „Roman
der Zwölf“, der von der Zeitschrift „Die Woche“ kurz vor dem
Weltkrieg in Bestellung gegeben wurde, nur ein großes Reklamepreisrätsel
für die Leser, die das Dutzend mit Namen aufgeführter
Mitarbeiter Kapitel für Kapitel erkennen sollten. Das ist seitdem
in der Provinzpresse mehrfach wiederholt worden. Es bleibt aber
unbestreitbar, was Johannes Schlaf in Erinnerung an seine Zusammenarbeit
mit Arno Holz festgestellt hat: „Es ist unmöglich, daß zwei ein
und die gleiche Konzeption (wie es doch sein muß) aus ihrem
innersten Erleben heraus leisten können.“ Nur einer kann den Gedanken |#f0128 : 104|

des Werkes gefaßt haben, und der andere muß in der Ausarbeitung
sich die Konzeption des ersten zu eigen machen. Aber auch
dann kann nur selten aus der Gemeinschaftsarbeit ein einheitliches
Werk entstehen. Es gilt vielmehr der Ausspruch, den der Individualist
Hebbel in bezug auf das Nibelungenlied tat: der Apfel kann nur
Produkt eines Baumes, nicht eines Waldes sein.


Die alte Heldenepik, auf deren umstrittene Ursprünge damit hingewiesen
ist, stellt allerdings ihre besonderen kritischen Aufgaben;
hier handelt es sich keinesfalls um gleichzeitige Kollektivarbeit, sondern
um eine sich über eine lange Zeit hinziehende Folge von Überarbeitungen
und zusammenfassenden Redaktionen. Daß alles Jüngere
dabei minderwertig sein müsse, nennt Werner Jaeger in bezug auf die
homerischen Epen ein romantisches Vorurteil.


Bei der Auseinanderlösung verschiedener Entstehungsschichten, die
zunächst in der Bibelkritik der Aufklärung zur Anwendung kam und
dann in der Homer-Kritik von Friedr. Aug. Wolf vorbildlich wurde,
spielte die Feststellung von Widersprüchen zwischen einzelnen Teilen
des Ganzen eine wichtige Rolle. Man kann auch in der neueren
Literaturgeschichte solche Kriterien der Uneinheitlichkeit finden.
Wenn etwa das Märchen „Der Palast der Wahrheit“ in Wielands
„Dschinnistan“ nach eigener Erklärung des Herausgebers zum Teil
von einer uns unbekannten Dame bearbeitet wurde, so unterscheidet
sich dieser fremde Anteil nicht nur deutlich im Stil, der erkennen
läßt, wo Wielands Fortsetzung beginnt; auch der Gebrauch der Namen
ist unterschiedlich: anfangs heißt es Almire und Zeloide, später, als
Wieland die Feder aufnimmt, Altamire und Zeolide.


Aber aus der Beobachtung von so geringfügigen oder sogar von
bedeutenderen Widersprüchen ist keineswegs immer der Schluß auf
fremde Mitarbeit oder Überarbeitung zu ziehen. Beispielsweise wird
in Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ der Held bald
August, bald Gustav genannt, und niemand wird daraus den Schluß
auf fremde Mitwirkung ziehen dürfen. Um solche Argumente für
die Schichten- und Liedertheorie der Volksdichtung zu entkräften,
haben seinerzeit die Altgermanisten Kraus und Jellinek eine reiche
Sammlung von „Widersprüchen in Kunstdichtungen“ zusammengetragen,
und andere sind ihnen dann gefolgt. Nicht nur aus Werken,
bei denen fremde Bearbeiter in Frage kommen, wie Shakespeares
„Macbeth“ oder Kleists „Familie Schroffenstein“, sondern bei Dichtungen,
deren Einheit nicht im mindesten bezweifelt werden kann,
wie Cervantes' „Don Quixote“, Lessings „Nathan“, Goethes „Werther“
und „Wahlverwandtschaften“ werden Unstimmigkeiten aufgewiesen, |#f0129 : 105|

die den Satz „Aliquando dormitat bonus Homerus“ zur Bestätigung
gelangen lassen.


Allerdings kann man die Erklärung dafür gelegentlich in der Entstehungsgeschichte
finden, so daß zwar nicht verschiedene Verfasser,
wohl aber verschiedene Stimmungen und Entwicklungsstufen desselben
Dichters beteiligt sind. Ein berühmter, schon von der zeitgenössischen
Kritik angekreideter und vom Dichter doch nicht
behobener Widerspruch in Schillers „Don Carlos“ besteht darin, daß
der Held im vierten Auftritt des zweiten Aufzuges erklärt, er habe
noch nichts Schriftliches von der Hand der Königin gelesen, während
er IV,6 den Brief herauszieht, den sie ihm bei seiner tödlichen Krankheit
nach Alcala schrieb und den er seitdem auf dem Herzen trug.
Der Brief nach Alcala kommt schon bei St. Réal vor; er ist ein Bestandteil
des sich an die erste Quelle enger anschließenden früheren
Planes, während das mißverständliche Stelldichein mit der Prinzessin,
das durch die Unbekanntheit der Schrift motiviert werden muß, einer
späteren Arbeitsphase angehört. Solche Rückschlüsse aus der fertigen
Form der Dichtung auf ihre Entstehungsweise fallen bereits in das
Gebiet der sogenannten „höheren Kritik“, die zu dem Gegenstand
des folgenden Hauptteils gehört.


f) Versteckspiel des Verfassers


Kritik muß manchmal auch an die eigenen Aussagen der Verfasser
gelegt werden, wenn sie ihre aus bestimmten Gründen gewählte
Anonymität durch öffentliche Ableugnung aufrechtzuerhalten gezwungen
sind. So ist es Herder bei den „Kritischen Wäldern“ gegangen,
zu denen er sich später gleichwohl bekannt hat. So hat Lessing als
Herausgeber der Fragmente des Wolfenbütteler Unbekannten aus
Rücksicht auf die Familie Reimarus die Öffentlichkeit geflissentlich
hinters Licht führen müssen. Auch sonst hat er es geliebt, bei eigenen
Werken die Maske des Herausgebers anzulegen: sowohl die Beschwörungszene
seines „Faust“ im 17. Literaturbrief als der erste Teil der
„Erziehung des Menschengeschlechts“ ist von ihm einem Unbekannten
zugeschrieben worden. Während im ersten Fall das Volksschauspiel
als Quelle zu erkennen ist, lag im zweiten Fall die Versuchung nahe,
den fremden Verfasser, der kein unbedeutender Denker gewesen sein
kann, zu ermitteln. Da nun der junge Albrecht Thaer, der spätere
Vater der Landwirtschaft, in einer für seine Braut niedergeschriebenen
Lebensbeichte Andeutungen von theologischen Aufzeichnungen |#f0130 : 106|

machte, deren Abschrift in die Hände eines großen Mannes gefallen
sei, „der den Stil etwas umänderte und einen Teil davon als Fragment
eines unbekannten Verfassers herausgab“, bietet sich in der Tat eine
lockende Fährte. Die Entscheidung hängt sowohl von dem Charakterbilde
Thaers ab als von der Originalität der in den ersten Paragraphen
niedergelegten Gedanken. Während die geschichtsphilosophische Dreistufigkeit
weder von Lessing noch von Thaer erfunden worden ist,
enthält der zweite Teil durchaus Lessingsches Gedankengut. Stilistisch
aber besteht zwischen beiden Teilen so wenig Unterschied, daß die
Durchführung nur das Werk eines Mannes sein kann. Lessing selbst
hat das Ganze geschrieben, auch wenn ihn vielleicht die Kenntnis
Thaerscher Aufzeichnungen veranlaßt haben sollte, seine „Gegensätze“
dem Reimarus gegenüberzustellen.


Ein bei richtiger Handhabung Wunder wirkendes Mittel für die
Ausscheidung fremden Anteils, ja sogar für die Feststellung verschiedener
Arbeitsphasen desselben Verfassers war die von Eduard Sievers
im Anschluß an Rutz und Becking ausgebildete Methode der Schallanalyse.
Was Fingerabdrücke als sicheres Erkennungszeichen des
Individuums, was Graphologie für die charakterologische Analyse
der Schriftzeichen, was Physiognomik für die Abzeichnung des Seelenlebens,
das bedeutete dieses Verfahren für die Erkenntnis des
Charakteristischen in Wort und Klang. Nur daß Fingerabdruck und
Schriftzeichen objektiv gegeben sind und dauernder Beobachtung zur
Verfügung stehen, während Ton und Schall als Augenblickserlebnisse
immer wieder reproduziert und gehört werden müssen, worin zwei
mögliche Fehlerquellen bestehen, nämlich falsche klangliche Reproduktion
und falsche Aufnahme des Gehörten. Wohl muß ein immanenter
Klang und Rhythmus für jeden Text angenommen werden, der
sich verständnisvollem Vortrag mitteilt, aber um das Charakteristische
wahrzunehmen, ist wiederum ein zur höchsten Feinheit ausgebildetes
Gehör notwendig. Wenn auch von der Körperhaltung abhängige Typen
des Vortrags auf bestimmte Kurven der Taktgebung festzulegen und
willkürlich nachzubilden sind und wenn die Beobachtung durch den
Gebrauch von Drahtfiguren, die der Wünschelrute gleichen, mit einer
gewissen Autosuggestion unterstützt werden konnte, so blieb doch
hier, wie beim Medium des Rutengängers, der eigentliche Aufnahmeapparat
subjektiv und konnte bisher durch kein Instrument mechanischer
Aufzeichnung ersetzt werden. Dieses Medium bleibt etwas
Irrationales, und das Verfahren muß vorerst der Vergangenheit
zugerechnet werden als ein Geheimnis, das Eduard Sievers mit sich
ins Grab nahm, da es ihm trotz aller Bemühung und trotz der Übertragung |#f0131 : 107|

auf einzelne Schüler doch nicht gelang, es als eine zuverlässig
zu handhabende Methode allgemein zugänglich zu machen.


Unbewußt mag jeder feinfühlige Hörer etwas von diesem Unterscheidungsvermögen
in sich tragen. Es ist aber auffallend, daß
gerade die Dichter, denen man das sicherste sprachliche Sensorium
zutrauen möchte, im Gefühl für Echtheit und Stileinheit oft versagt
haben. Beispielsweise hat Ludwig Tieck, der auch den unechten
Shakespearestücken seine besondere Liebe zuwandte, ein Drama von
Maximilian Klinger, „Das leidende Weib“ in seine Gesamtausgabe
der Werke von Mich. Reinh. Lenz aufgenommen. Die scharfsinnigen
Kritiker August Wilhelm und Friedrich Schlegel sollen es fertiggebracht
haben, die „Agnes von Lilien“ der Caroline von Wolzogen
für ein Werk Goethes zu halten. Gustav Freytag nahm in seine Ausgabe
der Werke Otto Ludwigs zwei Erzählungen auf, die zwar denselben
Verfassernamen trugen, aber als Pseudonym eines Mannes,
mit dem der Eisfelder Dichter nichts zu tun hatte. Dabei waren
sowohl die Brüder Schlegel als Freytag gelernte Philologen. Selbst
Goethe hat ein Gedicht, dessen Verfasser Fr. Heinr. Jacobi war,
unwissentlich in seine eigene Sammlung aufgenommen und über das
von ihm inspirierte Fragment „Natur“, das der Schweizer Tobler in
das Tiefurter Journal gab, aus der Alterserinnerung nichts Sicheres
mehr aussagen können.


Nicht minder verwunderlich ist es, daß eine grandiose Fälschung,
wie die des Ossian durch Macpherson von so feinfühligen Kennern
des Naturlauts wie Herder und Goethe nicht erkannt wurde. Sie
waren von dem Geist der Empfindsamkeit, aus dem diese Nachdichtung
hervorgegangen ist, selbst erfüllt und suchten das Naturhafte
im Empfindsamen. Als Gegenstand einer bedeutenden Dichtung
gehört die Gestalt dieses künstlich geschaffenen Sängers der Vorzeit
durchaus in die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, nicht in die
des gälischen Altertums, obwohl es noch heute nicht völlig geklärt
ist, ob Macpherson irgendwelche Reste alter Volksüberlieferung kannte
und verwertete. Der Verdacht gegen die Echtheit mußte aufkommen,
als der angebliche Herausgeber die alten Handschriften, aus denen
er zu schöpfen vorgab, nicht zur Prüfung vorlegen konnte. Überhaupt
besteht solcher Verdacht immer zu Recht, wenn ein Entdecker sich
weigert, die von ihm ausgegrabenen Urkunden einer Echtheitsprüfung
unterziehen zu lassen. So war es mit den angeblichen Gedichten von
Lenz, die Falk aus dem Nachlaß eines russischen Predigers Jerzembsky
ans Licht zu ziehen vorgab. So verhielt es sich mit dem von
K. G. Herwig veröffentlichten Tagebuch, das Heinrich von Kleist |#f0132 : 108|

als Gefangener auf dem Fort de Jout geführt haben soll und das
bestenfalls Bruchstück eines ungedruckt gebliebenen Kleistromans
sein kann.


Dann nämlich darf man von Fälschung nicht sprechen, wenn die
Einkleidung nur dichterische Stilform und technisches Mittel der
Beglaubigung darstellt, wie es bei der chronikalischen Erzählung der
Fall ist. Bei Meinholds „Bernsteinhexe“ oder Kolbenheyers „Meister
Joachim Pausewang“ oder Wilhelm Schäfers „Stauffer-Bern“, wo der
Dichter sich als Herausgeber maskiert, würde der Glaube des Lesers
an urkundliche Echtheit ebenso naiv sein, wie der eines Theaterpublikums,
das auf der Bühne ein Stück Wirklichkeit zu erleben
wähnt. Nennt sich allerdings der Verfasser nicht und ist kein Rahmen
um die fingierte Aufzeichnung geschlossen, so liegt die Irreführung
nahe, und ein Roman, wie die bekannte „Chronik der Anna
Magdalena Bach“, die aus dem Englischen übersetzt ist, wäre als
Fälschung zu erklären, falls die Musikwissenschaft etwa anfinge, ihn
als Quelle für das Leben Johann Sebastians zu betrachten.


Alle diese Beispiele legen Zeugnis ab von der Notwendigkeit der
Echtheitsprobe und von der Unentbehrlichkeit der philologischen
Kritik. Wenn sie heute manchmal in der höheren Literaturwissenschaft
nicht mehr gebraucht zu werden scheint, so liegt es daran, daß
sie auf den Hauptgebieten im Lauf eines Jahrhunderts ihre Arbeit
getan hat und daß man, auf ihren Ergebnissen aufbauend, den Ertrag
als selbstverständlich entgegennimmt, mit oder ohne Dank. Aber
nicht nur im Rückblick, auch im Fortschreiten wird die Wissenschaft
immer wieder zu Aufgaben gelangen, die nur mit philologischen
Methoden zu lösen sind und denen man hilflos gegenübersteht, wenn
geschulter Scharfblick fehlt.

|#f0133 : E109|

DRITTER HAUPTTEIL

DIE ANALYSE

Jede wissenschaftliche Untersuchung zerschneidet, weil
sie auf dem Denken allein beruht und also objektiviert,
die feinen, in keinen Begriff eingehenden Zusammenhänge
der Lebenstotalität.


Eduard Spranger.


1. Grundbegriffe


Auf Sammlung und Kritik folgt die Gliederung, die zunächst
als Struktur des einzelnen Werkes erkannt werden muß. Während die
als „niedere Kritik“ bezeichnete Richtigstellung des Textes mit dem
grammatischen Verstehen, das die erste Stufe philologischer Ergründung
bildet, verknüpft ist, geht die „höhere Kritik“ bei der Analyse
des Wortkunstwerks Hand in Hand mit der Ästhetik. Dem philosophischen
Verstehen wird entgegengekommen, indem in der Tat eine
ihm entgegengesetzte Richtung eingeschlagen wird. Das Werk als
Ganzes wird in seine Elemente aufgelöst, damit in deren Wiederzusammensetzung
das Ganze begriffen werden kann. Im Sinne dieser
Strukturerkenntnis darf die Analyse weder gefühllose Obduktion sein
noch kindlicher Zerstörung eines Spielzeugs gleichen; vielmehr hat
sie als Biologie des Kunstwerkes alle Lebenszusammenhänge des
Organismus zu begreifen, um in ihrer Gliederung die Einheit zu erfassen.
Nicht Zerreißen der Zusammenhänge, sondern Festhalten
dieser Gelenke ist die Aufgabe.


Ein Philosoph wie Henri Bergson sieht im Blick für die Einzelheiten
ein erschlafftes Zerflattern der Aufmerksamkeit und ein Aussetzen
des Willens. Er gibt in seiner „Schöpferischen Entwicklung“
das Beispiel eines Dichters, der seine Verse persönlich vorträgt und
den Hörer zu einem der Inspiration gleichenden Strom sympathischer
innerer Bewegung mitreißt. Sobald die Aufmerksamkeit des Hörers
nachläßt, sondern sich die Eindrücke und verlieren sich im Nacheinander
der Töne, der Sätze, der Worte. „Nun werde ich“, so heißt
es bei Bergson, „die Präzision der Verkettungen, die wundersame
Ordnung des Zuges, die genaue Fügung der Silben zu Worten, der
Worte zu Sätzen bewundern. Je weiter im rein negativen Sinn der |#f0134 : 110|

Erschlaffung ich vorrücke, desto mehr Ausgedehntheit, desto mehr
Kompliziertheit habe ich geschaffen; und je höher die Kompliziertheit
ihrerseits wächst, desto bewunderungswürdiger dünkt mich die
Ordnung, die unerschütterlich fortfährt, zwischen den Elementen zu
herrschen. Dennoch bedeuten weder diese Kompliziertheit noch diese
Ausgedehntheit etwas Positives: sie sind nur Ausdruck für das Aussetzen
des Willens“.


Was der geistreiche Intuitionsphilosoph als unwillkürliche Erschlaffung
ansieht, wird für den analysierenden Beobachter gerade die umgekehrte
Bedeutung bewußter Energie-Anspannung und aufmerksamen
Erkenntniswillens haben. Der Beobachter steht allerdings nicht unter
dem persönlichen zwingenden Eindruck des Dichters, durch dessen
Vortrag er das Werk wie im Zustand des Entstehens entgegennimmt,
sondern er sieht allein das fertige Werk vor sich und sucht in ihm
den Dichter. Er springt aus dem Strom, der ihn mitreißt, heraus ans
Ufer und betrachtet von einem festen Standort aus das Spiel der
Wellen. Er verlangsamt sogar die Bewegung, indem er der einzelnen
Welle mit dem Blick folgt, so daß ein Eindruck in ihm entstehen
kann, wie er bei mächtigem Eisgang zu gewinnen ist, als werde der
Betrachtende getrieben und der Strom stehe still. So kommt eine
Beobachtung mit der Zeitlupe zustande, die die flüchtigen Phasen
der Bewegung auseinanderzieht und die Einzelheiten des Zusammenspiels
festhalten läßt.


Wenn die analytische Zerlegung von außen nach innen strebt, so
sind die Strukturelemente, deren sie gewahr wird, sowohl inhaltlicher
als formaler Natur. Stoff und Form haben zunächst ihre Existenz
außerhalb des individuellen Kunstwerkes. Indem sie zu dessen Aufbau
herbeigerufen werden und der Vereinigung zustreben, werden
sie in aufsteigender Linie verpersönlicht, verinnerlicht und vergeistigt.
Es bilden sich zwei Stufenreihen, eine stoffliche und eine formale,
die in gegenseitiger Annäherung nebeneinander hergehen, um schließlich
eine gemeinsame Spitze zu finden. Ihr Treffpunkt ist die Idee.
Zur inhaltlichen Reihe gehören die Zwischenglieder: Situation, Fabel,
Charaktere, Motive, Probleme; ihnen entsprechen auf der formalen
Seite: Gattung, Technik, Psychologie, Sprachform, Stil. Zwischen
diesen beiden Stufenreihen, die wie Strebepfeiler von außen aufsteigen,
kann aber noch eine innere Säule gesetzt werden, deren
Tragkraft die Vermittlung herstellt; sie bedeutet subjektive Aneignung
des Stoffes und objektive Bewältigung der Form innerhalb der Seelenlage
des Schaffenden. Hier reihen sich alle die Elemente aneinander,
in denen Charakter, Wille und Wesensart des Dichters, selbst wenn |#f0135 : 111|

er sich nicht nennt und unbekannt bleibt, zu suchen und zu erkennen
sind. Ich nenne ihre Glieder: Stimmung, Absicht, Selbstdarstellung,
Wirklichkeitsauffassung, Weltanschauung. Auch diese Reihe strebt
zur Idee hin und geht in ihr auf. Schon Goethe hat den Gehalt
zwischen Stoff und Form gestellt in dem Spruch der „Maximen und
Reflexionen“: „Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet
nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form ist ein Geheimnis
den meisten.“ Wenn Walzel dagegen im Wort „Gehalt“, dem er die
„Gestalt“ als zweite Seite des Kunstwerks gegenüberstellt, das Stoffliche
und Inhaltliche zusammenfaßt, so gehört noch ein drittes Reimwort
dazu, das Friso Melzer eingeführt hat, nämlich Gewalt. In dieser
innerlichen Entwicklungsrichtung wirken die schaffenden Kräfte und
liegen die seelischen Wirkungsmöglichkeiten der Dichtung; sie sind
als die eigentliche Mitte ihrer Existenz zu betrachten.


Das Schema, das für die Aufgaben der Analyse richtunggebend sein
soll, wäre demnach folgendes pyramidenförmige Gebilde, das von
der Basis aus zu betrachten ist:


[Abbildung]

7. Geist Idee
6. Persönlichkeit Probleme──Weltanschauung──Stil
5. Verknüpfung Motive──Wirklichkeitsauffassung──Sprachform
4. Gestaltung Charaktere───-Selbstdarstellung───-Psychologie
3. Plan Fabel──────Absicht──────Technik
2. Innere Form Situation──────Stimmung──────Gattung
1. Grundriß Stoff───────Dichter (Erlebnis)───────Form


Von außen als Leser an ein Werk herantretend, finden wir schon
auf dem Titelblatt die drei Grundbegriffe Stoff, Form und Dichter
vereinigt, z. B. „Iphigenie auf Tauris, Schauspiel von Goethe“. Der
Name des Dichters, in dem sich in der Regel der Zusammenhang mit
einer ganzen Reihe anderer Werke herstellt, kann indessen unbekannt
sein; er ist auch für eine Betrachtung, die sich ausschließlich in das
einzelne Werk vertieft, unwesentlich. In der mittleren Säule wird
erst mit dem Begriff der „Stimmung“ auf ein analysierbares persönliches
Element der Dichtung gestoßen.


Da es bei der Analyse darauf ankommen muß, die Zusammenhänge
zu sehen, statt sie auseinanderzulösen, verzichte ich darauf, die formale,
seelische und stoffliche Kategorie getrennt zu behandeln. Statt
jede der drei vertikalen Reihen für sich im Aufstieg ihrer Glieder zu |#f0136 : 112|

verfolgen, hat es seinen Vorzug, die einzelnen Stufen horizontal zu
durchmessen, weil die notwendig begriffliche Klärung durch die
Wechselwirkung zwischen den inhaltlichen und formalen Kategorien
erleichtert wird. Ich wähle also, um vom Stoff zur Idee zu gelangen,
den Weg, den das Schema in den durchgehenden Verbindungslinien
andeutet. Bei jedem Haltepunkt wird vor den Beispielen eine Klarstellung
des Begriffs in Auseinandersetzung mit gebräuchlichen Anwendungen
sich als notwendig erweisen. Eine eindeutige Handhabung
der Terminologie ist Voraussetzung jeder Analyse; gerade in der
Anwendung von Bezeichnungen wie Stoff, Erlebnis, Technik, Motiv,
Stil und Idee hat die Dichtungslehre bis jetzt eine ziemliche Willkür
und Verwirrung aufkommen lassen, die jedem folgerichtigen Vorgehen
im Wege steht.


2. Erste Stufe: Grundriß

a) Stoff und Erlebnis


Die erste Frage ist, ob Stoff und Form an sich existieren, und zwar
außerhalb oder innerhalb des Kunstwerkes oder ob sie nicht bloß
als heuristische Hilfsbegriffe zu betrachten sind. Schon beim Wort
Stoff beginnt die Unsicherheit schwankenden Gebrauchs. Wenn in
einer Sammlung „Stoff- und Motivgeschichte“ der „Wald“ als Stoff
der Dichtung betrachtet wird, so könnte man im Zweifel sein, ob
er nicht besser als Erlebnis oder als Motiv oder gar als Stimmung
aufgefaßt würde, weil er einen Schauplatz, aber kein Geschehen darstellt.
Dem Stoff liegt immer eine einmalige Begebenheit zugrunde,
der erst durch künstlerische Darstellung allgemeine Bedeutung verliehen
wird. Die Eignung zu symbolischer Sinngebung macht die
Begebenheit zum poetischen Stoff.


Um ein paar voneinander abweichende Definitionen zu nennen,
so ist der Stoff für Walzel „das, was vor dem Kunstwerk vorhanden
war und neben ihm bestehen bleibt“; für Petsch ist es nicht mehr
der Rohstoff, wie ihn der Dichter aus seiner „Quelle“ bezieht oder
im eigenen Leben „erfährt“, sondern der bereits vorgeformte, symbolfähige
Inhalt; für Hefele steht der Stoff mitten zwischen Erlebnis
und Gestaltung; ebenso bedeutet er für Schultze-Jahde das „im Ausdruck
gegebene Erlebnis, das ursprünglich ohne Ausdruck im Vorausdrucksstadium
existierte“; dagegen ist der Stoff für Ermatinger
der Gegenstand eines Erlebnisses; er geht also diesem voraus; aber
zugleich bedeutet er eine Gruppe von Inhaltsteilen im Dichtwerk und
wird gleichgesetzt mit der Welt der Motive. Damit sind drei oder vier |#f0137 : 113|

verschiedene Stadien der Stoffverarbeitung gekennzeichnet, und von
diesen sich widersprechenden Auffassungen ist keine voll befriedigend.
Zur ersten ist zu bemerken, daß es einen ungestalteten Stoff kaum
gibt; man kann ihn höchstens in Zeitungsnachrichten finden, aus
denen sich Ibsen gelegentlich inspirieren ließ, oder in gesellschaftlicher
chronique scandaleuse, aus der Fontane zu schöpfen liebte;
diese Art Stoff lebt nicht neben dem Kunstwerk weiter. Aber schon
das bloße „Memorabile“, das nichts weiter als Stoffübermittlung ist,
wird von André Jolles zu den „einfachen Formen“ gerechnet, und
sein Schüler Otto Görner konnte nun den Weg „vom Memorabile zur
Schicksalstragödie“ verfolgen.


Jede geschichtliche oder sagenhafte Begebenheit, die der Dichter
aufgreift, tritt ihm bereits gestaltet entgegen, sei es in mündlicher
Überlieferung oder in Schrift und Druck. Häufig, besonders im
Drama, ging die Anregung sogar bereits von einem literarisch geformten
Werk aus, wie z. B. für Goethes „Faust“ vom Puppenspiel, das
bis auf Marlowes Drama zurückzuführen ist, oder für Schillers „Don
Carlos“ von der Novelle des St. Réal. Diese Texte bestehen allerdings
neben Goethes und Schillers Dichtungen weiter, aber nicht als Stoff,
sondern als Puppenspiel und Novelle. Stoff wurde diese bereits geformte
Sage oder Geschichte für den Dichter selbst erst in dem Augenblick,
als er den Reiz empfand, ihr eine neue eigene Form zu geben.
Sobald seine Phantasie mit diesen Möglichkeiten spielt, beginnt bereits
die persönliche Umformung des zuvor von anderen Geformten.


Nach dieser Vorformung setzt erst das Quellenstudium ein, bei
Goethe mit Benutzung der Volksbücher, bei Schiller mit Heranziehung
geschichtlicher Darstellungen. Aber man kann nicht mit Petsch diese
Quellen als Rohstoff bezeichnen, denn auch sie sind bereits geformt:
in der französischen, spanischen, englischen Geschichtsschreibung tritt
das Schicksal des Don Carlos in ein völlig verschiedenes Licht; die
einen sind Ankläger, die anderen Verteidiger des Vaters, der über
seinen Sohn und Erben furchtbares Gericht hielt. Die stofflichen
Quellen sind also für den Dichter nichts anderes als das Aktenmaterial
eines Prozesses; der Stoff ist eine schon lange anhängige Sache, die
den Dichter zu eigenem Urteilsspruch auffordert. Er ist dazu berechtigt,
wenn er, wie Ibsen sagte, in der Dichtung Gerichtstag über sich
selbst hält. Das tat Goethe, indem er Faust entgegen aller stofflichen
Überlieferung zur Erlösung führte; das tat Schiller, indem er im Verlauf
der Arbeit den jugendlichen Sturm- und Drang-Helden, in dem
er sich selbst fühlte, hinter der überlegenen Gestalt des reifen Freundes
zurücktreten ließ, einer Gestalt, die in der novellistischen Quelle |#f0138 : 114|

nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt und in den geschichtlichen
Quellen überhaupt nicht vorkommt, also dem vor der Dichtung
existierenden Stoffe streng genommen gar nicht angehört.


Wenn man allerdings mit Ermatinger das Aggregat von Motiven,
das in der Dichtung verknüpft ist, als Stoff bezeichnen will, dann
müßte der Hauptträger des Motivs der sich aufopfernden Freundschaft
Marquis Posa zum Stoff des „Don Carlos“ gerechnet werden,
obwohl er erst aus Schillers eigenen Freundschaftserlebnissen und aus
den Problemen seiner politischen Gefühlswelt zur bedeutenden Rolle
herangewachsen ist.


Die Ermatingersche Definition ist von Beispielen der Lyrik hergeleitet,
und die Lyrik weist wohl Motive auf, aber keinen von außen
herangetretenen, bereits in irgendeiner Weise geformten Stoff. Nur
bei der Ballade und allenfalls beim Rollenlied und Bildgedicht (also
bei Arten, die sich von der reinen und unmittelbaren Empfindungslyrik
in der Richtung zum Drama oder Epos entfernen) kann man
von einer Anregung durch fremde Überlieferung sprechen; die individuelle
oder kollektive Gefühlslyrik aber hat statt des entlehnten
Stoffes das eigene oder allgemeine Erlebnis zur Grundlage; sie hat
also ihren Ansatzpunkt im Innern und setzt an die Stelle der Handlung
den seelischen Zustand. Motivverbindung gibt es in beiden
Fällen, sowohl im Erlebnis als im überlieferten Stoff, aber es ist
wesentlich, daß bei der Stoffentlehnung der pragmatischen Dichtungsgattungen
(Epos und Drama) die Motive in persönlicher Gestaltung
verändert werden, während sie in der stofflosen Lyrik als erlebte
Urbilder sich erhalten und offenbaren.


Gibt das unmittelbare Erlebnis von innen heraus der reinen Lyrik
ihre Motive, so wird es damit zu deren Stoff, während bei den anderen
Gattungen der von außen her überlieferte Stoff erst zum Erlebnis
werden muß, damit er gestaltet werden kann.


Was Ermatinger als Stofferlebnis bezeichnet, das kann in der Tat
auf Verschmelzung einer von außen herantretenden Überlieferung mit
inneren Erfahrungen beruhen. Dabei können sowohl verschiedene
Erlebnisse mit einem Stoff sich kreuzen, als verschiedene Stoffe mit
einem Grunderlebnis zusammentreffen. Für das erste wäre ein Beispiel
die Entstehung von Goethes „Clavigo“. Die Memoiren des
Beaumarchais, die das ritterliche Eintreten für die Ehre der Schwester
gegenüber dem treulosen Spanier in Szene setzten, packten Goethe
an zwei Punkten seiner damaligen Seelenlage: es wurde sowohl an
das Erlebnis eigener Treulosigkeit gegenüber Friederike Brion gerührt
als an das brüderliche Verantwortungsgefühl für die Ehre der eigenen |#f0139 : 115|

Schwester Cornelia. Man kann sagen, ohne diese beiden erlebnismäßigen
Berührungspunkte hätte Goethe keinen „Clavigo“ geschrieben,
auch wenn ihn das Gesellschaftsspiel zur schnellen Fertigung
eines Dramas verpflichtete.


Das umgekehrte Beispiel des Zusammentreffens mehrerer, auf verschiedenen
Ebenen gelagerter Stoffe mit einem Grunderlebnis gibt
uns ein lebender Dichter, Friedrich Bethge, in der Vorrede seines
Schauspiels „Marsch der Veteranen“. Von den stofflichen Quellen,
deren Zusammenfließen der Dichter beobachtete, war das eine der
Zeitungsbericht vom Hungermarsch nach Washington, den ehemalige
amerikanische Kriegsteilnehmer im Frühjahr 1932 unternahmen; das
andere war eine Episode im Roman „Tote Seelen“ von Gogol, nämlich
die Erzählung von dem Hauptmann Kopejkin, der im Kriege gegen
Napoleon Arm und Bein verlor und in Petersburg, wo er vom Väterchen
Zar Hilfe hoffte, Woche für Woche mit den Worten „Komm
wieder!“ vertröstet wird. Von den beiden Quellen, dem zeitgeschichtlichen
Rohstoff und dem bereits literarisch geformten Geschichtsbild,
kann man das eine als Erlebnisstoff, das andere als Stofferlebnis bezeichnen.
Der Verfasser erzählt, wie mit der zufälligen Gogol-Lektüre
im Augenblick, wo die Dramatisierung des so ähnlich gelagerten
Stoffes der amerikanischen Veteranen geplant war, die Entscheidung
fiel, das Thema um des zeitlichen und künstlerischen Abstandes willen
ins napoleonische Rußland zu verlegen. Während für die Zeichnung
der Petersburger Gesellschaft um 1812/13 Tolstois „Krieg und Frieden“
als Quelle dienen konnte, wurde aus dem amerikanischen Generalstabschef
ein ehemaliger preußischer Offizier der Armee Friedrichs
des Großen, der dem korrupten russischen Staat das preußische
Maß entgegenzuhalten hat. In dieser Gestalt und ihrer Tendenz hat
nun das eigene Kriegserlebnis des Verfassers auf Bildung der Fabel
Einfluß gewonnen. Ohne die zu einer Weltanschauung verfestigte
Erlebnisgrundlage, die in der eigenen Kriegserfahrung des mehrmals
verwundeten Frontkämpfers und in der bitteren Erfahrung des geringen
Dankes der Heimat beruhte, hätten die beiden parallelen Stoffe
nicht wie ein Stück eigenen Schicksals gestaltet werden können. Derselbe
Dichter gibt in der Vorrede seines früheren Kriegsdramas
„Reims“ eine Selbstanalyse, die das Zusammentreffen eines aus Zeitungsnachrichten
geschöpften Stoffes mit dem eigenen Fronterlebnis
darstellt und die Übertragung der Fabel vom italienischen auf den
französischen Kriegsschauplatz und von der österreichischen auf die
deutsche Armee begründet.


Wie aber soll analytisch aus solcher Verquickung das Erlebnis herauszulösen |#f0140 : 116|

sein, ohne daß man von dem Leben des Dichters weiß
oder sogar Selbstzeugnisse zur Verfügung hat, wie sie Bethge gibt
oder wie sie in „Dichtung und Wahrheit“ für den Erlebnisgehalt der
Goetheschen Jugendwerke zu finden sind? Die Analyse bietet zwei
Möglichkeiten:


Der eine Weg, zur Person des Dichters und zu seinem Erlebnis
zu gelangen, ist der rationale, der vom Stoffe ausgeht und die Verschmelzung
zwischen Stoff und Erlebnis wieder aufzulösen sucht. Was
nach Ausscheidung des stofflich Überlieferten übrig bliebe, wäre das
Erlebte. Sogar das, was der Dichter selbst ausgeschieden hat, kann,
insofern es zu seinem Erlebnis im Widerspruch stand, Rückschlüsse
auf dieses erlauben. Wenn Goethe dem geschichtlichen Egmont, der
verheiratet und Vater von neun Kindern war, sein eigenes Lebensalter
gab und ihn zum Liebhaber Clärchens machte, so hat ihm Schillers
Kritik die Preisgabe rührender Situationen und Konflikte des
Familienvaters zum Vorwurf gemacht; Goethe hätte aber hier schon
wie später gegenüber Schillers Bühnenbearbeitung sich selbst behaupten
können mit Clärchens Worten „Dieses ist mein Egmont.“ Fleisch
von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut! Man braucht durchaus
nicht dem Verhältnis zu einem Offenbacher Mädchen Lotte Nagel
nachzuspüren, um herauszufühlen, was in Egmonts Charakter Selbstdarstellung
und Erlebnis Goethes ist.


Der andere, irrationale Weg würde dahin führen, das persönlich
Erlebte mit phänomenologischer Intuition zu erschließen aus der
existentiellen Kraft, aus der Gefühlswärme und Eindringlichkeit der
Darstellung, aus der Originalität und überzeugenden Lebenswahrheit
der Motive und aus einer zentralen Stellung des damit verbundenen
Problems im Gesamtwerk. Wir spüren nicht etwa dem Erlebten aus
irgendwelcher Neugier um die Privatverhältnisse des Dichters nach,
sondern es drängt sich uns durch seine Echtheitswirkung auf. Wenn
nun Stimmungsgehalt und Lebensgefühl sich vom Werk auf den Leser
übertragen, so muß die Frage auftauchen, ob nicht gerade das, was
im Empfangenden als stärkstes Erlebnis sich einprägt, rückschließend
auch als das stärkste Erlebnis des Schöpfers betrachtet werden darf.
Wenn Dichtung Gestaltung eines Erlebnisses ist, so wird sie wiederum
zum Erlebnis einer Gestaltung. Damit ist eine gewisse Wiederholung
des Schöpfungsvorganges vollzogen, die aber höchstens ein rückläufiges
Analogon, niemals eine Identität bedeuten kann, wie ja auch
die Dichtung selbst, wenn wir Lugowskis Ausdruck anwenden wollen,
nur ein mythisches Anologon erlebter Wirklichkeit darstellt. Voraussetzung
der Analogie zwischen Schöpfer und einfühlendem Nachschöpfer |#f0141 : 117|

müßte zudem eine seelische Gleichstellung sein, deren man
nur sicher sein kann, wenn man den Dichter kennt. Goethe fand
einmal das Ideal tiefeindringenden Verstehens, als er dem Maler
Tischbein in Rom seine „Iphigenie“ vorlas. Er schrieb damals an
Charlotte von Stein: „Die sonderbare, originale Art, wie dieser das
Stück ansah und mich über den Zustand, in welchem ich es geschrieben,
aufklärte, erschröckte mich. Es sind keine Worte, wie fein
und tief er den Menschen unter dieser Helden Maske empfunden.“
Solches Einfühlen war vielleicht doch nur im Angesicht des Dichters
möglich. Und das Ergebnis lief hier, wie Goethe selbst fühlte, mehr
auf die Analyse des Menschen als der Dichtung hinaus.


Nun hat schon Goethe gesagt, daß erfahrungsgemäß das Was des
Kunstwerks die Menschen mehr interessiere als das Wie. Dieser Bevorzugung
des Inhalts leistet der Dichter selbst Vorschub, indem er
auch die Form in den Dienst der Anspannung eines stofflichen Interesses
beim Leser treten läßt. Schon der Titel ist ein Formelement,
das auf den Inhalt hinweist und wie das Aushängeschild eines Hauses
den Besucher mit Spannung erfüllt und anlockt.


Die Prägung des Titels, der nach Schopenhauer ein Monogramm
des Inhalts ist, wird zum ersten Gegenstand der Analyse. Weist der
Titel auf Persönlichkeiten und Ereignisse der Geschichte, so sind
damit schon die räumlichen und zeitlichen Koordinaten des Stoffes
festgelegt; enthält er eine persönliche Beziehung („Meine Blumen“),
so gibt er ein Stück Situation und Selbstdarstellung; greift er Namen
aus Mythen und Sagen auf, so ist damit wenigstens eine räumliche
Bestimmung gegeben; weist er auf raum- und zeitlose Parabeln und
Legenden, so werden Motive bezeichnet, die symbolische Bedeutung
für Fabeln der Vergangenheit oder Gegenwart haben können (z. B.
„Der verlorene Sohn“ oder „Maria Magdalena“); ebenso können
Charaktere („Der Geizige“, „Der Verschwender“, „Der Schwierige“)
durch den Titel in den Vordergrund gestellt werden. Sind Konflikte
von Schicksalsmächten durch Gegenüberstellung von Abstraktionen
gekennzeichnet („Kabale und Liebe“, „Glaube und Heimat“), so ist
der Titel die Aufrollung eines Problems, und schließlich kann er
(„Über allen Zauber Liebe“) sogar die Idee eines Stückes bezeichnen.
So kann dieses Formelement bereits auf alle Glieder der inhaltlichen
Reihe vordeutend hinweisen. Nur für die Stofflosigkeit der Lyrik ist
es charakteristisch, daß viele Gedichte überhaupt keine Überschrift
finden und daß, wenn sie zu einem Zyklus vereinigt werden, der Titel
eher einer formalen als einer inhaltlichen Beziehung sich anpaßt
(Romanzero, Geharnischte Sonette, Duineser Elegien).

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Wir müssen dabei bleiben, daß, wenn die Dichtung überhaupt einen
Stoff hat, dieser in einer zunächst außerhalb von ihr gelegenen Überlieferung
besteht. Sie wird an den Dichter herangetragen oder von
ihm aufgefunden und bietet ihm eine lockende Gelegenheit, eine Aufforderung,
eine Frage nach der Möglichkeit der Gestaltung. Sobald
er sie aufgegriffen hat, ist sie sein Erlebnis geworden, und er spiegelt
sich selbst in ihr; nun beginnt die persönliche Formung, und damit
ist die Eigenexistenz des Stoffes vorbei. Die sogenannte Stoffgeschichte
ist nichts anderes als das Grundbuchamt der Literatur, das
jede Aneignung und Inbesitznahme verzeichnet. Der Stoff gleicht dem
Baugrund, der sich in seiner eigentlichen Beschaffenheit dem Blick
entzieht, sobald ein Bau darauf entstanden ist. Gleichwohl behält das
Haus seine Bezeichnung nach dem Grundstück, auf das es gesetzt
wurde.


b) Form


Wenn Stoff und Erlebnis innerhalb der Literaturgeschichte nur in
Beziehung auf Dichtungen, deren Gestaltungsgrundlage sie geworden
sind, Sinn und Bedeutung haben, so bedeutet die Form zunächst
auch nichts anderes als Gestaltungsmöglichkeit im Sinne einer Aufgabe.
Die Definitionen des Begriffes Form sind noch weit vielfältiger
und widerspruchsvoller als die des Stoffes. Meist laufen sie darauf
hinaus, daß die Form untrennbar vom Gehalt sei und nichts anderes
als die gegenständlich faßbare Oberfläche, die sinnlich wahrnehmbare
Erscheinungsweise des Innern, ja sogar nur den „Atem des Inhalts“
(Hefele) darstelle. Sie wäre danach ein ganz einmaliges, dem einmaligen
Gegenstand entsprechendes Gebilde. So hat auch Aug. Wilh.
Schlegel in der Form „die sprechende durch keine störende Zufälligkeiten
entstellte Physiognomie jedes Dinges, die von dem verborgenen
Wesen ein wahrhaftes Zeugnis ablegt“, sehen wollen. Aber gerade
dieser Formkünstler, der Dichten mit Übersetzen gleichstellte, hat
seinen Inhalt, an dem nicht viele Tiefen zu verbergen waren, eher
durch die äußere Gestaltung bestimmen lassen als umgekehrt. Hat er
doch Sonette gedichtet, deren Thema die Form des Sonettes war.
Nicht anders ist es mit Virtuosen des Formspiels, wie Friedrich
Rückert, gewesen. Wiederum hat bei Stefan George und seinem Kreis
die Form eine metaphysische Bedeutung, wie sie auch aus Goethes
Wort „Jede Form, sie kommt von oben“ herausklingt.


Erfahrungsgemäß ist nicht zu leugnen, daß es objektive Formen
gibt, die zwar nicht ohne füllenden Gehalt und Gegenstand in Erscheinung
treten können, die aber in einer begrenzten Zahl von |#f0143 : 119|

Typen sich registrieren lassen. Dahin gehören sprachliche, rhythmische,
strophische Gebilde von fester Prägung, die, soweit es möglich
ist, aus einer Sprache in die andere übernommen werden, gattungsmäßige
Typen der Gliederung und des Aufbaus, kurz alles, was in
den Kapiteln der Poetik, Metrik und Stilistik geregelt ist und was
die einzelnen Glieder der formalen Reihe unseres Schemas bildet.


Stoff und Form als Möglichkeit und Aufgabe bedeuten in ihrer
ersten lockeren Vereinigung durch den Dichter so viel wie den Bauplan
seines Werkes vor der Ausführung. Wenn in der fertigen Dichtung
von diesem Grundriß so wenig zu erblicken ist, wie bei einer
ausgeführten Architektur, so strebt trotzdem die Strukturanalyse in
beiden Fällen nach Erkenntnis der flächenhaften Projektion. Hat es
aber Sinn, die Beschaffenheit des Bodens festzustellen, der den Bauplan
bedingte, oder gar die Erdarbeiten und Bodenveränderungen zu
verfolgen, die dem Bau vorausgehen mußten? Nichts anderes bedeutet
ein Quellenstudium, das die Beschaffenheit der stofflichen Grundlagen
ermittelt, um die mit ihnen vorgenommene Umformung zu erkennen.
Es ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, der Dichtung
näherzukommen und in ihre Eigenart einzudringen. Die Beobachtung
der selbständigen Veränderungen, die an der Überlieferung vorgenommen
wurden, ist, wie wir sahen, das erste Verhältnis zur Person des
Dichters, zu seiner Auffassung und Arbeitsweise, das auf analytischem
Wege gewonnen werden kann.


Die zweite, auf Stoffuntersuchung beruhende Methode ist die der
Gegenüberstellung mit anderen Behandlungen des gleichen Gegenstandes.
Nicht die öde Vollständigkeit von Titeln und Inhaltsangaben,
die eine überlebte Stoffgeschichte anhäufte, kann der Analyse einer
einzelnen Dichtung förderlich sein, wohl aber ein durchgeführter
Vergleich, wie er eigentlich jedesmal nur zwischen zwei Werken vorgenommen
werden kann, wenn ein tertium comparationis gegeben ist,
das in diesem Falle im gemeinsamen Stoff besteht. Manchmal ist das
zu analysierende Werk nur der Umbau eines anderen früheren, das
auf dem gleichen Boden stand, wie Kyds „Hamlet“, der durch Shakespeare
erdrückt wurde. Wenn jene Haupt- und Staatsaktion „Der
bestrafte Brudermord“, die die deutschen Wandertruppen von den
englischen Komödianten geerbt hatten, die entstellten Reste des sonst
verlorenen Kydschen Dramas überliefert, so gibt der Vergleich einen
wunderbaren Einblick in die Kunst Shakespeares; andernfalls ist er
ein erschütterndes Zeugnis dafür, wie eine große Dichtung auf dem
Theater zerspielt werden kann.


Manchmal stehen zwei Werke verschiedener Zeitalter und Stilarten |#f0144 : 120|

nebeneinander auf demselben Baugrund, und die Form der einen
Dichtung kann nicht treffender in ihren charakteristischen Wesenszügen
erkannt und gewürdigt werden als durch Vergleich mit der
anderen. So glaubte schon Schiller in seiner Anzeige von Goethes
„Iphigenie auf Tauris“ keinen besseren Weg zur Charakteristik der
modernen Dichtung zu finden, als die Gegenüberstellung mit dem
Drama des Euripides. Es war eine Methode, wie sie schon vorher
Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ an den Merope- und
Essex-Dramen durchgeführt hatte und wie sie nachher Aug. Wilh.
Schlegel in seiner französischen Schrift „Comparaison entre la Phèdre
de Racine et celle d'Euripide“ anwandte. Wie der Vergleich in diesen
Fällen der Kritik dient, die nach der einen oder anderen Seite die
Waagschale senkt, so kann er auch für eine objektive Analyse nutzbar
gemacht werden, namentlich wenn es sich um gleichwertige
Werke handelt, die zwar auf demselben stofflichen Boden stehen, aber
doch in ihrer Form durch ganze Welten getrennt sind.


Die Methode des einfachen Vergleichs wird verwickelter, wenn sie
mit Quellenstudium verbunden werden muß, wie es etwa bei den
beiden Rivalen Grimmelshausen und Zesen der Fall ist, deren Josefromane
sich zunächst einmal in den stofflichen Grundlagen unterscheiden,
dann wieder sich annähern, dadurch, daß Zesen nicht ganz
unabhängig von Grimmelshausen geblieben ist, und endlich ganz auseinandergehen
in Form und Stil. Dann zeigt sich erst richtig die
wechselseitige Beziehung von Stoff und Form, die alle vergleichende
Stoffbetrachtung letzten Endes doch auf nichts anderes als Formvergleich
hinauslaufen läßt.


3. Zweite Stufe: Innere Form
(Gattung ─ Stimmung ─ Situation)

a) Gattung


Von dem unbestimmten Begriff der Form führt der weitere Weg
zur Bestimmtheit der Gattung, die in Titel und Untertitel bereits
bezeichnet zu sein pflegt als Roman, Tragödie, Idylle oder Gedichtsammlung
und die auch in der äußeren Schriftform durch Akt- oder
Kapitelgliederung, durch Vers oder Prosa, durch dialogische oder
strophische Teilung zu erkennen sein wird. Trotzdem kann sowohl
die Titelgebung als der oberflächliche Augenschein des Schriftbildes
trügerisch sein: weder bei Dantes „Divina Commedia“ noch bei
Balzacs „Comédie humaine“ handelt es sich um Komödien; auch ist |#f0145 : 121|

nicht jedes Dialogstück ein Drama, nicht jede ungeteilte Versreihe
von großer Ausdehnung ein Epos, nicht jedes kurze Strophengebilde
ein Lied.


Die analytische Wesensbestimmung des Werkes hat nicht allein
die äußere Zuteilung zu einer bestimmten Gattung zu prüfen; es
knüpft sich weiter daran die Frage nach Erfüllung der inneren
Gattungsgesetze. Voraussetzung muß sein, daß es solche Gesetze
überhaupt gibt, und dieser Punkt ist umstritten. Die naturwissenschaftliche
Orientierung der Geisteswissenschaften hatte sich in der
Zeit ihrer größten Verblendung bis zu einer biologisch-entwicklungsgeschichtlichen
Betrachtung der Gattungen als selbständiger Lebewesen
verstiegen. Mit Geburt, Wachstum, Vollkommenheit, Herabsinken
und Tod waren sie durch Ferdinand Brunetière (1890) in den
Kampf ums Dasein hineingestellt worden. Eine geistesgeschichtliche
Modulation dieser Auffassung findet sich noch bei Ernest Bovet
(1911), der eine naturgegebene Reihenfolge von Lyrik, Epos, Drama
wie den Wechsel der Tageszeiten sich periodisch wiederholen lassen
wollte. Indessen sind für die Begünstigung einzelner Gattungen durch
bestimmte Zeitalter viel eher soziologische und allgemein kulturelle
Gründe maßgebend als irgendwelche in Wesen und Lebenskraft der
Gattungen selbst liegende Ursachen. Auf keinen Fall verläuft dieser
Wechsel des Übergewichts in allen Literaturen mit gleicher Regelmäßigkeit,
so daß man daraus eine in den Gattungen selbst beruhende
Gesetzmäßigkeit herleiten könnte.


Die Reaktion gegen den konstruktiven Historismus hat nun wieder
zur völligen Ableugnung jeglicher Gattungsgesetze geführt; in der
„Ästhetik“ von Benedetto Croce gibt es nur eine untrennbare Kunst
als Sprachausdruck des Menschen, und alle Grenzlinien zwischen den
einzelnen Künsten wie innerhalb jeder Kunst bedeuten einen Irrwahn
der Theoretiker. Einer Poetik freilich, die darauf verzichtet, als
streng philosophische Wissenschaft unbedingte Gültigkeit ihrer Begriffe
zu beanspruchen, vielmehr sich damit begnügt, orientierende
Hilfsbegriffe für historische Untersuchungen an die Hand zu geben,
will auch Croce Berechtigung zu Unterscheidungen lassen. „Empirische“
Gattungsbegriffe, die sich keinesfalls mit denen der herkömmlichen
Poetik decken dürfen, sondern der Kritik an tatsächlichen Dichtwerken
und dem wirklichen literarischen Leben entsprungen sind,
möchte er aus den Kategorien der Wertung und der Qualifikation
herleiten. Das führt auf der einen Seite zu Wertabstufungen, die von
der klassischen zur romantischen oder sentimentalen, zur impressionistischen
Dichtung und schließlich zur intellektualistischen, lehrhaften, |#f0146 : 122|

tendenzmäßigen Nichtdichtung herabführen, während auf der
anderen Seite Typen des dichterischen Schaffens und der Seelenzustände
ins Auge gefaßt werden wie tragisch, heroisch, verzweifelt,
geruhig, idyllisch oder großartig usw.


Wir werden diese Eigenschaften an anderen Stellen der Analyse,
bei den Begriffen des Stils und vorher schon bei dem der Stimmung
zu erfassen suchen; aber bei der Frage nach den Gattungsbegriffen
haben wir uns zunächst an rein formale Kennzeichen zu halten, ohne
daß wir Werte, Maßstäbe der Kritik oder Vorschriften für den
Schaffenden, wie sie in der alten Poetik allerdings üblich waren,
damit begründen wollen. Schließlich besitzt jede Sprache, auch wenn
ihre Ausdrucksfreiheit und Entwicklung keine starren Gesetze kennt,
eine Grammatik als regulatives Ordnungsprinzip. Subjekt, Prädikat,
Objekt sind Formen des sprachlichen Erlebnisausdrucks im Satz, wie
Lyrik, Drama und Epos in der Dichtung. Wenn man auch nicht mittels
der Grammatik sprechen lernt, so kommt man durch den Gebrauch
der Sprache mehr und mehr zum grammatischen Bewußtsein. Nicht
nur die Schulmeister, auch die Redner sichten die sprachlichen Ausdrucksmittel
in einem Ordnungssystem von Analogien. Nicht nur die
Theoretiker, sondern nicht weniger die Dichter selbst haben in Selbstbeobachtung
ihres Schaffens und Selbstüberlegung ihrer Wirkungsmöglichkeiten
nach ordnenden Grundsätzen innerhalb ihrer Kunst
gesucht. Wo solche Grundsätze und Erfahrungen auf das Schaffen
formgebend eingewirkt haben, wo das Kunstwerk selbst die Anwendung
dieser Grundsätze verrät, ist die Analyse zur Aufmerksamkeit
verpflichtet. Wenn ein Werk im Zeichen fester Gattungsbegriffe geformt
worden ist, so muß es auch in diesem Zeichen verstanden
werden.


Die Auseinandersetzung von Goethe und Schiller „Über epische
und dramatische Dichtung“ zur Zeit, da der eine an „Hermann und
Dorothea“, der andere am „Wallenstein“ arbeitete, ging von der
Stellung des Dichters zu seinem Gegenstand aus und sollte zu allgemein
gültigen Grundbegriffen führen, indem an dem Verhältnis
zwischen Rhapsoden und Mimen der Unterschied der Stoffvermittlung
und der Zeitform veranschaulicht wurde: der Rhapsode ist das Sprachrohr
des Epikers und trägt die Handlung als etwas Vergangenes vor,
während der Mime, das Sprachrohr des Dramatikers, sie als etwas
Gegenwärtiges darstellt. Daraus lassen sich alle Folgerungen für die
Zeitform ziehen, die im Epos unbegrenzte Ausdehnung des Rückblicks
haben kann, während sie im Drama durch die schlagartige Aufeinanderfolge
der Vergegenwärtigung beschränkt ist.

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Es fehlt bei dieser Gegenüberstellung der Ort der Lyrik, aber mittelbar
ist auch dafür eine Bestimmung gegeben. Die reine Lyrik hat die
vergegenwärtigende Darstellung mit dem Drama gemeinsam, aber sie
ist auf innere Vorgänge beschränkt; der Dichter bedient sich keines
mimischen oder rhapsodischen Sprachrohrs, keines Erzählers oder
Darstellers, sondern er spricht in eigener Person und stellt sich selbst
dar. Was die reine Lyrik vom Epos und Drama als den pragmatischen
Dichtungsarten unterscheidet, ist die Stofflosigkeit; sie hat deshalb
auch keine Zeitausdehnung, weder begrenzte noch unbegrenzte; an
Stelle der Handlung tritt bei ihr der seelische Zustand. Dafür hat die
Lyrik mit der Epik gemeinsam den monologischen Vortrag, wodurch
beide in Gegensatz zu der dialogischen Form des Dramas gebracht
werden. Die dialogische Form wiederum, bei der ein Wort das andere
gibt, steht im Zeichen der unaufhaltsam weiterschreitenden Zeit;
jedes Wort bedeutet einen Augenblick, der mit dem gesprochenen
Worte verrinnt; nur der Augenblick ist Gegenwart; der verflossene
Augenblick ist bereits Vergangenheit und kann nicht mehr zurückkehren.
Alles ist Bewegung und Tempo; es geht Schlag auf Schlag;
das Hin und Her der Worte ist der Taktschlag der fortrollenden
Gegenwart.


Jede der drei Grundgattungen hat also eine inhaltliche oder formale
Eigenschaft für sich allein, oder, wie man ebensogut sagen kann,
diese typischen Eigenschaften rechtfertigen eine empirische Trennung
der Dichtungsgattungen. Für die Lyrik ist es der Zustand, für die Epik
der Bericht, für das Drama der Dialog. Wiederum ist jede Gattung mit
einer der anderen durch etwas Gemeinsames verbunden, das für Epos
und Drama in der Handlung, für Drama und Lyrik in der Darstellung,
für Lyrik und Epos im monologischen Vortrag beruht. Das Verhältnis
der drei reinen Gattungstypen läßt sich also in einem gleichseitigen
Dreieck veranschaulichen, dessen Seiten jedesmal den Gegensatz zur
gegenüberliegenden Spitze bedeuten.


Aus diesem Schema sind ohne Mühe die drei Grundformeln abzulesen:



Epos: monologischer Bericht einer Handlung.


Lyrik: monologische Darstellung eines Zustandes.


Drama: dialogische Darstellung einer Handlung.


Zwischen diesen reinen Formtypen aber sind Zwischenstufen anzusetzen,
die in einer anderen Mischung derselben Urelemente
bestehen.


Zwischen Lyrik und Epos sind die Arten zu finden, deren Form
sich mehr oder weniger als monologischer Bericht eines Zustandes |#f0148 : 124|

charakterisiert: Elegie, Epistel, Vision, Idylle und lyrischer Roman.


Zwischen Epos und Drama bewegt sich der dialogische Bericht
einer Handlung: Rahmenerzählung, Briefroman, Dialogroman.


Zwischen Lyrik und Drama steht die dialogische Darstellung von
Zuständen: lyrisches Gespräch, Heroide, Kantate, dramatische Idylle,
lyrisches Drama.


Die Namen der hier aufgezählten Zwischengattungen entsprechen
im wesentlichen einem Register, das Goethe in den „Noten und Abhandlungen
zum Westöstlichen Divan“ unter der Überschrift „Dichtarten“
zusammengestellt hat. Im Zusammenhang damit war unter
der Überschrift „Naturformen der Dichtung“ der Wunsch ausgesprochen
nach einem Schema, das die „äußeren zufälligen Formen“ [Abbildung]
und die „inneren notwendigen Uranfänge“ in faßlicher Ordnung darbrächte.
Zu diesem Zwecke sollten die drei Hauptelemente in einem
Kreis einander gegenübergestellt werden, und dazu waren Musterstücke
zu suchen, wo jedes Element einzeln obwaltete; dann waren
Beispiele zu sammeln, die sich nach der einen Seite hinneigen, „bis
endlich die Vereinigung von allen dreien erscheint und somit der
ganze Kreis in sich geschlossen ist“.


Die Lösung der von Goethe gestellten Aufgaben habe ich schon vor
mehr als zehn Jahren in einem Aufsatz „Zur Lehre von den Dichtungsgattungen“
versucht, dessen Formulierung hier wiederholt sei.
In die Mitte des Kreises war eine hypothetische Urdichtung zu stellen,
die entsprechend der Goethischen Idee der Urpflanze die Elemente
aller Dichtungsgattungen keimartig in sich tragen soll. Goethe selbst |#f0149 : 125|

glaubte, wie ein Aufsatz in der Zeitschrift „Kunst und Altertum“
(1821) ausführt, in der Ballade, deren Vortrag alle drei Grundarten
der Poesie in Anspruch nimmt, die ursprünglichste Naturform erblicken
zu dürfen, „weil hier die Elemente noch nicht getrennt,
sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind“. Es gibt
indessen noch eine Reihe weiterer „einfacher Formen“, wie sie André
Jolles genannt hat; deshalb ordne ich die Vorstufen reiner Gattungs- [Abbildung]
formen in einem inneren Kreis, der die Ballade mit epischem Lied,
Märchen, Totenklage, Mimus, chorischem Wechselsang, Hymnus, Liebesgruß,
Tanzlied, Gebet, Zauberspruch, Arbeitslied gleichstellt. Als
äußeren Ring aber lege ich um den Kreis der formell ausgeprägten
Dichtungsarten noch eine Reihe von Erscheinungsformen, bei denen
Phantasie und Mittel poetischer Gestaltung aufgeboten sind für
Zwecke, die außerhalb des dichterischen Erlebnisses liegen: für theoretische |#f0150 : 126|

Gedankenentwicklung, Belehrung moralischer, theologischer
oder geschichtlicher Art, sowie Huldigung oder Kritik und Polemik.
Statt des von Goethe erwarteten einfachen Kreises, der zugleich „die
äußeren zufälligen Formen und die inneren notwendigen Uranfänge“
darbieten sollte, ergibt sich dann ein teils entwicklungsgeschichtlich,
teils systematisch geordnetes Gebilde von drei konzentrischen Ringen.


Dieses Rad, in dem die drei festen Grundformen als Speichen
erscheinen, veranschaulicht in seiner Drehung alle möglichen Übergänge
und Wandlungen, so daß es als Kompaß für eine der Analyse
dienenden Orientierung unter den Gattungsrichtungen zu benutzen
ist. Die Bewegung von der Lyrik über das Epos zum Drama hin bedeutet
ein allmähliches Zurücktreten der Person des Dichters; im
Gang vom Epos über das Drama zur Lyrik entschwinden allmählich
die stoffartigen Elemente; die Folge von Drama, Lyrik, Epos dagegen
läßt die Vergegenwärtigung des Dargestellten sich verlieren.


Die Beispiele für jede der eingezeichneten Zwischenstufen sind
leicht zu finden. Als eine sowohl nach der lyrischen als nach der
epischen Seite ausschlaggebende epische Gestaltung kann Goethes
„Werther“ gelten, der in dem Zustandsbericht des ersten Teiles, in
dem die Naturstimmungen überwiegen, als lyrischer Roman betrachtet
werden darf, während im zweiten Teil der Icherzählung, je näher die
Katastrophe rückt, sich die dramatischen Spannungsmomente mehren.
Icherzählung kann sich schließlich noch weiter der dramatischen Form
nähern, wenn sie den Vergangenheitsbericht ganz in Vergegenwärtigung
seelischer Vorgänge verwandelt, wie das in der Form der sogenannten
„erlebten Rede“ bei Arthur Schnitzler („Leutnant Gustl“
und „Fräulein Else“) geschehen ist.


Mit der Rahmenerzählung ist die monologische Form aufgegeben;
es beginnt der Dialog, indem es nicht bei einem Erzähler bleibt,
sondern die Berichterstattung in eingelegten Icherzählungen wechselt.
Die Briefromane Richardsons sind von Goethe bereits als dramatisch
bezeichnet worden, weil sie unter Ausschaltung des epischen Erzählers
den einzelnen Personen das Wort erteilen. Die Dialogromane des
Sturm und Drang, z. B. A. G. Meißners „Alkibiades“, gehen noch
weiter, indem sie die wechselnden Reden sogar mit eingelegten szenischen
Bemerkungen begleiten. Endlich hat, was als „dramatisches
Gemälde“ bezeichnet wird, etwas von dialogisierter Erzählung an
sich, insofern die Milieudarstellung das dramatische Tempo verschleppt,
wie es nicht nur bei Ifflandschen Familienstücken, sondern
auch im Drama des Naturalismus (Holz und Schlaf, Familie Selicke;
Hauptmann, Ein Friedensfest) der Fall war.

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Jenseits vom Grundtypus des Dramas liegen die lyrischen Dramen,
in denen das stimmungausschöpfende Verweilen nicht durch psychologisierende
Milieudarstellung, sondern durch melodischen Ausdruck
seelischer Zustände herbeigeführt wird, z. B. in Singspielen und in
musikalisch empfundenen Szenen wie den kleinen Dramen Hofmannsthals.
Zu den dialogisierten Idyllen sind die Schäferspiele zu rechnen.
Von „Gesprächen in Liedern“ als eigenem „poetischen Genre“ sprach
Goethe 1797 in einem Brief an Schiller, als er auf Anregung eines
Singspieles von Paesiello, die Situation der schönen Müllerin mit
einem Zyklus lyrischer Dialoge umspinnen wollte (Der Edelknabe und
die Müllerin, Der Junggesell und der Mühlbach, Der Müllerin Reue).
Das Monodrama war eine durch Rousseaus „Pygmalion“ ins Leben
gerufene lyrische Soloszene in dramatischer Situation. Das Rollengedicht,
das seinen Handlungshintergrund in mythologischer oder
geschichtlicher Stoffwelt hat, gibt die theatralische Szenerie auf; es
kann entweder eine mehr dramatische Haltung einnehmen, wie
Goethes Prometheusode in freien Rhythmen, oder eine mehr lyrische
wie Schillers „Klage der Ceres“ oder Bérangers „Les adieux de Marie
Stuart“ in Liedstrophen.


Über die lyrische Grundform hinaus geht der Zyklus (Goethes
„Römische Elegien“), der von der reinen Zustandsdarstellung bereits
eine Entwicklung zu der episch berichteten Erlebnisfolge hin einschlägt.
Noch mehr gehen die Episteln, sowohl die des Horaz als die
Goethes, von der Darstellung zum Bericht über. Die Vision endlich
als Zustand verzückter Schau, die in epischer Form berichtet wird,
steht zwischen Lyrik und Epos mitten inne; Dantes „Divina Commedia“
ist das größte Beispiel dieser Zwischengattung. Die epische
Idylle aber, wie sie bei Theokrit und Vergil im Altertum, bei den
arkadischen Schäfereien der Barockzeit und im 18. Jahrhundert bei
Geßner, Voß, Maler Müller zu finden ist, verhält sich zum Epos wie
das dramatische Gemälde zum Drama.


Wenn sich die Zahl der aufgeführten Arten auch vermehren läßt,
so können alle weiteren Bezeichnungen irgendwo unter den Zwischenstufen
eingefügt werden. Nur die Wirkungsarten der Dichtung wie
tragisch und komisch, rührend und erhebend, feierlich und niedrig,
pathetisch und sachlich, ebenso die Wirklichkeitsbeziehungen phantastisch,
idealistisch, realistisch, naturalistisch, die gesellschaftlichen
Klassenbestimmungen wie höfisch, bürgerlich, sozial, die metrischen
Formen wie Sonette und Disticha oder die Stilwerte klassisch, romantisch,
impressionistisch, expressionistisch können zur Kennzeichnung
der Arten in diesem Schema keinen Platz finden. Deshalb sind bei |#f0152 : 128|

der Grundform des Dramas keine Unterschiede zwischen Tragödie,
Komödie oder Tragikomödie gemacht, so wenig als Versepos und
Roman, Volksepik und komische Epopöe, Bildungsroman und Abenteuerroman,
Novelle und Anekdote oder bei der Lyrik geistliches und
weltliches Lied unter diesem Gesichtspunkt getrennt werden können.


b) Stimmung


Die Wirkungsarten erreicht erst der nächste Schritt, bei dem die
Stimmung des Werkes sich der Analyse darstellt. Dieses Wort besagt
ungefähr dasselbe, was bei genetischer Betrachtung als „innere Form“
betrachtet wird. Die einheitliche Grundstimmung, die der Tonart des
Musikstückes und dem Kolorit des Gemäldes gleichkommt, ist die
wahrnehmbare Erscheinung der inneren Form einer Dichtung. Der
junge Goethe, der diesen Begriff von Shaftesbury übernahm, spricht
von einer gefühlsmäßigen Erfassung dessen, was nicht mit Händen zu
greifen ist. „Unser Kopf muß übersehen, was ein andrer Kopf fassen
kann; unser Herz muß empfinden, was ein anderes fühlen mag.“


Das Erfühlen der Grundstimmung bedeutet nicht nur ein erstes
Begreifen dessen, was an der Dichtung als solcher uns in Bann
schlägt, was unser Gefühl erregt, unsere Phantasie in Bewegung setzt,
uns in rhythmischen Wellen wiegt und in mitschwingender Vibration
zur Hingabe zwingt, sondern der ästhetische Zustand der Bereitschaft,
der durch das Werk hervorgerufen wird, entspricht dem ästhetischen
Zustand der Empfängnis, aus dem es hervorgegangen ist; die Aufnahme
der Stimmung bildet somit einen Zugang zu der persönlichen
Welt des Dichters, die in den Gattungen noch nicht erschlossen war.


Zwar hat es nicht an Versuchen gefehlt, auch die Gattungsform
jedes Werkes von der Persönlichkeit, der Weltanschauung, dem
Lebensgefühl des Dichters abhängig zu machen. Man hat in Epos,
Lyrik und Drama die Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens
verkörpert gesehen, man hat imaginative, vasomotorische und motorische
Erlebnisformen als ihre Grundlagen betrachtet (Hartl); man hat
die verschiedenartige Erlebnisweise des Epikers, Lyrikers und Dramatikers
charakterisiert (Ermatinger), und diese Auffassung ist
schließlich zu dem Aphorismus zugespitzt worden „Dichtungsgattung
ist Menschentyp“ (Nadler). Man hat die Unterschiede des Weltbildes
auf die verschiedene Intensität der Vision zurückgeführt und in den
drei Gattungstypen die Ausdrucksformen eines statischen, dynamischen
und normativen Dichtertums erblickt (Spoerri); man hat endlich
eine Parallele zwischen der inneren Logik der Gattungsformen |#f0153 : 129|

und der Strukturbeschaffenheit der großen Lebensprobleme gesucht
(Unger) und man hat dem Epos eine naturalistische, der Lyrik eine
psychologistische, dem Drama eine idealistische Weltanschauung zugrunde
legen wollen (Max Wundt). Alle diese Beziehungen nehmen
ihren Weg über das vermittelnde Fluidum, das als seelische Atmosphäre
von dem Werk selbst ausgestrahlt wird.


Tragische, komische, humoristische Einstellung können schon im
Untertitel des Dramas oder der Erzählung angekündigt sein, aber
die Art der Durchführung haftet weder am Stoff noch an der Form.
Ein tragischer Stoff, z. B. Pyramus und Thisbe, kann durch unzulängliche
Mittel zu zwerchfellerschütternder Komik gebracht werden wie
im Rüpelspiel des „Sommernachtstraums“. Eine tragische Form wie
das Alexandrinerdrama kann als Parodie, z. B. „Esther“ in Goethes
„Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“, ebensolche Wirkung ausüben.
Formen und Stoffe der Komik können ins Tragische umschlagen,
wofür etwas die Tragödie des Narren in V. Hugos „Le roi s'amuse“
oder die des Königs, der den Narren spielen muß, in Wedekinds „So
ist das Leben“ genannt sei. Meist handelt es sich um kontrastierende
Einlagen, die der komischen oder tragischen Grundstimmung sich
unterwerfen.


Die Gefühlsregungen dieser Wirkungsarten gehen nicht nur über
die Grenzen der Dichtungsgattungen, vielmehr über die der Dichtung
überhaupt, ja sogar über die der Künste hinaus. Tragische Wirkung ist
nicht nur der Tragödie gegeben, sondern, wenn auch in minderer
Wucht, dem Roman, der Novelle, der Ballade, in höchstem Maße der
Musik, nicht wenig auch der geschichtlichen Darstellung großer
Lebensschicksale.


Die Weltgeschichte ist erfüllt mit tragischen Gestalten und Schicksalen.
Man konnte die Tragik sogar als Weltgesetz und wesentliches
Element des werterfüllten Universums erklären (Vischer, Scheler).
Dabei sind menschliche Größe, die sich in Überwindung der Leiden
zum Erhabenen steigern kann, und starke Willenskraft, die sich im
Widerstreit der Werte selbst behauptet, die Voraussetzungen tragischer
Wirkung. Dagegen gehen die komischen Eindrücke, die das
Leben unmittelbar in unerschöpflicher Fülle bietet, nicht selten vom
Anblick der Willenlosigkeit aus und vom lächerlichen Kontrast
zwischen sich aufblähenden Ansprüchen und innerer Geringwertigkeit.
Im Gegensatz zu der schicksalhaften Notwendigkeit tragischen Geschehens
ist bei komischen Wirkungen der Zufall nicht selten ein entscheidender
Mitspieler, und es gehört schon die Weltanschauung des
Humoristen dazu, um solche Fügungen unter ein Gesetz zu bringen, |#f0154 : 130|

wie es etwa Vischers „Tücke des Objekts“ im Roman „Auch Einer“
darstellt. Der Pessimist Bahnsen hat sogar den Humor als „ästhetische
Gestalt des Metaphysischen“ auffassen wollen.


Tragisches Weltgefühl setzt die Anerkennung eines idealistischen
Wollens voraus, das über sich selbst hinausstrebend scheitert; der
Sinn für das Komische bleibt bei der Realität des Lebens und schwelgt
in genießender Erregung durch kuriose Widersprüche; der Humor
aber setzt sich darüber hinweg, indem er die hohen Träume des
Ideals nicht aufgibt, aber zugleich in duldender Selbstbescheidung
und heiterer Selbstbehauptung mit den Verkehrtheiten des Lebens
sich aussöhnt: „Blick' auf zu den Sternen, hab' acht auf die Gasse.“


Es sind die verschiedensten Stimmungsspielarten zu unterscheiden,
wie es Johannes Volkelt mit Tragik des Willens und der Innerlichkeit,
des äußeren und inneren Kampfes, der erhebenden und niederdrückenden
Art oder mit den Abschattierungen von derber, drolliger,
rührender, burlesker, grotesker und zynischer Komik unternommen
hat. Diese Färbungen sind weder in Stoff noch Form gegeben, sondern
aus der Welt des Dichters hinzugetan; vielleicht erklären sie sich
sogar aus der seines Stammes, seines Volkes, seiner Rasse.


Die Analyse des Einzelwerkes kann die Grundstimmung auf die
Wesensart des Schöpfers zurückführen; sie kann, wie etwa bei Goethe,
Schiller, Heinrich v. Kleist und Hebbel die Gegensätze optimistischer
oder pessimistischer Lebensanschauung und die Unterschiede der
Wirklichkeitsauffassung erkennen. Diese Arbeit wird erleichtert,
wenn der Dichter selbst dazu die Hand reicht in theoretischen Schriften,
wie es bei Schiller und Hebbel der Fall ist, oder bei Jean Pauls
„Vorschule der Ästhetik“, die einen Kommentar zu seinen Romanen
darstellt und das Wesen seines Humors als Zusammenfassung des
Weltganzen in einem Subjekt erklärt.


Nicht nur im Charakter und Werk des Humoristen sind Komik
und Tragik gemischt, ohne daß das Zwitterding der Tragikomödie
zustande käme. Auch in der tragischen Dichtung können komische
Züge mit berechneter Kontrastwirkung die Tragik verstärken, wie
es in Shakespeareschen Trauerspielen so oft der Fall ist; aber ebenso
können Lustspiele in der Auslösung ihrer Affekte hart an die Grenze
des Tragischen führen, wie Shakespeares „Kaufmann von Venedig“,
Kleists „Amphitryon“, Lessings „Minna von Barnhelm“ zeigen. Aber
Voraussetzung dieser Mischung ist immer eine im Lebensgefühl des
Dichters ruhende Grundstimmung, die das ganze Werk beherrscht
und in jedem seiner Elemente zum Ausdruck kommt. Diese Grundstimmung
ist dramatisch, wenn sie die Widersprüche des Lebens als |#f0155 : 131|

Kampf der Ideen auffaßt und mit einer nach Gestaltung drängenden
Spannung in sich trägt; sie ist episch, wenn sie in ruhiger Schau die
Entwicklung der Gegensätze in äußerem Geschehen sich entfalten
und zur Auseinandersetzung kommen läßt; sie ist lyrisch, wenn sie
in Abkehr vom äußeren Geschehen sich nach innen wendet, um Freud
und Leid dieser Welt nur in Beziehung auf das eigene Ich oder in
Sympathie mit einem Du oder im Gemeinschaftsgefühl eines Wir als
Spiegelung in beseelten Sinnbildern und Gleichnissen zu erleben.


Reine Lyrik wird es weder zu tragischen noch (von ungewollten
Eindrücken abgesehen) zu komischen Wirkungen bringen, sondern
höchstens den Atem eines humorvollen Lebensgefühls ausströmen;
aber Drama sowohl als Epos ziehen zur Verstärkung ihrer tragischen
und komischen Wirkungen Elemente der Lyrik heran in den Beziehungen
zur Natur, in der Wahl landschaftlicher Hintergründe, in
der Symbolik der Tages- und Jahreszeiten, des Lichtes und der Finsternis,
in den Formen sprachlicher Musik, kurz in allen die Empfindung
ansprechenden Mitteln der Stimmungserregung. Lyrik ist Stimmung
schlechthin, so wie sie in ihrer Stofflosigkeit auf unmittelbarem
Erlebnis beruht, während der Epiker und der Dramatiker die Gelegenheit
zu ihren tragischen und komischen Wirkungsmöglichkeiten bereits
im Leben selbst, das ihnen Stoff geworden ist, oder im überlieferten
Stoff, der ihnen das Leben darstellte, gefunden haben.


c) Situation


Als Darstellung seelischer Zustände ist alle Lyrik aus einer
Situation, in der der Dichter sich befindet oder in die er sich einfühlt,
herausentwickelt. Landschaftsstimmung kann seine Seelenlage
symbolisieren („Im Felde schleich ich still und mild“); die Erinnerung
kann zu früheren Zuständen zurückführen („Ich träume als
Kind mich zurücke“); es kann eine Kontrastierung von Situationen
sein (Als ich Abschied nahm ... Als ich wiederkam); es kann ein
Gegenüber angerufen werden, sei es das eigene Ich („So mußt du sein,
dir kannst du nicht entfliehen“), sei es ein leibhaftiges Du („Du bist
die Ruh, der Friede mild“) oder eine Naturerscheinung („Füllest
wieder Busch und Tal“), eine Vision („Zum erstenmal seh ich dich
auferstehn, Hörengesagter, fernster, unglaublicher Kriegsgott“) oder
eine Personifikation („Freude, schöner Götterfunken“); es kann eine
Vereinigung des Ich und Du hergestellt sein („Ih bin dîn, du bist
mîn“), oder eine größere Gemeinschaft sich zusammengefunden haben
(„Hier sind wir versammelt zu löblichem Tun“); es kann im Rollenlied |#f0156 : 132|

eine dritte Person vor einen Kreis von Zuhörern gestellt sein
(Walthers „Under der linden“, Goethes „Vor Gericht“) oder es kann
eine Ballade dialogisch beginnen („Wer wagt es, Rittersmann oder
Knapp“ ─ „Knapp, sattle mir mein Dänenroß“) ─ immer ist ein
Situationsbild Voraussetzung der lyrischen oder balladesken Stimmung,
die sich um so stärker verdichtet, je mehr die Einheitlichkeit
der Situation festgehalten ist. Goethe sagt zu Eckermann einmal
(18. 1. 1825), „daß die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in
der Situation, in den Motiven besteht“.


Die anderen Gattungen kennen diese Zusammendrängung kaum,
wenn auch die sogenannten drei Einheiten im Drama als Einheit der
Situation wie als Einheit der Stimmung zusammengefaßt werden
konnten. Der Dichter Wilhelm von Scholz spricht in seinen „Gedanken
zum Drama“ von der Situation als dem wichtigsten dramatischen
Gesetz: „Im Anfang ist die Situation. ─ Die Situation fordert die
Charaktere zur Willensbetätigung heraus und umschreibt das Gebiet
ihres Handelns, sie ist das Gegebene, die Voraussetzung, für die der
Charakter des Möglichen und nicht allzu Entlegenen genügt.“ Die
Situation erscheint demnach als der fruchtbare Moment, aus dem
sich alle Motive der Handlung entwickeln. Die Verwandtschaft mit
der Stimmung kommt auch darin zum Ausdruck, daß wir im Lustspiel
von Situationskomik, in der Tragödie von tragischen Situationen
zu sprechen pflegen. Daß ein Dramatiker wie Otto Ludwig aus dem
Farbenspektrum, das der musikalischen Stimmung seiner ersten Konzeption
folgte, die Gestalten der werdenden Dichtung in einer bestimmten
Stellung zueinander auftauchen sah, wird uns später bei
der Besprechung des dichterischen Schaffensvorganges zu beschäftigen
haben. Es wird richtig sein, daß die Konzeption manches Dramas
aus solcher visionär geschauten Ursituation hervorgegangen ist, der
wir noch bei der Analyse des Ganzen eine Schlüsselstellung einräumen
dürfen. So läßt sich zeigen, daß für Kleists „Familie Schroffenstein“
die Situation in der dunkeln Höhle, in der das Liebespaar
vor Eindringen der Väter die Kleider tauscht, der Ausgangspunkt
der ganzen Erfindung war. Ebenso ist im „Zerbrochenen Krug“,
dessen Anregung durch den Stich von Debucourt feststeht, die Ausdeutung
des Bildes als der sich selbst den Hals ins Eisen judizierende
Richter die Ursituation, die schon in Adams orakelhaftem Traum
vorausklingt und die dann aus der Verwicklung thematisch herausgesponnen
wird.


Die Zahl der wirksamen Situationen im Drama ist beschränkt.
Der venetianische Volksdichter Graf Gozzi, der seine Lustspiele als |#f0157 : 133|

„dramatische Fabeln“ (fiabe drammatiche) bezeichnete, soll bekanntlich
nicht mehr als 36 tragische Situationen für möglich gehalten haben.
Der Franzose Gérard de Nerval gelangte sogar nur zu 24 möglichen
Situationen, die er von den 7 Todsünden herleitete. Auf der andern
Seite hat man die unermeßliche Kombinationsmöglichkeit mit der
unendlichen Zahl der Schachprobleme verglichen.


Goethe erinnerte sich in mehrfachen Gesprächen daran, daß Schiller
an Gozzis geringe Zahl nicht glauben wollte. Er habe sich bemüht,
über die drei Dutzend hinauszukommen, aber es sei ihm dann nicht
einmal geglückt, sie zu erreichen. So unwahrscheinlich das klingt,
so wird es doch begreiflich bei einem Einblick in Schillers Werkstatt,
wenn wir zusehen, was in seinen dramatischen Entwürfen als „Situation“
bezeichnet ist. Im „Don Carlos“ soll alle schmelzende Wirkung
von Situation und Charakter Philipps ausgehen; die Situation des
Königs ist gegeben durch sein Verhältnis zu Sohn und Thronfolger.
Ebenso wird in den „Maltesern“ von einer „entscheidenden Situation“
zwischen dem Ordensmeister La Valette und seinem heimlichen Sohn,
den er opfern muß, gesprochen. Ein drittes Mal wird als „eine der
größten Situationen“ der Moment bezeichnet, da Demetrius vor seiner
vorgeblichen Mutter steht und um ihre Anerkennung wirbt. Wenn
wir die tragische Wirkung in allen drei Fällen aus der Auseinandersetzung
zwischen zwei Generationen entspringen sehen, bei der das
Problem der Anerkennung mitspielt, so haben wir unter „Situation“
das Spannungsverhältnis zwischen zusammengehörigen Personen zu
begreifen. Für die Entladung in szenischer Gegenüberstellung kann
dann allerdings die Zahl der Möglichkeiten beschränkt sein.


Bei jener strengen Anwendung des Begriffes Situation ist Schiller
allerdings nicht geblieben: in den Skizzen eines Elfriede-Dramas hat
er den Gang der Handlung nach zehn Situationen gliedern wollen,
deren Schema er nur bis zur Zahl 7 ausfüllte, und für den „Warbeck“
gelang es ihm, 18 „rührende Situationen“ aufzuzählen, deren Begriff
sich aber ziemlich deckt mit dem der „Szene“. Der Unterschied
zwischen „Situation“ und „Motiv“, von dem erst später die Rede sein
kann, wird von ihm nicht festgehalten, sowie auch die Erinnerung
Goethes an Schillers Äußerung über Gozzi zwischen Situation und
Motiv schwankt.


Ein Franzose, Georges Polti, wollte in seinem mehrfach aufgelegten
Buch „Les trente-six situations dramatiques“ fertigbringen, was
Schiller nicht gelungen war. Aber wenn er Gozzis Behauptung durch
genaue Errechnung der 36 Möglichkeiten zu bestätigen suchte, so
schwebte ihm kein klarer Begriff dessen, was unter Situation zu |#f0158 : 134|

denken ist, vor. Es mußten Charaktere und Motive mit zu Hilfe
genommen werden (Le Sauveur, La Vengeance poursuivant le crime,
Révolte usw.), und trotzdem wurden Dubletten nicht vermieden.
Derselbe findige Kopf hat gleichzeitig ein Buch „l'art d'inventer les
personnages“ erscheinen lassen, und dabei zeigte sich, daß er eigentlich
nur ein Rezeptbuch der Erfindungskunst, ein Würfelspiel unendlich
vieler Kombinationen und eine Gebrauchsanweisung für dramatische
Algebra geben wollte. Darum kann es sich bei der Analyse
gegebener Werke nicht handeln.


Ein anderer Weg ist, von Polti ausgehend, durch einen deutschamerikanischen
Gelehrten August C. Mahr eingeschlagen worden. Er
führte zu weiterer Klärung den neuen Begriff des „dramatischen
Situationsbildes“ ein, das die Situation vor den Augen des Zuschauers
zur Erscheinung bringt. Danach werden Situationsbildtypen aufgestellt,
d. h. ähnliche Bild-Ergebnisse bei der Versichtbarlichung
ähnlicher Situationen. Mahr wählte das Motiv „Haß zwischen Vater
und Sohn“ und zeigte in einer Reihe, die von Sophokles' „Antigone“
und Euripides' „Hippolytos“ über Shakespeares „König Lear“, Calderons
„Leben ein Traum“, Racines „Phädra“, Schillers „Don Carlos“,
Törrings und Hebbels Agnes Bernauer-Dramen bis zu Raynals
„Grabmal des unbekannten Soldaten“ und Hasenclevers „Sohn“ führt,
wie die verschiedene Ausgestaltung des Situationsbildes für die Analyse
zum Stilkriterium werden kann.


Dieselben typischen Situationsbilder kann auch die epische Dichtung
vor Augen bringen. Wir kennen die homerische Situation der
Spinnerin Penelope und die nordische der Wäscherin Gudrun, die
darin gleich sind, daß sie jede Bewerbung in treuem Ausharren abweisen.
Die Situation der Frau zwischen mehreren Männern kann
nun aber eine Abwandlung erfahren, wenn der rechtmäßige Gatte
totgesagt ist. Findet er sich wieder ein, nachdem die Frau sich ihrer
Treue für entbunden hielt und einen anderen genommen hat, so
kommt ein Situationsbild von typischer Tragik zustande. Hat die
Sage vom Grafen von Gleichen, die das männliche Gegenbild darstellt,
die Kreuzzüge zum Hintergrund, so pflegt für die parallele Fabel vom
totgeglaubten Heimkehrer ein großer Krieg oder ein Meeressturm
schicksalbestimmende Voraussetzung zu sein.


Beim Motiv des verschollenen Heimkehrers entwickelt jede Situation
das Problem, wie sich der Totgesagte wieder ins Leben finden wird,
z. B. in Ernst Wiecherts „Majorin“ oder Ina Seidels „Brömseshof“.
Mit Verlust der rechtmäßigen Frau durch deren anderweitige Bindung
ersteht ein schier unlösbarer Konflikt. Diese Situation kommt |#f0159 : 135|

schon in Gellerts Roman „Das Leben der schwedischen Gräfin v. G.“
(1746) zu versöhnendem Ausgang und führt ein Jahrhundert später
in Tennysons Schifferdichtung „Enoch Arden“ zu rührendem Verzicht.
Mit wechselndem Ausgangsmotiv findet sich dasselbe Thema in Dramen
wieder: in Houwalds „Heimkehr“, in Eulenbergs „Belinde“, in
Brechts „Trommeln in der Nacht“, in Leonhard Franks „Karl und
Anna“ (Dramatisierung einer Erzählung) und Graffs „Heimkehr des
Mathias Bruck“.


Eine andere Abwandlung der Situation, und zwar eine weit ältere
ist folgende: Der erste Mann ist wirklich tot, und die wehklagende
Witwe läßt an seiner Bahre sich durch einen anderen die Tränen
trocknen. Im Orient, woher die Fabel kommt, in China und Indien,
gehörte zu dieser Situation das Motiv des Witwentodes, zu dem die
Hinterbliebene eigentlich verpflichtet gewesen wäre. Schon im Weiterleben
liegt eine Treulosigkeit. In der „Matrone von Ephesus“ des
Petronius verschärft sich das Vergehen durch ein neues Steigerungsmotiv,
nämlich durch die Bereitschaft, den Leichnam des Gatten an
den Galgen zu liefern, damit der pflichtvergessene Wächter, nachdem
der von ihm zu bewachende Leichnam gestohlen ist, in keine Verlegenheit
kommt. Dieser Trumpf scheint nicht mehr zu überbieten.
In den Iwein-Epen des Christian von Troyes und des Hartmann von
Aue tritt indessen eine weitere Steigerung ein, indem der erfolgreiche
Bewerber selbst es war, der den Gatten im Zweikampf erschlug. Noch
eine stärkere Steigerung ist möglich, wenn der zweite Mann mit der
Schuld feigen Meuchelmordes belastet ist und die Witwe trotzdem
ihm zufällt, wie es bei der Anna in Shakespeares „Richard III.“ der
Fall ist. Das Problem aber ist gemäß den Charakteren jedesmal ein
anderes: bei Petronius ein satirisches Beispiel für die Untreue der
Weiber, in den mittelalterlichen Ritterromanen ein Zeugnis für die
Wundermacht der Liebe, bei Shakespeare ein Triumph männlicher
Unwiderstehlichkeit gegenüber dem schwachen Weib. Im ersten Fall
ist die Hingabe an den Fremden, durch die jene Problemspannung
zwischen Treue und Begierde gelöst wird, der Kern der ganzen Fabel;
in den mittelalterlichen Romanen liegt darin nur die Überleitung zu
einem anderen Problem, nämlich dem Konflikt des Ritters zwischen
heldischem Abenteuerdrang und Pflicht der Liebe; bei Shakespeare
aber gehören Situation und Motiv der Liebesüberredung nicht zur
eigentlichen Fabel, sondern bilden nur Mittel zu ihrer Exposition.


Es fehlt schließlich nicht an weiteren Steigerungsmöglichkeiten:
die treulose Frau weiß nicht nur oder ahnt wenigstens, daß es der
Mörder des Gatten ist, dem sie die Hand reicht, sondern sie ist selbst |#f0160 : 136|

an der Tat beteiligt und mitschuldig. Dieser ungeheuerliche Frevel
muß, wenn er zum offenen Situationsbild wird, die Vergeltung nach
sich ziehen: in der „Orestie“ des Aischylos den Muttermord des
Orest; in Shakespeares „Hamlet“ die unvollzogene Rachepflicht, zu
der der Sohn des Ermordeten durch den Geist aufgerufen wird; in
Schillers „Maria Stuart“ die Hinnahme des Fehlurteils und die Ergebung
der Schuldig-Unschuldigen in den sühnebringenden Tod. In
den beiden letzten Fällen ist das Situationsbild der treulosen Frau
nicht in die Handlung, die unter der Folgewirkung steht, aufgenommen;
es gehört zu der in der Exposition vermittelten Vorfabel. Man
darf vielleicht sagen, daß die Situation dadurch in ein Motiv verwandelt
worden ist. Die Situation nämlich enthält Spannungen, die dem
Motiv an sich nicht innewohnen. Diese Spannungen lassen aus der
Situation mit Hilfe der Motive eine problemhaltige Fabel sich entwickeln.



4. Dritte Stufe: Plan
(Fabel ─ Absicht ─ Technik)

a) Fabel


Wenn in der Fabelsammlung des römischen Grammatikers Hyginus
griechische Mythen erzählt sind, die man als Inhaltsangaben verlorener
Tragödien betrachten darf, so treffen zufällig einmal die beiden verschiedenartigen
Bedeutungen zusammen, die mit dem Worte Fabel
verbunden sind: das eine ist eine Erzählungsart lehrhaften Sinnes,
die man als Randform der Dichtung betrachten darf; das andere eine
abstrahierende Zurückführung des Inhalts epischer und dramatischer
Dichtungen auf die Motivverknüpfung ihres wesentlichen Handlungsgerippes.
Solange man den Kern jeder Dichtung in einem moralischen
Satz suchte, konnte man der Meinung sein, daß beides in der Tat
gleich sei. So machte sich Gottscheds „Kritische Dichtkunst“ lächerlich,
indem sie es bloß von der Namenwahl abhängig sein ließ, ob aus
demselben moralischen Satz eine äsopische Fabel oder ein Epos oder
eine Tragödie zu entstehen habe.


Der Begriff des moralischen Satzes ist hinfällig und bleibt höchstens
noch der Fabel als lehrhafter Dichtart im Sinne einer Nutzanwendung
(fabula docet) vorbehalten. Für die Sinnesdeutung großer
Dichtung aber sind die Begriffe Problem und Idee an seine Stelle
getreten, und das, was man als epische oder dramatische Fabel zu
bezeichnen hat, bedeutet die sinngemäße Verknüpfung der Situationen
und Motive und die Zurichtung eines Stoffes zum Gefäß einer Idee. |#f0161 : 137|

Auf dem Wege von Stoff zur Idee bedeutet somit die Fabel eine wichtige
Zwischenstufe.


Auf dem anderen Wege, der von der Form zur Idee führt, entspricht
ihr die Technik. Fabel und Technik bedeuten in ihrer durch
die Absicht vermittelten Beziehung eine Annäherung des Inhaltlichen
und des Formalen auf der Stufe bewußten künstlerischen Schaffens;
die Analyse trifft in dieser Schicht auf die rationalen Elemente des
Kunstwerkes. Dilthey bezeichnet als Fabel „das ausgebildete Grundgefüge
einer Dichtung von größerem Umfang“, das vor dem epischen
oder dramatischen Dichter, ehe er mit der Ausführung beginnt, fertig
dastehe und in der Regel von ihm aufgezeichnet werde. Auch wenn
solch aufgezeichneter Plan nicht vorliegt, ist er aus der Dichtung
analytisch herauszuziehen.


Aus der stofflosen Lyrik, die reines Zustandserlebnis ist, und der
Handlungsvorgänge entbehrt, läßt sich keine Fabel spinnen; erst mit
der symbolischen Beziehung eines Mythos auf die eigene Seelenlage
beginnt ein Übergang vom Zustand zum Vorgang; die erzählenden
Formen vom lyrischen Zyklus bis zur Ballade und Romanze vermehren
den stofflichen Zusammenhang, der aber sprunghaft vermittelt wird
und stimmungsmäßig verdunkelt oder verschleiert bleiben kann.


Umgekehrt ist es auf der anderen Seite, wo unendlicher Stoff die
Prägung einer faßbaren Fabel beeinträchtigt. Das gilt von der großen
Epik, die in totaler Weltsicht und stofflicher Fülle unermeßlich und
unbeschränkt bleibt. Wo wäre die Fabel im Mahabharata oder sogar
bei Homer, außer in einzelnen Gesängen? Eher schon kann man eine
Fabel des Nibelungenliedes annehmen, weil hier, wie Heusler gezeigt
hat, gedrängte epische Lieder ursprünglich zugrunde lagen; dafür hat
die Nibelungensage auch einen unverkennbaren Zug zum Dramatischen.


Bei den epischen Kurzformen wird der straffe Motivzusammenhang
mit zunehmender Konzentration immer klarer übersehbar. Paul Ernst
hat die Verwandtschaft zwischen Drama und Novelle als „abstrakten
Kunstformen“ damit begründet, daß sie interessante energiegeladene
Lebensinhalte in ein sinnliches Gewand bringen, durch dessen Anblick
Energien gelöst werden. In den bekannten Definitionen der Novelle
als „unerhörter Begebenheit“, „entscheidenden Wendepunktes“ oder
„starker Silhouette“ wird immer gerade das Fabelhafte hervorgehoben;
von da aus steigert sich über das Märchen, das nichts weiter als
Motivverkettung ist, bis zur Legende und zur Anekdote, die ihrer Art
nach als Geschichtsfabel ohne Lehrhaftigkeit bezeichnet werden kann,
die Konzentration und Reduktion auf das Wesentliche des Handlungszusammenhanges.


|#f0162 : 138|


Diese Zusammenfassung des Vielfältigen zur Einheit aber macht in
noch höherem Grade das Wesen der dramatischen Form aus. So
kommt es, daß vor allem im Drama von einer Fabel zu reden ist.
Unter den dramatischen Spielarten ist es wiederum die Tragödie, die
ihre schicksalhafte Wirkung nur in straffstem Handlungszusammenhang
erreichen kann. Selbst da, wo es von Nebenhandlungen umschlungen
ist, wie bei Shakespeare, hebt sich das tragische Hauptthema
der Fabel in ganz prägnanter Problemstellung heraus.


Aristoteles griff in seiner „Poetik“ aus sagenhaften Familienkonflikten
vier Typen tragischer Fabeln auf, die sich durch das Verhältnis
von Tat und Bewußtsein, wie von Ansatz und Verwirklichung unterschieden.
Für den ersten Fall einer wissentlich unternommenen und
wirklich vollzogenen Tat diente Medea als Beispiel; für den zweiten
Fall einer wissentlich vollzogenen Tat, deren Bedeutung dem Täter
erst später bewußt wird, Ödipus; für den dritten Fall, bei dem die
Tat wissentlich unternommen, aber nicht wirklich vollzogen wird,
Hämon in der „Antigone“, während der letzte Fall einer unwissentlich
unternommenen, aber wegen rechtzeitiger Erkenntnis nicht verwirklichten
Tat durch Merope im „Kresphontes“ vertreten ist.


Diese Beispiele antiker Dramenanalyse erschöpfen natürlich keineswegs
alle Möglichkeiten tragischer Motivverkettung; auch vernachlässigen
sie ein wesentliches Moment, indem sie die Art der menschlichen
Bindung, die zwischen den beteiligten Personen besteht, beiseite
lassen. In einem Punkte aber bleibt der aristotelische Begriff
der Fabel (mỹuow) wichtig, nämlich insofern in dieser Ordnung der
Tatsachen (sýstasiw tṽn pragmátvn) etwas viel Allgemeineres gesehen
wird als die konkrete stoffliche Gegebenheit. Namen und
Schauplatz einer Sage gehören nicht zur Fabel; vielmehr besteht diese
in einer Abstraktion von bestimmten Verhältnissen.


Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ unterschied demgemäß
zwischen Fabel und Fakten und kam zu dem Schluß, daß der
Dichter die Fabel und die damit verbundenen Charaktere unangetastet
lassen müsse, während er die Fakta, d. h. die historischen und lokalen
Umstände beliebig verändern dürfe. Fabel bedeutete für ihn also so
viel wie das seinen äußeren Gegebenheiten, seinem Fleisch und Blut
entzogene Stoffgerippe. Lessing selbst zog seine Folgerung aus dieser
Rationalisierung des Fabelbegriffes, indem er die Fabel der Virginia
transponierte. Das Opfer der Tochter durch den Vater, das in der
römischen Virginia, wie in der biblischen Tochter Jephtas mit verschiedenen
Fakten umkleidet war, verpflanzte er aus der römischen
Republik an einen italienischen Fürstenhof der Neuzeit, und aus der |#f0163 : 139|

zuvor geplanten „Virginia“ ließ er eine „Emilia Galotti“ werden. Dabei
glaubte er eine reinere tragische Wirkung zu erreichen, indem er
die Gewaltherrschaft der Dezemvirn und das Ziel der Befreiung Roms
als politischen Hintergrund beseitigte und Furcht und Mitleid lediglich
aus dem Anteil am rein menschlichen Verhältnis zwischen Vater
und Tochter entstehen ließ. Ähnlich hatte er in „Miß Sara Sampson“
die Medeafabel in die moderne bürgerliche Welt Englands versetzt,
und später schlug er seinem Bruder vor, den „Rasenden Herakles“
des Seneca als „Masaniello“ zu bearbeiten, genau so wie Bodmer aus
den „Persern“ des Aischylos einen „Karl von Burgund“ gemacht hatte.
Gleiches wiederholt sich bei Paul Ernst, der, um sich von historischen
Fesseln freizumachen, den russischen Stoff des „Demetrius“ ins alte
Sparta versetzte.


Diese Gleichgültigkeit der Aufklärungszeit und des Neuklassizismus
gegenüber dem Erdreich, in dem die stofflichen Wurzeln Nahrung
finden, ist nicht ohne Nachteil und nicht ohne Widerspruch geblieben.
Zwar hätte auch Lessing eine Fabel im luftleeren Raum für undenkbar
und nicht lebensfähig gehalten, aber die Auswechslung der räumlichen
und zeitlichen Fakta schien ihm durchführbar. Für das historische
Drama dagegen, dem Lessing fremd blieb und das erst im „Sturm
und Drang“ am Feuer Shakespeares sich entzündete, war diese Entwurzelung
ausgeschlossen. Allerdings war nun wiederum gerade der
Sturm- und Drang-Enthusiasmus jedem planmäßigen Schaffen im Zeichen
einer durchdachten Fabel abgeneigt. Dem historischen Drama
wurde im Gegensatz zum regelmäßigen Theater die lose Bilderfolge
eines Guckkastens zugedacht: Shakespeares „Plane“ waren nach Goethes
Rede im gemeinen Sinne als „keine Plane“ anzusehen. Nur „der geheime
Punkt, in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte
Freiheit unseres Wollens mit dem notwendigen Gang des Ganzen
zusammenstößt“, bestimmte eine Richtung zur Vereinheitlichung. In
solchem Bewußtsein schleuderte der junge Goethe einzelne „Fetzen“
seines „Faust“ und seines „Ewigen Juden“ hin ohne Plan und Fabel
und ohne Klarheit über den Gang des Ganzen, insbesondere über den
Ausgang. „Plane machen“ erachtete der Graf Friedrich Leopold von
Stolberg für „so unmöglich, als ein Buch über die Freiheit des
Willens zu schreiben“. Schon beim jungen Schiller ist es anders; die
Arbeit an seinem „Don Carlos“ beginnt mit einem festgelegten Plan,
wie er im Bauerbacher Entwurf enthalten ist. Die Ausführung hält
sich im großen und ganzen bis zum Schluß an diese Disposition, während
in der Mitte des Werkes, wie die Analyse zeigt, durch das Hervortreten
des Marquis Posa wesentliche Veränderungen der Fabel |#f0164 : 140|

eingetreten sind. Nach der großen Arbeitspause, die durch historische
und philosophische Selbstbesinnung ausgefüllt ist, wird das planmäßige
Schaffen, das eine Organisation des Stoffes zur Fabel voraussetzt,
immer mehr Schillers Grundsatz. Das Erz des Stoffes mußte,
nachdem es erlebnismäßig durchglüht war, unter den Schmiedehammer
zweckmäßiger Formung gelegt und auf dem Amboß dramatischer
Notwendigkeit zur Fabel zurechtgeschlagen werden. Welche Änderungen
des Planes sich während dieser Arbeit noch ergaben, ist aus dem
fertigen Werk nicht mehr zu erkennen.


Die Redaktion des Stofflichen auf einen formelhaft gebundenen
Handlungszusammenhang wird in Gustav Freytags „Technik des
Dramas“ als Abkühlungsprozeß der warmen Seele bezeichnet; diese
reflektierende Arbeitsphase muß ihre Spuren in Aufbau und Gliederung
jedes Werkes hinterlassen. So hat Schiller dem Faust-Dichter
gegenüber die Notwendigkeit betont, einen poetischen Reifen um das
Ganze zu legen und es einer Idee zu unterwerfen. Das bedeutete
nichts anderes als die Forderung einer Fabel, durch deren Prägung
das Werk erst zum Drama werde. Dem widersprach beim Faust-
Dichter die Totalität der Weltsicht in ihrer epischen Weite. Goethe
hat später Eckermann gegenüber bestritten, daß er das reiche, bunte
Leben auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee
aufgereiht habe. Nur für seinen Roman „Die Wahlverwandtschaften“
hat er die bewußte Erarbeitung einer dem Verstande faßlichen Idee
zugegeben. Dieser strengen Verkettung zu einer Fabel von fast dramatischer
Schicksalsfügung verdankt denn auch der klassische Roman
seine tragische Wirkung. Man trifft auch da wieder auf die Situation
des Mannes zwischen zwei Frauen. Nur findet dieser Konflikt sein
Gegengewicht in der Stellung Charlottens zwischen zwei Männern,
und damit ist die Annäherung an das chemische Gleichnis der attractio
electiva angebahnt. Das gäbe eine sehr einfache, banale Fabel, die
dem Sprichwort „gleich und gleich gesellt sich gern“ entspräche. Die
Lösung, die nach dem naturwissenschaftlichen Gesetz angezeigt wird.
bestünde in der Verbindung Eduards mit Ottilie und in der des Hauptmanns
mit Charlotte. Aber diese lustspielmäßige natürliche Lösung
wird in der sittlichen Welt verhindert durch das Problem der Unauflöslichkeit
der Ehe, das zur tragischen Idee der Entsagung hinführt.


Gibt dieses Beispiel bereits einen Ausblick auf die unmittelbare
Stufenfolge von Situation, Fabel, Charakteren, Motiven, Problemen
und Idee, so muß der vorgenommene Weg der Analyse zunächst
wieder zurückführen zur Verbindung der Fabel mit der künstlerischen
Absicht.

|#f0165 : 141|

b) Absicht


Die bewußte Überlegung einer in Harmonie von Form und Inhalt
beruhenden Wirkung braucht nicht gleichbedeutend zu sein mit
Tendenz. Zwar haben die Dichter, die sich über ihre Pläne aussprachen,
nicht selten die Erzielung außerästhetischer Wirkungen,
die über das Werk hinausführen sollten, als ihre Absicht angedeutet.
Am unbefangensten hat z. B. Schiller in einem Brief an seinen Freund
Reinwald die Absicht ausgesprochen, „in Darstellung der Inquisition
die prostituierte Menschheit zu rächen, ihre Schandflecken fürchterlich
an den Pranger zu stellen und einer Menschenart, die der Dolch
der Tragödie bis jetzt nur gestreift hat, auf die Seele zu stoßen“.
Aber diese ursprüngliche Tendenz ist in der Ausführung und späteren
Bearbeitung mit wachsender Selbstzucht gemildert worden, so daß
die künstlerische Absicht im abgeschlossenen Werk sich weniger
kämpferisch darstellt. Dafür haben die zur Rechtfertigung geschriebenen
„Briefe über Don Carlos“ dem Werk wieder andere Absichten
untergelegt; um seine Einheitlichkeit zu retten, ist eine dritte Konzeption
nachgetragen, die der Schlußphase der Arbeit entspricht. Von
dieser dreifachen Absicht, der ursprünglichen, der ausgeführten und
der nachträglichen ist einer Analyse, die sich auf das Werk selbst
beschränkt, nur die mittlere faßbar, aber die Kritik führt dabei auf
Widersprüche und Unklarheiten der Durchführung, die durch Heranziehung
der Briefe, Entwürfe, älteren Fassungen und der späteren
Selbstkritik Erklärung finden.


Die vielen dichterischen Selbstbekenntnisse, die über Bewußtes und
Unbewußtes im eigenen Schaffen Aufschluß geben (Otto Behaghel hat
in seiner Gießener Rektoratsrede eine reiche Sammlung vorgelegt),
sind nicht immer von Selbsttäuschung frei. Hebbels Tagebuch
(17. Sept. 1847) erklärt z. B. alles Stoffliche in seinem Drama (Gestalten,
Situationen, zuweilen sogar die ganze Handlung) als unbewußte
Schöpfung. Wenn dagegen der Antipode Otto Ludwig über seine
Schaffensweise Rechenschaft ablegt, so bekennt er sich zur Herstellung
eines Planes, in dem nichts mehr dem bloßen Instinkt angehöre,
sondern alles Absicht und Berechnung sei: „Da sieht es denn ungefähr
aus, wie ein Hebbelsches Stück, alles ist abstrakt ausgesprochen, jede
Veränderung der Situation, jedes Stück Charakterentwicklung gleichsam
ein psychologisches Präparat, das Gespräch ist nicht mehr wirkliches
Gespräch, sondern eine Reihe von psychologischen und charakteristischen
Zügen, pragmatischen und höheren Motiven. Ich könnte
es nun so lassen, und vor dem Verstande würde es so besser bestehen |#f0166 : 142|

als nachher ... Aber ich kann mir nicht helfen, dergleichen ist mir
kein poetisches Kunstwerk, auch die Hebbelschen Stücke kommen
mir immer nur vor wie der rohe Stoff zu einem Kunstwerk, nicht wie
ein solches selbst. Es ist noch kein Mensch geworden, es ist ein
Gerippe, etwas Fleisch darum, dem man aber die Zusammensetzung
noch anmerkt.“


Im Lichte dieser Selbstbeobachtung erscheint die Bewußtheit bei
Hebbel als Endform, bei Ludwig als Übergangsphase im Werden des
Werkes. Beide Dichter haben im übrigen von bewußtem und unbewußtem
Schaffen verschiedene Vorstellungen gehabt. Auf die
Scheidung dieser Vorgänge, zwischen die der amerikanische Psychologe
F. C. Prescott mit Recht die Zwischenzone eines halb unbewußten,
halb bewußten Dämmerzustandes legt, kommt es indessen der
Analyse nicht an. Diese Fragen bleiben der Psychologie des dichterischen
Schaffens überlassen und kommen im zweiten Buch zur
Erörterung. Die Werkanalyse kann nur die Verknüpfung von Situationen
und Motiven in der Fabel unter dem Gesichtspunkt künstlerischer
Zweckmäßigkeit erkennen. Sie gelangt von der Absicht aus
zur Technik des Dichters. Bei diesem Übergang fällt, wie Dilthey
gesagt hat, der Psychologie nur mehr die zweite begleitende Stimme
zu, während die literarhistorische Empirie die Führung übernimmt.


c) Technik


Unter Technik ist alle überlegte Formgebung zu verstehen: alles,
was Klarstellung der künstlerischen Absicht, Berechnung der Wirkung,
Erregung der Anteilnahme, Mittel der Spannung, Sicherung des
Interesses bedeutet. Technik ist erwachendes Bewußtsein des Künstlers,
der aus einem Traumzustand herausgerissen wird und mit dem
Augenaufschlag sich Hörern, Lesern, Zuschauern gegenüberfühlt, die
er unter seinen Willen zwingen will und muß, indem er sich als ein
Eigener zeigt. Technik ergibt sich nicht aus dem Gestaltungszwang,
der schon im Erlebnis liegen kann, sondern aus dem Gestaltungswillen.
Die Mittel dazu sind kein lehrbares Handwerk, aber sie sind
lernbar durch Übung; kein Meister fällt vom Himmel, aber auch
keiner kann durch diktierte Anweisung einem anderen das, was
Technik heißt, beibringen; die eigene Auseinandersetzung mit den
Meistern, das Studium großer Vorbilder, das Ringen mit ihnen, das
Eindringen in die Geheimnisse ihres Schaffens, nicht um sie nachzuahmen,
sondern um es ihnen gleichzutun auf andere, selbständige,
vielleicht entgegengesetzte Weise, ist der Weg des Dichters zur technischen |#f0167 : 143|

Sicherheit. Dazu gehört eigene Erfahrung in Selbstkritik und
erprobtem Erfolg. Aber gesättigte Ausnutzung dieser Erfahrungen in
Wiederholung bewährter Effekte würde nur billige Routine sein.
Technik dagegen ist alte Tradition in steter Erneuerung; Nutznießung
tausendjähriger Erfahrung mit der Verpflichtung, sie weiterzuführen;
Gebundenheit im Drang nach Freiheit, in Fluß gehaltene Evolution
im Gegensatz zu drohender Erstarrung; umstürzlerisches Aufbegehren
innerhalb der Fügung der Gesetze.


So führt Technik zum Begriff der Gattung zurück als Auseinandersetzung
mit den durch die Formwahl übernommenen Bedingungen.
In der Tat können wir kaum von einer allgemeinen Technik der
Dichtung sprechen. Wenn es eine Dichtungstechnik schlechthin gibt,
kann sie nur in der Gestaltung der Sprache und in der Handhabung
ihrer Ausdrucksmöglichkeiten bestehen. So wie es keine Technik
der bildenden Kunst schlechthin gibt, sondern Technik der Malerei,
der Skulptur, der Graphik, so haben wir es auch hier mit gattungsgespaltener
Technik zu tun. Die Spaltung liegt zwar nicht im Material
begründet wie bei der bildenden Kunst, und nicht in den Instrumenten
wie bei der Musik, aber in der Stellung zum Gegenstand und in
seiner Vermittlung. Wir beobachten die Übung dialogischer Handlungsentwicklung
im Drama, monologischer Seelendarstellung in der
Lyrik und erzählenden Berichtes in der Epik. Die mannigfaltigste
Bereicherung der technischen Spielarten aber liegt darin, daß innerhalb
jeder Gattung auch solche technische Mittel zur Anwendung
kommen können, die vorzugsweise den anderen Gattungen angehören,
nämlich Dialogisches in der Epik, Erzählendes in der Lyrik, Seelischzuständliches
im Drama.


Wenn wir beim Drama unverbrüchliche Gattungsgesetze ablehnen,
wie sie etwa die auf Aristoteles zurückgehende Renaissancepoetik
und besonders die Regelgebung des französischen Klassizismus
in den drei Einheiten aufgestellt hatte, so dürfen wir doch nicht
verkennen, daß eine Zusammendrängung des Sprengstoffes zum Wesen
der dramatischen Handlungsführung gehört und daß vom Zusammenprallen
der Gegensätze, von prägnanter Schicksalsverkettung und
schlagartiger Folge die befreiende Wirkung abhängig ist, die sowohl
der tragischen als der komischen Stimmung entspricht. Eine Tendenz
zur Vereinheitlichung und Zusammenballung seelischer Energien war
nicht nur in der Raumform der antiken Bühne, die auf die ständige
Anwesenheit des Chores berechnet war, begründet; sie ist es ebenso |#f0168 : 144|

sehr in der vorwärtsdrängenden Zeitform des Dramas überhaupt, wie
in der vergegenwärtigenden Darstellung, die dem Drama und der
Lyrik gemeinsam ist.


Unverbrüchliches Gesetz der dramatischen Form ist die fortrollende
Gegenwart innerhalb des Zeitablaufs. So vielerlei Möglichkeiten der
Zeitraffung und Zeitdehnung es geben mag, so darf doch niemals im
ernsten Drama der Uhrzeiger rückwärts gedreht werden, wie man es
etwa bei einem Filmstreifen tun könnte und wie es mit romantischer
Ironie in Tiecks „Verkehrter Welt“ geschieht. Der Zeitablauf geht
sogar weiter im Zwischenakt; selbst die in die Pause zwischen zwei
Szenen fallende verdeckte Handlung bedeutet einen zeitlichen Fortgang.
Es ist daher ebenso unmöglich, Gleichzeitiges nacheinander zur
Darstellung zu bringen, wie ein Nacheinander gleichzeitig darzustellen.
Aber durch das epische Hilfsmittel des Berichts kann Vorausliegendes
nachträglich Berücksichtigung finden. Ist es indessen durch Bericht
in die zeitliche Vergangenheit verwiesen, so kann es nicht mehr durch
Darstellung vergegenwärtigt werden. So liegt z. B. ein technischer
Verstoß gegen den dramatischen Zeitablauf darin, daß der letzte Auftritt
des Schillerschen „Don Carlos“ mit dem Eintritt des Prinzen
ins Zimmer der Königin beginnt, nachdem schon zwei Auftritte vorher
die Wache gemeldet hat, er sei, als Geist seines Großvaters verkleidet,
in den Gemächern der Königin verschwunden. Die dazwischenliegende
großartige Großinquisitor-Szene erweist sich damit für die
technische Analyse als ein den Zeitablauf sprengender Einschub.


Stärkere Durchbrechungen dieser Regel sind versucht worden und
haben zur Auflösung der dramatischen Form geführt. Wenn in einem
Stück wie Arnold Bronnens „Ostpolzug“ (1926) zwei um Jahrtausende
getrennte Handlungen zu umschichtiger Darstellung gelangen, indem
der Indienzug Alexanders des Großen und der eines modernen Weltfahrers
szenenweise wechseln, so handelt es sich um einen Doppelmimus,
um zwei voneinander unabhängige monologische Handlungen.
Es besteht zwischen ihnen keine andere Beziehung als die eines
thematischen Parallelismus, der ohne dramatische Wirkung bleibt.
Ähnliches haben schon die Jesuiten unternommen, und Andreas
Gryphius hat es in seinem Doppellustspiel „Die geliebte Dornrose“
und „Das verliebte Gespenst“ ihnen nachgetan.


Eine Möglichkeit, zwei zeitlich getrennte Handlungen in dramatische
Verbindung zu bringen und die Darstellung des Vergangenen
in die Gegenwart der Haupthandlung einzufügen, kann besser mit der
Einlage eines Stückes, das im Stück gespielt wird, erreicht werden,
z. B. bei Shakespeare im „Hamlet“ und „Sommernachtstraum“. Im |#f0169 : 145|

„Hamlet“ ist es sogar eine verkappte Vergegenwärtigung der Vorgeschichte.
Aber das theatralische Zwischenspiel gehört einer anderen
Realitätsschicht an, wie auch in der Aufführung betont werden muß;
es erinnert an die epischen Hilfsmittel einer eingelegten Erzählung,
die auf die Entwicklung der Geschichte Einfluß gewinnt. Nicht anders
ist es mit der Traumhandlung, in der die Erzählung von etwas Vergangenem,
die Vision gleichzeitigen Geschehens in einer höheren
Welt, oder der Ausblick auf etwas Bevorstehendes sichtbar gemacht
wird. Beispiele sind Goethes „Egmont“, Gerhart Hauptmanns „Elga“
und „Hanneles Himmelfahrt“ oder die Operntexte von Schillings
„Mona Lisa“ und Pfitzners „Palestrina“. Hier gleicht die unmittelbar
vergegenwärtigte Handlung erster Ordnung mehr oder weniger der
novellistischen Rahmenerzählung, die ein zweites Geschehen umschließt.


Für die Vermittlung zurückliegender Vorgänge, die von Bedeutung
für die Handlung sind, dient im übrigen der Notbehelf des Berichtes.
Neben der Erinnerung und der Ausfragung von Zeugen ist der Botenbericht
ein technischer Kunstgriff, um zeitlich und räumlich Entlegenes
in Beziehung zur sichtbaren Handlung zu setzen und in den
Zeitablauf einzufügen. Es gibt aber kaum eine Möglichkeit völlig
gleichzeitiger Darstellung von räumlich entlegenen Vorgängen. Selbst
im Buchdrama, das sie in zweispaltigem Druck nebeneinander stellen
könnte, würde der Leser immer den einen Vorgang vor dem anderen
lesen müssen und beides erst nachträglich ineinanderschalten. Auch
wenn eine Simultanbühne Gelegenheit gibt, verschiedene Räume wie
im Puppenhaus zugleich zu überschauen, etwa in Zacharias Werners
„24. Februar“ zwei, in Möllers „Sturz des Ministers“ drei, in Nestroys
„Vier Temperamenten“ gar vier Zimmer desselben Hauses, wenn in
beliebten Lokalpossen verschiedene Stockwerke oder der Gegensatz
zwischen Vorder- und Hinterhaus gezeigt werden oder endlich gar
verschiedene Städte und Länder, wie Madrid und London in Ferdinand
Bruckners „Elisabeth“, nebeneinander gerückt sind, so muß
die Handlung auf dem einen Schauplatz immer aussetzen oder mindestens
zur Pantomime gedämpft werden, sobald die des anderen das
Gehör beanspruchen und die Aufmerksamkeit an sich ziehen soll.
Hier behält das Gesetz des „Successiven“ aus Lessings „Laokoon“
sein Recht.


Ein anderes Mittel, gleichzeitige Vorgänge auf entlegenen Schauplätzen
in dramatischen Zusammenhang zu bringen, ist die der
homerischen Epentechnik entlehnte Mauerschau (Teichoskopie), die
eine entfernte Begebenheit vom erhöhten Standpunkt eines Turmes
oder Feldherrnhügels aus wahrnehmen läßt. Sie kann im Gegenwartsstück |#f0170 : 146|

durch Wunder moderner Technik ersetzt werden wie Fernsprecher
und Fernseher. Wunderbarer aber und nicht genug zu bewundern
ist der Einfall des alten Aischylos, der sich die Sehergabe
der Kassandra im „Agamemnon“ zunutze machte, um durch ihren
Mund den innerlich geschauten Schreckensvorgang, der sich im
Innern des Hauses abspielt, gleichzeitig erleben zu lassen. Hier ist
es durch einen der genialsten technischen Kunstgriffe, den die dramatische
Weltliteratur kennt, gelungen, die im Hintergrund verdeckte
Handlung im Augenblick ihres Geschehens in den offenen Vordergrund
hinüberspielen zu lassen.


In gleicher Weise können Träume, Ahnungen, Orakel, Symbole und
verhängnisvolle Vorzeichen stimmungsmäßig auf Kommendes vorbereiten.
Die Verwendung solcher Klammern, die eine dramatische
Handlung spannungerregend zusammenschließen, gehört ebensowohl
der epischen Technik an, und in ihrer Stimmungswirkung können sie
sogar als lyrische Momente bezeichnet werden. Im Drama aber stellt
die Vordeutung ein Gegengewicht gegen die berichtmäßige Vermittlung
des Vergangenen dar. Je nach dem Übergewicht der zurückbezogenen
oder vorwärtstreibenden Verknüpfung, von denen die eine
strengeren Kausalnexus und prädeterminierte Schicksalsbestimmtheit
bedeutet, während die andere eine freiere Spielkraft des Willens und
der Affekte erlaubt, scheiden sich die Typen dramatischer Technik.
Einer analytischen, den Knoten auflösenden Form, die von der prägnanten
Situation aus rückwärtsgreifend deren vorausliegende Bedingungen
enthüllt, steht als Gegensatz die auf Charakterentwicklung
eingestellte Vorwärtsbewegung gegenüber, die den Knoten erst schürzt.
Man erkennt den Unterschied deutlich bei einem Vergleich zwischen
der Rolle des Orakels in Sophokles' „König Ödipus“ und in Shakespeares
„Macbeth“. Der Schicksalsspruch, der über das Labdakidenhaus
verhängt wurde, liegt weit zurück und ist dem in der Wiege
davon Betroffenen nicht bekannt geworden, so daß er auf seine
Willenshandlungen keinen Einfluß hatte; auch sein Charakter hat an
dem Geschehenen keinen Anteil; alle Handlung führt zunächst dahin,
die furchtbare Verwirklichung des Vorausverkündeten erkennen zu
lassen; erst indem der Sehendgewordene sich selbst des Augenlichtes
beraubt, gelangt er als Held zu eigener verantwortungsvoller Handlung.
Bei Shakespeare ist es gerade umgekehrt; das Schicksal fügt
sich erst innerhalb der Handlung, die Hexenprophezeiung fällt in das
Stück selbst, aber alles, was die Schicksalsfrauen voraussagen, schlummert
bereits als triebhafte Sucht im Unterbewußtsein des Helden;
die Hexen sind nichts anderes als charakterologische Gedankenleserinnen |#f0171 : 147|

Macbeths, und ihre Prophezeiung wird nun zum anstoßgebenden
Leitmotiv seines bewußten Handelns als unvermeidlicher
Folge seines Charakters.


Schon Aristoteles hatte, indem er die Frage aufwarf, ob Fabel oder
Charaktere das Wesentliche in der Tragödie seien, die Verschiedenheit
der beiden Wege angedeutet. Eine mittlere Linie zwischen den
beiden Polen zu suchen und die Vorteile sowohl der konzentrierten
Fabel als der beweglich vorwärtsschreitenden Charakterentwicklung
wahrzunehmen, machte sich die deutsche Klassik zur Aufgabe. In
Schillers „Wallenstein“ ist nicht nur der Schicksalsgedanke zweideutig,
je nach der Auffassung des Realisten und des Idealisten; auch die
Technik lehnt sich an beide Seiten an und setzt sich zum Ziel das
Programm, das um die Jahrhundertwende in dem Gedicht „An
Goethe, als er Voltaires Mahomet auf die Bühne brachte“ kundgetan
wurde: auf der Spur des Griechen und des Briten dem besseren Ruhme
nachzuschreiten. Nicht minder deutlich ist die Doppelrichtung in
„Maria Stuart“ und „Braut von Messina“, und am klarsten geht die
Absicht, den Reiz analytischer Enthüllung einer dunklen Vorgeschichte
mit vorwärtsdringendem charaktermäßigen Handeln zu verbinden, aus
den Entwürfen zum „Demetrius“ hervor.


Die „Technik des Dramas“, die Gustav Freytag dem Werk der
deutschen Klassik auf den Leib zugeschnitten hat, hält sich in den
Fragen des Aufbaus und der Handlungsführung fast ausschließlich
an den Kanon einer tektonischen Gliederung, deren Pyramidenform
die steigende Handlung bis zum Höhepunkt des dritten Aktes emporführt
und ihr die gleiche Strecke für den Absturz bis zur Katastrophe
einräumt, wobei die Führung zwischen Spiel und Gegenspiel wechselt.
Dieser geschlossenen Form steht aber, wie man in Übertragung der
Wölfflinschen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe erkannt hat, als
gleichwertige künstlerische Möglichkeit eine offene Kompositionsweise
gegenüber. Richtet sich der harmonische Aufbau ebenmäßiger
Symmetrie nach Mustern der Architektur und Plastik, so kann eine
atektonische Struktur bei malerischer Komposition und beim thematischen
Aufbau musikalischer Sätze in Sonate und Symphonie ihr
Gegenstück finden. So hat Heinrich von Kleist, der die Unterwerfung
der Dichtung unter musikalische Gesetze als seine große Entdeckung
im Reich der Kunst ansah, die Szenenfolge der „Penthesilea“ ohne
fünfteilige Aktgliederung in thematischer Steigerung sich abspielen
lassen. Zwar kann auch in der offenen Form eine sichtbare Symmetrie
des Aufbaus walten wie in der Stationstechnik von Strindbergs
„Nach Damaskus“, aber dann sind ursächliche Verkettung und Dynamik |#f0172 : 148|

anders beschaffen als in dem Kräfteverhältnis von Spiel und
Gegenspiel. Alle Gestalten, die der Hauptperson begegnen, haben
nur die Funktion der Spiegelung, nicht die der Handlung und des
Zusammenstoßes. So konnte man für derartige Gruppierung das Bild
des Sternes im Gegensatz zu dem der Kette in Anspruch nehmen.


Mancherlei wurde getan für eine neue Systematik der Dramatechnik,
die weniger dogmatisch als analytisch den verschiedenartigen
Typen der Handlungsführung gerecht würde. Franz Saran, dessen
Schule in der Sammlung „Bausteine“ gründliche, wenn auch etwas
pedantische Untersuchungen der Handlungsführung in Lessings,
Klopstocks, Goethes, Schillers und Hauptmanns Dramen vorführte,
ist selbst nicht mehr zur Zusammenfassung seines Systems gelangt,
aber der in diesen Untersuchungen herausgearbeitete Unterschied
zwischen einer durchlaufenden „Fadentechnik“, die in Aufhellungs-,
Ziel- und Entwicklungshandlung vorherrscht, und einer „Wellenhandlung“,
deren Gang als Stimmungsbewegung mehr innere Bindungen
zur Geltung bringt, entbehrt nicht der fruchtbaren Gesichtspunkte
für die Analyse des Aufbaus. In ähnlicher Weise, aber mehr von
den Raumverhältnissen der Bühne ausgehend, hat Arnulf Perger in
mehreren dramaturgischen Arbeiten die Unterschiede zwischen Einortsdrama
und Bewegungsdrama bis in alle technischen Anwendungen
und Bedingungen verfolgt, um schließlich mit der Abkehr von der
Realillusion der Verwandlungsbühne und der durch sie bedingten
Technik Ausblicke in ein neues Werden zu eröffnen. Endlich hat
Robert Petsch für die Typologie der dramatischen Form historische
Grundlagen gesucht, indem er die freiere Beweglichkeit auf den
Mimus zurückführte und ihr die strengere Geschlossenheit des eigentlichen
Dramas gegenüberstellte. In einem späteren Aufsatz gelangte
er zu drei Haupttypen, deren erster die einfache Vordergrundhandlung
der mimischen Spielform bis zum Festspiel hin entwickelte,
während der zweite, klassisch genannte Typus die Vordergrundshandlung
nicht ohne perspektivische Tiefenbeziehung zu einem sinnvollen
ideellen Hintergrund bestehen läßt; beim dritten, romantischen
Typus, der im mythischen Musikdrama gipfelt, stellt sich dieser
Hintergrund als das eigentliche und wesentliche Leben dar, während
die transparente Vordergrundshandlung vielfach verschwommen bleibt.
Man geht wohl nicht fehl, in solcher Dreiteilung Beziehungen zu
Diltheys Typen von naturalistischer, pantheistischer und freiheitsidealistischer
Weltanschauung zu erkennen; auf jeden Fall scheint
diese Typologie mehr auf Fragen des Stils als auf die der Technik
gerichtet zu sein.

|#f0173 : 149|


Alle Technik des Dramas, selbst wenn es kein Theaterstück ist,
bleibt von einer bestimmten Bühnenvorstellung abhängig. Diese
imaginative Bühne aber verkörpert in ihren begrenzten Möglichkeiten
einen bestimmten Stil der Darstellung, in den sie das ihr zugedachte
Drama zwingt. Technik und Stil sind beim Drama in gleicher Weise
von der Bühnenform herzuleiten; sie sind so wenig voneinander zu
trennen, daß man die dramatische Technik geradezu als bewußtwerdenden
Stil, den dramatischen Stil als unbewußtbleibende Technik bezeichnen
könnte. Auch die Fragen, die neben Handlungsführung, Zielsetzung,
Aufbau und Gliederung noch übrigbleiben, die Exposition,
die Einführung und Vorstellung der Personen, die Mittel ihrer Charakteristik,
die zwischen ihnen bestehenden Verhältnisse von Kontrast
und Parallele, ihre Redeweise, die Führung des Dialoges, die Funktion
der Monologe, die Behandlung der Masse in Volksszenen, ihre Auflösung
in repräsentative Typen oder ihre chorische Zusammenfassung,
die Verwendung lyrischer Stimmungsmittel und musikalischer Begleitung,
die Szenenverbindung, die Aktschlüsse, das alles kann in bezug
auf technische Lösung wie auf das Verhältnis zur Wirklichkeit durchaus
als stilbedingt betrachtet werden.


In weit höherem Grade noch scheinen die technischen Probleme
der Lyrik mit dem Begriff des Stils zusammenzufallen. Technik der
Lyrik ist Stimmungserregung durch Sprachausdruck; aller Wille geht
darauf aus, von der Echtheit und Wahrheit der Empfindung und Anschauung
zu überzeugen; je eindrucksvoller dieser Wille sich durchsetzt,
desto weniger wird er als absichtsvolle Technik erkannt. Selbst
in dem umfassenden Werk von Richard Maria Werner über „Lyrik
und Lyriker“, das ganz positivistisch das Werden des Gedichtes in
allen seinen Phasen beschrieb, kam das Wort „Technik“ überhaupt
nicht vor, und der Begriff war ersetzt durch Befruchtung, inneres
und äußeres Wachstum. In neuerer phänomenologischer Betrachtung,
z. B. in den Büchern von Johannes Pfeiffer, ist wohl eine intentionale
Form des Sprachausdrucks berücksichtigt, aber das lyrische Gedicht
gilt vor allem deshalb als vorbildlich und beispielhaft für alle Dichtung,
weil bei ihm der gegenständliche Inhalt vom „Wie“ verzehrt
ist: „von der Weise der Gestaltung, von der stimmungshaltigen
Sprachform, ─ mit einem Wort: vom Stil.“ Alle die technischen Aufgaben,
die das Drama in bezug auf Stoffdarbietung und Gegenstandsbewältigung
stellte, scheinen demnach hier in Wegfall zu kommen.

|#f0174 : 150|


Allerdings kann die zyklische Zusammenstellung vereinzelt entstandener
lyrischer Gedichte, indem ihre Stimmungen aufeinander
abgestimmt werden und schließlich der ganze Reichtum zu einer
Perlenkette aufgefädelt wird, eine Sache durchdachten Aufbaus sein.
In der Anordnung der gesammelten Gedichte zu einem großen Strauß,
der mehr bedeuten muß als die Summe der einzelnen Blumen, hat
der Lyriker es mit einem Stoff zu tun, den ihm nicht so sehr sein
Leben als seine eigene Dichtung darbietet und der in der ordnenden
Zusammenfassung mit künstlerischem Bewußtsein beinahe noch einmal
zu gestalten ist. Angesichts solcher Aufgaben kann auch bei
der Lyrik von einer kompositionellen Technik gesprochen werden,
wie sie schon Wilhelm Scherer für Goethes erste Gedichtausgabe,
Konrad Burdach und Hans Heinrich Schaeder danach für den „Westöstlichen
Divan“, aufs eingehendste aber Walter Brecht für „Conrad
Ferdinand Meyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung“
erhellt haben.


Wo es in der Lyrik etwas zu erzählen gibt und wo überhaupt gegenständliche
Wirkungen sich einstellen, da bestehen auch beim einzelnen
Gedicht sichtbare technische Probleme des Aufbaus. Die Ballade
beispielsweise stimmt, wie ihr Meister Börries von Münchhausen
gezeigt hat, in dem Zusammenklingen eines sinnlich-wirklichen
unteren Vorganges und eines seelisch-wirksamen oberen Vorganges mit
jener Doppelwirkung, die am Drama zu beobachten war, überein, und
in der Sprunghaftigkeit der Handlungsführung wie in der Anwendung
symbolischer Motive ist eine Technik zu erkennen, die allerdings
mit bestimmten Stilrichtungen zusammenfällt. In einer Untersuchung
über „Aufbauformen“ hat Robert Petsch sogar bei jedem lyrischen
Gedicht einen doppelten Vorgang, der sich gleichzeitig am Gegenstande
(dem Objekt) wie am lyrischen Ich (dem Subjekt) abspielt
und sich über die beiden Spielfelder in wechselwirkender Umschlingung
erhebt, erkennen wollen; aus diesem Mehrvorgang leitet er
Aufbaugesetze der reinen Lyrik ab. Wenn bei der sogenannten
pindarisierenden Form der französischen Odendichtung eine künstliche
Unordnung (beau désordre) gepflegt wurde, um den Eindruck
leidenschaftlicher Gefühlserregung zu erwecken, so war ein bewußtes
Wollen unverkennbar. Von der mittelbaren Lyrik mag das in noch
höherem Maße gelten. So kann beim Bildgedicht, das den Gegenstand
und die Stimmung eines Gemäldes aus der Sprache der bildenden
Kunst in die der Dichtung umsetzt, wie bei jeder Übersetzung
überhaupt, von Technik gesprochen werden. Im übrigen aber gilt
von den meisten lyrischen Formelementen, bei denen von einer Technik |#f0175 : 151|

die Rede sein kann, wie Strophenbau, Parallelismus, Vers, Reim,
Assonanz, Allitteration, Lautmalerei und Bildhaftigkeit, daß sie auf
dem Gebiet der Sprach- und Stilbehandlung liegen; dort treffen sie
zusammen mit unbewußt gehandhabten Klangwirkungen der Sprachmelodie
und des Rhythmus, also mit den Elementen, in denen die
eigentliche lyrische Fügung sich ausbildet.


Bei der erzählenden Dichtung wird man viel eher von einer eigenen
epischen Technik sprechen können, die unabhängig von der
Bindung an einen bestimmten Stil gehandhabt wird. Das liegt an dem
Charakter des Berichtes und an der Stellung des Erzählers, der als
Mittler zwischen Gegenstand und Hörerschaft sichtbar ist. Da er sich
bald nach der einen, bald nach der andern Seite wendet, kann er sich
leicht in seine Karten blicken lassen. Er sitzt nicht, wie Schiller und
Goethe sich den Rhapsoden dachten, hinter einem Vorhang; er
bleibt nicht wie der dramatische Puppenspieler, dessen Finger oder
Drähte die Figuren bewegen, versteckt; sondern er zeigt offen das
Gewirr der Fäden und Spannungen, die in seiner Hand liegen. Er
gleicht dem Spielleiter einer Theaterprobe, der zwischen den Personen
auf der Bühne steht und ihnen Stellung, Bewegung und Betonung
anweist; er kann sogar in scheinbarer Ratlosigkeit mit seinem
Publikum selbst in Verbindung treten und es an Freud und Leid des
Erzählerberufes teilnehmen lassen; denn mehr als im Drama und in
der Lyrik, bei denen durch die Darstellung Gefühl und Anschauung
mitgerissen und überwältigt werden, kommt es in der erzählenden
Dichtung auf ein Vertrauensverhältnis zwischen Erzähler und Empfänger
an, das sich in gegenseitigem Entgegenkommen darstellt.
Inhalt des Vertrages, den sie schließen, ist eine Glaubwürdigkeit des
Erzählers, dem die Gläubigkeit des Hörers als Gegenleistnug entspricht.
Alle Erzählertechnik läuft auf nichts anderes hinaus als auf
ein Glaubhaftmachen des Erzählten, dessen Vorgang durch Spannungserregung
vorbereitet und durch Motivierung gedeutet wird. Die
Folgerichtigkeit des Geschehens und das Gesetz des waltenden Schicksals
werden auch hier wie im Drama durch klare Gliederung in den
dynamischen Gegenbewegungen zur Erscheinung gebracht. Selbst wo
es sich nicht um eine organische Fabel handelt, selbst in den homerischen
Epen und im Nibelungenlied zeigt sich ein Aufbau von tektonischer
Geschlossenheit als Formprinzip des großen Epos. Virgil
und nach ihm die Renaissance-Epiker haben diese Symmetrie dem
Homer bewußt nachgebildet. Der Erzähler tritt als Person wenig |#f0176 : 152|

hervor; allwissend entwickelt er von der erhabenen Höhe objektiver
Weltschau aus ein umfassendes Fernbild; alle Schilderungen äußerer
und innerer Vorgänge haben ein gewisses formelhaftes Gleichmaß in
den typischen Beiwörtern und Wiederholungen.


In bezug auf das zeitliche Fernbild kommen die zyklischen Stammbaumromane
der Balzac, Zola, Freytag, Galsworthy, Olaf Duun dem
Epischen nahe; in bezug auf Raumfülle wurde ein episches Panorama
in Sues und Gutzkows Romanen des Nebeneinander erstrebt. Aber der
für sich stehende Roman gibt doch nur einen Ausschnitt aus der Totalität
des Daseins; dafür wird er in Beschränkung auf Einzelschicksale
den innersten Lebensproblemen nähergeführt. Wenn im großen Epos
sowohl die Meinungen des Dichters als die seiner Charaktere sich offen
kundgeben, bedarf es keiner raffinierten künstlichen Mittel. In Roman
und Novelle dagegen kann es sich sowohl um Eindringen in
unausgesprochene Seelenvorgänge der einzelnen Personen als um Verheimlichung
ihrer wahren Absichten handeln, und zur Vermittlung
dieser verschiedenartigen Lichtbrechungen muß das Spielwerk mannigfaltigster
technischer Kunstgriffe in Anspruch genommen werden.


In der Theorie ist auch dem Roman strenge Objektivität zur Pflicht
gemacht worden. Aber Friedrich Spielhagen, der in seinen „Beiträgen
zur Theorie und Technik des Romans“ diesen Standpunkt vertrat,
drang nicht einmal in seiner eigenen Praxis mit derartigen Grundsätzen
durch. Die Zwischenstellung des Erzählers bringt vielmehr
eine ständige Kreuzung von Objektivierung des Subjektiven und
Subjektivierung des Objektiven mit sich. Die subjektive Erzählungsform
sucht den Eindruck objektiver Wahrheit des Erzählers zu
erwecken durch Hinweis auf stoffliches Material: Erinnerungen,
Zeugenaussagen, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe. Die objektive Erzählungsform
wird subjektiviert durch persönliche Einmischung des
Dichters, durch Anrede des Erzählers an seine Hörerschaft wie durch
Zwischenreden erklärender, lehrhafter, betrachtender Art. Während
die Subjektivierung des Objektiven auch im großen Epos nicht ausbleibt,
ist die objektivierende Vermittlung des Subjektiven namentlich
in der Ich-Erzählung ausgebildet. Ihr technischer Zweck bestand
ursprünglich darin, Unglaubhaftes glaubhaft zu machen, indem es
als selbsterlebt erzählt wurde. Das ist schon im alten Ägypten für
Wundergeschichten angewandt worden, nachmals für Reiseromane,
Visionsdichtungen, die eine Reise ins Jenseits darstellen, Abenteurererzählungen,
Utopien, ja schließlich in parodistischem Umschlag für
Lügenmärchen. Erst später ist für Briefroman, Tagebuchroman und
Entwicklungsroman der besondere psychologische Reiz der Selbstoffenbarung |#f0177 : 153|

und Innenansicht, wie er mit der Ichform verbunden ist,
entdeckt worden.


Bildet die Ich-Erzählung im homerischen Epos nur eine Einlage,
so kann sie im Roman alleinherrschende Erzählungsform werden
unter dem einheitlichen Blickpunkt fingierter Autobiographie. Sie
kann in einer der lyrischen Selbstdarstellung angenäherten Weise
eigenes Erleben des Dichters wiedergeben wie in Goethes „Werther“
oder in Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“, dessen spätere Umarbeitung
erst die Ichform konsequent durchführt. Die autobiographische
Fiktion kann sogar auf historische Gestalten angewandt
werden, wie es in Wilhelm Schäfers Roman „Karl Stauffers Werdegang“
geschehen ist. Bei dieser objektiven, mehr dem Drama entsprechenden
Erzählungsart tritt der Dichter völlig hinter seinem
Helden, der zugleich als Erzähler eingeführt ist, zurück. Es kann
sich aber auch eine Identität von Erzähler und Dichter wiederherstellen,
wenn der Erzähler nur als Beobachter an der Geschichte teilgenommen
haben will und keineswegs die Hauptperson ist; z. B. in
Schillers „Geisterseher“, in Wilhelm Raabes „Stopfkuchen“, in Ricarda
Huchs „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“. Wie
der Erzähler gelegentlich die Maske eines Dichters trägt (Dante in
C. F. Meyers „Hochzeit des Mönchs“), so kann sich dem Dichter
wiederum der fingierte Name eines beteiligten Berichterstatters als
Pseudonym dauernd anheften; auf diese Weise sind Erzählernamen
wie Jean Paul, Jeremias Gotthelf, Hermann Burte zu Dichternamen
geworden.


Eine Loslösung des objektiven Erzählers von dem epischen Ich
wird notwendig, wenn das Schicksal des Helden bis zu seiner letzten
Stunde, über die er selbst nicht mehr aussagen kann, berichtet werden
soll. Dann wird die Ich-Erzählung eingerahmt durch einen Herausgeberbericht.
Die Person des Herausgebers kann ganz nebensächlich
sein, und sein Auftreten kann sich auf die bloße Mitteilung der
Umstände, unter denen die von ihm wiedergegebene Handschrift in
seine Hände gekommen war, beschränken. Aber der Herausgeber
kann auch Glossator werden und Zweifel an der Richtigkeit aussprechen;
er kann Lücken vermutungsweise ausfüllen oder Lücken
schaffen, indem er angeblich Belangloses wegläßt. In diesem Fall
übernimmt der Herausgeber die Rolle des Redaktors und kommt als
solcher wieder zu einem besonderen Charakter, sei es gläubig ergriffener,
sei es kritisch zweifelnder Art.


Die romantische Ironie rechnet gern mit bewußter Nachlässigkeit
der Redaktion des Herausgebers und mit Unverstand des Setzers und |#f0178 : 154|

Druckers. So ist bei Hoffmann die Selbstbiographie des Katers Murr
mit der Biographie des Kapellmeisters Kreisler durcheinander geraten,
weil der Herausgeber nicht beachtete, daß Fragmente der Lebensbeschreibung
auf den rückwärtigen Seiten des Manuskripts standen,
dessen Vorderseiten der Kater beschrieb. Es ist das epische Gegenstück
zu den oben (S. 144) erwähnten Doppeldramen, in denen der
Parallelismus keine dramatische Wirkung haben kann; in der Erzählung
dagegen ist es ein glänzender Kunstgriff, um geniales Künstlerdasein
und philiströses Katerleben in Kontrast zu setzen und damit
die Idee des Werkes hell zu beleuchten. Ein weiteres Beispiel dieser
Technik liegt in Immermanns „Münchhausen“ vor, indem durch angebliches
Versehen des Buchbinders die ersten zehn Kapitel erst
hinter den nächsten fünf ihren Platz gefunden haben, was durch eine
eingelegte Korrespondenz zwischen Herausgeber und Buchbinder
seine spaßhafte Erklärung findet. Es handelt sich dabei nicht nur
um eine Parodie des Fürsten Pückler-Muskau, der in seinen „Briefen
eines Verstorbenen“ solche Verschiebung vornahm, sondern die Technik
des „beau désordre“ dient als wirkungsvolles Mittel sowohl der
Spannungserregung als der Herstellung guter Laune. In ähnlicher
Weise hat die Technik der als Ich-Erzählung eingelegten Jugendgeschichte
im Entwicklungsroman (Wielands „Agathon“, Goethes
„Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“
1. Fassung), einen traditionellen Platz. „Ab ovo Ledae“ zu erzählen
ist für alle Epik verpönt. Jean Paul, der seine eigenen Romane gern
als „Biographien“ bezeichnete, gibt in der „Vorschule der Ästhetik“
das erprobte Rezept, nicht die Wiege des Helden mit der Leserwelt
zu umringen, sondern ihn sofort in der Höhe von mehreren Fuß
erscheinen zu lassen; „erst darauf könnt ihr einige Reliquien aus
der Kinderstube nachholen, weil nicht die Reliquie den Mann, sondern
er sie bedeutend macht“. Der Verfasser der „Franzosentid“
empfiehlt zwar, um „ne Geschicht richtig to vertellen“, wie der
Pflüger Streifen für Streifen zu nehmen; aber etwas bleibt doch
immer liegen, „un dann möt man en Strämel taurügg trecken“.
Solche technischen Betrachtungen erhöhen die Behaglichkeit, womit
sie sich selbst als Kunstmittel der Erzählungstechnik einordnen.


Das freie Schalten mit der Zeitform, die ein immer neues Zurückgreifen
auf Vergangenes in nachträglicher Aufnahme von Berichten,
Erinnerungen, Erzählungen und Urkunden erlaubt, läßt die Verschiebungen,
die beim Drama als behelfsmäßiger Gebrauch epischer
Mittel gelten dürfen, hier geradezu Hauptsache werden. So kann
auch die Einschachtelung einer Erzählung in die andere oder die Ablösung |#f0179 : 155|

verschiedener Erzähler, wie sie Theodor Storm in „St. Jürgen“
und im „Schimmelreiter“ durchgeführt hat, für Mannigfaltigkeit sorgen.
Zur Erzählungstechnik gehört auch die Innehaltung eines charakteristischen
Unterschiedes in der Tonart der verschiedenen Erzähler.
Mündliche und schriftliche Einlagen stehen dabei unter
anderen Bedingungen: die eine, die ihren Anlaß in einer besonderen
Situation, einem von außen kommenden Anstoß, einer zufälligen Begegnung
hat, rechnet mit mindestens einem unmittelbaren Zuhörer als
nächststehendem Publikum, das zwischen Erzähler und Leser seinen
Platz hat. In der typischen Novellenform des zyklischen Rahmens
kann der Erzähler umringt sein von einem neuigkeitslüsternen Hörerkreis,
der Themen stellt, sich durch Fragen und zweifelnde Zwischenrufe
beteiligt und nachher Kritik übt oder Nutzanwendungen gibt.
Dabei wird die Eigenart des Erzählers sich in Redeweise und Weltansicht
von der der Hörer abheben müssen. Bei der anderen Form
der Einlage, die als eine Handschrift chronikalischen, tagebuchartigen
oder brieflichen Charakters zum Vorschein kommt, ist das erst recht
der Fall, auch wenn keine Wechselwirkung besteht; die Einlage muß
durch ein gewisses altertümliches Sprachkostüm aus dem sonstigen
Erzählerton herausfallen; hier steht nicht die Technik unter Stilgesetz,
sondern der Stil ordnet sich der Technik unter, wenn er archaisiert,
wie es in der chronikalischen Erzählung der Fall ist.


Bei allen Ichformen der Erzählung ist der Gesichtskreis begrenzt;
der Berichterstatter zweiter Ordnung besitzt nicht die Allwissenheit,
die der Erzähler erster Ordnung für sich in Anspruch nehmen darf;
er hat nichts weiter zu berichten, als was er mit eigenen Sinnen
wahrgenommen hat, was er von anderen hörte oder was er über die
Zusammenhänge vermutet. Diese Beschränkung hat technische Vorzüge
und Nachteile.


Die Vorteile liegen in der realistischen Beglaubigung. Es dient
auch zur Erhöhung der Spannung, wenn rätselhafte Vorgänge im
Halbdunkel bleiben müssen, weil nicht in das Innere der Beteiligten
hineingeleuchtet werden kann. Wie der aufgeklärte Schulmeister,
der in Storms „Chronik von Grieshuus“ Bericht erstattet, so läßt der
rationalistische Chronist in Gerhart Hauptmanns „Emanuel Quint“
das Seelenleben des „Narren in Christo“ ohne Innenansicht. Was in
der Hauptperson vorgeht, können wir nur aus den äußeren Symptomen
erschließen. Das ganze Verhältnis von Einfalt und Erleuchtung, von
wunderwirkender Gotterfülltheit und allmählich wachsendem Wahn
bleibt als unenträtseltes Problem weit wirkungsvoller als in der Aufhellung
einer unbarmherzigen psychologischen Analyse.

|#f0180 : 156|


Auf der anderen Seite konnte ein entzückendes Motiv wie die
versteckte Liebeserklärung in Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“
durch Umsetzung in Ich-Erzählung gründlich verdorben werden. In
der ersten Fassung war erzählt, wie Dortchen Schönfund, um Heinrich
Lee ihre Neigung unauffällig zu verraten, auf 20 oder 30 Papierstreifchen
dasselbe Gedicht schreibt und Bonbons darein wickelt. Als
er beim Abschied eines davon zu ziehen hat, liest er die ermutigenden
Verse, aber da er nicht ahnt, daß alle Süßigkeiten mit demselben
Spruch umwickelt sind, begreift er nicht sein Glückslos und bleibt
beim Abschiednehmen blöde. Die Umarbeitung ist durch Rücksichtnahme
auf die Ich-Erzählung zur Änderung genötigt; Heinrich kann
nichts anderes berichten, als was er selbst gesehen hat; deshalb muß
er vorher das Körbchen finden, die Zettel neugierig öffnen, sich überzeugen,
daß auf allen derselbe Vers steht, also den Zusammenhang
durchschauen, und daß er nun nicht die sturmreife Festung nimmt,
ist psychologisch unbegreiflich.


Vom Standort und Gesichtskreis des Erzählers hängt der pragmatische
oder psychologische Charakter des Berichtes ab. Die freiwillige
Selbstbeschränkung der Ichform kann unausgesprochene Seelenvorgänge
nur als eigene Erlebnisse vermitteln; bei anderen Personen
muß sie zu technischen Notbehelfen wie aufgefundenen Tagebuchblättern,
Briefen, belauschten Monologen oder zu Märchenwundern
wie Tarnkappe, unsichtbar machendem Vogelnest (Grimmelshausen)
oder Gedankenperspektiv (Hoffmanns „Meister Floh“) greifen oder
dem Erzähler eine übernatürliche Gabe seelischer Einblicke verleihen,
wie sie etwa dem Teufel bei Lesage und dem Memoiren schreibenden
Satan bei Wilhelm Hauff gegeben ist. Wiederum kann die auf Selbstbeobachtung
angewiesene Ichform sich zur subtilsten Zerfaserung
aller fliegenden Gedanken und unterbewußten Regungen verfeinern,
namentlich wenn sie von Brief und Tagebuch zum Gedankenmonolog
übergeht. Schließlich kann unter Ausschaltung des epischen Erzählers
eine ganze Handlung aus dem Blickpunkt des Hauptbeteiligten vergegenwärtigt
und das in Wirklichkeit Unausgesprochene als psychoanalytische
Aussprache zu Protokoll gebracht werden (Schnitzlers
„Fräulein Else“). In der Vergegenwärtigung liegen Übergänge zum
Dramatischen, wie sie auch in der unmittelbaren Mitteilung eines
Dialogs sich einstellen. Selbst wenn Rollennamen vorangedruckt
sind, bleibt es ein epischer Dialog; aber er bedeutet einen Wechsel
des Standortes und einen Bruch der Berichtform durch Ausschaltung
des Erzählers.


Eduard Spranger spricht von „psychologischem Perspektivismus“ |#f0181 : 157|

im Roman und sieht schon bei Dostojewski die Gesetze der Perspektive
gelegentlich durchbrochen; denn entweder sollten sie auf ein
überlegenes Mitwissen vom Innensichtsstandpunkt aus oder auf eine
begrenzte Beteiligung des auf Außenansicht beschränkten Mitspielers
eingestellt sein. Der willkürliche Wechsel des Standortes kann aber
nur im Klassischen als eine gewisse Stilunreinheit empfunden werden;
schon in der objektiven Epik findet sich früh jener Übergang aus
der Erzählung in die Wiedergabe von Gedachtem, die man als „erlebte
Rede“ zu bezeichnen pflegt. Schließlich aber kann eine chaotische
Mischung von Erzählung, Ichdarstellung, Dialog und Gedankenmonolog
geradezu zum weltanschauungsbestimmten Stilprinzip expressionistischer
und psychoanalytischer Zerrüttung werden, wie es
in dem „Ulysses“ von James Joyce und seinen Nachahmungen
geschehen ist.


Bei Joyce nimmt die Zeiterstreckung der Handlung über einen
einzigen Tag ungefähr soviel Raum ein, wie der Leser braucht, um
mitzukommen. Mit derartigem naturalistischem Gleichschritt der Zeit
hat schon vorher Albrecht Schaeffer im Anfang seines „Helianth“
experimentiert, so wie er im „Joseph Montfort“ in bezug auf den
wechselnden Blickpunkt verschiedener Erzähler interessante Versuche
gemacht hat. Die Einerleiheit der Zeit, wie sie fälschlich von pedantischen
Regelgebern für das Theaterstück verlangt worden war, ist
für die epische Technik mehr als belanglos, ja geradezu widersinnig.
In der erzählenden Form ist nicht allein die strenge Zeitfolge aufgehoben,
sondern das Zeitmaß ist noch weit mehr als im Drama perspektivisch.
Es trifft zu, was in dem an technischen Reflexionen über
dieses Thema reichen „Zauberberg“ im Anfang des fünften Kapitels
gesagt ist, nämlich, daß nach den Gesetzen des Erzählens und Zuhörens
uns die Zeit genau so lang oder kurz wird und für unser
Erlebnis sich genau so breit macht oder zusammenschrumpft wie für
den Helden der Geschichte. Nur gehört es zur Technik der Erzählung,
daß dem Leser trotz der epischen Breite die Zeit überhaupt
nicht lang werden dürfte.


. Vierte Stufe: Menschengestaltung
(Psychologie ─ Selbstdarstellung ─ Charaktere)

a) Psychologie und Selbstdarstellung


Die dichterische Darstellung seelischer Vorgänge ist zu trennen
von der Psychologie des dichterischen Schaffens. Dichterische Psychologie
ist etwas anderes als Psychologie des Dichters. Der Dichter |#f0182 : 158|

ist einmal Subjekt, das andere Mal Objekt; seine Seele ist hier in
das erfundene Leben einer poetischen Welt projiziert; dort bildet sie
selbst den realen Schauplatz der Vorgänge.


Der dichterische Zeugungsakt entzieht sich der Öffentlichkeit und
bleibt, trotz der vielen Erklärungen von Dichtern, die durch Selbstbeobachtung
über den schöpferischen Vorgang ins klare kommen
wollten, letzten Endes rätselhaft und unausgesprochenes Geheimnis.
Die Literaturwissenschaft sucht sich in diesem Dunkel zurechtzufinden,
wenn sie ein einzelnes dichterisches Kunstwerk aus seinem Werden
verstehen will, und die Poetik sucht aus einer psychologischen
Gesetzmäßigkeit des Werdens, die sie zu ermitteln bemüht ist, zu
allgemeinen Erkenntnissen über das Wesen der Dichtung zu gelangen.
Davon soll späterhin noch gehandelt werden (2. Buch, 3. Hauptteil).


Anders ist es mit dem psychologischen Gehalt eines Werkes; der
liegt offen zutage und bietet sich der Beurteilung dar; er stellt der
Kritik wie der Analyse eine wesentliche Aufgabe in der Prüfung der
Folgerichtigkeit, Gültigkeit und Wahrheit aller in der Dichtung berichteten
oder dargestellten seelischen Vorgänge und in der Erkenntnis
der Bedeutung, die die Seelendarstellung im Organismus des
Werkes einnimmt. Um was es sich bei dieser Frage handelt, ist nicht
nur die Wahrscheinlichkeit, sondern letzten Endes die innere
Wahrheit.


Die Glaubwürdigkeit kann die Achillesferse der dichterischen
Wirkung bilden, aber die Dichtungsgattungen werden in verschiedener
Weise von dieser Verantwortung betroffen. Der Lyriker braucht sich,
wenn das, was er als seine Empfindung dargestellt hat, wirklich echt
ist, um die Glaubwürdigkeit nicht zu kümmern; bei ihm kommt es
auf die stimmungsmäßig zwingende Eindruckskraft der Darstellung
an. Der Dramatiker kann zum Teil darauf vertrauen, daß die schauspielerische
Nachschöpfung seinen Gestalten mit der körperlichen
Verwirklichung Glaubhaftigkeit erzwingt. Anders liegt es bei der
Erzählungskunst. Wo alles von der unmittelbaren Glaubhaftigkeit
abhängt, ist die psychologische Wahrscheinlichkeit und folgerichtige
Motivierung eines der wesentlichen technischen Probleme. Deshalb
mußte die vorausgehende Analyse der Erzählungstechnik bereits auf
die Psychologie hinführen.


Die Psychologie erstreckt ihren Bereich aber auch über die beiden
folgenden Begriffe; sie steht mit Selbstdarstellung und Charakteristik
in engstem Zusammenhang. Die drei Wege der Menschengestaltung,
die auf dieser Stufe nahe aneinander gerückt sind, entsprechen
einigermaßen dem Verhältnis der drei Dichtungsgattungen.

|#f0183 : 159|


Selbstdarstellung ist vornehmlich Sache der Lyrik. Die reine Lyrik
kennt überhaupt keine andere Art von Psychologie und kaum eine
andere Art von Charakterbild als die Selbstdarstellung des Dichters.
Wenn das „lyrische Ich“ nur objektive Form eines individuellen
empirischen Ich ist, so spiegelt es dessen Seelenlage. Auch das lyrische
„Du“ kann Selbstanrede sein, und niemals ist es ein fremdes Nicht-Ich.
Erinnerungsbilder und Wunschträume bleiben ichgebunden, und sogar
das Bild der Geliebten ist ein Stück Selbstdarstellung, auch wenn das
Schönheitsideal in sich wandelnden Formen und Formeln vom Zeitgeschmack
abhängig ist. Über die Selbstdarstellung scheint die Lyrik
nur in zwei Extremen hinauszukommen: in der Ich-Enthobenheit
selbstvergessener, hingegebener Ekstasis und in der unpersönlichen
Naturbeschreibung, die kaum mehr dichterisch ist.


Im Drama wiederum ist objektive Charakterdarstellung die Hauptsache;
alle Handlung, alle Rede, jedes Ziel wird nur vermittels der
handelnden Personen zur Darstellung gebracht. Während der Epiker
seine Charaktere verdolmetschen kann, sind die Charaktere die
alleinigen Dolmetscher des Dramatikers. Dabei ist auch Selbstdarstellung
im Spiele; mit beseelter Belebung ihrer Handlungsweise gibt der
Dichter seinen Gestalten etwas von der eigenen Seele mit; die Rollenverteilung
bedeutet mehr oder weniger eine Spaltung des dichterischen
Ich. In Goethes Dramen z. B. sind die Paare Götz ─ Weislingen,
Clavigo ─ Carlos, Egmont ─ Oranien, Tasso ─ Antonio, ja sogar
Faust ─ Mephistopheles die Personifikationen verschiedener Eigenschaften,
Stimmungen und Erlebnisse ihres Dichters; nur die psychologische
Führung ihrer Handlung und Rede vermag diese geteilten
Selbstdarstellungen in ihrer Gegensätzlichkeit auseinander zu halten,
während sie sonst, wie das leicht im lyrischen Drama geschehen kann,
in einer Grundstimmung verschwimmen würden. Es gibt aber auch
Dramen, die der Form nach nicht lyrisch sind und in denen doch
eine ungeteilte Selbstdarstellung stattfindet, wie etwa in den Seelenexhibitionen
des Expressionismus, in Strindbergs „Nach Damaskus“,
Wedekinds „Marquis von Keith“ und „Hidalla“, Sorges „Bettler“,
Unruhs „Vor der Entscheidung“ und „Phäa“. Da ist der Charakter
des Dichters in der Hauptperson zu erkennen, auch wenn er nicht,
wie Grabbe am Schluß von „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“,
sich unter eigenem Namen auf die Bühne stellt.


In der Erzählungskunst kann man drei Formen der Selbstdarstellung
unterscheiden; eine mehr lyrische, wenn in der Ichform eigene Erlebnisse,
Stimmungen und Meinungen dargestellt werden, eine mehr
dramatische, wenn in einer Nebenperson der Charakter des Dichters |#f0184 : 160|

sich objektiviert, und eine rein epische, wenn der Dichter sich mit
dem Erzähler identifiziert. Die erste findet man schon in Ulrich
v. Lichtensteins „Frauendienst“, in Grimmelshausens „Simplizissimus“,
in Goethes „Werther“, Hoffmanns „Kapellmeister Kreisler“ und in
vielen späteren Bildungsromanen; die zweite war namentlich im Zeitroman
des jungen Deutschlands an der Tagesordnung, wo die Gestalt
des Literaten oft zur Selbstaussprache und Gesellschaftskritik des
Dichters benutzt wurde; von dem grauen Mann in Immermanns
„Münchhausen“ über den Pfarrer von Gytiswyl bei Gotthelf bis zu
Hermann Stehrs Faber im „Heiligenhof“ kann man die pseudonyme
Einmischung des Dichters unter seine Gestalten verfolgen; oft genügt
es auch, wenn er einem Raisonneur seine eigene Lebensauffassung in
den Mund legt, wie es Anatole France mit seinem Abbé Coignard,
Fontane mit seinem Dubslav v. Stechlin tat. Die dritte Art dagegen,
bei der der Erzähler mit Charakterzügen des Dichters sich in
menschlicher Beschränkung darstellt, ist namentlich im humoristischen
Roman zu finden.


Dadurch, daß dem epischen Erzähler die Beschreibung und Schilderung
seelischer Vorgänge verantwortlich zufällt, wird er praktisch
in die Rolle des Psychologen versetzt und mit seinen Aufgaben
belastet. Der Dichter, soweit er sich mit dem Erzähler identifiziert,
kommt mit seiner Psychologie zur Selbstdarstellung. Denn es ist
seine eigene Lebenserfahrung, Seelenkenntnis und Menschenbeobachtung,
aus der heraus er den Zusammenhang zwischen den Charakteren
und ihrer Handlungsweise allein erklären kann. Was er als Dichter
von innen heraus gestaltet hat, muß er als Erzähler wie ein außenstehender
Beobachter verständlich machen; er ist also in doppelter
Funktion Psychologe sowohl als Charakterschöpfer wie als sich selbst
darstellender Erklärer; ja, er kann es sogar, wenn er sich darum
kümmert, noch in einer dritten Funktion sein, nämlich in der Berechnung
des Eindrucks auf die Leserschaft, in der psychologischen
Einschätzung des Publikums.


Psychologie und Charakterologie sind zwei Wissenschaftsgebiete,
die in engem gegenständlichen Zusammenhang stehen; zwischen ihnen
ist hier die nur dem Reich der Kunst angehörige Selbstdarstellung
eingefügt. Sie überliefert den Wissenschaften sowohl psychologisches
als charakterologisches Material, das als ein aus dem Leben geschöpfter
Erfahrungsstoff um so besser zu brauchen ist, als die künstlerische
Gestaltung bereits die wesentlichen Züge herausgearbeitet und organisch
zusammengeschlossen hat. Es kann eine Fehlerquelle sein,
wenn die geisteswissenschaftliche Psychologie sich auf die Schöpfungen |#f0185 : 161|

subjektiver Menschenkenntnis beruft; sie wird es auch vorwiegend
nur als Bestätigung und Ausbau ihrer Beobachtungen und Systeme
auffassen dürfen; in diesem Sinne ist die Lebenswahrheit der von
Dostojewskis psychologischem Tiefblick mit unbarmherziger pathographischer
Konsequenz gezeichneten Seelenvorgänge schon oft von
der Wissenschaft als eine Reihe vorbildlicher Präparate entgegengenommen
worden. Ebenso kann die charakterologische Wissenschaft
die Gestalten Shakespeares als Demonstrationsmaterial nutzen, weil
ihre überlebensgroße Seinsform in der Projektion mehr überzeugende
Daseinskraft besitzt als zersplitterte kleinliche Wirklichkeiten. Es
ist nicht anders als beim künstlerischen Rollenporträt eines Schauspielers,
das besser als jede Photographie das Charakteristische seiner
Haltung und seines Ausdrucks festhält, weil nicht ein einzelner
Moment, sondern das Ganze der Leistung erlebnismäßig aufgefaßt ist.


Die Arbeitsweise der dichterischen Psychologie und Charakterologie
ist eine völlig andere als die der wissenschaftlichen. Gewiß besteht
eine Wechselwirkung, und die wissenschaftliche Seelenforschung hat
die dichterische Seelengestaltung vielfach befruchtet, indem sie bestimmte
Erscheinungsweisen seelischer Vorgänge in das Licht ihrer
Lehre stellte. So kann Parzivals Weg durch den Zweifel und der
betrachtende Eingang von Wolframs Dichtung mit mittelalterlichen
Seelenauffassungen in Zusammenhang gebracht werden. So hat man
an Büchern wie Brights „Treatise of Melancholy“ (1536) zeigen können,
daß die Dramen Shakespeares die psychologischen Anschauungen
seiner Zeit widerspiegeln. So hat Gustav Kettner wahrscheinlich
gemacht, daß die erst 1765 ans Licht getretenen „Nouveaux essais“
von Leibniz durch Hinweis auf unbewußtes Seelenleben die Psychologie
von Lessings „Emilia Galotti“ beeinflußten. Wissenschaft und
Dichtung gingen oftmals Hand in Hand; so war Karl Philipp Moritz
zugleich Herausgeber eines Magazins für Erfahrungsseelenkunde und
Verfasser der Selbstdarstellung „Anton Reiser“, der er den Untertitel
„psychologischer Roman“ gab. In ähnlicher Weise ist eine Parallele
zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Interesse in der
Psychologie der deutschen Romantiker zu beobachten bei Friedrich
von Hardenberg, bei Justinus Kerner, namentlich bei Gotthilf Heinrich
Schubert, dessen Vorlesungen über „Nachtseiten der Naturwissenschaft“
auf die somnambulen Motive der Heinrich v. Kleist und
E. Th. A. Hoffmann einwirkten. Wie die romantische Psychologie
im Traumleben Offenbarungen einer höheren Wirklichkeit suchte,
so haben Traummotive nun die Handlungsführung des romantischen
Märchens geleitet. Bald darnach aber beginnt in Frankreich mit |#f0186 : 162|

Stendhal, Balzac und Flaubert jene desillusionierende, zerfleischende
psychologische Selbstzerfaserung, die Lugowski jüngst als „Antimärchenroman“
charakterisiert hat und zu der man vielleicht die
Anfänge der französischen Experimentalpsychologie (Massias, Bautain)
in Parallele setzen darf. Der roman expérimental Zolas führte
zu einer scheinbaren Nachahmung wissenschaftlicher Methoden; die
Milieulehre tat das ihrige, um die willenlose Abhängigkeit des Seelenlebens
von den äußeren Gegebenheiten zum Dogma werden zu lassen.


Hatte in Deutschland schon Otto Ludwig im Gegensatz zur spekulativen
Philosophie eine exakte psychologisierende Richtung eingeschlagen,
die seinen Erzählungen besser zugute kam als seinen Dramen,
so hat später Theodor Fontane mehr und mehr sich von der äußeren
Gesellschaftsschilderung zur Seelendarstellung gewendet; unter seinen
Händen verfeinerten sich deren Mittel zusehends, so daß der Verfasser
von „Effi Briest“ rühmen durfte, sie sei „fast wie mit dem
Psychographen geschrieben“. Alle rational faßbaren Seelenvorgänge
sind durch zarte Andeutungen in Wort und Gebärde sichtbar gemacht.
Im neuen Jahrhundert aber steigt die wissenschaftliche Psychologie
wieder in die Bereiche des Unbewußten und Unterbewußten hinab;
das irrationale Traumleben wird, wenn auch in anderer Weise als
bei den Romantikern, wieder zur aufschlußgebenden Quelle innerlichster
Erlebnisoffenbarung, und die dichterische Seelenführung folgt
aufs neue traumhaften Sprüngen und Wandlungen; psychoanalytische
und individual-psychologische Richtungen der Wissenschaft haben
ihre unverkennbaren Spuren in der Erzählungskunst aller Länder
(Kafka, Hesse, Lawrence, Pirandello) hinterlassen. Man kann also
sagen, daß die Analyse, wenn sie sich der Psychologie eines dichterischen
Werkes zuwendet, durch den Blick auf den Stand der gleichzeitigen
wissenschaftlichen Seelenauffassung gefördert werden kann,
gleichviel ob der Verfasser einem ausgesprochenen Studium der wissenschaftlichen
Psychologie oblag oder nicht.


b) Charaktere und Vorbilder


Die charakterologischen Systeme sind erst später zu wissenschaftlicher
Ausbildung gelangt und haben selbst in der neueren Zeit
weniger Bedeutung für die Dichtung gewonnen. Sie bieten ihr kaum
eine Stütze; denn die visionäre Konzeption eines geschlossenen
Charakters kommt als Einheit von sprechender Physiognomie, Bewegung,
Redeweise, Leidenschaft und Denkart viel schneller zustande
als die sorgfältig abgepaßte Verkettung psychologischer Motive.

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Der Charakter kann schon durch Prägung der Fabel seine Bestimmung
erfahren haben und durch eine ihm überlieferungsgemäß zugeschriebene
Handlungsweise bedingt sein. Er ist, ästhetisch betrachtet,
Problemsubjekt im Sinne einer Einfügung in die Ganzheit des
Kunstwerkes, wie es Clemens Lugowski in seiner Lehre vom mythischen
Analogon gezeigt hat.


Der Charakter kann aber auch, psychologisch betrachtet, seine
Grundlage haben in Urbildern, die in der Seele des Dichters schlummern
wie im Reich der Mütter. In der Verschmelzung dieser Urschicht,
die eine Gestaltungsgrundlage bildet, mit den im Stofferlebnis
bedingten Funktionen der Fabelbildung liegt sogar möglicherweise
ein entscheidender Moment dichterischer Zeugung. So hat der junge
Schiller, als er den Stoff des „Don Carlos“ aus der Novelle von
St. Réal übernahm, gleichwohl an seinen Freund Reinwald geschrieben,
er sei zu glauben geneigt, „daß in unserer Seele alle Karaktere nach
ihren Urstoffen schlafen, und durch Wirklichkeit und Natur oder
künstliche Täuschung ein dauerndes oder nur illusorisch- und augenblickliches
Dasein gewinnen. Alle Geburten unserer Phantasie wären
also zuletzt Wir selbst“. (14. April 1783.) Dieses Bekenntnis zur
Selbstdarstellung hat im Alter sogar der Erfahrungs- und Erlebnisdichter
Goethe sich zu eigen gemacht, denn auch er war davon überzeugt,
daß er Gestalten und Stimmungen seiner Dichtung durch Antizipation
dem Leben vorweggenommen habe, so daß er den Geschöpfen
seiner Einbildungskraft nachträglich in der Wirklichkeit begegnen
konnte.


So wenig hat Goethe selbst die törichte Modelltheorie gelten lassen,
der er in „Dichtung und Wahrheit“ scheinbar Vorschub leistete und
die gerade auf seine Gestalten so vielfach angewendet wurde. Hat
man es doch für verdienstvoll und wichtig angesehen, für die lieblichsten
Phantasiegeschöpfe wie Gretchen und Mignon bestimmte reale
Vorbilder aufzuspüren, an die die dichterische Gestaltung gebunden
sein sollte. Was aber hat das Bürgermädchen aus niederer Gesellschaft,
dem die Selbstbiographie den Namen Gretchen gab, mit der
Geliebten Fausts zu tun, da der Knabe damals gewiß nicht sich als
Faust fühlte? Anders liegt es, wenn in einem Werk Beziehungen auf
bestimmte Persönlichkeiten kenntlich gemacht werden, sei es in satirischer
Richtung (Pater Brey-Leuchsenring) oder auch als ergriffene
Huldigung (Euphorion-Lord Byron). Solche mit Bewußtsein hergestellte
Zusammenhänge sind für die Analyse der Dichtung von
Wichtigkeit; nur fallen sie weniger unter Charaktere und Vorbilder,
als unter den schon früher besprochenen Gesichtspunkt der Absicht.

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Daneben kommen die halb bewußten, halb unbewußten Vorbilder
in Betracht. Es liegt auf der Hand, daß realistische Menschendarstellung
auf einen Schatz eigener Lebenserfahrung und auf Beobachtung
der umgebenden Welt angewiesen ist. Der Dichter müßte blind und
taub sein, dem nicht die Eindrücke der Menschen, denen er begegnete,
sich einprägten. Wie das Skizzenbuch des Zeichners, überliefern Auge
und Ohr dem Gedächtnis eine Fülle charakteristischer Züge, Bewegungen
und Äußerungen, die sich zu einem eigenen physiognomischen
System verdichten. Danach werden Mienen, Haltung, Kleidung,
Gang, Ausdrucksbewegungen und Sprache charakterisiert. Ist es schon
für den unproduktiven Beobachter des Lebens ein angeregtes Spiel,
sich über Schicksale und Charaktere unbekannter Personen Gedanken
zu machen im Blick auf die äußere Erscheinung, in der man den
Schlüssel ihres Wesens sucht, so wird dichterische Einbildungskraft
erst recht durch jede Wahrnehmung auffallender Eigentümlichkeiten
angeregt. Hoffmannsche Erzählungen wie „Das öde Haus“ und „Des
Vetters Eckfenster“ geben Beispiele dafür, wie eine ungehemmte
Phantastik durch problematische Wirklichkeitsbeobachtung in
Schwung gesetzt wird. Ein anderer Fall ist der des Komponisten
Schreker, der auf den Text seiner Oper „Irrelohe“ gekommen sein
will, als der Eisenbahnzug an einer Station dieses Namens hielt.


Auch die Namengebung gehört zu den bedeutsamen Charakterisierungsmitteln,
für die gegebene Anhaltspunkte benutzt werden. Die
althergebrachten Schlüsselromane wählen entweder allegorische Bezeichnungen,
die der gemeinten Person und ihrer Stellung entsprechen,
oder sie beschränken sich auf mehr oder weniger durchsichtige Entstellung
echter Namen, sei es in Anagrammen oder Analogiebildung.
An deren Stelle trat im 18. Jahrhundert die scheinbare Diskretion der
Chiffern (Gräfin v. G., Prinz von **); im bürgerlichen Lustspiel kamen
die redenden Namen als Etikette des Charakters auf (Herr Ehrlich,
Frau Eigenlieb); der Sturm und Drang liebte die Verherrlichung von
Freunden als Nebenpersonen unter ihren wahren Namen (Goethes
Lerse, Schillers Pastor Moser), während Goethes klassischer Stil sich
mit den Vornamen begnügte („Eduard ─ so nennen wir einen reichen
Baron im besten Mannesalter“). Der humoristische Roman macht
sich Namen von komischer Wirkung, die es in der Wirklichkeit
wohl geben mochte, zunutze (Siebenkäs, Kuhschnappel), während der
Realismus und Naturalismus in Erzählung und Drama zur unaufdringlichen
Charakteristik durch symbolische Namen gelangte, bei denen
das Bezeichnende weniger im Sinn als in der Klangwirkung liegt.
Ein besonderer Trick des Realismus, wie ihn etwa Fontane handhabte, |#f0189 : 165|

ist die Vermischung solcher aus Landkarte, Adreßbuch oder Zeitung
entlehnter Namen mit bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen
Lebens, die im Hintergrund auftreten oder gesprächsweise erwähnt
werden (z. B. Bismarck in „Effi Briest“ oder Hofprediger Frommel
im „Stechlin“). So wird Namengebung zu einem charakteristischen
Bestandteil des persönlichen Stils.


Alle realistischen Menschendarsteller verdanken den Farbenreichtum
ihrer Palette der Benutzung von Wirklichkeitszügen. Selma
Lagerlöf hat erklärt, daß alle Gestalten der Gösta-Berlings-Saga dem
Leben entlehnt seien. Balzac, Flaubert, Zola sind dafür bekannte Beispiele.
Meist ist Vorsorge getroffen, daß modellartige Beziehungen
nicht mehr erkennbar sind. So traf z. B. Henry Beyle (Stendhal) in
seinem Testament folgende Verfügung über den hinterlassenen Roman
„Die Orange von Malta“: „Ich bin dem Brauch der Maler, den ich
spaßhaft finde, gefolgt und habe nach Modellen gearbeitet. Man wird
alle allzu deutlichen Anspielungen, die als Satire wirken würden,
ausmerzen müssen.“


Wo das Werk gar nicht mehr erkennen läßt, daß gewisse Wirklichkeitszüge
einem erst in der Bildung begriffenen Charakter beigemischt
wurden, bleiben die Ursprünge belanglos für die Analyse, es sei denn,
daß durch die Wirklichkeitsanlehnung etwas Widerspruchsvolles in
die Charakteristik gekommen wäre. Selbst wenn Jean Paul sich für
den noch nicht feststehenden Charakter des Walt in den „Flegeljahren“
Züge von Herder, Buri, Wieland und Tieck notierte, so kann
davon höchstens Aufschluß über seine persönlichen Lebensbeziehungen
zu den Genannten gewonnen werden; für das Verständnis des
Werkes ist nichts daraus zu erschließen, denn nachdem sich endlich
der „Fokus“ für alle Einzelheiten fand, kann sich als Ergebnis des
Nachspürens schließlich nichts anderes herausstellen, als daß das
eigentliche Modell für die Zwillingsbrüder Walt und Vult das in zwei
Hälften gespaltene Ich des Dichters gewesen ist. Auch bei einem
Erzähler, der so stark von Vorbildern des Lebens abhängig war, wie
Th. Fontane, gilt schließlich das eigene Bekenntnis:


Was wir in Welt und Menschen lesen,
Ist nur der eigne Widerschein.


Und wenn es nun bei Goethe so gewesen wäre, daß eines der verschiedenen
Harfenmädchen, die ihm in Literatur und Leben begegnet
sind, solchen Eindruck auf ihn machte, daß er die äußere Erscheinung
Mignons durch sie bestimmen ließ, so wäre das eben nur ein Beitrag
zur Maske und Garderobe der Gestalt, nicht der Anstoß zu ihrer |#f0190 : 166|

Erfindung und zur Ausgestaltung ihres Charakters gewesen. Mignons
inneres Wesen ist die Sehnsucht, der vom Dichter selbst vor der
italienischen Reise empfundene Ferntrieb; Mignons Lebensatmosphäre
ist die Kunst; als Inkarnation der Poesie, der Musik, des Tanzes ist
sie ein symbolisches Geschöpf, das nur ein innerliches Leben führt.
Ihr Charakter aber bestimmt sich durch das Verhältnis zu Wilhelm
Meister. Auch hier besteht ein psychologischer Perspektivismus, insofern
Mignon, obwohl sie nicht als Figur einer Ich-Erzählung auftritt,
doch durchaus mit Wilhelms Augen gesehen ist, nur in seiner
Anwesenheit erscheint, nur in der Beziehung zu ihm existiert, niemals
einem anderen sich vertraut und in ihrem eigentlichen Innenleben
rätselhaft und unerschlossen bleibt. Solche Gestalten, die als
Stimmungsverkörperungen einer persönlich erlebten Hauptgestalt in
Erscheinung treten, sind als sekundäre Formen der Selbstdarstellung
zu betrachten.


Für diese abgeleitete Selbstdarstellung könnten unauffindbare
erotische Beziehungen aufschlußgebend sein. Wo Thema und Persönlichkeit
des Verfassers ein besonderes Recht dazu geben, wie etwa bei
Flauberts „Versuchung des heiligen Antonius“, lassen sich in der Tat
alle Halluzinationen als Objektivierungen verdrängter Triebe und
Gedanken auffassen. Aber im übrigen hat die Psychoanalyse der
Freudianer, wenn sie mit plumper Einseitigkeit auf libidinöse Genesis
imaginärer Urbilder versessen war, viel Unfug angerichtet, namentlich
in der zwangsläufigen Annahme früher Inzestgefühle gegenüber Mutter
und Schwester, wie sie beispielsweise bei Gottfried Keller in
der Judith des „Grünen Heinrich“ und in der Züs Bünzlin der „Gerechten
Kammacher“ sich spiegeln sollten. Aus dem Ödipus-Komplex
lassen sich nicht alle Rätsel der Sphinx, die der Schaffensvorgang
aufgibt, zur Lösung bringen, und die Gleichstellung des Dichters mit
dem Neurotiker kann zwar das Problem wieder von der Dichtungspsychologie
auf die des dichterischen Schaffens hinüberspielen, aber
für die eigentlichen schöpferischen Vorgänge bleibt dann so gut wie
kein Raum übrig.


Die Zurückführung typischer Charakterbilder auf unbewußte Kindheitserinnerungen
trifft die Urschicht frühester Erlebnisse. Sie brauchen
durchaus nicht immer erotischer Natur gewesen zu sein. Die
nachhaltigen Eindrücke von Vater und Mutter wie von Geschwistern
und Freunden bilden einen Nährboden für das Emporwachsen dichterischer
Gestalten, ohne daß der mitwirkende Eindruck späterer
Erfahrungen dadurch ausgeschaltet wäre. Das Bild der Mutter taucht
z. B. in mehrfacher Verkörperung aus den im Unterbewußtsein |#f0191 : 167|

haftenden Kindheitserinnerungen in Brentanos „Godwi“ hervor, und
bei Jeremias Gotthelf wird, wie Muschg gezeigt hat, das Weibliche
immer in das Ursprunghafte, Mütterlich-Ungeheure erdhafter Fruchtbarkeit
zurückgeführt. Den Vatergeist, der allerdings nicht nur auf
die Erinnerung an den eigenen Vater zurückgeht, sondern als Inbegriff
ewiger Ordnungen im Volk wurzelt, hat Hermann Pongs,
indem er Schillers ‚Urbilder“ untersuchte, als in des Dichters Seele
angelegte Mitgift, als Gebundenheit an Mitwelt und Überwelt, als
tragenden Existenzgrund sittlicher Entscheidung in allen Werken und
Lebensäußerungen nachzuweisen unternommen. Völker, Stämme und
Familien unterscheiden sich durch eine mehr patriarchalische oder
mehr matriarchalische Haltung.


Gerade bei Schiller läßt sich nun aber zeigen, wie er davon unabhängig
sich seine eigene Charakterologie zurechtgelegt hat. Nachdem
die Abhandlung über „Naive und sentimentale Dichtung“ den Typus
des Realisten, der sich durch äußere Abhängigkeiten bestimmen läßt,
von dem des Idealisten, der das Gesetz seines Handelns in sich trägt,
getrennt hatte, fand sich im Realisten der Schlüssel für das historische
Charakterbild des Wallenstein, und in der Gestalt des Max Piccolomini
wurde ihm nun der innere Gegenspieler gegenübergestellt. In solcher
Seelengestaltung ist Schiller wirklich der „Psychologe des Tatmenschen“
geworden, als welchen ihn Max Kommerell beleuchtet hat.
Aber oft genug entwickelte er das Gegenteil, und seine Psychologie
war eigentlich die des Kontrastes. Die Spannungen waren für ihn
aus früher Selbstspaltung, die den Urgrund dramatischer Auseinandersetzung
bildet, hervorgegangen. Schon die beiden feindlichen Brüder
Franz und Karl Moor entsprechen den Gegensätzen von Materialismus
und Idealismus, wie sie der Karlsschüler in der Zeit seines Medizinstudiums
in sich durchkämpfen mußte. In einer kleinen dialogischen
Erzählung „Der Spaziergang unter den Linden“ sind sie als ungelöster
Gegensatz einander gegenübergestellt. Für die Weiterführung hat es
gewiß nicht an Vorbildern gefehlt, und beim Franz Moor ist die
Anlehnung an Shakespearesche Bösewichter unverkennbar sowohl in
den Charakterzügen als in den technischen Mitteln der Entfaltung.


Von Shakespeare haben zwei große deutsche Dramatiker, Grillparzer
und Hebbel, fast übereinstimmend gesagt, er müsse in der
Anlage alle Triebe zu verbrecherischen Handlungen in sich getragen
haben, und die Darstellung von Mördern sei seine rettende Abwehr
gewesen, daß er nicht selbst zum Mörder werden mußte. Ähnlich
sagte einmal Flaubert von sich selbst: „Ach was für Laster würde
ich haben, wenn ich nicht schriebe!“

|#f0192 : 168|


Sicher hätte Shakespeare die Bosheit nicht in so menschlicher
Weise verständlich machen können, wenn nicht Charaktere wie
Macbeth oder Richard III. für seine schauspielerische Natur eine
gewisse Selbstdarstellung bedeutet hätten. Die entwicklungsmäßige
Technik ermöglichte ihm, das Werden eines Charakters bis zu seinen
Taten hin sich psychologisch entfalten zu lassen, ohne dem starren
Schwarz-Weiß-Schematismus von Bös und Gut, der im Barockdrama
Regel wurde, zu folgen. Vor solchen Extremen schematischer Charakteristik
hatte schon Aristoteles gewarnt und die Mittelcharaktere,
in denen verschiedenartige Regungen verteilt seien, als die dramatisch
wirksamen empfohlen.


Schiller konnte nun in weiterer Entwicklung zu der Einsicht gelangen,
daß auch Shakespeare und Aristoteles sich in diesem Punkte
vertragen hätten, da auch die Shakespeareschen Bösewichter, selbst
ein Richard III., tragische Masken von menschlicher Allgemeingültigkeit
und symbolischer Repräsentation darstellten.


Im Lustspiel bedeutet die Maske etwas anderes; sie bleibt, wörtlich
genommen, der ursprüngliche Träger aller komischen Wirkung. Im
Puppen- und Schattenspiel, in den Teufelslarven der mittelalterlichen
Passionen, in den Vermummungen der Fastnachtsspiele wie in den
komischen Charaktertypen der italienischen Stegreifkomödie leben
Gestalten alter Tier- und Dämonentänze weiter und verbinden sich
mit den Nachwirkungen des antiken und orientalischen Mimus als
grotesk nachahmendes Ausleben aller animalischen und materiellen
Lebenstriebe. Mit der unverwüstlichen Lebenskraft des Unkrauts
haben Clown, Harlekin und Hanswurst jahrhundertelang auch die
Stimmungseinheit der Tragödie wie wuchernde Schlinggewächse durchsetzt,
und im Lustspiel hat sich die „lustige Person“ gegen alle Austreibungsversuche
auf dem Theater behauptet, gestützt durch den
Spieltrieb, durch die vox populi, durch altes Brauchtum und nicht
selten auch durch literarische Autoritäten, wie im 18. Jahrhundert
durch Justus Möser und Lessing. Die psychologische Menschwerdung
des komischen Charakters hat nach Plautus und Terenz, ja selbst
nach Shakespeare und Molière, die bestimmte tonangebende Charakterzüge
wie Trunksucht, Renommisterei und Feigheit, Geiz oder heuchlerische
Frömmelei personifizierten, immer wieder Rückschläge erlebt
auf dem Theater. Erst der Roman ist mit feineren Charakterisierungsmitteln
dem Drama vorangegangen. Immer aber ist der lächerliche
Charakter, der weniger zu handeln als zu leiden hat, auf eine
schmälere typologische Basis gestellt und auf geringere psychologische
Mannigfaltigkeit beschränkt. Die Analyse komischer Charaktere wird |#f0193 : 169|

deshalb weit mehr herkömmliche Überlieferung zu verzeichnen haben
als erlebte Selbstdarstellung, die viel mehr beim Humoristen sich
findet. Die komische Wirkung pflegt im übrigen nicht so sehr aus
der Anlage der Charaktere unmittelbar hervorzugehen als aus den
Situationen und Motiven der Handlung.


6. Fünfte Stufe: Verknüpfung
(Motive ─ Wirklichkeitsauffassung ─ Sprachform)

a) Motive


Das Motiv ist der meistgebrauchte und deshalb unklarste Begriff,
der bei der Analyse sich einstellt. Kaum ein anderes Wort wird so
unmotiviert zur Anwendung gebracht. Man hat es ein Schwammwort
genannt, weil es alles aufsaugt und alles mit ihm sich ausdrücken läßt.
Wenn in der Tat beinahe sämtliche Elemente des Gehaltes vom Stoff
aufwärts zur Idee und auf der andern Seite nicht wenige Eigentümlichkeiten
der Form als Motive bezeichnet worden sind, so hat zur
Verwirrung auch die verschiedenartige Verwendung des Begriffes in
anderen Künsten, in Architektur und Ornamentik, in Malerei und
Musik, das ihrige beigetragen.


Sucht man, wie es Paul Merker unternommen hat, Übereinstimmung
mit kunstgeschichtlichem und künstlerischem Gebrauch, so kann sich
eine Gleichsetzung von Motiv mit Bild und typischer Situation ergeben.
Eine solche wäre etwa das Bild der klagenden Frau, der ein
toter Mann im Schoß liegt. Das kann sowohl die Mutter Gottes mit
dem Sohn als Sigune mit Schionatulander oder sogar die Matrone
von Ephesus bedeuten. Merker möchte als Motiv die allgemeine
thematische Vorstellung auffassen, während der Stoff die besondere
Anwendungs- und Ausprägungsart darstelle. Aber wenn ein anonymer,
nicht personifizierter, nicht lokalisierter, nicht zeitlich fixierter Stoff,
dem die Problemstellung fehlt, gesucht wird, so käme nicht einmal
eine Fabel zustande. Die körperliche Situation allein, die dagegen
den bildenden Künstler zur Studie anregen kann, hat für das literarische
Kunstwerk keine Bedeutung, wenn ihr jede seelische Beziehung
abgeht. Und diese ist es, die wir als zugehörig zum literarischen
Motiv betrachten müssen.


Nach der Richtung des Seelischen hin können sich aber wieder
Mißverständnisse ergeben, wenn man in Übereinstimmung mit der
psychologischen Bedeutung das Motiv als Beweggrund und Antrieb
zum Dichten auffaßt (Fr. Th. Vischer, Jean Paul, Jos. Körner, |#f0194 : 170|

Obenauer). In dieser Anwendung gehört der Begriff zur Psychologie
des dichterischen Schaffens, während innerhalb der Dichtung das
Motiv höchstens für die handelnden Gestalten einen Antrieb bedeuten
kann.


Eine Reihe weiterer Erklärungen sieht im Motiv ein Bindeglied
zwischen Stoff und Idee. Diesen Platz nimmt es auch in unserem
Schema ein, nur daß sich der Spielraum einengt; man kann ihn auf
die Vermittlung zwischen Erlebnis und Problem einschränken oder
auf das Verhältnis, in dem Situation, Fabel und Charaktere zum Problem
stehen. Aus jedem dieser Elemente können Motive entspringen,
und ebenso können sie aus der Mitte hervorgehen, aus Stimmung und
Selbstdarstellung. Es gibt also vielerlei Motive, und trotzdem ist ihre
Zahl nicht unbegrenzt. Im Schaffen jedes Dichters kehren gewisse Urmotive
wieder, die auf tiefgehende Erlebnisse zurückführen. Gemäß
ihrer seelischen Zusammenhänge aber sind sie auf typische Möglichkeiten
eingeschränkt. Das hatte schon Dilthey angenommen, indem
er die Entwicklung dieser begrenzten Möglichkeiten als Feld der
vergleichenden Literaturgeschichte anerkennen wollte.


Felix Trojan hat in diesem Sinne für alte Heldenepik und Dramatik
organische Motivkomplexe (wie Kampf und Reise für den Unterschied
zwischen Ilias und Odyssee) aufgestellt. In moderner Prosa-
Epik könnte man ähnliche typische Verkettungen finden, etwa in
Olaf Duuns „Juwikingern“ die Wiederkehr von Leichenschmaus und
Hochzeitsfeier als Wendepunkten des Lebens und Treffpunkten der
bäuerlichen Gemeinschaft. Wenn solche typischen Ereignisse als
Motivkörper zu bezeichnen sind, so bedeuten die einzelnen Motive
nur Glieder dieser Zusammenhänge. Aber nicht aus der Addition
oder Multiplikation der Motive entsteht das Problem, sondern eher
aus der Subtraktion, indem eines als Hauptmotiv übrig bleibt und
zum besonderen Problemträger wird.


Eine viel weitergehende Teilung hat Robert Petsch vorgenommen,
indem er wieder vom Stoff als einer Motivzusammensetzung ausging.
Er faßte als Beispiel den Stoff der Faustsage ins Auge, in der folgende
Motive verknüpft sind: Aufstieg eines strebsamen Jünglings, Pakt
eines Menschen mit dem Teufel, Vermählung mit einem Gespenst,
Höllenfahrt eines Sünders. Jedes dieser Motive konnte auch in einen
anderen Sinnzusammenhang eingegliedert sein, wie die Rolle des
Teufelsvertrages bei Simon Magus, Theophilus, Militarius und der
Päpstin Johanna zeigt. Jedesmal ist die Motivierung des Teufelsbündnisses
eine andere; sie wechselt zwischen Ehrgeiz, Liebe, Armut, Wißbegier.
Demgemäß muß die Problemstellung eine verschiedene sein. |#f0195 : 171|

Petschs Stoffanalyse stellt nun sogenannte Kernstücke in den Mittelpunkt,
nämlich die eigentlichen Hauptmotive, die zu Problemträgern
werden, und scheidet von ihnen die Rahmenstücke, die den zeitlichen
Hintergrund und die örtliche Festlegung betreffen. Er fügt noch Füllmotive
hinzu, die als sinnliche Einzelheiten zur Verbindung der
Kern- und Rahmenstücke dienen; schließlich gelangt er noch zu
kleineren Elementen, die als wirklich unteilbare Atome anzusehen
sind. Er nennt sie Züge und gibt als Beispiel die bunte Schlange, die
sich vom Baum herabwindet.


Man sieht, daß Petsch von der Märchenforschung herkommt, die
in der Zergliederung und Registrierung der Motive das einzige Ordnungsprinzip
für eine unübersehbare internationale Überlieferung
finden kann. Die Unterscheidung zwischen Motiv und Zug führt
wieder darauf zurück, daß beim Motiv eine seelische Beziehung
walten muß entweder von Mensch zu Mensch (oder auch von Tier zu
Tier in der anthropomorphisierten Fabel) oder vom Menschen zu den
Dingen, zur Natur, zur Landschaft oder auch in entgegengesetzter
Richtung als Eindruck der Natur auf die Stimmung des Menschen.
Das, was als Zug bezeichnet wird, ist dagegen etwas Vereinzeltes; es
kann auch der Zug eines Charakters sein oder eine Leidenschaft wie
Haß oder Liebe; aber erst die Auswirkungen von Charakteren in einer
bestimmten Richtung der Leidenschaft wie der Haß zwischen Vater
und Sohn oder zwischen feindlichen Brüdern und die Liebe zur Stiefmutter
oder zum Idealbild einer fernen Traumerscheinung werden
dichterische Motive. Der Zug kann auch in der eigenartigen Ausschmückung
eines Gegenstandes, eines Dinges, eines Menschen bestehen,
und seelische Bedeutung kann er dann gewinnen, wenn er
als Symbol verwendet wird, wie es Helmut Rehder an der Bedeutung
der Hütte in Goethes Dichtung gezeigt hat. Wir werden aber sehen,
daß noch ein weiterer Teilbegriff des Motivs möglich ist, nämlich
das poetische Bild.


Wenn der aus Scherers Schule stammende Otto Brahm in seinem
Buch über die deutschen Ritterdramen des 18. Jahrhunderts charakteristische
Motive aufzählte, so machte er keinen Unterschied zwischen
technischer Handlungsvermittlung (Betrachtung von Vorgängen hinter
der Szene), Schauplatz (Kerker, Herberge), Charakteren (falscher
Freund), Nebenpersonen (Kinder, Einsiedler, Pilger), Situationen
(Liebe zwischen den Kindern feindlicher Geschlechter, Streit zweier
Männer um eine Frau) und dem, was wir wirklich Motiv nennen
wollen (Gefährdung eines geliebten Lebens, erdichtete Todesbotschaft,
Weiberraub, Entehrung, Gottesgericht, erzwungene Ehe). Auch |#f0196 : 172|

elementare Ereignisse wie Unwetter stellte Brahm unter die Motive
und holte aus seinem Zettelkasten elf Belege heraus ohne Berücksichtigung
des ganz verschiedenartigen Sinnes. Das Unwetter kann
Inhalt einer rhetorischen Metapher sein und nur in dieser Form zur
Handlung gehören, wie in „Othello“ V, 2:

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. zitiert nach. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Werk nn. Quellenannahme implizit Person Aristoteles. Anmerkung: Poetikentext exempl. gehört zum nachfolgenden Bsp. - alles zitiert nach Brahm (Werk?)


Nun dächt' ich, müßt' ein groß Verfinstern sein
An Sonn' und Mond und die erschreckte Erde
Sich auftun vor Entsetzen.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. zitiert nach. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Werk nn. Quellenannahme implizit Person Aristoteles. Anmerkung: impl. Autor (zitiert nach Brahm): William Shakespeare: Othello


Das ist so wenig ein wirkliches Unwetter als Schnock der Schreiner
ein wirklicher Löwe ist.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. zitiert nach. Nennung. Quellenangabe Werk nn. Quellenannahme Person. Anmerkung: Nennung der Figur als Werk annotiert - Werk: Sommernachtstraum Es ist ein Gleichnis für Othellos Seelenzustand.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. zitiert nach. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Werk nn. Anmerkung: rend="bezieht sich auf obiges Zitat"
Das Unwetter kann aber auch ein symbolischer Zug sein,
wenn es den seelischen Aufruhr zwar nicht verursacht, aber stimmunggebend
begleitet wie in „König Lear“ III, 2. Ein Motiv wird
es indessen erst, wenn es in das Räderwerk der Handlungsverknüpfung
eingreift wie in Schillers „Wilhelm Tell“, wo die Natur des
Schweizerlandes mehrfach zum Mitspieler wird. Es kann endlich eine
Schicksalsstimme bedeuten wie der „donnernde deus ex machina“
in der „Jungfrau von Orleans“. Das ist dann schon beinahe ein
Problem. Vom Motiv kann immer dann die Rede sein, wenn seelische
Vorgänge ausgelöst werden, z. B. wenn Werther und Lotte
nach dem Unwetter in dem einen Wort „Klopstock“ den Einklang
gegenseitigen empfindsamen Verstehens finden. Allerdings ist dies
wieder ein sekundäres Motiv, denn es ist ein Stimmungsreflex der
Ode „Frühlingsfeier“, in der das Gewitter als Stimme Jehovas das
eigentliche Hauptmotiv bildet.


Die anscheinend zentrale Stellung des Motivs ergibt sich aus seinen
vielfachen Bezügen. Wenn Bilder und Züge keimende Motive sein
können, so können die Motive wiederum Probleme in sich tragen und
zur Idee hinführen. Wir können also eine Stufenreihe aufstellen, die
vom Bild aufwärts führt. Wenn jemand als Esel bezeichnet wird oder
gar sich selbst so nennt, wie Sosias in Kleists „Amphitryon“, so ist
das bildlich gesprochen und hat nichts mit Motiv zu tun, sofern es
nicht als Beleidigung weitere Folgen nach sich zieht. Als ein Zug ist
dagegen der von Hermann Reich im antiken Mimus nachgewiesene
Mann mit dem Eselskopf aufzufassen; zum Motiv wird dieser Zug,
wenn ein Zauberer oder Gott den Menschen aus bestimmten Gründen
mit solchem Attribut begabt (König Midas). Zur Motivverkettung
kommt es, wenn eine in gleicher Weise bezauberte Frau den Eselsmenschen
liebestoll umwirbt (Apulejus „Goldener Esel“), und die
Verkettung erfährt eine kraftvolle Steigerung, wenn dieser perversen |#f0197 : 173|

Sinnestäuschung gar die zarte Königin des Elfenreichs erliegt. Damit
haben wir noch nicht die ganze Fabel des „Sommernachtstraums“,
sondern erst eine Situation. Das Problem, das im Kernmotiv eingeschlossen
ist, enthält die Frage nach der Möglichkeit solchen Geschehens.
Und die Antwort liegt in der Idee, die alles zusammenhält,
nämlich dem berauschenden Liebeszauber der sommerlichen Hochzeitsnacht.



Ein anderes Beispiel: Die Situation zweier Liebenden, die sich als
Kinder von Todfeinden finden, ergibt die in Bandellos Stoffgebung
überlieferte Fabel für Shakespeares „Romeo und Julia“; der tragische
Tod der beiden Liebenden, dem der Scheintod des einen vorausgeht,
enthält das gleiche Motiv wie die im „Sommernachtstraum“ ins
Komische gezogene Fabel von Pyramus und Thisbe. In Kleists
„Familie Schroffenstein“ steigert sich die Motivverkettung der Fabel
zu einem neuen Ausgang, indem die verblendeten Väter ihre eigenen
Kinder umbringen; dieser entsetzliche Irrtum ist durch das Motiv des
Kleidertausches begründet. Die Problemstellung Kleists beruht auf
der von ihm erlebten Erschütterung über der Kantschen Philosophie,
die ihn zum Zweifel und zur Verzweiflung an der Zuverlässigkeit
aller Sinneswahrnehmung, aller Naturerkenntnis und aller Wahrheitsforschung
geführt hatte. Die Idee ist in einem symbolischen Zug
angedeutet, da allein der blinde Großvater die Leichen erkennt, weil
seine Gefühlsgewißheit sicherer zur Wahrheit vordringen kann als
alles Vertrauen auf den Augenschein.


Gottfried Kellers Meisternovelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe“
hat die durch eine Zeitungsnachricht angeregte Fabel wieder auf die
einfachste Formel gebracht, indem aus der tragischen Verkettung
alles, was verhängnisvollen Irrtum bedeutete, entfernt wurde. Das
Problem bestand darin, zu erklären, wie die Feindschaft der Eltern
zu solcher verbissenen Härte sich auswachsen konnte, daß sie das
Glück der Kinder vernichtete; die Entwicklung dieses psychologischen
Problems beginnt mit dem fruchtbaren Motiv des umstrittenen Ackerrains;
in der Idee führt die Naturkraft zur Überwindung aller Hindernisse,
indem sie im Freitod die Liebenden ihre Vereinigung finden
läßt.


In Anzengrubers Komödie „Doppelselbstmord“ kommt es wiederum
durch Hinzufügung eines neuen Steigerungsmotivs zur Umbiegung
ins Heitere. Dadurch, daß die Liebenden es bequem finden, für ihren
letzten Gruß den Abschiedsbrief eines Selbstmörderpaares aus der
Zeitung zu übernehmen, führen sie ihre Angehörigen auf die falsche
Fährte des Doppelselbstmordes. Dieses Problem findet nun aber mit |#f0198 : 174|

der glücklichen Vereinigung auf der Alm seine Lösung in der lebensbejahenden
Idee des Sieges gesunder Natur über sentimentale Nervenschwäche
und sinnlosen Hader.


So wenig die allgemeinmenschlichen Ideen und Probleme immer
neu sein können, so wenig macht die Erfindung noch nie dagewesener
Motive das Wesen des Dichters aus. Die Nutznießung herkömmlicher
Motive gereicht nicht zur Unehre, wenn sie innerlich angeeignet sind,
wozu eine organische Eingliederung in die Fabel, eine Übereinstimmung
mit den Charakteren und eine Unterordnung unter Problem
und Idee gehören. Der Monomane Paul Albrecht, der in sechs Bänden
„Lessings Plagiate“ sammelte, hat mit seiner Studie über literarische
Kleptomanie, für die er die äußerlichsten Motivgleichheiten aus
der Weltliteratur zusammenraffte, den Ruhm der Lächerlichkeit erworben.
Wenn in „Minna von Barnhelm“ das Motiv der vertauschten
Ringe auf Farquhars „Constant-Couple“, das Gasthausmotiv auf Goldonis
„Locandiera“, der Charakter der Dame in Trauer auf Diderot,
der des Riccaut de la Marlinière auf Regnards „Spieler“ zurückgeführt
wird, so ist damit der Eigenart des Stückes, die in der Verknüpfung
der Motive mit den Charakteren liegt, nichts genommen. Das Ringmotiv
könnte ebensogut mit dem leichten Spiel in Shakespeares
„Kaufmann von Venedig“ verglichen werden, und es würde sich zeigen,
daß es in Lessings Verwendung als Charakterprobe Tellheims
eine ganz neue Bedeutung und eine zentrale Stellung gewonnen hat.


Ähnlich fragwürdig wie die überlebte Modellschnüffelei für die
Analyse der Charaktere ist Auftreibung von Einflüssen und Parallelenjagd
für die Motivanalyse. Übereinstimmungen sind nur bei dem
Schriftsteller, der überhaupt nichts als Nachahmer ist, beweiskräftig
für unmittelbare Abhängigkeit; bei andern sind sie häufig nichts anderes
als Belege für die Richtung eines Zeitstils, dem zwei voneinander
unabhängige Dichter mit ihrem inneren Leben, ihren Problemen
und ihren Motiven in gleicher Weise unterworfen sind. Als bei dem
sogenannten Preisausschreiben des Hamburger Theaterdirektors Fr.
Ludw. Schröder im Jahre 1776 drei Stücke eingingen, die dasselbe
Thema des Bruderzwists behandelten, war diese Übereinstimmung
weder auf Abhängigkeit noch auf Zufall zurückzuführen; die Ursache
lag tiefer, denn gerade dieses Thema hing in der Sturm- und Drangzeit,
da die Spannungen höchster Leidenschaften und primitiver Uraffekte
gesucht wurden, gewissermaßen in der Luft; die Gleichheit der
Motive ist eher ein Beweis dafür als dagegen, daß Klinger und Leisewitz,
die bei der Preisverteilung in engste Wahl kamen, nichts voneinander
gewußt hatten.

|#f0199 : 175|


Für die Behauptung von Abhängigkeiten liegt ein unerläßliches
methodisches Erfordernis in dem Nachweis, daß der eine Dichter bei
der Abfassung seines Werkes das des anderen wirklich gekannt haben
kann. Ob es ihm überhaupt zugänglich war, hängt von der Chronologie
des Erscheinens ab und von der möglichen Vermittlung. Wenn
Tagebücher, Briefe oder Ausleihbücher von Bibliotheken die Kenntnis
erweisen, so kann durch solche Zeugnisse der Bezichtigte sogar bei
eigener Ableugnung überführt werden. Meist hat der zwingende Eindruck,
selbst wenn die Abhängigkeit unbewußt blieb, auf der Disposition
einer gewissen Wahlverwandtschaft, die die Aufnahme begünstigte,
beruht. Oft aber kommt es nur zu einer Vermutung von großer
Wahrscheinlichkeit, z. B. bleibt es bei Heinr. Leop. Wagners „Kindermörderin“
in ihrem Verhältnis zu Goethe unsicher, ob der Faust-
Dichter trotz des Schlaftrunkmotivs den Vorwurf des Plagiats zu
Recht erhob, denn das Thema der Kindermörderin war in jener philanthropischen
Zeit von der Straße aufzulesen, und Wagner konnte
sich außerdem auf bestimmte Vorgänge in der Straßburger Garnison
berufen, während Goethe, wie Ernst Beutler nachwies, die Hinrichtung
der Frankfurter Kindesmörderin Susanna Margaretha Brandt
vor Augen hatte. Erich Schmidt hat in der Einleitung zu seiner Ausgabe
des „Urfaust“ mit Recht zwecks methodischer Warnung auf
einen anderen Fall verwiesen, nämlich auf Daudets „Rois en exile“,
die unabhängig von Goethe dasselbe eigenartige Geschenkmotiv benutzten,
das in der Erzählung von den „Guten Frauen“ sich findet.


In der Lyrik vollends ist aus Gleichheit der Motive niemals auf
Entlehnung zu schließen; fremde Einflüsse können in Sprache und
Stil, in Wortwahl, Bildern, Rhythmen und metrischen Formen viel
eher sichtbar werden als in den Motiven, die immer durch das eigene
Erlebnis des Dichters hindurchgegangen sein müssen und mit Notwendigkeit
aus ihm hervorgehen. Die Stofflosigkeit der Lyrik gibt
der Situation und den Motiven eine erhöhte Bedeutung; ihrer stimmungsmäßigen
Verknüpfung fällt die Herstellung des Zusammenhanges
zu, der das ausmacht, was in den pragmatischen Dichtungsgattungen
die geprägte Fabel bedeutet.


Da die reine Lyrik keinen von außen an den Dichter herangetragenen
Stoff kennt, darf das, was als lyrisches Motiv bezeichnet werden
kann, nicht Element des Stoffes sein, sondern Element des Erlebnisses.
In R. M. Werners großem Buche, das alle Lyrik aus dem Erlebnis
herleitet, fehlt gleichwohl der Begriff des Motivs. Dafür sind mit
positivistischem Schematismus drei Tabellen der lyrischen Unterarten,
die mißverständlich als Gattungen bezeichnet werden, ausgefüllt. |#f0200 : 176|

Durch Kreuzung formaler und thematischer Kategorien werden über
500 verschiedene Erscheinungsformen errechnet. Wäre die Zahl der
lyrischen Motive auf diese Weise zu registrieren, so würde sie sicherlich
geringer sein. Man könnte aber, um sie zu ermitteln, nicht vom
Stoff ausgehen, den es in der Lyrik nicht gibt, auch nicht von der
Fabel, die erlebnismäßig umgeprägter Stoff ist; auch das Erlebnis,
das in den pragmatischen Dichtungsgattungen zwischen Stoff und
Fabel steht und dadurch bestimmbar wird, ist hier, wo solche Stützen
fehlen, kein geeigneter Ausgangspunkt; es empfiehlt sich deshalb,
einmal von der anderen Seite her eine Verbindung zu suchen, also
von der Idee aus.


Die metaphysischen Ideen Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, das Wahre,
das Gute, das Schöne, das Rechte, Menschheit, Vaterland, Volk, Natur,
Heimat, Leben umschließen Probleme, die durch das Verhältnis
des Menschen zu diesen Ideen aufgeworfen werden. Alle Probleme
sind Fragestellungen, die eine Entscheidung fordern. Die Motive
aber können aus solchen Problemspannungen hervorgegangene Gefühls-
und Gedankenerlebnisse sein, die in der Dichtung bildhafte
Gestalt gewinnen, namentlich im Parallelismus zwischen Natur und
Seelenlage. Fast alle Motive der Lyrik sind in diesem Sinne symbolisch,
indem ein bildhafter Naturvorgang dem Seelenvorgang zur
Begleitung gegeben wird oder umgekehrt ein geistiges Geschehen sich
in der Natur spiegelt. Als motivgebende Naturbilder dienen herkömmlicherweise
Jahres- oder Tageszeiten mit dem Wechsel der
Vegetation und der Beleuchtung, elementare Ereignisse wie Gewittersturm,
Lawine, Erdbeben oder Eisgang; unaufhörliches Strömen wie
im Lebenslauf des Flusses vom Quell bis zur Mündung; tiefe Stille,
in der nur das Murmeln der Quellen, das Rauschen der Brunnen oder
ferne Musik und nächtliche Sphärenklänge vernehmbar werden;
rhythmische Bewegung der weiten Landschaft in stromdurchglitzerten
Auen, weinbekränzten Hügeln und leuchtenden Wolken; Unendlichkeit
in der weit hinaus erglänzenden Fläche des Meeres oder im
gestirnten Himmel; bedrängende Enge in schwarzen Wäldern und
tiefen Felsenschluchten.


Einfache Naturvorgänge wie Morgenröte, Mittagsschwüle, Mondenglanz
können hier zu kosmischen Phantasien und mythischer Naturvergottung
gesteigert werden, und metaphysische Bildschaffung kann,
wie Hermann Pongs an den Beispielen der Blumensymbolik, des
Vogelflugs, der Flammen und der brennenden Liebeswunde gezeigt
hat, sich zum Motiv auswachsen und schließlich ein ganzes Gedicht
erfüllen.

|#f0201 : 177|


Nicht immer ist der Parallelismus mit solcher fast epigrammatischen
Prägnanz ausgesprochen wie in Goethes „Gesang der Geister über
den Wassern“: „Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser,
Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind.“ Im „Schicksalslied“
Hyperion-Hölderlins sind zwei Motive in ähnlicher Weise
kontrastiert: das im heiligen Harfenspiel der Künstlerin verbildlichte
lichtvolle Wandeln seliger Genien und das ruhelose Dasein des Menschen
im Gleichnis des von Klippe zu Klippe fallenden Wassersturzes.
Wie hier akustische und visuelle Eindrücke, musikalische und dem
Auge wahrnehmbare Bewegungen zusammengestellt sind, so verknüpfen
sich zwei Motive gegensätzlicher Herkunft in Mörikes „Um Mitternacht“,
nämlich das visuelle Bild der gelassen ans Land steigenden
Nacht und die Melodie des Schlummerliedes vom heute gewesenen
Tage. Was die Quellen singen von ewiger Unrast des Lebens, das bedeutet
in Eichendorffs „Sehnsucht“ das Wanderlied der vorbeiziehenden
zwei Gesellen, dessen Inhalt in vielerlei Zügen die Stimmung
der Sommernacht zusammenfaßt (rauschende Wälder, Marmorbilder,
verwilderte Gärten, Paläste im Mondschein, lauschende Mädchen am
Fenster, verschlafen rauschende Brunnen); der ganze Bilderkomplex
ist als ein einziges Motiv anzusehen, das die Situation des einsam am
Fenster Stehenden weiterführt, indem es seine Seele sehnsüchtig
bewegt.


Zwischen Eichendorff und Mörike sind mancherlei Vergleiche zu
ziehen, wenn beide Dichter sich im gleichen Motiv begegnen, z. B.
in dem des Gärtners, der zu einer hohen, ihm unerreichbaren Frau
in Verehrung aufblickt.


[Beginn Spaltensatz]

Eichendorff.


Wohin ich geh' und schaue,
In Feld und Wald und Tal,
Vom Berg hinab in die Aue:
Vielschöne, hohe Fraue,
Grüß' ich dich tausendmal.

In meinem Garten find' ich
Viel Blumen schön und fein,
Viel Kränze wohl d'raus wind' ich
Und tausend Gedanken bind' ich
Und Grüße mit darein.

Ihr darf ich keinen reichen,
Sie ist zu hoch und schön,
Die müssen alle verbleichen,
Die Liebe nur ohnegleichen
Bleibt ewig im Herzen steh'n.

[Spaltenumbruch]

Mörike.


Auf ihrem Leibrößlein,
So weiß wie der Schnee,
Die schönste Prinzessin
Reit't durch die Allee.

Der Weg, den das Rößlein
Hintanzet so hold,
Der Sand, den ich streute,
Er blinket wie Gold.

Du rosenfarb's Hütlein,
Wohl auf und wohl ab,
O wirf eine Feder
Verstohlen herab.

[Ende Spaltensatz] |#f0202 : 178|

[Beginn Spaltensatz]
Ich schein' wohl froher Dinge
Und schaffe auf und ab,
Und, ob das Herz zerspringe,
Ich grabe hart und singe
Und grab' mir bald mein Grab.
[Spaltenumbruch]
Und willst du dagegen
Eine Blüte von mir,
Nimm tausend für eine,
Nimm alle dafür!
[Ende Spaltensatz]


Es ist durchaus wahrscheinlich, daß Mörike das Eichendorffsche
Lied, das im „Leben eines Taugenichts“ 1826 erschienen ist, kannte;
es ist sogar keineswegs unmöglich, daß er dadurch erst veranlaßt
wurde, sein eigenes Gegenstück danebenzustellen. Es verliert deshalb
nichts von seiner Eigenart.


Beide Rollenlieder entsprechen dem Charakter der reinen Lyrik als
monologische Darstellungen eines Zustandes, nämlich der demütigen
Liebe zu einer hohen Frau. Das lyrische Ich nimmt bei Eichendorff
schon in der ersten Zeile das Wort, während es bei Mörike zurückgehalten
wird und erst in der zweiten Strophe einsetzt. Mörikes erste
Strophe bleibt rein anschauend; es ist eine erzählte Situation. Die
schönste Prinzessin hoch zu Roß ─ damit ist schon der ganze Abstand
von dem niederen Gärtner, der einstweilen beiseite bleibt, versinnlicht,
ohne daß er schmerzhaft empfunden würde. Das zierliche
Prinzeßchen auf dem schneeweißen Leibroß ist bei Mörike von Anfang
an die Hauptperson. Dagegen bleibt die „vielschöne, hohe
Fraue“ Eichendorffs unsichtbar; sie wohnt im Herzen des Gärtners
als Gegenstand seiner Sehnsucht, als ein Wunschbild, um das sich der
Liebende in unaussprechlichem Leid verzehrt. Kein einziger Zug
gibt ihre äußere Erscheinung wieder. In dem Wort „hohe Fraue“
klingt etwas von mittelalterlichem Dienste an, und der Gärtner
erscheint fast wie ein verkappter Minnesänger. Er möchte seinen
ganzen Garten der Herzenskönigin zu Füßen legen und sie wie ein
Gnadenbild katholischen Kultes bekränzen. Dagegen findet der Gärtner
Mörikes in dem launischen Einfall Befriedigung, daß er an Stelle
einer zu ihm herabgewehten Feder den Hut mit tausend Blüten überschütten
dürfte. Diese Feder würde er treu auf dem Herzen tragen
etwa wie jener Küchenjunge Leufried bei Jörg Wickram den Goldfaden
der Grafentochter, die er schließlich nach allerlei Heldentaten
heimführen darf. Solche Entwicklung, von der die Märchenphantasie
träumen mag, bleibt bei Mörike nicht ausgeschlossen, obwohl seine
eigene Genügsamkeit das holde Bescheiden in der Mitte zwischen
den Extremen sucht. Immerhin hat er sechs Jahre vorher schon
„Schön Rothraut“ gedichtet mit dem verwandten Motiv des Jägerknaben,
der die Königstochter küßt. Mörike betrachtet die Spannung
zwischen Liebe und Standesunterschied von unten her, aber ohne |#f0203 : 179|

sozialen Widerspruch, so daß sie kaum bei ihm zum Problem wird.
Der Aristokrat Eichendorff dagegen erlebt sie von oben herab, auch
wenn er sich in die Seele seines Gärtners versetzt und sogar Todesahnungen
anklingen läßt. Hier ist ein Unterschied der Standesanschauung,
ja der Weltanschauung nicht zu verkennen. Die Zeitstimmung
des Eichendorffschen Liedes ist Romantik, die des Mörikeschen
bürgerliches Biedermeier. Die hohe Fraue, die bei Eichendorff
stimmführend in den dreifachen Reim eintritt, ist ein Akkord der
unerfüllbaren Sehnsucht; dagegen ist Mörikes kapriziöses Prinzeßlein,
das vielleicht gar imstande wäre, eine Feder ihres Hutes selbst herabflattern
zu lassen, um damit dem kleinen Gärtner den Kopf zu
verdrehen, nicht so sehr musikalischer Gefühlseindruck als Gemälde,
ein Bild, das man sich von Moritz von Schwind gefertigt denken
könnte. Bei Eichendorff ist alles auf Wohllaut eingestellt, und die
weiche musikalische Melancholie reicht bis zum Schlußmotiv, das als
Parellele zwischen dem Graben des Gartens und des Grabes den
sentimentalen Todesgedanken in sich trägt. Es herrscht ein Zwiespalt
zwischen scheinbar frohem Gehaben und tiefem Herzeleid Dagegen
wird aller Zwiespalt bei Mörike mit urwüchsigem Humor überwunden.
Alles ist sinnenfrohe Anschauung und Bewegung in tänzelndem
Rhythmus, der auch seine Musik bildet. Aber der Haupteindruck
ist doch visuell. Durch die impressionistischen Farbentupfen
des schneeweißen Rößleins, der grünen Allee, des goldenen Sandes,
des rosenfarbenen Hütleins ist das ganze Gedicht selbst zum Gärtnerwerk
eines bunten Blumenstraußes geworden. Die verschiedenartige
Vertonung durch Johannes Brahms und Hugo Wolf hat die Gegensätzlichkeit
der Wirkung noch verstärkt, so daß niemand mehr bei
Anhörung dieser Lieder denken wird, daß ihnen das gleiche Motiv
zugrunde liegt.


Wir kommen endlich zur Musik. Es ist fraglich, ob die im
literarischen Motiv enthaltenen Gefühlserlebnisse in ihrer verschiedenen
Ausdrucksweise durch musikalische Begriffe, wie Melodik,
Rhythmik, Dynamik erhellt werden können. Wird nun aber das,
was die Musiklehre unter Motiv versteht, in die Analyse der
Dichtung hineingeworfen, so kann es, wie Karl Voßler an einem
drastischen Beispiel gezeigt hat, zu verschleiernder Einnebelung in
einen „Dunst von Kunstkennertum und Feinschmeckerei“ auslaufen.
Mit Übernahme des musikalischen Motivbegriffes, den Nietzsche als
die „einzelne Gebärde des musikalischen Affekts“ erklärt hat, würde
zwar die seelische Beziehung festgehalten, auf die es beim dichterischen
Motiv ankommt; aber solcher Melodieteil würde in seiner |#f0204 : 180|

Ausdrucksbedeutung eher den Bildern und Gleichnissen der Sprachkunst
entsprechen als dem Motiv. Was z. B. bei Heinr. von Kleist als
eine der musikalischen Technik entsprechende Motivwiederkehr erkannt
worden ist (Stern- und Höhenmotiv, Jagdmotiv), das besteht
ausschließlich aus Bildern. Wiederum würde das „Leitmotiv“ der
Wagnerschen Musikdramen, das in unterbewußte Tiefen taucht und
mit wachgerufenen Erinnerungen, Stimmungen, Ahnungen unausgesprochene
Seelenvorgänge vermittelt oder Ausgesprochenes bedeutsam
in der Begleitung unterstreicht, eher den symbolhaften Zügen
der Dichtung gleichzusetzen sein als ihren Motiven.


Die Priorität der Wiederholungstechnik ist für Dichtung und Musik
kaum zu entscheiden; das ausgesprochene musikalische Leitmotiv mag
sich literarischem Vorgang angeschlossen haben, wie das literarische
musikalischen Wirkungen nachgegangen ist. Die stehenden schmückenden
Beiwörter Homers, die formelhaften Wiederholungen im Märchen,
der Refrain in Ballade und Volkslied, die typischen Redewendungen
und Bewegungen komischer Charaktere im Lustspiel und humoristischen
Romanen, die Kristallglockentöne in Hoffmanns Märchen
vom „Goldenen Topf“ und in Hauptmanns „Und Pippa tanzt“ zeigen
mit der steigenden Annäherung an musikalische Wirkungen ein Anwachsen
der symbolischen Bedeutung dieser Züge, die zum Teil in
eine andere Wirklichkeitssphäre hineinreichen, als es die der Vordergrundsdarstellung
ist. Wenn wir das alles als Leitmotiv bezeichnen,
so haben wir es doch nicht zu den Motiven der Dichtung zu
rechnen; es bedeutet für die Dichtung etwas anderes; als bewußtes
Mittel der Bindung und des Aufbaus reicht es zurück in den
Bezirk der Technik; als Stimmungsmittel dagegen haben wir es bei
den folgenden Punkten der Analyse wiederzufinden, bei der Frage
der Wirklichkeitsdarstellung und der sprachlichen Gestaltung. Insbesondere
ist es dem Rhythmus des Ganzen zuzurechnen, der in der
Wiederkehr des Gleichen sein Wesen betont. In diesem Sinn hat
Theodor Fontane, der von ihm gern Gebrauch machte, das literarische
Leitmotiv als den „richtigen Taktaufschlag“ erklärt, der den
Leser in den Geist, aus dem das Ganze geschrieben sei, einführe.


b) Wirklichkeitsauffassung


Das Verhältnis zur Wirklichkeit, auf das die andeutende Symbolik
des Leitmotivs hinführt, steht im Zusammenhang mit dem Stil und
ist dessen eigentliche Voraussetzung. Stilbezeichnungen wie Naturalismus,
Realismus, Symbolismus, Idealismus bezeichnen jedesmal ein |#f0205 : 181|

anderes Verhältnis zur Wirklichkeit, und die dort zum Ausdruck
kommende Haltung des Dichters ist in seiner Weltanschauung
begründet.


Die Analyse der Dichtung läßt das Wirklichkeitsverhältnis im
Vorhof der Weltanschauung finden; wir treffen es an in der Verknüpfung
der Motive, in der Ursächlichkeit des Handelns und der
von außen eindringenden Ereignisse, in der Art der Schicksalsfügung,
im Walten des Zufalls, im Eingreifen übernatürlicher Mächte, in der
Herrschaft der Naturgesetze.


Das Recht und die Geltung des Wunderbaren war ein wesentlicher
Streitpunkt der rationalistischen Poetik im 18. Jahrhundert: Gottsched
sprach der Dichtung alle Darstellung transzendenter Vorgänge
ab und wollte ihr nichts anderes überlassen als die Nachahmung der
sichtbaren Welt. Bodmer suchte in seiner Abhandlung „Über das
Wunderbare“ nach Gründen für die Verteidigung Miltons und seiner
Geisterwelt, ohne sich von dem damals maßgebenden Begriff der
Nachahmung trennen zu können. Er fand bei Leibniz die Vorstellung
möglicher Welten und konnte danach das Wunder in der Dichtung
als Nachahmung einer möglichen Welt rechtfertigen. Damit waren
verschiedene Wirklichkeitsschichten der Dichtung anerkannt.


Als um die Mitte des Jahrhunderts der Begriff des Schöpfertums
sich an die Stelle der Nachahmung setzte, wurde der Dichter sein
eigener Weltschöpfer. Es kam nur darauf an, ob die von ihm geschaffene
Welt in organischer Weise ihre inneren Gesetze erfüllte;
dann brauchte sie nicht mit den herkömmlichen Vorgängen des Alltags
übereinzustimmen. Ihre Beglaubigung mußte sie durch die
lebendige Kraft der Darstellung erweisen. In diesem Sinne hat Lessings
„Hamburgische Dramaturgie“ am Vergleich der Geistererscheinungen
Voltaires und Shakespeares aufgezeigt, daß Shakespeare den
Glauben an seine Geister zu erzwingen vermag, was Voltaire nicht
glücken kann.


Auch bei Shakespeare sind in der Darstellung der übersinnlichen
Welt wesentliche Unterschiede zu beobachten, obwohl die theatralische
Verkörperung dieselbe bleibt. Es ist etwas anderes, ob die Geister
in der Geschichtstragödie als Sendboten aus dem Totenreich oder als
Gestalten erregter Träume sich zeigen, ob sie als Halluzinationen eines
Fieberkranken durch dessen Phantasie vermittelt werden oder ob sie
in Wirklichkeit auf festen Füßen stehen und objektiv sichtbar werden,
wie die der Zauberkraft eines Menschen unterworfenen Gestalten des
„Sturm“, oder ob sie gar unter sich sind und ihre eigene Welt bilden
wie im „Sommernachtstraum“.

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Die deutsche Klassik fand zwischen Aufklärung und Romantik hier
noch keinen festen Standpunkt. In Goethes „Iphigenie“ wird die
Hadesvision des Orest, die geradezu die Achse des Stückes bildet,
nicht sichtbar gemacht, sondern als Traum erzählt; ebenso bleiben
die verfolgenden Furien unsichtbar. Schiller vermißte später den
sinnlichen Eindruck der Gewissenspeinigung und sagte unter dem
Eindruck von Glucks Oper: „Ohne Furien kein Orest“; vorher hatte er
die Traumerscheinung Klärchens am Schluß des „Egmont“ als „Salto
mortale in eine Opernwelt“ abgelehnt und in seiner Weimarer Bühnenbearbeitung
dafür gesorgt, daß der Traum Egmonts nur erzählt
wurde. In der „Jungfrau von Orleans“ blieb die Berufung Johannas
und ihre Verklärung ohne sichtbare Erscheinung der Himmelskönigin,
aber der schwarze Ritter überschritt die Grenzen rationaler Wirklichkeitsdarstellung;
bei den Plänen für eine Fortsetzung der „Räuber“
stellte sich Schiller sogar die Frage, ob es zulässig sei, mehrere
Geister gleichzeitig auftreten zu lassen und untereinander in Beziehung
zu setzen.


Die Bühnenverwirklichung hatte, solange nicht die künstlichen
Beleuchtungsmöglichkeiten im Wechsel zwischen greller Bestrahlung
und verschleiernder Dämpfung verschiedenartige Wirklichkeitseindrücke
vermitteln konnten, nur das gleiche Mittel der Verkörperung;
die verschiedenen Wirklichkeitssphären mußten bei Tageslicht in derselben
Plastik sichtbar werden, und nur die Sprache gab die Möglichkeit
der Differenzierung. Das Drama läßt also Unsichtbares auf der
Bühne erscheinen mit gleichem Recht, wie es unausgesprochene
Gedanken im Monolog hörbar werden läßt. Wie es von der sprachlichen
Führung des Monologs abhängig ist, ob er als wirkliches
Selbstgespräch, als Ausbruch tiefster Erregung und innerer Zwiespältigkeit
glaubhaft wird, so kommt es auch bei der Sinnwirkung
der Vision darauf an, daß sie stimmungsmäßig vorbereitet ist durch
den Seelenzustand derer, die ihrer teilhaftig werden. Indem Shakespeare
das allen sichtbare Auftreten des Geistes im „Hamlet“ von
Mitternachtsschauern begleiten ließ, während er das spätere Auftreten
im Zimmer der Königin, das nur dem Erregungszustand Hamlets sichtbar
wird, durch keine äußeren Stimmungsmittel vorbereitete, hat er
durch Suggestionskraft der Sprache und durch technische Spannungserregung
eine Bühnenillusion geschaffen, die der heutigen maschinellen
Mittel entraten konnte. Ähnlich verfuhr er im „Macbeth“ mit
Hexenszenen und Erscheinung von Banquos Geist.


Derselbe Unterschied wie zwischen subjektiver und objektiver
Geistererscheinung besteht bei Traumspiel und Märchendrama, die |#f0207 : 183|

verschiedene Illusionsgrade in Anspruch nehmen. Das Traumspiel
ist in einen Wirklichkeitsrahmen eingefaßt, dessen Gestalten der
Zuschauer als einfache Realität hinnimmt; die Traumhandlung aber
muß er sich, auch wenn sie auf dem Theater in gleicher Körperlichkeit
erscheint, als durch das Medium des Träumenden geschaut vorstellen;
die Gestalten sind also doppelte Phantasiegebilde, sowohl des
Dichters als des Träumenden. Es stellt sich demnach ein ähnliches
Verhältnis mehrfacher Spiegelung her, wie es die eingelegte Ich-
Erzählung im Rahmen des Epos, des Romans, der Novelle mit sich
bringt. ─ Das Märchendrama dagegen kennt nur Phantasiegestalten
des Dichters ohne Vermittlung des Träumenden, losgelöst und verselbständigt
in ihrer eigenen Welt, deren Schicksalsbegriff in der
Wunscherfüllung besteht. Eine ähnliche Wirklichkeitsschicht nehmen
mythische Gestalten in der Welt des Glaubens ein; sie können aber
auch zum Gegenstand des Spottes werden, sobald der Glaube
geschwunden ist und das Geschehen dem Maßstab der ersten Wirklichkeit
überlassen wird.


Übergänge von der einen Wirklichkeitsschicht zur anderen sind
möglich; in Gerhart Hauptmanns Glashüttenmärchen „Und Pippa
tanzt“ verfließt die naturalistisch geschaute Vordergrundshandlung
erst allmählich im Durchgang durch das Symbolische zum Märchenhaften.
Umgekehrt war Kleists „Käthchen von Heilbronn“ ursprünglich
als dramatisches Märchen entworfen und wurde erst nachträglich
nach eigenem Urteil des Dichters durch realistische Bühnenrücksichten
verdorben.


Die theatralische Verwirklichung verschiedenartiger Schichten ist
dadurch beschränkt, daß die in jedem Fall notwendige Verkörperung
als Projektion in die gleiche Vorstellungswelt und als Übertragung
in eine neue einheitliche Bühnensicht erscheint, bei der sich
die dichterischen Wirklichkeitszonen verwischen. Dagegen kann die
Erzählungskunst viel unmittelbarer die verschiedenen Welten auseinander
halten. Im großen Epos gehört das Walten der Götter und
ihr Eingreifen in die Geschicke der Menschen zur Vollständigkeit des
Weltbildes. Die Götter sind bei Homer schicksalbestimmende Mächte,
die aber ihrerseits der Moira unterworfen sind; durch Wohlwollen
oder Abneigung gegenüber den Helden, um deren Schicksal es sich
handelt, stehen sie untereinander in Widerstreit; sie sind auch durch
familiäre Bande mit der Heroenwelt verbunden; eine Schicht der
Halbgötter ist zwischen Götter und Menschen gestellt. Wenn sich im
Kampf der göttlichen Gewalten das Schicksal fügt, so sind die beiden
korrespondierenden Wirklichkeiten des himmlischen und des irdischen |#f0208 : 184|

Kampfes als zwei Stockwerke übereinander geschichtet etwa wie in
Kaulbachs Gemälde der Hunnenschlacht das Schlachtfeld und der
Geisterkampf in den Lüften; als dritte Wirklichkeitsschicht aber
kommt in der Odyssee noch das Totenreich der Unterwelt zur Vorstellung.
Im deutschen Heldenepos bleibt dagegen der Blick immer
auf die Realität eingestellt; im Nibelungenlied sind es menschliche
Leidenschaften und ethische Gebote, die das Schicksal herbeiführen;
seine Folgerichtigkeit ist unerbittlich; was kommen muß, das wissen
ahnende und warnende Elementargeister schon voraus, ohne daß unter
den Schicksalsgewalten gewürfelt wird. Nur in der nordischen Sage
und danach in Richard Wagners Tetralogie greift die Götterwelt ein,
die aber ihrerseits nicht allmächtig ist, sondern von menschlichen
Leidenschaften bewegt einer übergöttlichen Schicksalsfügung sich
beugen muß.


Der Roman stellt, wie man gesagt hat, die entgötterte Welt dar.
Aber auch in ihm kommen verschiedene Wirklichkeitsauffassungen
und -schichten zur Erscheinung. Clemens Lugowski hat in seiner
Untersuchung über „Wirklichkeit und Dichtung“ den Märchenroman
und den Antimärchenroman der Franzosen einander gegenübergestellt.
Eine märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit war das
Thema der heroischgalanten Romane Frankreichs (La Calprenède)
und Deutschlands (Herzog Anton Ulrich von Braunschweig). Die
zwei einander gegenüberstehenden Welten werden dort als „die dem
eigentlichen Erzähltwerden vorgegebene“ und die, „innerhalb deren
von der vorgegebenen Welt erzählt wird“, getrennt, und es wird der
Dualismus zwischen der Märchengesinnung und der kausalen Motivierung
dessen, was nicht durch sich selbst glaubhaft ist, unterschieden.


Für die Motivierung werden im Roman des 17. Jahrhunderts
gelegentlich auch Züge in Anspruch genommen, deren Glaubhaftigkeit
in Zweifel steht. Wenn in Grimmelshausens „Simplizissimus“
beispielsweise eine Schauplatzverwandlung vor sich geht wie im
Theater, indem die Szenerie plötzlich aus der Landschaft des Stiftes
Hersfeld nach der Gegend des Erzstiftes Magdeburg verlegt wird, so
wird der Behelf des Hexenfluges durch eine Zwischenbemerkung
ironisiert, in der der Erzähler geradezu in Märchenton verfällt: „Dann
es gilt mir gleich, es mag's einer glauben oder nicht; und wer's nicht
glauben will, der mag einen anderen Weg ersinnen.“ Im Gegensatz
dazu steht der Antimärchenroman mit seiner Welt der Desillusionierung,
und Lugowski will nun zeigen, daß Märchen und Antimärchen
zwei verschiedene Seiten derselben Einstellung zur Wirklichkeit darbieten:
während der Mensch sich im Märchen den helfenden Gott |#f0209 : 185|

nach seinem Wunschbild formt, läßt er ihn in der Realität des Antimärchens
als furchtbaren Moloch walten. Statt „Gott“ würde vielleicht
besser Schicksal gesagt, denn Wirklichkeitsvorstellung und
Schicksalsbegriff fallen zusammen in den Spielarten von waltender
Vorsehung, immanenter Bestimmung, tückischem Zufall, mechanischem
Naturgesetz.


Lugowski stellt nun der Desillusion des Antimärchenromans, für
die er nur französische Beispiele gibt (ein anderer Typus wäre etwa
Cervantes' „Don Quixote“), das unmittelbare Verhältnis zur Wirklichkeit
in isländischer Saga und germanischem Heldenlied gegenüber.
Die nordische Haltung ist in einem Wirklichkeitssinn zu finden, der
Mensch und Welt als Einheit sieht und im Ich keinen Gegensatz
zur Wirklichkeit, sondern ihre Erscheinungsform erblickt. Als Beispiel
für das Wiederaufleben dieser Wirklichkeitsauffassung wird
Heinrich von Kleist genannt, bei dem selbst das Wunder (Marquise
von O., Der Zweikampf) und selbst die Götter (Jupiter im „Amphitryon“)
ihr eingeordnet sind. Kleists Haltung wird als tiefes, unbewußtes
Heimweh nach der ursprünglich eigenen Art des Fühlens
und Lebens, nach der Lebensauffassung unserer altgermanischen Vorfahren
erklärt; zugleich wird in ihm ein Vorläufer und visionärer
Prophet des neuen Wirklichkeitsgefühls erkannt, das in zähem Kampf
steht um die „Wiedererringung eines alten, neu erwachenden Urverhältnisses
zur Wirklichkeit“.


Der Historiker muß fragen, warum diese arteigene Haltung während
beinahe eines Jahrtausends verschüttet war, und er kann die Antwort
nur in einer tausendjährigen Überfremdung der deutschen Kultur
finden. Trotzdem wäre die These wohl durch Zwischenglieder
zu unterbauen, und die Brücke könnte ihre Pfeiler finden in Gestalten
wie Wolfram von Eschenbach und Luther, vielleicht auch
Klopstock und den Romantikern.


Die Romantik erneuerte das Märchen deutscher Art im Gegensatz
zu den französischen Feenmärchen; schon vorher war mit der Ballade
eine nordische Dichtungsart wiederbelebt worden, und hier erscheint
das Wirklichkeitsverhältnis eher umgekehrt: in der romanischen
Romanze eine sonnenklare Sinnenwelt, in der germanischen Ballade
ein düsteres Reich dämonischer Gewalten und Elementargeister voller
Naturmagie. Das romantische Kunstmärchen wird man in seinen
verschiedenen Spielarten nicht in dem Maße als typisch deutsch auffassen
können wie die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder
Grimm, aber das eigenartige Zusammentreffen verschiedener Welten,
einer realistischen, einer symbolischen und einer allegorischen, scheint |#f0210 : 186|

für drei nebeneinander bestehende Möglichkeiten der Wirklichkeitsauffassung
charakteristisch. In Hoffmanns Märchen vom „Goldenen
Topf“ ist die den rohen Sinnen wahrnehmbare Wirklichkeit ein
transparenter Vordergrund, durch den eine andere Welt hindurchschimmert.
Der nüchterne Blick des Philisters nimmt die offenliegende
Erscheinungswelt als einzige Wirklichkeit dar; hinter ihr liegt
ein Zwischenreich geteilten Daseins, das hinter der Vordergrundserscheinung
eine tiefere Bedeutung sichtbar werden läßt; so ist der
Archivarius Lindhorst eigentlich ein Feuersalamander, und seine
Töchter, von denen die eine den Namen Serpentina trägt, sind in
ihrem eigentlichen Elemente Schlänglein. Als Ziel der Sehnsucht
aber tut sich am Schluß ein drittes Reich auf in dem Märchenland
Atlantis, in dem der Student Anselmus mit der erlösten Serpentina
in Glück und Seligkeit wohnen wird. Dieses Reich der höchsten
Wahrheit, in dem der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis
der Natur sich verwirklicht, kommt aber nicht als erfüllte
Wirklichkeit zur Darstellung, sondern bleibt Gegenstand der Sehnsucht.



Die drei Reiche versinnbildlichen drei Wirklichkeitsbereiche der
Dichtung: die sinnlich wahrnehmbare Welt hat ihre eigenen Gesetze
und eine Ursächlichkeit, die wir im engeren Sinn als Wirklichkeit
schlechthin zu bezeichnen pflegen. Der Erkennbarkeit gesetzmäßigen
Geschehens sowohl in der Natur als im menschlichen Handeln entspricht
mit der Realpsychologie eine auf unmittelbare Anschaulichkeit
zielende Sprache.


Im zweiten Bereich gewinnt die sichtbare Wirklichkeit repräsentative
Bedeutung für ein Leben, das nicht sichtbar ist. Alles scheinbar
Leblose wird beseelt, und die lebendige Seele wird in Tiefen des
Ahnungsvermögens, des inneren Schauens und des Glaubens geführt,
für den alle Dinge Zeichen eines höheren Daseins sind. Das ist die Bedeutung
des Symbols in der Dichtung, daß der einzelne konkret geschaute
Gegenstand, der in der ersten Wirklichkeitsstufe absolut
Geltung hat, als Relation in die zweite Schicht der Vorstellungswelt
eindringt. Er bleibt innerhalb der ersten Wirklichkeitsschicht als
stellvertretendes Zeichen und wird zum repräsentierenden Sinnbild,
ja zum Spiegel der zweiten Welt erhoben; so wandelt sich seine
individuelle Existenz zur allgemeinbedeutenden Sinngebung eines
größeren Zusammenhanges. Die Sprache dieser zweiten Welt ist die
der poetischen Bilder. Wenn diese zweite Welt ihre Voraussetzung
in der ersten hat, der sie Bedeutung verleiht, so wird sie sichtbar
nur durch ihre Beziehung zur ersten Welt und erscheint als Hintergrund |#f0211 : 187|

oder oberer Vorgang, der durch die niedere Vordergrundsbegebenheit
hindurchleuchtet.


Dasselbe Verhältnis, das in der Gegenwart zwischen sinnlicher
Wirklichkeit und symbolischer Bedeutung besteht, ist in der Vergangenheit
zwischen Geschichte und Mythos zu erkennen. Geschichtliche
Ereignisse und Persönlichkeiten werden mythisch durch verallgemeinernde
Sinngebung ihres Daseins; der Mythos hat die Transparenz
des Symbols.


Die dritte Welt, in der sich das Geistige verkörpert, gewinnt dagegen
eine eigene Form, die von der sinnlichen Vordergrundswelt
losgelöst ist und höchstens die Einkleidung ihr entnommen hat. Das
ist die Allegorie, die sich von Symbolik und Mythos darin unterscheidet,
daß ihre Gestalten keine Eigenexistenz in der ersten Wirklichkeitsschicht
besitzen, sondern gleich aus der zweiten Schicht in
die dritte übernommen wurden. Der Allegorie fehlt die dem Symbol
innewohnende Doppelbedeutung; sie kann nicht gleichzeitig etwas
Konkretes und etwas Gedachtes darstellen, sondern sie ist Konkretisierung
eines Gedachten, Verkörperung einer Idee, die wirkliche
Körperexistenz nur innerhalb der dritten, fernen Verwirklichungsschicht
besitzen kann. Alles Allegorische nimmt Menschengestalt
an; kein toter Gegenstand kann dazu gehören; selbst der Gral
Wolframs oder der Stein der Weisen, den die Alchimisten suchen,
können nur Symbole für kosmische Lebenskräfte bedeuten; dagegen
ist die göttliche Sophia als Vorstellung der Mystiker und Theosophen
eine Allegorie. Allegorische Gestalten können in der Wirklichkeit
der ersten Schicht nicht sichtbar werden; sie können auch in der
zweiten Schicht der symbolischen Wirklichkeit kein Leben gewinnen;
in der dritten Welt sind sie unter sich und bestimmen den Wirklichkeitsgrad,
so daß sie die symbolischen Gestalten sich gleichmachen.



Die Unterschiede sind als entwicklungsgeschichtliche Folge an der
Auffassung der griechischen Götterwelt im Epos zu erkennen. Bei
Homer gehören die Götter der unmittelbaren Wirklichkeit an; in der
Renaissance- und Barockdichtung, z. B. Shakespeares „Venus und
Adonis“, stellen sie Symbole dar; in Spittelers „Olympischem Frühling“
müssen sie als Allegorien angesehen werden.


Diese Abstufung kann auch in einer einzelnen Dichtung aufeinander
folgen, wofür Goethes „Faust“ ein Beispiel ist. In der Urfassung
der Dichtung ist der Held ein Einzelner, und demgemäß ist auch der
ihm zugesellte Mephistopheles ganz individuell vermenschlicht; in
der zweiten Phase der Arbeit, die mit Prolog im Himmel und Paktabschluß |#f0212 : 188|

einsetzt, ist es zwar immer noch der in der Wirklichkeit auf
festen Füßen stehende Faust, aber er ist zugleich als eine symbolische
Gestalt aufgefaßt, als Repräsentant des ewig unbefriedigten Menschen,
und Mephistopheles ist ihm als der ewige Versucher zur Seite gestellt.
Wenn aber am Schluß des zweiten Teils die grauen Weiber Mangel,
Schuld, Sorge und Not, also allegorische Gestalten, auftreten und
wenn die Sorge körperlos durchs Schlüsselloch sich einschleicht, dann
zieht sie Faust in ihre Welt hinüber; auch Faust ist gegen den
Schluß hin bloßer Geist geworden, eine Abstraktion seiner früheren
Existenz, so wie Mephistopheles es ist, wenn er mit den drei gewaltigen
Gesellen Raufebold, Habebald, Haltefest sich zusammentut. Der
Übergang zur Allegorie setzt sogar schon in der Mummenschanz des
ersten Aktes ein; die Lustbarkeit am Kaiserhof ist einesteils als karnevalistische
Feier ein Motiv des wirklichen Lebens; als Sinnbild für
den mit Erfindung des Papiergeldes einziehenden Reichtum gewinnt
die Maskerade zugleich symbolische Bedeutung; wenn aber das Viergespann
des Plutus durch die Menge hindurchgetragen wird, ohne sie
zu teilen, also als bloßer Schein ohne Körperlichkeit, dann gilt das
Wort des Knaben Lenker:


„Denn wir sind Allegorien,
Und so solltest du uns kennen.“

Nur in der Welt der Allegorien ist es möglich, daß der im ersten
Akt auftretende Knabe Lenker und der erst im dritten Akt zur
Welt kommende Euphorion eine und dieselbe Person sind, wie der
Dichter selbst zu glauben verlangt, ebenso daß zwischen Homunculus
und Helena, die beide während der „klassischen Walpurgisnacht“
entstehen sollen, eine Beziehung, zum mindesten die des Parallelismus,
waltet. Allegorie bleibt nun auch die Vermählung Fausts mit Helena,
die zuerst als Zwischenspiel einer klassisch-romantischen Phantasmagorie,
also als unwirkliche Handlung, eingelegt werden sollte.
Später betonte Goethe ausdrücklich, daß Helena nicht als Zwischenspielerin,
sondern als Heroine auftreten, als die eigentliche, wahre
Helena auf antik-tragischem Kothurn, d. h. als Gestalt der Dichtung.
Sie zieht, indem sie sich ihm vermählt, Faust in ihre Welt hinüber.
Das arkadische Glück, das Faust mit ihr genießt, fällt deshalb nicht
in die durch den Pakt eingeschlossene Lebenswirklichkeit. Sonst
würde das verweilende Genießen deren Ende bedeuten, gleichviel ob
die Worte „Verweile doch, du bist so schön“ gesprochen werden
oder nicht. Wenn die Wette hier noch nicht verloren ist, so läßt sich
der scheinbare Widerspruch zum Pakt nur auf die Weise aufheben, |#f0213 : 189|

daß eine andere Wirklichkeitsschicht angenommen wird, „eine freiere
Kunst-Region“, wie Goethe gesagt hat. In ihr genießt Faust Helena,
so wie ein Dichter mit seinen Geschöpfen lebt und Leben zeugt.
Jeder Dichter kann der Idee der Helena Gestalt und neues Leben
geben, so daß sie für ihn volle Wahrheit ist und in seiner eigenen
Gestaltgebung sich verwirklicht. Faust, der im Sinn der Lebenstotalität
auch durch die Sphäre der ästhetischen Welt seinen Durchgang
nehmen mußte, ist in der Bindung mit Helena zum Dichter geworden.
Sie ist ideelle Wahrheit, aber im Gesamtorganismus der
Weltdichtung bedeutet diese ästhetische Sphäre eine Welt für sich;
sie besitzt Wahrheit, aber es ist die Wahrheit der Allegorie. Ganz
am Ende tritt der hundertjährige, geblendete Faust wieder in die
symbolische Körperhaftigkeit zurück, und nun erfüllt sich die Wette,
die im symbolischen Sinne verloren ist, im allegorischen aber als
gewonnen gelten darf.


Wenn hier das Verstehen der Dichtung eine Analyse ihrer Wirklichkeitsschichten
notwendig macht, so werden wir fragen, ob denn
auch im unmittelbaren lyrischen Gedicht solche Trennung verschiedener
Realitätsstufen zu beachten ist. Die Verhältnisse liegen anders,
da es sich weder um objektive Charakterdarstellung und Seelenanalyse
noch um objektivierte Schauplätze und Begebenheiten handelt
wie im Drama und Epos. Da der Schauplatz die Seele des Dichters
ist, kommt es weniger darauf an, wie weit alle außerhalb des lyrischen
Ich sich abspielenden Vorgänge der sichtbaren Welt angehören, als
vielmehr auf den Grad innerer Wirklichkeit, auf den unmittelbaren
Erlebnisgehalt und die Intensität der Gefühlsbeziehung. Wenn der
Dichter die Erscheinung eines Geistes wirklich zu erleben glaubte,
so erhält dies Gebilde auch in seiner Darstellung Wirklichkeit.


In die erste Wirklichkeitsschicht gehört bei der Lyrik alles Persönliche,
das als unmittelbares „Du“ in enger Fühlung, im Gegenüber,
Auge in Auge angesprochen wird, also alles, was die Form der
Widmung und Huldigung, des Liebesliedes, des trauernden Nachrufs
in Anspruch nimmt. Ja, man kann sogar Hymnus und Gebet
dazurechnen, wenn die Gegenwart des innerlich geschauten, persönlichen
Gottes oder seines Bildes lebendig wird.


In die zweite symbolisch-bildhafte und mythische Wirklichkeitsschicht
gehört alle Naturdichtung, deren Einfühlung über bloße Beschreibung
hinwegkommt, indem einem schlichten Vorgang tiefere
Bedeutung beigemessen wird (z. B. Goethes „Gefunden“, das in eine
Trilogie mit „Heideröslein“ und „Veilchen“ tritt) oder in und hinter
den Erscheinungen ein höheres Leben von inneren Kräften, Weltseele |#f0214 : 190|

und göttlichem Walten erkannt wird (Klopstocks „Frühlingsfeier“)
oder indem ein Mythus der zur Vereinigung mit dem All aufsteigenden
Sehnsucht des Dichters das Bild gibt (Goethes „Ganymed“). Seitdem
von einer bloß beschreibenden zu einer beseelenden Naturdichtung
zurückgefunden worden ist, hat das „Naturgefühl“ fast jedes
einzelnen Dichters zu Untersuchungen seiner Wesensart die Handhabe
gegeben.


In die dritte, allegorische Wirklichkeitsschicht gehört jedes visionäre
Fernbild und jede Zwiesprache mit einem gedachten Wesen aus
verkörperter Ideenwelt. Die meiste Gedankenlyrik ist, wenn sie sich
nicht auf einfache Sinnsprüche aus der Erfahrung beschränkt oder
Natureindrücke symbolisch ausdeutet, dieser dritten Schicht zuzuzählen.
Schillers „Spaziergang“ wird zum Sinnbild eines Ganges durch
die menschliche Kultur und gehört deshalb auf die symbolische Stufe;
auf der allegorischen dagegen steht „Das Ideal und das Leben“.


Hölderlins Hymnen an die Ideale der Menschheit schließen sich
an; doch wollen sie, wie Paul Böckmann in seinem vortrefflichen
Buch „Hölderlin und seine Götter“ gezeigt hat, von der Schillerschen
Tatwirklichkeit zu einer Seinswirklichkeit übergehen; das gelingt erst
in den späteren Hymnen, in denen nicht mehr abstrakte Ideale zu
besingen sind, sondern die Götter als innere Wirklichkeiten gerufen
und gefeiert werden.


Auch in Rilkes Spätdichtung schichten sich drei Wirklichkeitsbereiche:
der erste ist das Hiesige und Sichtbare, in dem die Dinge,
die Lebenden, die scheinbar Seiendsten, zu Hause sind; der zweite
ist das unsichtbare Reich des anderen Bezugs, das Leidland der Toten,
das zugleich Weltinnenraum, Herzraum und wahres Dasein darstellt;
jenseits des Todes aber liegt der Doppelbereich des Ganzen, das
weder Diesseits noch Jenseits ist, aber vor Gott führt. Orpheus in
den „Sonetten“ gehört zugleich zu den Hiesigen und Jenseitigen; die
Gestalt des Engels hat an allen drei Reichen Anteil: sie erschien
früher als belebtes Ding, das die Form eines plastischen Kunstwerkes
hat (Engel von Chartres), in den „Duineser Elegien“ ist sie ein übergeordnetes
Wesen, das kaum unterscheidet, ob es unter Lebenden
geht oder Toten; drittens aber ist der Engel ein Mittler zu Gott und
erscheint als letzte Wirklichkeit. Immer stellt er für den Dichter
ein Gegenüber dar. Bei Stefan George dagegen im Vorspiel zum
„Teppich des Lebens“ ist der Engel, der als Genius des Dichters das
Lebensgesetz offenbart, ein aus ihm hervorgegangenes erhöhtes Selbst,
und man kann im Zweifel sein, ob diese geistige Existenz als Symbol
oder Allegorie zu gelten hat.

|#f0215 : 191|

c) Sprachform


Der äußerlich sichtbare Unterschied der Zeilenbildung hat, wie wir
sehen, keine Bedeutung für die Trennung von Poesie und Nicht-Poesie;
wohl aber ist er eine Überleitung zwischen den Wirklichkeitsschichten
der Darstellung. Jedes stärkere Rhythmisieren der Sprache hebt
bereits über die einfachen Alltagsvorstellungen hinaus und erhöht
die Wirklichkeit. Schiller erfuhr dies beispielsweise, als er während
der Arbeit am „Wallenstein“ den Übergang vollzog, der zugleich eine
Wandlung zum idealistischen Stil bedeutete. Der Naturalismus kennt
nur Prosa und sucht sogar in der Lyrik mit reimlos freier Rhythmisierung
auszukommen (Arno Holz). Dieser Naturalismus ist nicht erst
eine Mißgeburt des 19. Jahrhunderts. Schon der Zittauer Schulrektor
Christian Weise, der seine theaterspielenden Schüler die Sprache des
Lebens lehren wollte, erklärte: „Ich finde keinen casum im Leben, daß
die Menschen in Versen reden“, und Gottsched verbot die gereimte
Komödie, während er den Tragödienvers gewissermaßen als Ersatz
für eine dem Zuschauer unverständlich bleibende Sprache des biblischen
oder griechischen Altertums zuließ. Bei Shakespeare hat die
Mischung von Vers und Prosa ihren tieferen Sinn, weil sie niedere
und höhere Wirklichkeit scheidet. Deshalb mußte auch Wielands
Prosa-Übersetzung, die den Naturalismus der Sturm- und Drang-
Sprache nach sich zog, in einem Stück eine Ausnahme machen, in den
Elfenszenen des „Sommernachtstraums“. Ebenso verfuhr Bürgers
„Macbeth“-Übersetzung bei den Hexengesängen. Der Vers eröffnet
den Zugang in eine höhere Welt. „Hanneles Himmelfahrt“ von Gerhart
Hauptmann mag anfangs in der vulgären Sprache des Armenhauses
schwelgen, aber als der Fiebertraum des sterbenden Kindes
sich von den irdischen Angstzuständen zur himmlischen Verklärung
erhebt, kann nur der Aufschwung der Sprache dieser Vorstellung
innere Wirklichkeit verleihen.


Auch die Beziehungen zwischen Vers und Gattung sind nicht willkürlich:
Der breite Hexameter ist mit seinem langen Atem zum
epischen Versmaß geschaffen, ja, man konnte geradezu sagen, daß
der Hexameter am großen Epos mitgearbeitet habe. Wenn dagegen
Kotzebue in seiner „Octavia“ dem dramatischen Monolog durch diese
Sprachform römisches Kolorit geben wollte, so konnte er bloß einen
lächerlichen Eindruck erzielen; ebenso ist der Gebrauch epischer
Prunkstrophen in Tiecks „Kaiser Oktavian“ von undramatischer
Wirkung. Der Alexandriner wiederum hat sich in der schwebenden
Musikalität der französischen Sprache als dramatischer Vers bewährt; |#f0216 : 192|

durch die akzentuierende deutsche Vortragsweise wird er dagegen in
klappernde Monotonie umgestimmt, und nur in der Epigrammatik
des 17. Jahrhunderts ist seine zweischenklige Natur, die auch Schiller
als Lockung zur Antithese empfand, schlagkräftig am Platze gewesen.
Ebenso konnte der „alberne Fall und Klang“ zu treffender Charakteristik
überlebter Gespreiztheit mit parodistischer Wirkung verwendet
werden im Zwischenspiel von Goethes „Jahrmarktsfest von
Plundersweilern“ und bei der Erzämterverleihung im zweiten Teil
des „Faust“.


Einer repräsentativen Würde dient der majestätische Gang des
Trimeters, dieser „ernsten, langgeschwänzten Verse des erhabenen
Kothurnstils“, die eine gewisse seelische Ruhelage herstellen. So ist
es in der Montgomery-Szene von Schillers „Jungfrau von Orleans“
und im Helena-Akt des „Faust“, der seinen Vorklang in der Erichtho-
Szene der klassischen Walpurgisnacht, seinen Nachklang im Eingangsmonolog
des vierten Aktes findet.


Die freie Zäsur gab dem aus England eingeführten Blankvers, der
den Alexandriner in Deutschland verdrängt hat, den Vorzug. Aber
erst im Antagonismus zwischen Vers und Satz, im Hinüberfluten
langatmiger Perioden über alle Einschnitte, im jähen Abreißen vor
dem Schluß des Verses und im schlagkräftigen Einsetzen innerhalb
der Zeile wird die tempogebende Ausdruckskraft des Dramenverses
entwickelt. Das Enjambement, das man als Verssprung (Heusler),
Brechung (Saran) oder Verskoppel (Oppert) verdeutscht hat, ist der
Pulsschlag der dramatischen Sprache. Bleibt es dagegen beim harmonisch
gerundeten Gleichmaß von Syntax und metrischer Gliederung,
wie vorzugsweise in Goethes „Iphigenie“, oder findet streitende
Übersteigerung von Gegensätzen in der Stichomythie ihren
Ausdruck, wie sie Schiller der antiken Tragödie nachbildete, so stellt
sich auch beim Quinar sentenzenhafte Wirkung ein.


Eine Gefahr der Monotonie bringt auch der gereimte viertaktige
Trochäus mit sich, der für wuchtige Leidenschaftsentladung zu kurzatmig
ist; der gelähmte Fatalismus des Schicksalsdramas wie die
leichte Fügung der Verskomödie finden in solchem klangreichen
Spiel, das sonst der Romanze eignet, ihre angepaßte Ausdrucksform.
Daneben wird vom Madrigalvers mit seiner Freiheit in Taktzahl und
Reimstellung wie vom Knittelvers mit seiner rhythmischen Mannigfaltigkeit
das geeignete Versmaß für heiteres Spiel und leichte Erzählung
hergegeben.


Alle diese Formen sind in der gewaltigen Polyphonie von Goethes
„Faust“ mit wohlberechnetem Wechsel verwendet. Wo solcher Reichtum |#f0217 : 193|

waltet, findet analytische Untersuchung die schönste Gelegenheit,
den sinnvollen Zusammenhang von Gehalt und Gestalt im Kleinsten
zu beobachten, die gestaltsymbolische Bedeutung der Sprachform zu
ergründen und zu zeigen, wie Kurt May es mit feinfühliger Interpretation
für den zweiten Teil geleistet hat, daß in den Bereichen
der Sprachform sich verschiedenartige Welten und Wirklichkeiten
charakterisieren.


Die sprachliche Darstellungsform des großen Epos kennt dagegen
nur eine Weltschau von sich gleichbleibender Ruhe. Ihr entspricht
das Festhalten eines einheitlichen Metrums, sei es des rhythmisch
bewegten Hexameters, sei es der dynamisch wogenden Stabreimlangzeile,
sei es der mittelalterlichen Reimpaare oder der ins Unendliche
sich schlingenden Terzinen, sei es umfangreicher Strophengebilde
wie der Stanze und der Nibelungenstrophe. Jede dieser Sprachformen
gibt dem Vortrag ein anderes Maß und Kolorit und stellt das
Ganze unter andere rhythmische Gesetze und Ausdrucksmöglichkeiten.
Es wäre indessen undenkbar, daß der eine Gesang eines großen
Epos in Hexametern abgefaßt wäre, der andere in Stanzen, und
dazwischen läge womöglich noch ein Prosakapitel. Schon in Lenaus
„Faust“ und „Savonarola“ bedeutet der Wechsel der Versmaße eine
Preisgabe der rein epischen Haltung und eine Hinwendung zum
Dramatischen oder Lyrischen.


Die ausgeprägten Formgebilde der Lyrik sind in höherem Maße
stimmungsträchtig, so daß geradezu von einem Ethos der Strophenarten
zu sprechen ist. Haben die sapphischen und archilochischen
Strophen einen feierlichen, manchmal klagenden Charakter, die
alkäischen und asklepiadeischen dagegen den des freudigen Aufschwungs,
so ist das Sonett, das Christian Morgenstern dem Schachspiel
verglichen hat, der Ausdruck gebändigter Leidenschaft, das
Triolett gefälliges Spiel, das Ghasel die kunstvolle Arbeit eines
Knüpfteppichs. Von allen lyrischen Formen gilt, daß das verstandesmäßig
und gedanklich Disponierte den Ausgleich in künstlichen Gebilden
sucht, zu denen auch eine schwere Wortstellung gehört, während
der unmittelbarste Gefühlsausdruck sich mit schlichtester
Sprache und einfachster Strophenform, wie im Volkslied, begnügen
kann.


Bei Analyse der Sprachform kommt es weniger auf das an, was sich
sichtbar machen läßt und mit Abzählung der Silben und Takte, der
Längen und Hebungen, mit der Gliederung der Strophe, mit Zäsur
und Reimstellung zu erfassen ist, als auf den hörbaren Eindruck, der
zum Gefühl spricht. Von dem Gitter der Stickerei hängt die Wirkung |#f0218 : 194|

nicht ab, sondern von den Farbentönen der Ausfüllung. Die Qualität
der Reime, das Verhältnis der Laute im Innern des Verses, sei
es durch Gleichklang der Assonanz oder Alliteration, sei es durch Abstimmung
und Steigerung, bringen im Ansteigen oder Absinken der
Tonhöhe eine Melodie hervor, die nun wieder getragen wird durch
die dynamischen Abstufungen der Tonstärke, durch den ansteigenden
oder abschwellenden Rhythmus, der in unaufhörlichem Fluß die
Wiederkehr gleichmäßiger Erscheinungen bringt. Im Einklang mit
dem Sinn- und Gefühlsgehalt der Wörter und Sätze ergibt sich ein
ineinandergehendes Spiel und Widerspiel von Tonhöhe, Tonstärke
und Tondauer, das als Ornamentik verschieden verlaufender, bald
zusammentreffender, bald sich ausweichender metrischer, rhythmischer
und melodischer Kurven schwer auf eine rational faßbare
Linie zu bringen ist. Wenn auch durch die Becking-Kurven eine
Typologie der Taktgebung ermittelt ist, die einen Teil der persönlichen
Ausdrucksart festlegt, so sind die anderen Ausdruckselemente
noch keineswegs mit gleicher Sicherheit charakterologisch erkannt.


Wenn es zwischen Vers und Prosa die mannigfaltigsten Zwischenformen
gibt wie die Reimprosa des Mittelalters, den vers libre der
Franzosen, die rhythmische Prosa und die freien Rhythmen, so ist der
Rhythmus das eigentlich Formgebende. Die freien Rhythmen, mit
denen Klopstock in Hymnen geistlichen Aufschwunges die Sprache
der hebräischen Psalmen, die im Parallelismus ihre Bindung haben,
nachzubilden glaubte, bedeuten eigentlich eine Wiederentdeckung der
Gesetze des germanischen Verses, für den die dynamische Akzentuierung
in freier Taktfüllung ohne Silbenzählung das durch den
Stabreim herausgehobene stärkste Ausdrucksmittel ist. Freier Rhythmus
ist Rhythmus schlechthin, ein Hinströmen in unregelmäßigem
Wechsel von Hebung und Senkung, das in der Wiederkehr gleicher
Erscheinungen seine Gliederung findet. Rhythmus ist erhöhter Pulsschlag
und damit der eigentliche Ausdruck der Seelenregung.


Auch die Prosa hat ihren Rhythmus. Je mehr ihre Wortstellung
von der Umgangssprache abweicht, um starke Ausdrucksworte hervorzuheben;
je gehobener sie verläuft, desto rhythmischer wirkt sie;
je rhythmischer ihre Ordnung ist, desto stärker ist ihre seelische Ausdruckskraft.
Während die antike Rhetorik bestimmte Regeln für die
Gliederung der Sätze (Numerus) und für den Rhythmus des Satzschlusses
(Klausel) aufstellte, deren Weiterwirken Eduard Norden
bis in die Renaissance verfolgt hat, ist die neuere Prosa nicht mehr
rhetorisch normiert. Dagegen fühlt man heute, daß jeder Schriftsteller
seinen eigenen Rhythmus besitzt, der da am stärksten zum |#f0219 : 195|

Ausdruck kommt, wo die persönlichsten Gedanken und Leidenschaften
in Worte gebracht sind. Die Ermittlung des persönlichen Rhythmus
ist Gegenstand vieler psychologischer Untersuchungen gewesen,
die sich zum Teil mit einfacher Abzählung von Hebungen und Senkungen
und mit der Statistik der dabei beobachteten Erscheinungen
begnügten. Über dieses mechanische Verfahren, das in subjektiver
Vortragsweise keine ganz gesicherte Grundlage findet und in der
bloßen Statistik zu keiner Verlebendigung zu gelangen vermag, sind
neuere Versuche, unter denen Dietrich Seckels Untersuchung über
Hölderlins Rhythmus hervorgehoben werden muß, in der Zielsetzung
hinausgekommen.


Ein noch unaufgehelltes Problem liegt im Zusammenhang zwischen
dem Rhythmus des einzelnen Satzes und dem der ganzen Persönlichkeit,
der auch in den größeren Aufbauformen des Kunstwerkes
seinen Ausdruck findet. Was dem einzelnen Satz rhythmisches Gepräge
gibt, setzt sich fort in der Bindung von Perioden, in dem Aufbau
von Strophen, Kapiteln und Akten und in der harmonischen
Gliederung des Ganzen, die dem Ausdruck einer Idee sich anpaßt. Im
Hinblick auf diese Erscheinungen gehört der Rhythmus als Element
unwillkürlicher Formgebung bereits zum Gegenstand der Stilbeobachtung.



7. Der Stil

a) Begriffliche Grundlagen der Stilforschung


Der Stil ist die zugänglichste Schauseite des Werkes, die durch
viele kleine Fenster von außen her Einblick verrät in das Innere.
Das weiteste Feld literarischer Untersuchung liegt in der Stilanalyse;
sie ist die Analyse schlechthin oder die Analyse in zweiter Potenz,
weil das, was ein analysierbares Element des ganzen Werkes bildet,
nun wieder in einzelne Atome zerlegt wird, die in ihrem Verhältnis
zueinander ein Ganzes ausmachen. Deshalb bedarf Begriffliches, Geschichtliches
und Methodisches in diesem Abschnitt sorgfältiger
Klärung und eines weiteren Ausholens. Wir widmen dem Stil einen
eigenen Abschnitt und trennen ihn vorerst von den anderen beiden
Elementen der sechsten Stufe, der weltanschaulichen Haltung und den
Problemen. Auch müssen wir, um die Methoden der Stilforschung
in größerem Umfange zu besprechen, von der durchgehenden Beschränkung
auf die Analyse des Einzelwerkes absehen.


Von der Technik als bewußter Formgebung, die durch überlegte
Wirkungsberechnung geleitet wird, unterscheidet sich der Stil als unwillkürliche |#f0220 : 196|

Formgebung. Innerer Zwang und immanente Gesetze
des Schaffens führen im wahren Kunstwerk zur notwendigen Übereinstimmung
von Idee und Gestalt. Stil kann daher als die fast
automatische Gestaltung unter der Herrschaft der Idee aufgefaßt
werden. Es kann nicht ganz zutreffen, wenn Nadler die Sprache als
das Unwillkürliche, den Stil als das Willkürliche bezeichnet; eher
könnte man beim Künstler umgekehrt die Sprache das Gewollte, den
Stil das Gemußte nennen. Sobald Bewußtheit eintritt, läuft der Stil
Gefahr, zur Manier zu werden: er ist dann entweder Nachahmung
fremden Stiles oder überlegte, mit Willen gesteigerte Handhabung
wiederholt erprobter eigener Stilmittel. In diesem Sinne sah schon
Kants „Kritik der Urteilskraft“ das Manierierte eines Kunstprodukts
in der Sonderbarkeit eines nicht der Idee angemessenen Vortrags,
der prangt und affektiert, um sich nur vom Gemeinen zu unterscheiden.



Kommt die Abhängigkeit von fremder Eigenart zu Bewußtsein,
so kann sie sogar im Gefühl des Überdrusses zur Selbstbefreiung der
Parodie umschlagen. Dieser Vorgang vollzog sich bei Hauffs „Mann
im Mond“, der zunächst eine unbewußte Nachahmung Claurens
bedeutete, bis er mit dem Bewußtsein der Abhängigkeit und erwachender
Kritik sich zur karikierenden Verspottung des überwundenen
Vorbildes steigerte. Ebenso muß spielerische Übung in einem entlegenen
Zeitstil, wie bei der Maskerade des „Schäfers Dafnis“ von
Arno Holz, mehr oder minder willkürliche Parodie werden.


Ist die eigene Manier eine Überleitung des ungewollten, gemußten
Stiles in handwerksmäßiges Wollen, so wird sie zur bewußten Sprachtechnik.
Was Stil genannt werden darf, ist dagegen unbewußte Technik,
also eingeborene Gestaltungsgabe und ausgebildeter Formsinn,
der aus Temperament, Stimmung, Eingebung, Natur und Geschmacksentwicklung
des Gestalters hervorgeht.


Der Begriff des Stiles, der an die ursprüngliche Wortbedeutung
des Schreibgriffels (griech. stỹlow) anzuknüpfen ist, war zunächst
auf das Schrifttum beschränkt. Die Stilistik wurde ein als lehrbar
aufgefaßtes System aller kunstmäßig angewandten Sprachformen und
grammatisch-rhetorischen Figuren. Nachdem seit Buffon in der
individuellen Schreibart die Ausprägung des Charakters beobachtet
werden konnte (Le style est l'homme même), hat die Graphologie
als Mittel der Charaktererkenntnis wieder eine Verbindung mit der
ursprünglichen Bedeutung hergestellt, aber in dem Sinne, daß der
einzelne Mensch mit allen seinen Lebensäußerungen eine Einheit
bildet, so daß zwischen seiner Handschrift, seiner Schreibweise, seiner |#f0221 : 197|

Physiognomie, seinen Ausdrucksbewegungen, seinem Charakter und
seinen Handlungen unlösbare Übereinstimmung herrscht.


Von einem Werk der Natur, einem Berg, einem Baum, einer Blume
wird man, so schön die Form ist, nicht sagen, daß es Stil habe, weil
beim Naturschönen die organische Geschlossenheit als etwas Selbstverständliches
empfunden wird. Berg, Baum, Blume werden stilisiert,
sobald sie zu künstlerischer Gestalt gelangen. Beim Kunstschönen ist
der Stilbegriff erfüllt, wenn es etwas Naturhaftes in seiner Einheitlichkeit
darstellt. Zum Stil gehört jene Freiheit der Erscheinung, in
der Schiller die Formel der Schönheit zu finden glaubte. Man kann
Stil das relative Schönheitsideal jedes Zeitalters nennen. Überall da
ist die Bezeichnung Stil anzuwenden, wo eine Einheit in der Vielheit
erkennbar ist und in allen Gliedern eines Ganzen ein sich gleichbleibendes
Formgepräge in Erscheinung tritt. So konnte auch ein
Maler wie Anselm Feuerbach den Begriff des Stils als „Das richtige
Weglassen des Unwesentlichen“ erfassen.


Längst ist der ursprünglich auf die Schreibweise beschränkte Stilbegriff
auch auf die anderen Künste übergegangen. Bei ihnen ist die
Einheit der Ausdrucksformen als unmittelbarer Sinneseindruck sogar
schneller zu erfassen als in der Dichtung; diese greifbare Einheit
kann deshalb deutlicher als Ausdruck einer Weltanschauung betrachtet
werden. Das gilt von Malerei und Musik, vor allem aber von der
Architektur, die jederzeit das führende und ausgesprochenste Kennzeichen
des Stilwillens einer Kultur gewesen ist. Nicht nur in Tempeln
und Kirchen, sondern auch in Profanbauten erstehen Symbole,
die der Weltanschauungsrichtung eines Zeitalters natürlichen oder
krampfhaften Ausdruck geben, und im Stil eines Zeitalters spiegelt
sich seine Glaubens-, Gefühls- und Vorstellungsgemeinschaft. Wo sie
nicht vorhanden ist, kann kein echter Stil gedeihen, denn auch der
Einzelne tritt in seiner Ausdruckseigenart aus der Gemeinschaft hervor;
er wächst aus Volk und Zeit heraus.


Für die bildende Kunst wurde seit Winckelmann der Stilbegriff
nicht mehr als individueller Persönlichkeitsausdruck angesehen, sondern
als zeitliche und nationale Bedingtheit größerer Einheiten. Der
kunstgeschichtliche Stilbegriff führte weiter zum soziologischen und
geistesgeschichtlichen, indem der Stil zunächst auf den Nationalcharakter
und dieser wieder auf Klima, Landschaft, Lebensweise
zurückgeführt wurde. Es ergaben sich Gleichungen von griechischer
Dichtung, griechischer Kunst, Musik, Philosophie, Religion, Politik.
In den Ausdrucksformen desselben Menschentypus schied man einen
dorischen, einen ionischen, einen korinthischen Stil nach den Formen |#f0222 : 198|

der Säule und des Kapitäls und gelangte im Hinblick auf landschaftliche
und zeitliche Unterschiede zur Abstraktion eines dorischen,
ionischen, attischen, alexandrinischen Menschen, von denen jeder auf
seiner Entwicklungsstufe als Repräsentant einer bestimmten Stilperiode
gelten durfte.


Mit der weiteren Abstraktion eines romanischen, gotischen,
Renaissance-, Barock- und Rokokomenschen, eines Klassikertypus und
eines Romantikers kamen wieder literarische Anwendungen zum Übergewicht,
weil von der Literatur aus weit mehr Material zur psychologischen
Erschließung solchen Menschentums dargeboten werden
konnte als von den anderen Künsten.


Bei der geistesgeschichtlichen Gliederung nach gleichlaufenden
Zeitströmungen erwies sich indessen der Mensch eines Zeitalters als
national verschieden; nicht nur die Literaturen, sondern auch die
anderen Künste führten zu gleicher Zeit verschiedene Sprachen; die
deutsche Renaissance erscheint als verkappte Gotik oder als vorgefühlter
Barock; die deutsche Klassik gilt den anderen Völkern als
Romantik; die französische oder italienische Romantik mutet uns als
entstellter Klassizismus an. In dieser Perspektive treten Gotisch und
Romantisch als vorzugsweise germanische Ausdrucksformen zusammen,
während Renaissance und Klassizismus ihrem Ursprung und ihrer
Haltung gemäß als etwas dem Germanischen Entgegengesetztes erscheinen.
Man konnte sogar soweit gehen, die Renaissance als die
italienische Romantik, die Romantik als die deutsche Renaissance
zu bezeichnen.


Die Teilung in die drei großen Kategorien Personalstil, Epochalstil,
Nationalstil erschöpft noch keineswegs alle Möglichkeiten. Wenn
nach Schopenhauer der Stil als Physiognomie des Geistes zu betrachten
ist, so können damit noch manche andere Erscheinungsformen des
objektiven Geistes gemeint sein, die sich zu großen überindividuellen
Ausdruckseinheiten zusammenschließen, wie Landschaft, Generation,
Gesellschaft, Volk, Zeitalter, Rasse. Überall da, wo von einem Menschentypus
zu sprechen ist, der eine in Raum oder Zeit zusammengeschlossene
Gemeinschaft repräsentiert, erscheint als äußere Ausprägung
dieser geistigen, seclischen, gesinnungsmäßigen und weltanschaulichen
Einheit der Stil. Die genannten Einheiten sind Hypostasen
des Stils, und man kann von Volks- und Zeitgeist, von Stammes-
und Rassenseele nur insoweit sprechen, als sie in Nationalstil, Zeitstil,
Stammesstil und Rassenstil, wie in Nationaltypus, Zeittypus,
Stammestypus und Rassentypus zum äußeren Ausdruck kommen.


Man hat auch Gattung und Material als Bedingungen des Stils ansehen |#f0223 : 199|

wollen, aber dabei fehlt der Mittelpunkt geistiger und seelischer
Einheit; beim sogenannten Gattungsstil der Dichtung wie beim
Materialstil der bildenden Kunst scheint eine Verwechslung mit dem
Begriff der Technik vorzuliegen. Wenn es richtig ist, daß naturalistischer
und realistischer Stil vornehmlich in der Erzählung, romantischer
und impressionistischer Stil in der Lyrik, klassischer und
expressionistischer Stil im Drama zu betonter Auswirkung gelangen,
so liegt es daran, daß die Technik jeder dieser Gattungen dem einen
oder andern Stil günstigere Lebens- und Entfaltungsmöglichkeit
bietet. Der Stil ist deshalb seinem Wesen nach keineswegs durch die
Gattung bedingt; vielmehr verhält es sich eher umgekehrt, daß der
Stilwille die Wahl der Gattung bestimmen kann.


Dagegen kann eine Anwendung des Begriffes Stil auf kleinere Einheiten
vor sich gehen, denn auch innerhalb des Gesamtwerkes eines
Schöpfers hat jedes einzelne Stück eigenen Geist und seinen eigenen
Stil, der in Harmonie zwischen Form und Gehalt besteht. Zwischen
Gesamtwerk und Einzelwerk aber liegen wieder Einheiten in den
Altersstufen derselben Persönlichkeit. Das Werk des jungen Goethe,
das des reifen, das des alten stellen drei verschiedene Stilgebilde dar.
Der junge Goethe fällt mit dem Sturm und Drang zusammen, dessen
Stil schlechthin Ausdrucksform der Jugend war und sich wandeln
mußte, als die Altersgenossen alterten. Der reife Goethe verkörpert
die Klassik; dieser Stil ist schlechthin Ausdruck der Lebenshöhe;
man kann als Jüngling keinen klassischen Stil schreiben, ohne epigonenhafter
Nachahmer zu sein; höchstens kann sich im echt Jugendlichen
bereits eine Anlage zu späterer klassischer Formung verraten.
Der alte Goethe stimmt in manchen Zügen mit der Romantik zusammen,
aber der romantische Stil seiner Zeit ist Ausdrucksform einer
neuen Jugend, von der der alte Goethe durch eine oder mehrere
Generationen getrennt war. Es tritt also jenes Problem in Erscheinung,
das Wilhelm Pinder als Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen
bezeichnet hat. Der Stil des alten Goethe ist Altersromantik, die in
manchen Zügen wieder zum eigenen Jugendstil zurückkehrt, so daß
eine Kreuzung von Personalstil und Zeitstil eintritt.


Goethe selbst hat in seinen „Maximen und Reflexionen“ jedem
Alter eine bestimmte philosophische Haltung zugeschrieben: dem
Kind den Realismus, dem Jüngling den Idealismus, dem Mann die
Skeptik, dem Greis die Mystik. Damit ist zugleich jeder Lebensstufe
ein eigener Stil zugestanden. Auch Rilke vergleicht in einem Brief
vom 26. Dezember 1911 die Sprache des Einundzwanzigjährigen einem
dünnen, durchdringenden Schrei: „Die Entwicklung wird immer die |#f0224 : 200|

sein, daß man sich die Sprache voller, dichter, fester macht, und
dies hat freilich nur dann Sinn für einen, der sicher ist, daß auch der
Schrei in ihm unablässig, unaufhaltsam zunimmt, so daß er später
unter dem Druck unzähliger Atmosphären aus allen Poren des fast
undurchdringlichen Mediums gleichmäßig austritt.“ Im Hinblick auf
solche selbstbeobachteten Wandlungen kann man nicht gut mit Josef
Nadler den Altersstufenstil überhaupt leugnen, auch wenn die Grenzen
nicht immer ausgesprochen sind und der eine Dichter größere,
der andere, wie z. B. der frühreife Hofmannsthal, geringere Entwicklungen
zu durchlaufen hat. Vielmehr kann man mit Nicolai
Hartmann in Stilwandlungen geradezu ein Kennzeichen der Genialität
finden, während Wandlungen der Manier als Sache des Talentes zu
betrachten sind.


Jede der Altersstufen läßt außer ihren Besonderheiten etwas dem
Schöpfer Eigenes, durch alle seine Werke Durchgehendes erkennen.
Diese Ausdrucksmittel, die seiner Person angehören, stellen aber vor
die Frage, wie weit sie durchaus individuell sind oder anderen größeren
Einheiten zugerechnet werden können, die entweder schon in
der Anlage des Einzelnen herrschten oder durch seinen Bildungsgang
von ihm Besitz ergriffen haben. Auf der einen Seite steht als
stilbestimmend die Herkunft nach Heimat, Stamm, Rasse, Volkstum
und sprachlicher Tradition; dieses Erbgut kann sich im Laufe der
Entwicklung verstärken oder verlieren. Auf der anderen Seite steht
die Bildung; es kann Wandel bewirkt werden durch das Erlebnis
einer großen richtunggebenden Persönlichkeit, durch Welterfahrung,
durch Einleben in fremde Sprachen, durch Nachbildung ihrer Eigentümlichkeiten,
durch Aneignung und Übertragung ihrer Ausdrucksmittel,
aber auch durch Rückkehr auf frühe Sprachstufen des eigenen
Volkes, sei es in bewußter Archaisierung, sei es in spontaner Wiederbelebung.
Auch die Auffrischung durch Mundartliches aus anderen
Landschaften kann stilistische Bereicherung bringen. So hat Luther
der deutschen Sprache Stil gegeben, indem er den Reichtum verschiedenster
Tendenzen zur Einheit zusammenfaßte.


b) Methodische Richtlinien


Die Stilanalyse des einzelnen Werkes führt uns wieder auf die
Reihenfolge von Sammlung, Kritik, Gliederung, Deutung zurück. Das
erste ist die Bestandsaufnahme aller Stilmittel, die in dem zu analysierenden
Werk in Erscheinung treten; für ihre Ordnung ist vollkommene
begriffliche Klarheit der Bezeichnungen unerläßlich. Das |#f0225 : 201|

zweite ist die Feststellung, was an diesen Stilmitteln echt, ursprünglich,
erlebt oder erborgt, anempfunden und nachgeahmt ist. Diese
Ermittlung ist nicht ohne Kenntnis der Zeitstile und ihrer charakteristischen
Formen möglich. Das dritte ist die Beobachtung der Funktion,
die diese Stilmittel im Organismus des Kunstwerkes erfüllen.
Es handelt sich um das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen und
um die Bedeutung, die ihnen im Sinn der Gesamtwirkung zukommt.
Eine mechanische Statistik der einzelnen Stilelemente würde mit
Errechnung ihres prozentualen Zahlenverhältnisses Wesen und Wirkung
des Stiles niemals voll erfassen. Viel bedeutsamer als die Quantität
ist die Intensität, die von der Echtheit, Ursprünglichkeit und
Eigenprägung abhängig ist; auch kommt es auf die Bedeutung des
Platzes an, an den bestimmte Stilmittel gesetzt sind. Es wäre z. B.
ganz verkehrt, in einem Roman die Sprache des Erzählers und die
des indirekt charakterisierenden Dialoges auf eine Stufe zu stellen;
ebenso ist im Drama die Sprache einzelner Personen zu unterscheiden.
Das vierte wäre endlich die Zurückführung der Stilform auf
Lebenslage, Weltanschauung und Persönlichkeit des Dichters, was zugleich
eine Erfassung seines Altersstufen- und Personalstils in sich
schlösse.


Jedes einzelne Stilelement, vor allem in der Bildlichkeit der
Sprache, ist aus einer Kreuzung von verschiedenen Grundrichtungen
hervorgegangen, ebenso wie die Weltanschauung eines Menschen sich
aus Anlage, Temperament, Erlebnissen und großen Eindrücken gebildet
hat. Eine Analyse des Einzelwerkes, die jedem einzelnen Stilelement
seine Zugehörigkeit zuweisen wollte, müßte eine Verteilung
auf die verschiedenen Kategorien vornehmen, die in folgendem
Schema ineinandergefügt sind:


Zeitwandel
EinzelwerkLebensstufeAltersgemeinschaftPeriodeZeitalter
Einzelwerk12
Person34
Heimat5678
LebensraumStamm9101112
Sprachgemeinschaft13141516
Rasse17181920
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Man darf dieses Schema keineswegs so verstehen, als ob ein
einzelnes Werk 20 verschiedene Stile haben könnte. Es hat nur einen
einzigen Stil, aber zu diesem Besitz melden sich von rechts und links
die Teilhaber. Der Dienst, den das Schema bei der Verteilung tun
kann, ist in der Art eines Filtersystems zu denken, in dem zunächst
alle Stilelemente, die sich bei der Analyse ergeben haben, in das erste
Fach eingefüllt werden. Was darin verbleibt, sind Stileigentümlichkeiten,
die bei keinem anderen Werk in gleicher Weise hervortreten
und die daher den Werkstil charakterisieren. Was auch in anderen
Werken, die aus derselben Lebensstufe des gleichen Dichters stammen,
zu finden ist, wird in das zweite Feld übernommen; es charakterisiert
den persönlichen Lebensstufenstil (Jugendstil, Reifestil,
Altersstil). Was gleichbleibend in den Werken sämtlicher Altersstufen
desselben Dichters zu finden ist, geht in Feld 3 über und charakterisiert
den Personalstil. Übereinstimmungen mit einzelnen Werken
gleichzeitig wirkender Altersgenossen gehören in Feld 4 und bilden
Kennzeichen des Generationsstils. Was in Werken, die aus derselben
Landschaft stammen, sich als gemeinsamer Brauch einer Lebensstufe,
einer Altersgemeinschaft, einer bestimmten Periode oder eines ganzen
Zeitalters darstellt, ist als heimatlicher Lebensstufenstil (5), als heimatlicher
Generationsstil (6), als heimatlicher Epochalstil (7) oder
als Heimatstil schlechthin (8) zu erkennen. Wenn in Werken stammverwandter
Dichter auf einer bestimmten Lebensstufe (9), in einer
bestimmten Altersgemeinschaft (10), einer bestimmten Periode (11),
einem ganzen Zeitalter (12) sich dieselben Stileigentümlichkeiten
finden, so ergeben sich Spielarten des Stammesstiles. Was sich innerhalb
derselben Sprachgemeinschaft als Symptomatik einer Lebensstufe
(13), einer Generation (14), einer Periode (15), eines Zeitalters (16)
ermitteln läßt, ist als verschiedenartige Abstufung des Nationalstils
zu betrachten. Wenn endlich rassische Eigenart auf einer bestimmten
Lebensstufe (17), in einer bestimmten Altersgemeinschaft (18), in
Perioden (19) oder Zeitaltern (20) hervorsticht, kennzeichnen sich
damit die Merkmale des Rassestils.


Sind nun in jedem Werk echten Stiles alle bedingenden Faktoren
von der Altersstufe bis zum Zeitalter, von der Heimat bis zur Rasse
in gewisser Weise vertreten, so lassen sich die größeren Einheiten
natürlich nicht aus der Betrachtung des Einzelwerkes gewinnen; sie
müssen vielmehr ihren Ausweis erbringen, um an der Teilung teilnehmen
zu können; sie müssen begrifflich feststehen, um in der
Analyse erkannt zu werden. Bei den sprachgeschichtlichen Kategorien
des Zeitwandels ist leichter zu faßbaren Ergebnissen zu gelangen als |#f0227 : 203|

bei den unwandelbaren Einheiten des Lebensraums; so liegen die
Schwierigkeiten für die Erfassung des dichterischen Rassestils gerade
in der Wandelbarkeit und Mannigfaltigkeit der sprachlichen Ausdrucksmittel.
Die Probleme sind da, aber sie sind noch lange nicht
als gelöst zu betrachten. Die Einheiten stellen sich erst im Vergleich
her, der mit Werken anderer Personen, anderer Landschaften,
anderer Stämme, anderer Zeitalter, anderer Sprachen, anderer Rassen
vorgenommen wird und Gemeinsames wie Gegensätzliches in Erscheinung
treten läßt. Es gilt die Regel Goethes:


Willst im Unendlichen zurecht dich finden,
Mußt unterscheiden und dann verbinden.

Ein unendlich langer Weg liegt vor uns. Für die Analyse des Einzelwerkes
können die verbindenden Begriffe nicht eher nutzbar gemacht
werden, als bis ihr Umfang durch unzählige Einzeluntersuchungen
in allen Wesenszügen gesichert ist. Erst wenn die Einheiten in den
nur ihnen eigenen charakteristischen Ausdrucksformen erkannt sind,
kann das, was heute erraten wird, Gegenstand wissenschaftlichen
Beweises werden; dann kann die Analyse des Einzelwerkes bis zu allen
stilistischen Eigenschaften der Rasse und des Zeitalters, der Nation
und der Periode, des Stammes und der Generation, der Heimat und
der Lebensstufe vordringen, um die sprachliche Stilart des Werkes
wie des Verfassers bis zu den letzten wahrnehmbaren Kennzeichen
zu bestimmen. Diese Feststellung wäre, wenn alle Eigenheiten bekannt
wären, auf den umgekehrten Weg, als er in obenstehendem
Schema vorgezeichnet ist, angewiesen; die Reihenfolge würde dann
von den allgemeinen Stilelementen zu den individuellen hinführen.


Die Handhabung dieser Erkenntnis kann zu einem einfühlenden
Verstehen der künstlerischen Form gelangen, die man beinahe einem
Nachschaffen gleichsetzen darf; aber sie wird niemals schöpferisch.
Es ist unmöglich, auf diesem Wege unter Entäußerung des eigenen
Stils den eines anderen bis zur Verwechslung nachzubilden, so daß
das Ergebnis keine Parodie, sondern ein persönlich geprägtes Stilgebilde
würde. Umgekehrt aber sollte jede Nachbildung durch die
Mittel kritischer Stilanalyse als unecht zu entlarven sein. Die letzten
erreichbaren Möglichkeiten bestünden darin, jedes einzelne Werk zeitlich
und räumlich zu bestimmen und sogar einem bestimmten Verfasser,
falls er in seiner unverstellbaren Eigenart bekannt ist, ein
Werk zuzusprechen, zu dem er sich selbst nicht bekannt hat. Man
müßte ihn aus dem Stil heraus überführen können, so wie den Verbrecher
sein Fingerabdruck verrät. Ex ungue leonem! Das dürfte |#f0228 : 204|

allerdings nur bei Stilisten ausgesprochenster und im Wesentlichen
sich gleichbleibender Eigenart sich erfüllen. Gleichwohl müßte das
Ziel der literarischen Stilforschung in einer Treffsicherheit bestehen,
wie sie die Wissenschaft auf anderen Gebieten, auf dem der bildenden
Kunst und der Musik, bereits beansprucht.


Die oben verzeichnete Flächenprojektion ist nun noch zu ergänzen
durch eine dritte Dimension, die auf dem Papierblatt nicht graphisch
verdeutlicht werden konnte. Es mögen in parallelen Ebenen die Stilmittel
anderer Künste mit gleicher Schematik auf die Fläche gebracht
werden. Bei universalen Schöpfern auf verschiedenen Kunstgebieten
(Michelangelo, Niklas Manuel, Salomon Geßner, E. Th. A. Hoffmann,
Otto Ludwig, Adalbert Stifter, Dante Gabriel Rosetti, Ernst Barlach,
Kurt Kluge, Ruth Schaumann) ergibt sich aus der Zusammenlegung
und Deckung die Erkenntnis eines Personalstils, der über die Ausdrucksmittel
der einen Kunst hinaus sich als Formprinzip derselben
Persönlichkeit erfassen läßt.


Auf diese Weise kann auch eine gewisse Stilgemeinschaft gleichaltriger
Landsleute, etwa der beiden Schlesier Adolf Menzel (geboren
1815) und Gustav Freytag (geboren 1816) als Grundlage eines Heimatstils
ans Licht treten, wie ihn beispielsweise Paul Krannhals als
organischen Faktor der Kunstentwicklung dem Zeitstil überordnen
wollte. Oder man kann mit Wilhelm Pinder eine Gemeinschaft
zwischen weitentlegenen Altersgenossen, die auf verschiedenen Kunstgebieten
schufen, als Generationsstil feststellen, so zwischen Beethoven,
Thorwaldsen, Hegel und Hölderlin, die alle vier 1770 geboren
sind, und sogar zwischen Wilhelm Heinse und Goya, die das Geburtsjahr
1746 gemeinsam haben. Ein anderer Geistesgeschichtler der
Kunstforschung, Max Dvořak, war schon mit einer Parallele zwischen
Pieter Breughel und Shakespeare als Manieristen vorangegangen; aber
da er den Vater meinte, während der Sohn mit Shakespeare gleichaltrig
war (geboren 1564), so kann von ausgesprochenem Generationsstil
nicht mehr die Rede sein. Dagegen darf die von Witkop durchgeführte
Gleichung zwischen Beethoven und Heinrich von Kleist trotz
des Altersunterschiedes von sieben Jahren wohl gelten; beide haben
in ihrem Stil eine Zwischenstellung zwischen Klassik und Romantik.



Es offenbaren sich Gemeinsamkeiten der Richtung im Barockstil
der bildenden Kunst wie in dem der Literatur. Marinismus, Gongorismus,
Preziösentum, Euphuismus und Schwulststil bilden italienische,
spanische, französische, englische, deutsche Spielarten des literarischen
Zeitstils, der schließlich nicht nur in der bildenden Kunst, |#f0229 : 205|

sondern auch in der Musik, vor allem in der Oper, sein Gegenstück
findet. Andererseits treten Gleichheiten zwischen zeitlich getrennten
Erscheinungen wie Händel und Klopstock oder Mozart und Grillparzer
als Stammesstil hervor. Es kann sich auch eine mehr durch Erziehung
und politische Willenskraft als durch Stammeserbteil geprägte
Lebensform als Staatsstil herausbilden, wie ihn Moeller van
den Bruck im „preußischen Stil“ charakterisiert hat. Daneben aber
steht gewachsene Eigenart, die sich in Jahrhunderten gleichbleibt.
Der mittellateinische Philologe Paul von Winterfeld wollte sogar in
dem Latein der Nonne Hrotsvith von Gandersheim eine niedersächsische
Heimatkunst erkennen und einer Übersetzung ins Plattdeutsche
allein die stilgemäße Wiedergabe ihrer Wesensart zubilligen.


Übersetzungen aus einer Sprache in die andere, die mehr oder
weniger Umarbeitungen sind, offenbaren die Unterschiede des Nationalgeists
aufs deutlichste nicht nur in der ethischen Auffassung,
sondern auch in der Ausdrucksweise. Das springt heraus bei einem
Vergleich des französischen Rolandsliedes mit dem deutschen des
Pfaffen Konrad oder der Artusromane des Christian von Troyes mit
Hartmann von Aue oder Wolfram von Eschenbach. Gemeinsam ist
wiederum diesen mittelalterlichen Werken beider Nationen ein Zeitalterstil,
der sie von Dichtungen des Altertums und der Neuzeit
abhebt, aber mit Kunstdenkmälern ihrer Zeit zusammentreten läßt.
Für ein späteres Jahrhundert konnte so Richard Alewyn in der
Antigone-Übersetzung des Martin Opitz die Kennzeichen eines vorbarocken
Klassizismus aufzeigen, der in der bildenden Kunst
Parellelen findet.


Aufschlußreich sind Übertragungen aus dem Gebiet der einen Kunst
in das einer andern, z. B. beim Bildgedicht, bei der Programm-Musik,
bei der Illustration. Die Kompositionen des „Faust“ durch Berlioz,
Gounod und Busoni wie die Faustillustrationen von Delacroix stellen
sich im Gegensatz zu Schumann und Liszt oder zu Cornelius als
Romanisierungen dar; der Vergleich führt auf alle Merkmale des
verschiedenartigen Nationalstils hin.


Der Nationalstil ist nach Nietzsche die Einheit in allen Lebensäußerungen
eines Volkes und somit gleichbedeutend mit seiner Kultur.
Für die Dichtung geht der Nationalstil restlos auf in der
Sprache, denn sie ist der totale Stilausdruck des Nationalgeistes. So
hat Karl Voßler in einem geistreichen Aufsatz, der früheren Gedanken
Wilhelm v. Humboldts folgt, die Nationalsprachen als Stile
betrachtet und somit einen umfassendsten literarischen Stilbegriff
aufgestellt. Darüber hinaus kann es sich nur noch darum handeln, |#f0230 : 206|

Sprache mit Sprache, Kultur mit Kultur, Nationalgeist mit Nationalgeist
zu vergleichen, wie es Eduard Wechßler an Hand der beiden
Wörter „Esprit“ und „Geist“ versucht hat.


Über die Nationalitätsunterschiede hinaus kann schließlich die
Übereinanderschichtung gleichartiger Ausdruckswerte in verschiedenen
Künsten auf rassische Verwandtschaft oder Gegensätzlichkeit hinweisen.
Daß der Barockstil in allen seinen Erscheinungen auf den
dinarischen Menschen zurückzuführen sei, ist eine noch nicht bewiesene
Hypothese Hans F. K. Günthers, die den Nachweis voraussetzen
würde, daß in den bayrisch-österreichischen Alpenländern wie in
Italien und Spanien von jeher barock gebaut, gemalt, komponiert
und gedichtet worden sei und die zu dem Zirkelschluß führen könnte,
alle Dichter und Künstler, bei denen sich schon vor dem 17. Jahrhundert
barocke Stilelemente finden (z. B. Wolfram von Eschenbach und
Matthias Nithard gen. Grünewald) seien Dinarier gewesen. Dagegen
hat Günther selbst in dem Bildnis Hofmannswaldaus, des ausgesprochenen
Hauptvertreters der deutschen Barockdichtung im 17. Jahrhundert,
vorwiegend ostische Züge feststellen müssen.


Solche Einwände gegen voreilige Verallgemeinerungen können die
Problemstellung des Rassestiles nicht erschüttern, die sogar bis zu
einem Erdteilstil weiterzuführen ist. Ein europäischer Stil erscheint
als geschlossene Einheit, wenn man seine Gestalt mit den auf
andere Arten des Sehens, Hörens, Denkens und Fühlens begründeten
Formen ostasiatischer Architektur, Malerei, Musik, Dichtung
und Bühnenkunst vergleicht. Ebenso sind rassische Anteile und
Einflüsse der Neger und Indianer in nordamerikanischer Musik,
wie in Tanz und Mimik erkennbar. Andererseits zeigen sich kaum
begreifliche Übereinstimmungen zwischen der Kunst unzusammenhängender
Erdteile wie beispielsweise den alten Ägyptern und der
mexikanischen Maya-Kultur. Auch in frühgeschichtlichen Zeitaltern,
aus denen keine Dichtung auf uns gekommen ist, haben Rassenunterschiede
im Kunsthandwerk und Hausbau ihre Spuren hinterlassen.



Die Analyse des Wortkunstwerks kann sich indessen lediglich auf
die Sprachform als unmittelbares Beobachtungsmaterial stützen, während
die weitergehenden Stilbegriffe nur vergleichsweise im Auge
zu behalten sind. Jede sprachliche Stiluntersuchung geht methodisch
in die Irre, wenn sie sich gleich auf alle möglichen Parallelen stürzt,
statt zunächst bei dem zu bleiben, was ihr zugewiesen ist.


Um der Untersuchung des Sprachstils Sicherheit zu geben, bedarf
es nun aber eines geschärften Unterscheidungsvermögens und einer |#f0231 : 207|

eindeutigen begrifflichen Klarheit über die Ausdrucksformen, die es
zu beobachten gilt. Ein System der Stilistik tut not. Geschichtliche
Stilbetrachtung erfordert sogar eine Beleuchtung von verschiedenen
Seiten her, sowohl von jener Stilistik aus, die für Entstehungsraum
und -zeit maßgebend war, als auch von heutigen Begriffen der Sprachkunst,
die für die Gegenwart allgemeine Gültigkeit haben können.
Wenn die ältesten Lehrbücher als Beispielsammlungen von Stilmustern
zur Übung in der Sprachkunst bestimmt waren, so können wir sie zu
diesem Zweck heute nicht mehr benutzen, wohl aber eröffnen sie das
Verständnis fremdartiger Formen. So kennen wir aus den altindischen
Poetiken die Bedeutung der Tropen und Figuren, die das Unausgesprochene
zu dem Ausgesprochenen hinzudenken lassen, und Snorris
Skaldskaparmal gibt uns einen Schlüssel für die Verschnörkelungen
der nordischen Skaldendichtung.


Das andere aber, was not täte, das für alle Zeiten und Völker
anwendbare allgemeine System des poetischen Sprachstils und der
dichterischen Ausdrucksformen, fehlt uns. Für eine vollständige,
übersichtliche, geistig gegliederte, in den Sinn der Stilformen aller
Sprachen eindringende, Ursache und Wirkung in Zusammenhang bringende,
grammatisch, ästhetisch und psychologisch begründete Systematik
des Stiles, eine poetische Sprachtheorie, deren Gültigkeit der
Musiktheorie entspräche, ist noch kein Schlüssel gefunden, und es ist
die Frage, ob dieser Stein der Weisen zu gewinnen ist.


c) Wege der literarischen Stilforschung


Die bisherigen Versuche, das fruchtbare Land zu erschließen, kann
man mit einem Eisenbahnnetz vergleichen, das in eingleisigen, zweigleisigen,
mehrgleisigen Linien verläuft.


Der eingleisige Betrieb dient dem Sammelverkehr, der als endloser
Güterzug die Gaben aller Länder daherschleppt. Die Aufschriften,
die den Inhalt der Wagen bezeichnen, führen die fremdesten Namen:
lateinische wie Annominatio, Inversion, Akkumulation; griechische
wie Hendiadyoin, Metapher, Zeugma, Klimax, Amphibolie oder
Anakoluth; halb lateinische, halb griechische wie constructio katà
sýnesin; französische wie calembours, équivoques und mot propre;
italienische wie concetti; nordische wie kenningar. Der alte Typus
der Stilforschung, der noch an die Lehrbücher gebunden ist, häuft
Beispiele zu einem Herbarium gepreßter Stilblüten ohne Pflanzenbiologie.
Das Brauchbarste liegt oft im Register; die alphabetische |#f0232 : 208|

Anordnung eines stilistischen Reallexikons, das alle Bezeichnungen
erklärte und durch Beispiele erläuterte, würde vielleicht dem praktischen
Zweck besser genügen, als der immer wieder fehlgeschlagene
Versuch, ein in sich einheitliches und vielseitiges, übersichtliches
und vollständiges System herzustellen.


Die Methoden, nach denen man die einzelnen Wagen des Güterzuges
zu verkoppeln unternahm, haben gewechselt. Am bedeutendsten
war Gustav Gerbers Unternehmen, die „Sprache als Kunst“ sprachphilosophisch
zu erklären, ohne auf die Grundlagen der antiken
Rhetorik und Stilistik zu verzichten (1871; 2. Aufl. 1885); dagegen
füllte Rich. M. Meyers „Deutsche Stilistik“ (2. Aufl. 1913) reiche Belesenheitsfrüchte
in grammatisch-syntaktische Kategorien ohne rechte
logische Folge; Ernst Elsters „Prinzipien der Literaturwissenschaft“
suchten im ersten Band (1897) ebenfalls grammatische Grundlagen;
die Umarbeitung des fünften Kapitels zum zweiten Band (1911)
erstrebte eine folgerichtige Ordnung nach den Vorgängen des dichterischen
Schaffens, aber die psychologische Orientierung nach dem
Wundtschen System kommt dem praktischen Gebrauch der Werkanalyse
nicht entgegen, sondern bedeutet für diesen Zweck eher die
Abstellung auf einem toten Geleis.


Eine andere Art psychologischer Unterbauung fand die Stilistik
neuerdings bei Romanisten und Anglisten. Emil Winkler unternahm
es, die seelischen Werte der sprachlichen Gebilde unter den Gesichtspunkten
der Sprachdenklehre und der symbolischen Lautung auf dem
Boden der Einfühlungsästhetik zu ordnen. Dabei wurde eine Loslösung
von den erstarrten Stilfiguren der antiken Rhetorik vollzogen
nach dem Grundsatz, daß jede Einzelsprache aus ihrer Struktur heraus
verschiedenartige Stilbilder schafft. Die Aufsatzsammlung Leo
Spitzers hat diesen Gedanken in zwei Bänden, die „Sprachstile“ und
„Stilsprachen“ betitelt sind, durchgeführt. Etwa gleichzeitig hat Max
Deutschbein eine „Neuenglische Stilistik“ geschrieben, die sogar ein
„Wörterbuch nach stilistischen Gesichtspunkten“ enthält. Die Forschung
scheint also heute auf isolierte Behandlung jedes Sprachstils
gerichtet zu sein. Aber wenn Spitzers Zuspitzung gelten soll, wonach
alle Grammatik nichts anderes als gefrorene Stilistik sei, so muß
innerhalb der allgemeinen Sprachwissenschaft und der Sprachpsychologie
auch eine allgemeine Sprachstilwissenschaft ihre Aufgaben behalten.
Sie wird auf Vergleich von Sprachgeist und Sprachkunst eingestellt
sein; aber ihre Ergebnisse werden schwerlich bei der Stilanalyse
des Einzelwerkes, an der sich die aufgestellten Systeme
zunächst zu erproben haben, Anwendung finden.

|#f0233 : 209|


Für die Bestandsaufnahme der Stilelemente einzelner Werke und
einzelner Schriftsteller ist in der philologischen Periode der deutschen
Literaturwissenschaft bereits mancherlei getan worden. Mit außerordentlichem
Feingefühl, aber ohne System hat Albert Fries in zahlreichen
Einzeluntersuchungen über Goethe, Schiller, Kleist, Platen,
Wagner die Klassikertexte abgetastet. Ausgezeichnete Vorstöße in
der Einzelanalyse des Werkstils sind durch Gustav Roethe unternommen
worden in der Akademieabhandlung über „Brentanos Ponce
de Leon“ und in dem Buch über Goethes „Campagne in Frankreich“.
Das eine Mal wurden alle Brentanoschen Mittel des Wortwitzes, des
Klangwitzes, der Wort- und Klangspiele, der Wortzusammensetzungen
und -häufungen, das andere Mal alle Kennzeichen des kunstvollen
Goethischen Altersstils im Partizipialgebrauch, in Wortstellung, Auslassung
der Hilfsverben, Superlativen und Wortzusammensetzungen
registriert. Das eine Mal war über Petrichs „Drei Kapitel vom
romantischen Stil“, die für den Generationsstil Belege gesammelt
hatten, hinausgekommen, das andere Mal über Knauths Dissertation
„Goethes Sprache und Stil im Alter“, die für die Betrachtung des
Altersstufenstils ein oberflächliches Beispiel gab. Weiter sind Minor
und Sauer, Weißenfels und Minde-Pouet für Goethe und Kleist, Erich
Schmidt für Lessing zu nennen.


Von allen Zusammenstellungen des Charakteristischen ist aber zu
sagen, daß die positivistische Methode der Beschreibung nicht imstande
ist, die gesammelten Beobachtungen wirklich als Stil, das
heißt als Einheit und inneres Gesetz der Ausdrucksform zu begreifen.
Dieses Ziel war bei der Beschränkung auf sprachliche Formen ohne
Ergründung ihrer seelischen Zusammenhänge und Bedingtheiten
nicht zu erreichen.


Der zweigleisige Verkehr bietet Gelegenheit zum Vergleich, wenn
zwei in entgegengesetzter Richtung fahrende Züge an demselben
Haltepunkt nebeneinander stehen. Da kann die Verschiedenheit der
inneren Bedingungen aus äußerer Gegensätzlichkeit erschlossen werden.
Nach einer richtigen Bemerkung Josef Nadlers ist der Stil als
etwas Individuelles immer nur im Gegensatz zu einem anderen
Individuellen zu erkennen: „Stil also wird sichtbar, indem Mensch
gegen Mensch, Gesellschaft gegen Gesellschaft, Landschaft gegen
Landschaft, Volk gegen Volk steht.“ Aus der Beobachtung des
Gegensätzlichen ergibt sich eine Polarität der grundbegrifflichen Betrachtungsweise, |#f0234 : 210|

die bis auf Kants Antinomienlehre zurückzuführen
ist. Die Antithesen von objektiv und subjektiv, von naiv und sentimentalisch,
von Nazarenern und Hellenen, von apollinisch und dionysisch,
von statisch und dynamisch, von Abstraktion und Einfühlung
suchten jedesmal aus einem Begriffspaar eine allgemeingültige Zweiteilung
sämtlicher Erscheinungsformen zu gewinnen. Man kann aber
auch den grundsätzlichen Dualismus durch Spaltung vermehren, indem
man die verschiedenen Begriffspaare, die nicht ganz identisch
sind, nebeneinander stellt. So hat der Ästhetiker Johannes Volkelt
mit der Methode des typisierenden Vergleichs die fünf verschiedenen
Gegensatzpaare eines elementaren und vernunftgeklärten, eines naiven
und sentimentalen, eines objektiven und subjektiven, eines Wirklichkeits-
und Steigerungsstils und eines individualisierenden und typisierenden
Stils gewonnen und zu einem weitmaschigen Netz verknüpft,
das für die Erfassung sämtlicher Künste gelten sollte. Heinrich
Wölfflin kam dann in seinen „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen“
(1915) durch eine exakter angewandte vergleichende Methode zu fünf
gegensätzlichen Kategorien veränderter Sehweise, mittels deren das
Problem der Stilentwicklung am Übergang von Renaissancekunst zu
Barockkunst veranschaulicht werden konnte. Die Übertragung dieser
Methode von der rein kunstgeschichtlichen Betrachtung auf den Stil
im allgemeinen und den Dichtungsstil im besonderen blieb nicht
aus; man führte sie wieder auf den Anspruch allgemeingültiger Zweiteilung
zurück. Unter den mehrfachen Versuchen war Fritz Strichs
„Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit“ (1922)
der bedeutendste. Die feinfühligen Beobachtungen stehen allerdings
immer unter dem Systemzwang der Polarität und unter dem vorbildhaften
Eindruck kunstgeschichtlicher Begriffe. Bei literarischer Stilbetrachtung
aber darf es nicht so sehr auf die Art des Sehens ankommen
als auf die des Spracherlebnisses.


Auf sprachliche Kategorien wurde die Vergleichsmethode beschränkt
in Wilhelm Schneiders „Ausdruckswerten der deutschen Sprache“
(1931), in denen aus Urteilsbildungen wie begrifflich ─ sinnlich,
klar ─ dunkel, knapp ─ breit nicht weniger als 17 Gegensatzpaare
hervorgingen, womit eine Möglichkeit gefunden war, über die erste
Stufe der Stilforschung, über die Bestandaufnahme der Stilmittel,
durch Urteil und Sichtung hinauszukommen. Die Zusammenfassung
der Ausdruckswerte zu noch höheren Ordnungsbegriffen blieb einer
dritten Stufe überlassen, vor der haltgemacht wurde. Was mit diesen
Kategorien erreicht werden kann, ist nicht nur eine Stilcharakteristik
des Einzelwerkes, sondern die Beobachtungsmöglichkeit der Entwicklung. |#f0235 : 211|

Führt man zwei Werke, die auf beiden Seiten der Periodengrenze
liegen, zusammen, so kann das, was sie unterscheidet, soweit
es nicht durch die Verschiedenheit der Persönlichkeiten und ihrer
Abstammung bedingt ist, als Kennzeichen eines gewandelten Zeitstils
betrachtet werden. Man könnte das etwa an den Genovefa-Dramen
von Maler Müller und Ludwig Tieck aufzeigen.


Die Notwendigkeit eines mehrgleisigen Verkehrs ergibt sich aus
der Einsicht, daß das System von Gegensätzlichkeiten, das grundsätzlich
bei jedem Vergleich herausspringt, nur zur Abgrenzung zweier
aufeinander folgender Stilarten und zur Feststellung der Übergänge
tauglich ist. Die Gegensätzlichkeit ist dabei immer eine relative;
absolut betrachtet würde es viel stärkere Antithesen, viel extremere
Haltungen geben, als sie in Wölfflins Unterscheidung von Renaissance
und Barock oder in Strichs Gegenüberstellung von Klassik und Romantik
zu finden sind. Verirrt sich die Verallgemeinerung der durch
polare Trennung gefundenen Kategorien in radikale Zweiteilung wie
etwa bei Worringers Gegenüberstellung von Abstraktion und Einfühlung
als den zwei überhaupt möglichen Grundhaltungen des Künstlers,
so geht die historische Anwendbarkeit verloren. Wie dort der
Begriff „Gotik“ schließlich auf alle nicht klassischen Künste bezogen
wurde, so trat in der literarischen Stilkunde zeitweilig eine Überwertung
des Begriffes „Barock“ ein, der auf einmal aus seiner zeitlichen
Festlegung herausgenommen und auf jede Neigung zu unregelmäßiger
Form, überladenem Stilschmuck und gesteigertem Gefühlsleben
Anwendung fand: der Römer Tacitus, die altnordischen Skalden,
der geblümte Stil des Mittelalters, Shakespeare, Klopstok, Heinrich
von Kleist und der moderne Expressionismus schienen nun
gleiche Stilphänomene zu offenbaren.


Schon bei Strichs Zweiteilung von Vollendung und Unendlichkeit
zeigte sich aber, daß es neben Klassik und Romantik noch andere
Stilrichtungen sowohl im Endlichen als im Unvollendeten geben muß.
Zu dieser Erkenntnis konnte jede historische Betrachtung führen, die
die Stellung der Klassik und Romantik nicht nur durch gegenseitigen
Vergleich bestimmte, sondern sie auch nach der zweiten und dritten
Seite hin abgrenzte. Zur Vorklassik (Sturm und Drang) und zur
Nachromantik (Biedermeier und Realismus) hätten mit derselben
Methode des Vergleichs gegensätzliche Beziehungen hergestellt werden
können.

|#f0236 : 212|


Wie die Kunstgeschichte, auch wenn sie Wölfflins Ergebnisse zur
Charakteristik des einmaligen Übergangs übernimmt, an dem mehrschichtigen
Aufbau geschichtlicher Stilperioden festzuhalten hat,
ebenso bleibt für die Literaturgeschichte die Notwendigkeit der geschichtlichen
Gliederung und der Einordnung jedes Einzelwerkes in
eine Stilkategorie. Nach dem unzulänglichen Versuch einer „Geschichte
des deutschen Stils in Einzelbildern“, den E. Hoffmann-
Krayer 1925 vorlegte, hat Emil Ermatinger ein Jahr später die Aufgabe
in Angriff genommen, für vier aufeinander folgende Stilperioden
der deutschen Literaturgeschichte Charakteristiken zu schaffen; der
Barockstil wäre demnach als Ausdruck der Spannung zwischen natürlicher
Weltfreude und kirchlich verkündeter Weltverachtung zu
erfassen, der Rokokostil als Richtung eines vernünftigen Realismus;
die Einheit von Sturm und Drang, Klassik und Romantik wäre unter
dem Gesichtspunkt der Symbolik zu verstehen, und für das folgende
Zeitalter böte sich die Benennung Realismus. Das ist eine geistesgeschichtliche
Periodisierung, die Sinn und Geisteshaltung jeder
Periode als Voraussetzung ihres Stils bestimmt, aber über diesen
selbst so gut wie nichts aussagt; alle sprachlichen Stilsymptome, die
auf dem eingleisigen Wege zusammenkamen, bleiben unbeachtet und
gelangen nicht zur Einordnung in diese Sinngebung. Es ist ein Schnellzugsverkehr,
der alle kleinen Stationen durchrast.


Eine andere Art mehrgleisiger Ordnung beruht auf der Theorie
zeitloser Typen, wie sie in Diltheys Weltanschauungslehre und geistesgeschichtlicher
Psychologie zunächst nur zur Gruppierung der philosophischen
Systeme bestimmt war. Von Diltheys Schülern, namentlich
von Hermann Nohl, wurden die drei Typen des Naturalismus, objektiven
Idealismus und Idealismus der Freiheit auch auf die Künste
angewandt, wobei sich sogar eine Verbindung mit der musikalischen
und sprachlichen Typenlehre von Josef und Otmar Rutz, Eduard
Sievers und Gustav Becking ergeben konnte. Eduard Spranger
wiederum hat in seinen „Lebensformen“ sechs ideelle Grundtypen der
Individualität geschieden, und dem ästhetischen Menschen, der unter
ihnen eine eigene Klasse bildet, drei Erscheinungsweisen zugesprochen:
die des objektiven Eindrucksmenschen, die des subjektiven Ausdrucksmenschen
und die des klassischen Menschen von innerer Form, bei
dem Eindruck und eigene Gefühlswelt zum Gleichgewicht kommen.


Zur Frage der dichterischen Weltanschauungstypen wird uns das
zweite Buch führen. Hier ist nur noch eine der vielen Weiterbildungen
zu besprechen, nämlich das Kompromiß, durch das Oskar Walzel
einen Einklang zwischen Dilthey und Wölfflin herzustellen suchte, um |#f0237 : 213|

diese Synthese mit einer Typologie sprachlicher Ausdrucksformen
gleichzusetzen. Zu solchem Zweck wurde unter gleichzeitiger Anlehnung
an Simmel, Strich und Worringer die antike Dreiteilung der
genera dicendi bei Cicero, Theophrast und Quintilian benutzt und
auch der auf Dionys von Halikarnaß zurückgehende, durch Norbert
von Hellingrath für Hölderlin in Umlauf gebrachte Unterschied zwischen
harter und glatter Fügung nicht unberücksichtigt gelassen. Das
Ergebnis besteht wieder in drei Typen, in denen die höchste Verknüpfung
von Gehalt und Gestalt ihre Erfüllung finden soll. Der erste
brächte eine überindividuelle Formung, die in begrifflich vereinfachtem
Ausdruck den Erscheinungen des Lebens ideelle Eigenexistenz
gibt und sie trotzdem einem Kanon unterwirft. Es ist die somatische
und statische Kunst eines ruhenden Seins, in der der klassische Mensch
des Altertums sein Formprinzip fand. Der zweite Typus stellt die
Eindrücke des Lebens als Werden dar, als organische Dynamik, als
ewigen Fluß, gefaßt in den einzigen Augenblick, der das innere Leben
an die Oberfläche treten läßt. Ein pathetischer Wille würde dagegen
im dritten Typus zum übersteigerten Ausdruck hinführen und zu
neuer Abstraktion vom wirklichen Leben. Typus 2 und 3 sollen sich
untereinander verhalten wie Worringers Begriff der Gotik zu Simmels
Rembrandt-Deutung, während sie zum ersteren in demselben Verhältnis
stehen sollen wie Wölfflins Barockreihe zur Renaissance oder
Strichs Unendlichkeit zur Vollendung. Wenn angenommen wird, daß
sich damit die zwei Möglichkeiten des deutschen Stils im Gegensatz
zu der antiken Haltung verkörpern, so würde beispielsweise Goethe
in seiner gedämpften Haltung teils dem Typus 2 zuzurechnen sein,
teils als hinstrebend zum Typus 1 betrachtet werden müssen. Also
wären weder Personalstil noch Zeitstil noch Nationalstil auf diesem
Wege als Einheiten zu erfassen. Dafür wird eine Festlegung der verschiedenen
sprachlichen Ausdrucksmittel und der besonderen Arten
der Wortgebung für jeden Typus erstrebt: „Im ersten herrschen feststehende
Begriffe, im zweiten die Wörter und die grammatischen
Kategorien, die ein stetiges Werden, eine dauernde ruhige Bewegung
bezeichnen. Die Syntax dieses Typus kennt nicht die Mittel, mit
denen der dritte Typus Hemmungen aufbaut, um dann zu desto
jäheren Entladungen zu gelangen. Dieser dritte Typus benötigt entweder
den jähen Schrei oder aber den umständlichen Periodenbau,
der gestattet, die entscheidende Wirkung weit hinauszuschieben und
sie endlich wie eine späte Befreiung zu genießen.“


Bei dem dritten Typus mag an den Expressionismus der damaligen
Zeit gedacht sein, bei dem zweiten an den Impressionismus; aber wo |#f0238 : 214|

sollen nun Realismus und Naturalismus bleiben? Mit Dilthey, bei
dem diese beiden Richtungen im ersten Typus hätten unterkommen
können, ist die Walzelsche Einteilung so wenig zur Deckung zu bringen
wie mit der historischen Aufeinanderfolge, die Wölfflin berücksichtigt
hatte. Offenbar sind drei Gleise zu wenig, um die mannigfaltigen
Formmöglichkeiten und Richtungen nebeneinander zu stellen.
Wenn Walzel diese Typen zum praktischen Gebrauch vorlegte, „um
die Fülle der Züge eines Kunstwerks oder der vielgestaltigen Werke
eines einzelnen Künstlers nach ihrer Gestalt zu erkennen und zu benennen“,
so war diese Empfehlung vielleicht etwas verfrüht. Das
System muß erst unterbaut werden; vorerst ist es auf zu wenig
Induktion gegründet und spielt zuviel mit Begriffen, die aus verschiedenartigen
Gedankenreihen entlehnt sind. Man kann nicht Abstraktionen
miteinander in Verbindung setzen, ohne daß die konkreten
Grundlagen, von denen sie abgezogen sind, auf einheitlicher Ebene
liegen. Es ist übereilt, zu gliedern und zu deuten, ehe Sammlung und
Kritik das ihre getan haben.


Die Typologie der Grundbegriffe, die ihre Probe erst bestehen muß,
erspart einstweilen noch nicht die unvoreingenommene Beobachtung
aller einzelnen Merkmale des Personalstils und Zeitstils. Dafür hat
gerade Walzels Schule seit dem Erscheinen seines Buches manche
wertvolle Beiträge geleistet, gegenüber deren Ergebnissen die Hilfskonstruktion
kaum mehr unbeeinträchtigten Bestand bewahren kann.


d) Ordnungsgrundriß


Befindet sich die vielgleisige Stilforschung gegenwärtig im Zustand
eines Rangierbahnhofs, auf dem das unaufhörliche Hin- und Herschieben
von einem Gleis zum andern den chaotischen Eindruck der
Sisyphusarbeit macht, die nicht vom Fleck kommen will, so droht
die Gefahr einer Verstopfung, wenn nicht die festgefahrenen Züge
mit ihren Materialladungen flottgemacht werden und der Knäuel
durch richtige Weichenstellung zur Lockerung und Auflösung
kommt.


Wir suchen nach Ordnungsgrundsätzen, die das gesammelte Material
seiner Bestimmung zuzuführen erlauben. Aber die einfache Etikettierung
jedes einzelnen Stilmittels als zugehörig zu einem bestimmten
Zeitstil, Nationalstil oder Personalstil erweist sich als völlig undurchführbar.
Das Charakteristische tritt niemals in einem einzelnen
Element zutage, selbst wenn diesem ein Übergewicht zufällt, sondern
höchstens in dem Mischungsverhältnis der verschiedensten Stilmittel, |#f0239 : 215|

womit eine bestimmte Ausdrucksmöglichkeit bezweckt wird. Man
wird kaum dazu gelangen, die einzelne Metapher als barock, jede
einzelne Interjektion oder jede Hyperbel als expressionistisch, den
einzelnen Farbeneindruck als impressionistisch, das einzelne Anakoluth
als naturalistisch, die einzelne Sentenz als klassisch, das einzelne
Oxymoron als lateinisch, die einzelne Antithese als französisch, den
einmaligen Parallelismus als biblisch, das einzelne Wortspiel als
Shakespearisch, die einzelne Inversion als Kleistisch zu empfinden,
sondern erst in der Wiederholung derselben Erscheinung und in ihrer
Häufung entsteht der Eindruck eines bestimmten Stiles, der zugleich
eine Aussage bedeutet über die Wesensart des Menschen, der ihn gebraucht
und in ihm sich ausprägt.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Nennung. Zu dieser Wesenserkenntnis kann
der Vergleich mit andersartiger Ausdrucksweise als Erscheinungsform
einer verschiedenartigen Existenz ein vorzügliches Hilfsmittel gewähren,
aber die einmalige Gegenüberstellung kann immer nur einzelne
verschiedenartige Charakterzüge in Gefühlseindruck und Urteil festlegen.



Um zu bündigen Urteilen über den charakterologischen und ästhetischen
Stileindruck zu gelangen, muß man die verschiedenartigsten
Möglichkeiten sprachlicher Formung überblicken; andererseits kann
man sich keineswegs mit Registrierung der Formen begnügen, wenn
man zu den seelischen Ausdruckswerten vordringen will. Die Wechselwirkung
zwischen Ausdrucksform und Ausdrucksinhalt zu erhellen,
ist also die eigentliche Aufgabe der Stilforschung. Dabei ist das, was
als Stil, als Ausprägung eines Charakters erkannt werden soll, immer
ein Verhältnis mannigfaltigster Einzelheiten sowohl untereinander
als zum Ganzen. Das Ganze aber enthält, auch wenn es dank des
Zusammenhanges aller Teile als organische Einheit betrachtet wird,
so Vielfältiges, daß es nie und nimmer durch eine einzige Eigenschaft,
sei es auch die am meisten hervortretende, zu charakterisieren ist.


Ohne jeden Anspruch auf vollständige Lösung der Aufgabe, sondern
mehr als Versuchsmodell soll folgendes Schema das Gegeneinanderweben
von Form und Gehalt veranschaulichen, wobei zehn der gebräuchlichsten
Gegensatzpaare des Eindrucks (unter Benutzung der
von Johannes Volkelt, Wilhelm Schneider und anderen registrierten
Polaritäten) mit den sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zur Kreuzung
gebracht sind. Diese grammatischen Kategorien sind, um die
stufenmäßige Anschwellung von beiden Seiten her sichtbar zu machen,
doppelt registriert, so daß jede Erscheinungsform in ein eigenes Feld
eingetragen werden kann und das Ganze als eine von Schrift zu Aufbau
aufsteigende Doppeltreppe erscheint:

|#f0240 : 216|
[Beginn Spaltensatz]

I SchriftII EinzelwortIII Wortzusammensetzg.IV WortfolgeV SatzgliederungVI PeriodeVII Aufbau
a) plastisch
b) objektiv
c) klar
d) alltäglich
e) niedrig
f) sinnlich
i) eindringlich
k) logisch
l) spielerisch
m) antithetisch
gehäuft

[Spaltenumbruch]

VII AufbauVI PeriodeV SatzgliederungIV WortfolgeIII Wortzusammensetzg.II EinzelwortI Schrift
a) musikalisch
b) subjektiv
g) verschwomm.
d) eigengeprägt
e) übersteigert
f) begrifflich
i) Abstand
haltend
k) phantastisch
l) bildlich
m) harmonisch
symmetrisch


Es könnte zunächst befremden, daß die Kategorien Schrift und Aufbau,
von denen die eine unterhalb, die andere oberhalb des Sprachstils
zu liegen scheint, mit aufgenommen sind. Die Buchstaben der
europäischen Alphabete haben allerdings nichts mehr von dem
magischen Bedeutungsinhalt, der dem Wortsinn chinesischer Schriftzeichen,
der Bilderschrift des alten Orient, den germanischen Runen
oder anderen Schriftsystemen zukommt, aber ihre Lautvermittlung
ist gleichwohl nicht ganz mechanisch, und mancher Dichter der Neuzeit,
z. B. Stefan George, hat in seiner Handschrift wie im Druckbild
eine Eigenart betont, die durchaus zu seinen Stilkennzeichen zu
rechnen ist. Der sparsame oder reichliche Gebrauch von großen
Anfangsbuchstaben, die Anwendung der gliedernden Satzzeichen nach
syntaktischen oder rhythmischen Rücksichten, die begriffscharfe
Teilung eines Kompositum durch Trennstriche, die Einstreuung von
Gedankenstrichen und Ausrufungszeichen, die Einklammerung in
Parenthesen, die Häufigkeit von Unterstreichung und Sperrdruck ─
das alles kann Symptom für die Haltung einer Persönlichkeit, eines
Zeitalters, eines Nationaltemperamentes sein und den in diesem
Schema gebrauchten Charakteristiken wie sinnlich, antithetisch,
logisch oder übersteigert entsprechen.


Als Ausdrucksmittel von Stilbedeutung kann im Drama auch das
stimmungsvolle Schweigen und die lautlose Bewegung angesehen
werden, so wie im Lied die Pause zum Gefühl spricht. Aber das sind |#f0241 : 217|

Wirkungen, die nur durch aktive oder imaginäre Mithilfe der Schauspielkunst
und Musik sich erfüllen. Im Epos müssen solche Stimmungswirkungen
in Worte umgesetzt werden, und insofern ist die Erzählkunst
die Vollform der Wortkunst, als sie sich einzig auf sprachliche
Stilmittel zu beschränken hat. Nur von Epikern kann gesagt
werden, daß sie ganz der Sprache verfallen sind und in ihr schwelgen;
ein Erzähler wie Jeremias Gotthelf nannte das Wort „eine unsichtbare
Hand, wunderbar und vielfach gefingert, mit der wir über
unsrer Mitmenschen Gemüter streichen.“


Das einzelne Wort kann zwar, wie oben gesagt, noch nicht den
Stil bestimmen, aber in seltsamen Namen, in metaphorischen Beiworten,
in hyperbolischen Zahlen, in klangmalenden Verben lebt doch
noch etwas von ursprünglicher alter Wortmagie weiter. In der Lyrik
ist es jenes „Zauberwort“, das Jos. von Eichendorff und Annette
von Droste suchten; aber auch der Erzähler Fontane konnte aus
eigener Erfahrung in seiner Doppelrolle als Dichter und Journalist
sagen: „Der gewöhnliche Mensch schreibt massenhaft hin, was ihm
gerad in den Sinn kommt; der Künstler, der echte Dichter sucht oft
vierzehn Tage lang nach einem Wort.“ Er wußte vielleicht um die
französische „recherche du mot propre“ und kannte die Klage Flauberts,
daß er über dem Suchen nach einem Wort schlaflose Nächte
hinbringe. Das Suchen nach einem Wort muß nun zwar als Akt des
Bewußtseins aufgefaßt werden; das Finden aber vollzieht sich im
Unterbewußtsein der Stileinheit.


Was sich leicht einstellt, sind die Lieblingswörter, in denen ein
Zeitalter sein eigenstes Lebensgefühl ausgedrückt findet. Sie sind
für die folgende Generation schon verbraucht und verlieren nicht nur
ihren Reiz, sondern können sogar ins Lächerliche oder Gemeine
versinken. Solche Modewörter wie die anakreontische „Wollust“, der
geniemäßige „Kerl“, die barocke Vorliebe für „Ambra“ und „Alabaster“,
die romantische für den Farbeneindruck „blau“, die optische
„Ferne“, den Klangwert „Waldhorn“ und alle Zusammensetzungen
mit „Geist und Seele“, endlich die expressionistischen Verba „ballen“,
„schnellen“ und „steilen“ hatten nur eine begrenzte Wirkungsdauer
innerhalb der deutschen Dichtersprache und bleiben charakteristisch
für eine bestimmte Stilepisode. Die Analyse des Einzelwerkes muß
Zeitwert und Bedeutungswandel jedes Wortes in Rechnung ziehen.
Wenn früher mit Bienenfleiß sogenannte Parallelen gesammelt
wurden, so hatte dieses Bemühen wenig Wert für die Erkenntnis von
Abhängigkeiten, aber wohl können solche Zusammenstellungen des
Wortgebrauches von Bedeutung sein für die Erfassung des Zeitstils.

|#f0242 : 218|


Für den Stilgehalt des Wortschatzes würden Wörterbücher der einzelnen
Dichtersprache aufschlußgebende Hilfsmittel darstellen, wenn
wir ihrer mehr und bessere besäßen. Umfassende Wörterbücher des
gesamten Sprachschatzes buchen, wenn auch unzulänglich, den Anteil,
den große Wortschöpfer an der Bereicherung der Sprache und an
ihrem Bedeutungswandel genommen haben. Das „Deutsche Wörterbuch“
der Brüder Grimm, das im Jahrhundert seines Werdens und
Wachsens in immer reicheren Belegen sich auf die feinsten Unterscheidungen
des Sprachlebens ausdehnte, hat wiederum die Sprache
neuerer Dichter befruchten können. So wissen wir von Rainer Maria
Rilke, dem die Vorstellungskraft des einzelnen Wortes so viel bedeutete,
daß er auf der Suche nach einem Ausdruck stundenlang im
Grimmschen Wörterbuch „auf die Weide ging“.


Auch die Entwicklungsperioden eines Dichters finden in den Wandlungen
des Wortschatzes und der Wortbedeutung ihren Niederschlag.
Für die Sprache des jungen Goethe in der Zeit seiner Hymnendichtung
sind Verba wie „glühen“, „anglühen“, „durchglühen“ kennzeichnend,
ebenso wie die Form imperativischen Anrufs; in der Zeit
des Spinozismus wird das Epitheton „dumpf“ ein besonderer Ausdruck
der passiven Seelenlage; in der Reifezeit kommen die einfachen
Hauptwörter zur Herrschaft; im Altersstil verstärken sich die Eigenschaftswörter,
während die einfachen Verba oft durch substantivische
Umschreibung ersetzt werden. Auf die sinnliche Urkraft des Verbums
war Goethe zuerst durch Herder in der Straßburger Zeit hingewiesen
worden, und die unmittelbare Wirkung wird sichtbar nicht
nur in der Häufung der aktiven Verbalformen, sondern selbst in der
Bevorzugung bewegungsreicher Partizipien an Stelle anderer Beiwörter.



Ob die am stärksten betonten Ausdruckswerte in der Form von
Hauptwörtern, Beiwörtern oder Zeitwörtern uns entgegentreten und
ob demnach Begriffe, Eigenschaften oder Vorgänge mehr in die
Vordergrundsbeleuchtung gedrängt werden, ist für den Stilwillen von
Zeiten, Völkern und Persönlichkeiten bedeutungsvoll. Schon längst
hat man in der Trennung eines Nominalstils als Ausdruck statischer
Ruhe, eines Verbalstils als Ausdruck dynamischer Bewegung und eines
Beiwortstils, der vor allem sinnliche Anschaulichkeit in beschreibender
oder beseelender Weise zu wecken sucht, eine fruchtbare Unterscheidungsmöglichkeit
erkannt.


Die Übertreibung Fritz Mauthners, der nach substantivischer,
adjektivischer und verbaler Auffassungsmöglichkeit geradezu drei
Sprachwelten trennen wollte, mag man fallen lassen, aber neuere |#f0243 : 219|

philosophische Sprachvergleichung (Herm. Ammann) spricht nach
wie vor von den großen Urkategorien des verbalen und nominalen
Satztypus und sieht in der durch das Verbum veranlaßten „Mitregung“
ein irrationales Element der Einfühlung, „das der Welt des
Urteilens, des sachlichen Feststellens, des objektiven Berichtens ebenso
fremd ist wie der Welt der Dichtung und des Traumes verwandt.“


Wenn somit im Tätigkeits-, Vorgangs- und Zeitwort der eigentliche
bewegte Lebensausdruck der Sprache gefunden wird, so kann das im
wesentlichen nur für die indogermanischen Sprachen gelten, deren
Entwicklung dem verbalen Stiltypus den Boden bereitete. Gleichwohl
hat es auch da immer Stilrichtungen gegeben, in denen die vom
Hauptwort ausgelöste „Gegenregung“ im Vordergrund stand. Die
altgermanische Stabreimdichtung mit ihrem rhythmischen Heraustreiben
der akzentuierten Hauptbegriffe entwickelte einen ausgesprochenen
Nominalstil, und dieser bleibt immer ein Kennzeichen erhabener
und heroischer Haltung. Andererseits wurde im späten Mittelalter
der deutsche Wortschatz durch die sprachschöpferische Tätigkeit der
Mystiker um die vielen Bildungen mit -heit und -ung bereichert, die
die Dinge konkreter Anschauung zu hohen Begriffen erhoben; damit
wurde der Nominalstil zum Ausdruck kontemplativer Haltung.


Die sprachliche Eigenprägung wirkt sich vornehmlich in denjenigen
Wortkategorien aus, denen die stärkste Ausdrucksmöglichkeit zugedacht
ist. Nach Max Deutschbein charakterisiert der Nominalstil die
expressive und dynamische innere Sprachform neuenglischer Prosa.
Ebenso wurde im Französischen die Vorherrschaft substantivischer
Konstruktion beim Naturalismus beobachtet und in Zusammenhang
gestellt mit einem seit 1850 zunehmenden Brauch, das Adjektivum
durch Vergleichsworte zu ersetzen. Auch das attributive Substantivum
(z. B. chanteur in „oisau chanteur“, das einem deutschen
Singvogel entspricht), gehört seit dem 18. Jahrhundert zu den durch
die Dichtung, vielleicht auch durch Übersetzung beförderten Entwicklungstendenzen
der französischen Sprache. Der junge Goethe
hat ein einziges Mal (im Prometheusfragment) mit den Worten „der
Kindheit nothe Hilfe“ eine substantivische Adjektivform gebildet,
die er später durch „nöth'ge“ ersetzte. Und die drei sich jagenden
Substantiva „Stock, Wurzeln, Steine“ im „Schwager Kronos“ lassen
sich beinahe als adverbiale Bestimmungen zum „holpernden Trott“
auffassen. Umgekehrt hat Goethe im Alter die numinose Substantivierung
von Adjektiven geliebt (das Wahre, das Tüchtige, das Schöne,
das Allzuflüchtige), ebenso wie Hölderlins Spätstil das noch geheimnisvollere
substantivische Partizipium (das Rettende, Reinentsprungenes) |#f0244 : 220|

zur Bedeutung bringt, worin der späte Rilke ihm nachfolgt
(„ein Rettendes“, 9. Elegie, Werke III, 300).


Es hat Stilrichtungen gegeben, in denen das einfache oder zusammengesetzte
Adjektivum als solches den Hauptträger der Anschauung
bildete. Für Harsdörffer, den Verfasser des Nürnberger „Poetischen
Trichters“, bedeutete das Beiwort die Klaue des Löwen. Der
alte Barthold Hinrich Brockes mit seiner empiristischen Naturbeschreibung
ist als malender Poet zu einem „Virtuos des Adjektivs“
geworden, und Albrecht von Haller in seiner von Lessing gerügten
Beschreibung der Alpenblumen hat es ihm gleichgetan; die deutsche
Romantik ist durch Fritz Strich als „Kunst des Beiwortes“ bezeichnet
worden; die Brüder Goncourt sahen im „epithète rare“ die charakteristische
Marke des Schriftstellers, und der auf differenzierte Sinnesqualitäten
gerichtete deutsche Impressionismus (Arno Holz, Dauthendey)
suchte jede Stimmungsnuance in Beiworten punktuell zu erfassen,
während französischer und englischer Impressionismus den
Nominalstil bevorzugten und sich dem Adjektiv und Adverb weniger
geneigt zeigten.


Sprachliche Eigenprägungen haben eine aufpeitschende Wirkung,
so wie sie in ihrer Entstehungsweise ein Ausdruck seelischer Erregung
sind. Die mannigfaltige poetische Ausdruckskraft des Zeitworts liegt
nun zum Teil in der leichten Möglichkeit und Unerschöpflichkeit
schallnachahmender oder lautmetaphorischer Neubildungen, für die
auch die sinnliche Urkraft der Mundart unversiegbaren Zufluß bringt.
Man kennt das erfinderische Nürnberger Spielzeug der Pegnitzschäfer
des 17. Jahrhunderts, man bewundert den urwüchsig verschwenderischen
Reichtum, in dem ein Jeremias Gotthelf schwelgte;
man schüttelt den Kopf über die expressionistischen Experimente des
„Sturm“ im 20. Jahrhundert, die über die Grenzen des Möglichen,
d. h. über die Gesetze des Sprachlebens sich hinwegsetzten. Das ist
an den berüchtigten Versen von August Stramm zu sehen: „Nacht
grant Glas, ich steine, weit glast du.“ Man kann bei demselben zu
früh gestorbenen Lyriker auch den Versuch beobachten, durch abkürzende
Verstümmelung von Partizipien wie „kreischend“ und
„keuchend“ um rhythmischer Klangwirkung willen zu neuen Adverbien
und Adjektiven zu gelangen: „kreisch peitscht das Leben vor
sich hin den keuchen Tod.“ Hier ist Stil sichtlich zur Manier geworden,
die bei aller Achtung vor dem suchenden Formwillen doch
nur in einer Greuelausstellung entarteter Kunst weiterleben wird.


Das Beiwort bietet weit weniger Möglichkeit zu neuer erregender
Eigenprägung als das Zeitwort; dagegen erweitert sich der Spielraum |#f0245 : 221|

seines sinnlichen Ausdruckswertes auf zwei Wegen, die allerdings
beide durch Mißbrauch und Überspannung ihre Wirkung verlieren
können. Der eine ist der Gebrauch von Steigerungsformen, zum
Beispiel eines Komparativs, dem kein Positiv vergleichsweise gegenübersteht
(Klopstock, Goethe, Hölderlin) oder eines in gleicher Weise
gebrauchten Superlativs und Elativs. Der andere ist die Synästhesie,
die Farbenreize durch Vorstellungen des Gehörs, Töne durch Licht-
oder Farbenwirkungen bezeichnet und auch Geschmacks-, Geruchs-
und Gefühlseindrücke in Wechselwirkung und Austausch bringt.
Längst hat die Umgangssprache derartige Metaphern sich angeeignet,
die man nicht mehr als solche empfindet, wenn von dunkeln, weichen
oder silbernen Tönen, von satten, duftenden, kreischenden Farben,
von schwülen Düften, übelriechenden Äußerungen oder sprechender
Ähnlichkeit die Rede ist. Läppische Kosewörter des Alltags wie süß,
goldig usw. sind durch Mißbrauch allmählich ihrer sinnlichen Ausdrucksfähigkeit
beraubt worden. „Der Toren Mund macht süße Worte
schal“, sagt Stefan George im „Vorspiel“. Auch der eigentliche Kunstgebrauch
der „audition colorée“, in dem Wilhelm Heinse und die deutschen
Romantiker bereits den französischen Symbolisten vorangegangen
sind, schlägt nicht mehr ein; sie ist auch nicht immer echtes Erlebnis
gewesen, sondern oft als virtuosenhaftes Spiel zur Manier geworden.
Ebenso braucht ein als Sinneseindruck wirkendes Beiwort,
wie die „braune Nacht“, das beim ersten Auftreten originell war, aber
in der italienischen und deutschen Barockdichtung konventionell
wurde, durchaus nicht auf individueller Naturbeobachtung zu beruhen,
sondern mag eher den Farbentönen einer bestimmten Landschaftsmalerei
abgesehen sein.


Fragen wir endlich nach schöpferischer Eigenprägung im Hauptwort,
so stehen ihr beim einfachen Nomen geringe Möglichkeiten zur
Verfügung. Zwar wissen wir von Dichtern, die sich in jungen Jahren
eine eigene Sprachwelt aufbauten, wie Mörike und seine Freunde
mit dem Traumreich Orplid, Clemens Brentano in dem Märchenland
Vaduz, Johann Peter Hebel in Lörrach mit der Naturreligion des
Belchismus, ebenso Christian Morgenstern oder der einsame Stefan
George mit seinen Experimenten einer neuen Spracherfindung, die
im wesentlichen ein Einfühlen in die romanische Sprachwelt bedeuteten.
Später heißt es in dem „Jahr der Seele“:


Des Sehers Wort ist wenigen gemeinsam:
Schon als die ersten kühnen Wünsche kamen
In einem seltnen Reiche ernst und einsam,
Erfand er für die Dinge eigne Namen.
|#f0246 : 222|


Aber von den mythenbildenden Phantasien ihres Geheimbundes
konnten höchstens Namen wie Weyla, Maluff oder Ulmon in die
spätere Dichtung Mörikes und Bauers übergehen. Neue Wörter für
alte Begriffe können sich nur durchsetzen, wenn sie von einer großen
Gemeinschaft aufgenommen werden und wenn ihre Schöpfung im
Strome der Sprachentwicklung getragen wird. So können nominale
Neubildungen eigentlich nur als Abkürzungen, Zusammenziehungen
und Ableitungen von bestehenden Wortformen Sinn erhalten (z. B.
als Substantivierungen von Infinitiven oder Adjektiven), während
Analogiebildungen, wie Christian Morgensterns Oste neben der Weste,
durch ihre Sinnlosigkeit oft von grotesker Komik sind.


Auf dem Doppelsinn vieler Nomina beruht ein hauptsächliches Stilmittel
des Wortspiels. Wiederum bietet der Reichtum der Synonyma
vielfältigste Möglichkeit der Variation, zu der auch die Stilmittel der
Metonymie (z. B. „Himmel“ für „Gott“) und der Synekdoche („der
Franzmann“ für „die französische Armee“) zu rechnen sind.


Die Beschränkung nominaler Neubildungen schafft sich Ersatz in
der unbegrenzten schöpferischen Entfaltungsmöglichkeit substantivischer
Wortzusammensetzungen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Hier kommen wir auf das eigentliche
Gebiet der Metapher, deren Strukturgesetze Hermann Pongs in Übereinstimmung
mit anderen Sprachphilosophen auf eine primäre Zweigliedrigkeit
zurückführt, aus der erst in der Verschmelzung von
subjektivem Ausdruck und objektiver Geltung eine Worteinheit sich
herstellte. In seinem grundlegenden Buche „Das Bild in der Dichtung“,
das die organische Sprach-Entfaltung der Ausdrucksmittel als
eine Morphologie der dichterischen Formen hauptsächlich mit Beispielen
der deutschen Lyrik belegt, wird die Metaphorik als immer
neu einsetzende Wiederholung des Sprachschöpfungsaktes aufgefaßt.
Hatten sich frühe Gebilde lautmetaphorischen Ursprungs in der Gebrauchssprache
zu allgemeinverständlichen eindeutigen Zeichen abgeschliffen,
so durchdringt sie der Dichter erlebnismäßig mit neuem
Gehalt, indem er ihnen eine andere, uneigentliche Beziehung gibt.
Aus solcher Übertragung entwickelt sich eine neue Zweigliedrigkeit.

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Übertragung. Metapher als vorsprachliches und sprachimmanentes Phänomen. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern.


Als erste Stufe der „Figuren“, in denen Sachsphäre und Bildsphäre
sich vereinigen, betrachtet Pongs die Gleichnisse, deren abgekürzte
Form auch in den kenningar der altgermanischen Dichtung (Himmelskerze
für Sonne, Wundenwolf für Schwert, Kampfbaum für Herz)
zu finden ist.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. zitiert nach. Nennung. #m1-4-3-1 Anmerkung: Nennung Werkgruppe: altgerm. Dichtung - zitiert nach Pongs Hatte man früher die Metapher überhaupt als verkürztes |#f0247 : 223|

Gleichnis betrachtet,

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, negativ verwerfende Bewertung. zitiert nach. Implizite Paraphrase. Quellenannahme Person Quintilian. Quellenannahme Werk. Explikation Metapher als verkürzte Vergleichung. Anmerkung: Quellenannahme Quintilian: Institutio Oratoria" so sieht Pongs ihren wesentlichen Unterschied
in der Beseelung oder Erfühlung, die mit Überspringen des
Vergleichens zum unmittelbaren Erschaffen eines Bildes gelangt, das
als gestaltete Gefühlswelt Wirklichkeit besitzt.

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Person: Pongs - Werk: s.o. In zwei Typen der
Bildschöpfung, der beseelend-urbildenden und der erfühlend-erbildenden,
wird nun die Stufenfolge emporgeführt von der Du-Hyperbel
und Ich-Metapher zur mythischen und kosmischen, magischen und
mystischen Vollform und Schwellform, die sich schließlich nicht
mehr als Formelement eines Gedichtes, sondern als das Gedicht selbst
darstellt.

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Pongs Ausführung zur Übertragung Wir werden nach früheren Darlegungen zu sagen haben,
daß damit eine Stufenfolge vom Bild zum Symbol, zum Motiv, zum
Problem und sogar zum Ideenträger erfolgt, die über den engeren
Begriff des Stils hinausgeht und mehr von der inhaltlichen als von
der formalen Seite her zu betrachten ist.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Übertragung. Eine andere Steigerung
führt ins Äußere und nähert sich der Manier, indem sie zu den extensiven
Randformen gelangt, in denen die bildende Potenz nicht mehr
als Ganzheit einer großen Gestaltsschöpfung zusammengehalten wird,
sondern als ornamentale Metaphernhäufung die sinnvolle Bildzusammenwirkung
aufgibt.

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Anmerkung: Pongs - ohne Expl." Dafür finden sich die reichsten Beispiele im
Barockstil wie im Impressionismus und Expressionismus.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. zitiert nach. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Anmerkung: Nennungen als Personen annotiert - zitiert nach Pongs - Wertung nicht annotierbar Dagegen
gab es auch Zeitalter und Stilrichtungen, die das Übermaß von Bildern
verpönten, in der Metapher einen erkünstelten Zierrat erblickten und
der Ausdruckskraft einfacher, stimmunggebender, sinn- und gefühlsbeschwerter
Worte die Wirkung überließen. Das geschah nicht nur
in der nüchternen Aufklärung, sondern mit höchster Wortkunst in
Goethes mittlerer, eigentlich klassischer Stilperiode, wie in Hölderlins
Spätentwicklung und nachmals bei Stefan George und Rilke.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. zitiert nach. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Anmerkung: Veerweisung auf Aufklärung, Goethe, Hölderlin, George, Rilke - zitiert nach Pongs - Wertung nich annotierbar


Die Wahl der Bilder und ihre Herkunft aus bestimmten Vorstellungs-
und Erlebnisbereichen wird für den Personalstil von Bedeutung
sein. Indem wir diese Fragestellung, die aus dem Bildgebrauch ins
Innere der Dichterpersönlichkeit vorzudringen sucht, dem zweiten
Buch vorbehalten, kehren wir zum grammatischen Charakter der Stilformen
und ihrer sprachpsychologischen Bedeutung zurück.


Nicht alle metaphysischen Wortzusammensetzungen haben poetische
Kraft. Die Soldatensprache des Weltkrieges hat z. B. eine Unmenge
origineller Prägungen geschaffen („Gulaschkanone“ für Feldküche,
„Paradieskutscher“ für den Feldgeistlichen, „Karbolmäuschen“ für
die Krankenschwester usw.), deren ironische Fassung sich einer Aufnahme
in die Dichtersprache widersetzt; volkstümliche Neubildungen
dieser Art können nur mittelbar aus der Umgangssprache übernommen
werden zur Belebung eines naturalistischen Dialogs. Ähnlich ist |#f0248 : 224|

es mit der Literaturfähigkeit des englischen Slang und des französischen
Argot beschaffen.


Andererseits sind nicht alle neugeprägten Wortzusammensetzungen
als Metaphern zu betrachten.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung nn. Anmerkung: Abgr. zu anderen Komposita Bei mehrgliedrigen Kompositen wie
Goethes „Brandschandemalgeburt“ oder „Knabenmorgenblütenträume“,
aber auch bei Verbalzusammensetzungen, wie dem mephistophelischen
„vertripplistreichelt“ im „Urfaust“ und bei gehäuften
Adjektivbildungen wie Fischarts „blaublankblendend“ liegt die sinnliche
Wirkung weniger im erzeugten Bilde als in der lautsymbolischen
Klangwirkung und rhythmischen Wucht.


Es gibt Komposita, die noch weit mehr Glieder aufweisen als diese
Beispiele, und dabei handelt es sich nicht etwa um chemische Formeln,
sondern um poetische Bildschaffung. Schon Jean Paul, der den
„Sammwörtern“, wie er sie nannte, eine schrullenhafte Beachtung
zugewandt hat, blickte auf das Sanskrit und seine mehr als hundertsilbigen
Komposita, denen er scherzend eine „Wortbandwurmstockabtreibmittellehrbuchstempelkostenersatzberechnung“
als Parodie des
Wiener Kanzleideutschs gegenüberstellte. Das ist nun freilich das
Gegenbild poetischer Sprachschöpfung, denn solchen Wortungetümen
des Amtsschimmels fehlt jede rhythmische Gliederung und Wirkung.
Im Rhythmus aber liegt die stärkste Ausdruckskraft der Wortzusammensetzung.
Auch die durch Bindeworte verknüpften Nomina
und Adverbia, die manchmal nichts anderes als Tautologie (voll und
ganz), manchmal die Doppelfassung eines Begriffs (Hendiadyoin)
darstellen und als Zwillingsformeln oft durch Alliteration oder Assonanz
noch enger verkettet sind (Schimpf und Schande, Stufen und
Steige, Wetter und Wind, Freie und Weite) sind von rhythmischer
Wirkung; ihre Schwingung ist Ausdruck einer ruhigen Fülle und Ausgeglichenheit,
wie sie Goethe in seiner mittleren, eigentlich klassischen
Periode liebte. Dagegen sind asyndetische Häufungen, ob sie
nun als Klimax sich steigern oder als Antiklimax sich mindern oder
allein durch ihre Masse Eindruck machen wollen, wie bei Fischart und
gelegentlich bei Grimmelshausen, Ausdrucksmittel unruhiger Bewegtheit,
wie sie der Barockstil suchte.


Die Wortstellung, an die wir mit der nächsten Stufe herantreten,
dient sowohl der Sinnbetonung als der rhythmischen Wirkung, und
zwar überwiegt das erste in der Prosa, das zweite in der Verssprache.
Die Freiheiten des Verses sind unterschiedlich in den einzelnen |#f0249 : 225|

Sprachen, aber immer haben sie derartiges Übergewicht gegenüber
der logischen Gebundenheit prosaischer Wortstellung, daß eine syntaktische
Stiluntersuchung beide Arten auseinanderhalten muß. Es
gibt vier Arten syntaktischer Betrachtung: eine logische, wie sie
E. Husserl mit apriorischen Bedeutungsgesetzen zur Grundlegung einer
„reinen Grammatik“ anwendet; eine psychologische, wie sie K. Bühlers
Syntaxlehre von der Kindersprache her aufbaut; eine historischbeschreibende,
wie sie beispielsweise in dem zweibändigen Werk von
Wunderlich-Reis über den „Deutschen Satzbau“ ihr Material ordnet;
endlich eine vergleichende, die für jede Sprache ihre eigenen Gesetze
aufsucht. So hat etwa H. Brugmann die seelischen Grundfunktionen
der verschiedenen Völker für die Satzbildung ihrer Sprachen verantwortlich
gemacht, und unter den modernen Neuphilologen haben
namentlich die deutschen Romanisten unter Voßlers Führung dem
mannigfaltigen Kunstgebrauch in der französischen Wortstellung Aufmerksamkeit
geschenkt unter Heranziehung deutscher Gegenbeispiele.
Eugen Lerch hat sieben Typen der Wortstellung unterschieden, die
er als logische, als Kontaktstellung, als Anordnung nach der Konkretheit,
als rhythmische, als impulsive, als auf den Hörer eingestellte
und als impressionistische bezeichnet, wobei impressionistisch nicht
von vornherein als Stilbegriff zu gelten hat. Die logische Ordnung
ist die Reihenfolge von Subjekt, Prädikat, Objekt, die sich erst im
Lauf der Zeit herausgebildet hat; die geschichtliche Entwicklung weist
dem Verbum in den indogermanischen Sprachen eine ursprüngliche
Stellung am Satzschluß zu, aus der es mehr und mehr vorgerückt ist.
Zum impressionistischen Typus gehört nach Lerch die Stellung des
Verbs am Satzanfang, womit sich eine starke Bewegung dem Hörer
sogleich entgegenwirft, z. B. in Conr. Ferd. Meyers „Römischem
Brunnen“:


Aufsteigt der Strahl.

Es kann das Subjekt sogar bis ans Ende des Satzes zurückgedrängt
werden, wie in Richard Dehmels „Verwandlungen der Venus“:


da ..........
legt sich sanft um meine Hand
und rührt mich bis ins weheste Mark
wie junge Liebe so still und stark
und warm
um meinen Hals gebogen, ein Arm.


Ähnliche gestaute Wortstellung findet sich gelegentlich auch in der
Prosa Heinrich v. Kleists:

|#f0250 : 226|


„Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und, mit den Pferden
der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär' ein Cherub vom
Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes flaches Silbergeschirr
auf dem Kopf tragend, auf welchem Flasche, Gläser und der Imbiß gestellt
waren, das Mädchen die Türe und tritt ein.“


Den Unterschied zwischen prosaischer und poetischer Wortstellung
hat Arno Holz in einem andern Beispiel aufzeigen wollen, nämlich
an dem Gedichtanfang:


Hinter blühenden Apfelbaumzweigen
steigt der Mond auf.

Es ist richtig, daß die logische Wortstellung „Der Mond steigt hinter
blühenden Apfelbaumzweigen auf“ reine Prosa wäre, wenn auch nicht
dichterische. Dazu ist der Satzrhythmus zu schwerfällig. Gleichwohl
bestehen daneben klassische Gedichtanfänge, die schlicht und klar
mit dem Subjekt beginnen:


Der Mond ist aufgegangen
Der Mond steht hinter den Bergen.

Und daneben kann man das bekannteste Mondlied stellen, das nur
im Titel das Gestirn nennt, mit seinem eindringlichen verbalen Einsatz
der Anrede:


Füllest wieder Busch und Tal.


Die dichterische Sprachwirkung findet nicht in der Syntax ihren
Ausdruck, sondern im Rhythmus. Die Reihenfolge der Worte bildet
nur eines unter den sieben Hilfsmitteln des Satzbaus, die in Hermann
Pauls „Prinzipien der Sprachwissenschaft“ aufgezählt werden.
Der Psychologe Karl Bühler weiß in seiner Untersuchung „Vom Wesen
der Syntax“ diese Zahl nicht zu vermehren, aber er ergänzt die
musikalische Gruppe, die aus den drei Ausdruckswerten dynamische
Abstufung, Modulation der Tonhöhe und Tempo besteht, noch durch
eine Fülle kleiner phonetischer Variationen, die in der Schrift nicht
zum Ausdruck kommen. Jenes von Sievers zunächst als Lautmelodie
und dann als Schallform bezeichnete geheimnisvolle Klangverhältnis
zwischen den einzelnen Lauten, das, wie schon oben (S. 194 f.) gesagt
wurde, erst aus dem Zusammenwirken von Dynamik, Melodik und
Rhythmik entsteht, ist mit keiner Statistik syntaktischer Formen zu
erfassen; es ist das Wortlose, das nach einem Worte Klopstocks unsichtbar
wie die Götter Homers durch die Reihen der Kämpfer wandelt; |#f0251 : 227|

ausgesprochen wird es erst im erfühlenden Vortrag, der dem
seelischen Gehalt und seinen Schwingungen gerecht wird. Die Ausdruckswerte
unseres Schemas, wie klar, harmonisch, plastisch, phantastisch,
übersteigert, verschwommen, sind die nachträglich dem Text
beizugebenden Schlüssel und Vortragszeichen.


Die Stilunterschiede setzen sich fort in der Satzgliederung. Auch
hier sind die einzelnen Sprachen von verschiedenen Tendenzen und
Möglichkeiten beherrscht: das Lateinische schätzt verwickelte Konstruktionen
im Wechsel mit knapper Prägnanz; das Französische ist
für knappe Klarheit, das Englische für energische Bestimmtheit; das
Deutsche hat in seinem Satzbau keine gerade Entwicklungslinie,
sondern es hat immer wieder Rückfälle in gründliche Schwerfälligkeit
und unergründliches Dunkel erlebt, wofür Gefühlshaltigkeit und
Gedankenfülle, aber nicht selten auch ungeschickte Nachahmung fremder
Muster Ursache waren. Dafür haben die großen Stilreformatoren
wie Luther, Lessing, Nietzsche immer für scharfgeschliffene Prägnanz
sprachlicher Gliederung gesorgt, und bei ihrer Leistung besteht das
Wort Nietzsches zu Recht, daß man nur im Angesicht der Poesie gute
Prosa schreiben könne.


Über die nationalen Verschiedenheiten hinweg haben die Zeitalter
ihre Maße und Maßlosigkeiten gemeinsam, aber zugleich besitzt jeder
einzelne Schriftsteller seine Eigenart im Bau der Sätze, die seiner
Denkform entspricht und namentlich in den Schlußkadenzen charakteristisch
hervortritt. So hat R. M. Meyer für Lessing, Goethe, Schiller,
Nietzsche typische Bilder des Satzbaus festzustellen vermocht. Sogar
in den einzelnen Werken desselben Schriftstellers ist die Gliederung
nicht die gleiche. Der feine Stilist Theodor Fontane hat z. B. unter
seinen Erzählungen solche „mit und“ und solche „ohne und“ unterschieden,
deren Satzbau von Thema, Stimmung und Problem abhängig
war. Parataxe und Hypotaxe, Parallelismus, Antithese und Chiasmus,
Wiederholung und Steigerung sind demgemäß Mittel, die eine der
Grundstimmung des Werkes entsprechende Anwendung finden.


Dasselbe Verhältnis, das bei der Wortverbindung im einfachen Satz
und bei der Gliederung zusammengesetzter Sätze in Erscheinung tritt,
setzt sich fort im Zusammenschluß mehrerer Sätze zu einer Periode.
Auch da kann von antithetischem und synthetischem Aufbau, von
harmonischer Symmetrie, von rhythmischer Wiederholung, spielerischer
Sprunghaftigkeit, Klarheit und Verschwommenheit gesprochen |#f0252 : 228|

werden. Bisher haben wir erst wenige Untersuchungen, in denen der
einheitliche Stilwille eines Werkes im Fortgang von den einfachsten
Sprachmitteln bis zu den zusammengesetzten verfolgt und als
Walten innerer Gesetze erkannt wird. Ein Versuch dazu ist vor einem
Vierteljahrhundert in Georg Gloeges „ästhetisch-psychologischer“
Stiluntersuchung „Novalis' Heinrich von Ofterdingen als Ausdruck
seiner Persönlichkeit“ gemacht worden und führte zu dem resignierenden
Schlußergebnis: „Nur ein ganz großer Künstler vermöchte mit
genialer Intuition aus den vereinzelten Zügen, die hier in systematischer
Ordnung vorliegen, eine lebendige Einheit zu schaffen.“ Als
neueres Muster einer statistisch unterbauten, aber trotzdem zum
Einblick in die künstlerische Eigenart fortschreitenden Erkenntnis
sei die sorgfältige Untersuchung einer Mériméeschen Novelle „La
Vénus d'Ille“ durch Robert Bräuer herangezogen. Was noch übrig
bleibt, nachdem in Wortstellung, Klangfiguren, Satzbau und Perioden
dieselbe innere Sprachform nachgewiesen ist, würde in der Weiterführung
zur nächsthöheren Einheit, dem Großbau der Periodenfügung,
bestehen, und schließlich müßte dieser Weg zum Aufbau des Ganzen
führen, seine Zusammenhänge mit Problem und Idee der Novelle
ergründen und darüber hinaus bei der künstlerischen Persönlichkeit
des Verfassers enden. Hierzu wäre vielleicht die Intuition nötig, die
dem vorher eingehaltenen Gang der Untersuchung fehlt.


Die inneren Gesetze des Stils durchdringen die Gliederung einer
Strophe, deren festes Schema elastisch genug bleibt, um die charakteristische
Prägung des Syntaktischen und Rhythmischen anzunehmen.
Das gleiche Verhältnis kann sich fortsetzen als Beziehung der einzelnen
Strophen zueinander und als Gliederung des ganzen Gedichts.
Das gilt nicht nur für die Dreigliedrigkeit mittelalterlicher Strophen
und Lieder, sondern ist auch in neuerer Lyrik zu beobachten. So hat
Karl Viëtor für die Gedankenführung Hölderlinscher Oden die Folge
von These, Antithese und Synthese erkannt. Dagegen kann man in
den 15 Strophen von Uhlands Meisterballade „Taillefer“ die Symmetrie
einer Pyramide erblicken: die drei Strophenpaare des Aufgesangs
finden in den drei Strophenpaaren des Abgesangs eine rückläufige
Entsprechung, die im Parallelismus von Singen, Feuer, Sturm
leitmotivartige Verbindung schafft, während die drei mittleren Strophen,
in denen die Spitze zusammengefaßt ist, den Übergang vom
Wunsch zur Erfüllung vollzieht. Wiederum ist die Kreisform eines
räumlichen Nebeneinander, das Anfang und Ende zusammenfallen |#f0253 : 229|

läßt, in den beiden Zyklen von Rilkes „Sonetten an Orpheus“ zu
erkennen, und dasselbe fließende Aufbauprinzip beherrscht bereits
das einzelne Stück, wie am besten an I, 23 und II, 7 zu zeigen ist, die
─ Kuriosa in der Sonettliteratur ─ überhaupt nur aus je einem Satz
bestehen. Von solcher Beobachtung aus scheint eine Verbindung mit
den von Hans Leisegang aufgestellten „Denkformen“ möglich, die in
Begriffspyramide, Gedankenkreis und Kreis von Kreisen für typische
sprachliche Ausdrucksweise weltanschauliche Voraussetzungen zu gewinnen
suchen. In entsprechendem Verhältnis können die Kapitel
eines Romans, die Szenen und Akte eines Dramas und die Gesänge
eines Epos zueinander stehen. So kommen wir schließlich dahin, auch
den äußeren Aufbau des Ganzen, der bisher auf der dritten Stufe
unter dem Gesichtspunkt der Technik betrachtet war, als Stilform
zu erkennen. Und damit endlich rechtfertigen sich Gleichungen zu
anderen Künsten, wobei ein Dichtwerk als musikalisch und malerisch
oder architektonisch und plastisch aufgebaut erscheint und zwischen
geschlossener Form einer regelmäßigen Symmetrie und asymmetrischer
offener Form unterschieden wird. So hat man für Kleist, Jean Paul
und Stifter musikalischen, für Schiller architektonischen Aufbau nachgewiesen,
und Shakespeare ist gemäß der Komposition seiner Werke
dem Barockstil zugerechnet worden. Auf diese Weise gelangen die
analysierten Schöpfungen zur Einordnung in die Bildung großer Stiltypen,
die nicht auf Sprache und Dichtung beschränkt sind. Auf sie
hat schon die Einzelbeobachtung vom Wortgebrauch aufwärts in
steigendem Maße hingeführt.


Wenn wir das Schema, das oben (S. 216) vorbereitet war, umbiegen
zur Kreisform, so daß die senkrechten Schichten von außen
nach innen sich zusammenschließen zu Ringen, während die waagerechten
Schichten sich fächerförmig entfalten und zu einander entgegengesetzten
Sektoren eingeschnürt werden, tritt das Benachbarte
und Entgegengesetzte in sichtbare Erscheinung. Von der äußeren
Schale der Schrift bis zu dem inneren Gerüst des von der Idee
beherrschten Aufbaus steigen die Stufen, in bestimmte Richtungen
geteilt, empor, und wir gewinnen das gesuchte Bild jener Drehscheibe,
die der Weichenstellung Zufuhr bietet. Um die Peripherie dieser
Windrose, deren Himmelsrichtungen durch die Gegensätze von Statik
und Dynamik, von Ausdruckskunst und Eindruckskunst gewiesen
werden, sind die Stilbegriffe, nach denen die Richtungen ganzer Zeitalter
ihren Namen tragen, als Typen einzuzeichnen.

|#f0254 : 230|


Der Platz, der den Stilrichtungen zugewiesen ist, darf nicht so verstanden
werden, als ob mit den zwei Sektoren, die jedem einzelnen
untergeordnet sind, der Stilbegriff erschöpfend charakterisiert sei.
Klassik ist nicht mit den Schlagwörtern plastischer Ruhe und harmonischer
Symmetrie, Expressionismus nicht mit Eigenprägung und

[Abbildung]

I. Schrift, II. Wort, III. Wortzusammensetzung, IV. Wortstellung,
V. Satzgliederung, VI. Periode, VII. Aufbau


Übersteigerung, Barock nicht mit antithetischem Lebensgefühl und
musikalischer Bewegtheit, Rokoko nicht mit spielerischer Logik
allein endgültig geklärt. Vielmehr umfaßt und beherrscht jeder
dieser Stile mit seinen Mitteln mindestens den ganzen Halbkreis,
in dessen Zenit er steht. Die beiden ihm untergeordneten Sektoren
gehören ihm daher nicht allein, aber sie bilden gewissermaßen |#f0255 : 231|

die Wirbelsäule seiner Struktur; in seinen Gliedern aber füllt er nicht
nur den Halbkreis, sondern er kann sich sogar wie ein Fächer über
dessen Grenzen hinaus entfalten und Richtungsgegensätze, die unvereinbar
scheinen, ins ich aufnehmen. Insbesondere gilt dies nun für den
Individualstil jedes Schriftstellers, der selten ganz in einem Zeitstil
aufgeht. Sogar jedes einzelne Werk kann, unbeschadet seiner Einheitlichkeit
Besonderheiten aufweisen, die sich nicht mit dem Typus eines
Zeitstils decken. Wenn die am Einzelwerk vorgenommene Stilanalyse
mit ihren Beobachtungen einzelne Felder des Kreises belegt, so werden
die ausgefüllten Rubriken einen vielzackigen Ausschnitt bilden, dessen
eigenartige Silhouette das Charakteristische des individuellen Stiles
darstellt.


Wie verhält sich nun dieses Schema zu dem am Anfang des Abschnittes
(S. 201) als Aufgabe gestellten Überblick über zwanzig verschiedene
Stilkombinationen? Will man die begriffliche Ordnung
weiter schematisieren, so müßte das charakteristische Beobachtungsmaterial,
das auf die zwanzig Felder verteilt ist, nun den vorgezeichneten
Kreis noch in neunzehn weiteren Exemplaren beanspruchen,
wobei jedesmal das für die Lebensstufe, für die Person, für die Altersgemeinschaft,
für die Heimat usw. Kennzeichnende eingetragen würde.
So würden zwanzig Stilsilhouetten zustande kommen, von denen die
späteren mit ihresgleichen, wie es sich aus anderen Stiluntersuchungen
ergeben hat, zur Deckung gebracht werden müßten, um das Typische
des Stammes und der Periode, der Sprachgemeinschaft, des Zeitalters
und der Rasse allgemeingültig festzulegen zur weiteren Verwendung
bei der Stilanalyse von Einzelwerken.


Die Methoden einer Sprachphysiognomik, wie sie Heinz Werner
angebahnt hat, liegen noch ganz in den Anfängen und haben sich bisher
mehr auf die Umgangssprache als auf die Dichtung bezogen.
Werden sie weitergeführt zur physiognomischen Analyse des Wortkunstwerks,
so kommt die Untersuchung in ein ähnliches Stadium,
wie es seinerzeit die Lavatersche Physiognomik darstellte, die im
Schattenriß ein brauchbares Mittel der Charakterbestimmung finden
wollte. Der Analyse eines Stilprofils kann die gleiche Aufgabe gestellt
sein: es kann als Ausprägung des Geistes einer Dichtung und der
Weltanschauung eines Dichters oder sogar eines ganzen Zeitalters
und einer Rasse begriffen werden.


Nun kann aber die Schädelform doch nur ein bescheidenes Merkmal
sein für die Beschaffenheit des Hirns, in dem Geist und Seele
ihr Kraftzentrum haben. Den ersten Physiognomikern sind mancherlei
Mißgriffe unterlaufen, die zu den deutlicheren Charaktersymptomen, |#f0256 : 232|

wie sie in den Handlungen des Menschen gegeben sind, sich in
Widerspruch setzten. So kann auch der Stil keineswegs als das einzige
ausschlaggebende Charakter- und Weltanschauungskriterium betrachtet
werden; man wird vielmehr der mitttelbaren Aussprache in der Dichtung
mehr Bedeutung beimessen und erst danach die Übereinstimmung
zwischen mittelbarer und unmittelbarer Selbstoffenbarung erkennen.


8. Sechste Stufe: Das Persönliche

a) Weltanschauliche Haltung


Zwischen Weltanschauung und Stilrichtung besteht eine Beziehung,
die man beinahe als psychophysischen Parallelismus bezeichnen
könnte, wenn man in der Weltanschauung eines Dichters die Seele
seines Stils, im Stil eine Verkörperung seiner Weltanschauung erblicken
will. Stilbezeichnungen wie Naturalismus, Realismus, Romantik
oder Mystik haben gleiche Geltung als Benennung von Weltanschauungen.
Beides entfaltet sich für ein Stück des Weges in
gleicher Stufenfolge zu gleichartigen Einheitsbildungen: man kann
wie vom Stil, so auch von der typischen Weltanschauung einer Rasse,
einer Nation, eines Stammes, aber auch von der eines Zeitalters,
einer Periode, einer Generation sprechen. Nur endet die absteigende
Reihe hier beim Individuum; man kann im allgemeinen nicht von der
Weltanschauung eines Werkes sprechen. Es bleibt auch zweifelhaft,
ob mit dem Wandel des Stils die wechselnden Weltanschauungen verschiedener
Altersstufen zu erfassen sind, da solche Änderung der Haltung
und Richtung noch keine feste Prägung bedeutet. Diese ist vielmehr
erst eine Gabe der Reife. Jugendliche Weltanschauungsbekenntnisse
gehen meist mit der Zeit und schließen sich, auch wenn sie
revolutionär sind, einem bahnbrechenden Wecker und Künder an. Je
schneller sie wechseln, desto weniger ist es möglich, jedes einzelne
Werk als Ausdruck einer bestimmten, im Lebenskampf gewonnenen
und unabänderlich feststehenden Überzeugung aufzufassen, wie wir sie
unter Weltanschauung verstehen.


Die Analyse trifft auf ein ausgesprochenes Bekenntnis nur da, wo
die Absicht dazu besteht, als vornehmlich bei religiösen und philosophischen
Dichtungen, oder da, wo subjektives oder objektives Ringen
um ein Weltbild das eigene Thema der Dichtung ist, wie beim
Bildungsroman oder im Ideendrama. Je nachdem, ob es als subjektiv |#f0257 : 233|

oder als objektiv aufzufassen ist, kann sich solches Weltanschauungsbekenntnis
bereits auf der vierten und fünften Stufe bei der Untersuchung
der Selbstdarstellung und der Wirklichkeitsauffassung gezeigt
haben. Diese Trennung entspricht dem Dualismus von subjektiver
Einstellung und objektivem Weltbild, die Karl Jaspers in seiner
„Psychologie der Weltanschauungen“ als statische Elemente der Betrachtung
voraussetzt, während er das dynamische Zentrum in die
bewegten und bewegenden Kräfte der Geistestypen verlegt, die Einstellung
und Weltbild umfassend zusammenschließen. Solchen Geistestypus
kann nicht jedes einzelne Dichtwerk, sondern nur der Dichter
in seiner ganzen Person verkörpern; allenfalls spiegelt sich seine
Ganzheit in großen Lebenswerken, die eine Welt für sich darstellen,
wie Goethes „Faust“ oder Dantes „Göttliche Komödie“; in der Regel
aber muß man eine Zusammenfassung des gesamten dichterischen
Schaffens und aller Lebenszeugnisse vornehmen, um über Wandlungen
und Widersprüche hinweg zum Wesenskern durchzudringen. Die
Frage der dichterischen Weltanschauungstypen wird daher erst im
zweiten Buch ihre Besprechung finden.


Wenn Goethe im Alter sein gesamtes Schaffen als „Bruchstücke
einer großen Konfession“ bezeichnet hat, so erhob er damit den Anspruch,
seine Weltanschauung als etwas Gewordenes aus den manchmal
widerspruchsvoll erscheinenden Zeugnissen seiner Entwicklung
aufzubauen. Für die Analyse jedes einzelnen Werkes ergibt sich
daraus die Folge, daß die darin erkennbare Haltung nichts anderes
als ein Bruchstück bedeutet, das nach Ergänzung sucht. Beispielsweise
hat der junge Goethe in der Prometheusode das Erlebnis des
eigenen Schöpfertums in solcher Sturmgewalt ausbrausen lassen, daß
das Gedicht als Widerspruch zur christlichen Offenbarungslehre
wirken mußte und Lessings zustimmendes Bekenntnis zum Pantheismus
herausforderte. Etwa fünf Jahre später entstehen aus einer
anderen Lebensstimmung die „Grenzen der Menscheit“, in denen die
demütigste Unterwerfung unter Götter und Schicksal verkündet wird.
Man wird aus solcher Gegensätzlichkeit keineswegs eine totale Wandlung
der Weltanschauung erschließen dürfen; auch in der Sturm- und
Drangzeit steht der trotzigen prometheischen Haltung bereits eine
ganymedische gegenüber, die zu aufgehender Vereinigung mit dem
All emporstrebt. Aber auch die Altersdichtung zeigt scheinbare Widersprüche
einer Bipolarität. Das Gedicht „Eins und Alles“ schließt mit
den Versen:


Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
|#f0258 : 234|

Dagegen beginnt das Gedicht „Vermächtnis“ mit dem klar formulierten
Widerspruch:


Kein Wesen kann zu nichts zerfallen.

Das ist keine aufhebende Selbstberichtigung; beides ist Bekenntnis
zur gleichen Betrachtung des Seins als eines ewigen Fließens, das
kein Beharren zuläßt. Von den Widersprüchen gilt, was der Dichter
zu ihrer Rechtfertigung ausspricht:


Immer hab' ich nur geschrieben,
Wie ich's fühle, wie ich's meine,
Und so spalt' ich mich, ihr Lieben,
Und bin immerfort der Eine.


Im Gegensatz zu dieser vielfältigen, universellen Einheit muß für
manchen anderen Dichter bei der weltanschaulichen Haltung, die er
einnimmt, die Frage nach der Echtheit gestellt werden. Es gibt ein
Gedicht, das die Überschrift „Die Welt“ trägt:


Was ist die Welt und ihr berühmtes Glänzen?
Was ist die Welt und ihre ganze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurzgefaßten Grenzen,
Ein schneller Blitz bei schwarzgewölkter Nacht;
Ein buntes Feld, da Kummerdisteln grünen,
Ein schön Spital, so voller Krankheit steckt.
Ein Sklavenhaus, da alle Menschen dienen,
Ein faules Grab, so Alabaster deckt.
Das ist der Grund, darauf wir Menschen bauen,
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm Seele, komm, und lerne weiter schauen,
Als sich erstreckt der Zirkel dieser Welt.
Streich ab von dir derselben kurzes Prangen,
Halt ihre Lust für eine schwere Last,
So wirst du leicht in diesen Port gelangen,
Da Ewigkeit und Schönheit sich umfaßt.

Man wird an allen Stilmerkmalen, vor allem an den gehäuften Antithesen,
sogleich die Barockzeit erkennen und auch die in ihr vertretene
weltverneinende Haltung finden. Und doch verrät sich in den
Bildern eine Art lüsterner Weltfreude, die dem bunten Feld mehr
zugeneigt ist als den Kummerdisteln, und der positiv gehaltene zweite
Teil fällt mit seinem blassen, innerlich unerlebten und nicht geschauten
allegorischen Schlußbild gegenüber der überladenen Sinneswirkung
des ersten Teiles völlig ab. Aus anderen Gedichten, wie
aus seinem Leben, das wiederum die vielen lasziven Motive seiner
Dichtung Lügen straft, kennt man Hofmannswaldau genug als rechtschaffenen |#f0259 : 235|

Epikuräer, um an der Echtheit der eingenommenen Haltung
zu zweifeln. Man wird sie deshalb nicht geradezu verlogen
nennen dürfen, denn sie gehört wie der Stil zur Haltung der Zeit
und ist bei anderen Dichtern, wie z. B. Andreas Gryphius, innerlich
erlebt.


Wenn, um ein anderes Beispiel zu nennen, Detlev von Liliencron
einmal in dem Gedicht „Betrunken“, das trotz seiner Erlebtheit nicht
zu den besten gehört, den abgegriffenen Metaphernschwall parodiert:


Die Welt ist das Tal der Küsse,
Die Welt ist der Berg des Kummers,
Die Welt ist das Wasser der Flüssigkeit,
Die Welt ist die Luft des Unsinns,

so stellt sich das heulende Elend des Rausches dar als naturalistisches
Gegenbild der sinnlichen Weltfreude, von der der impressionistische
Dichter sonst beherrscht ist. Man hat, wie es beispielsweise durch
Ermatinger geschehen ist, in der ideellen Leere Liliencronscher Stimmungslyrik
ein künstlerisches Manko erblicken wollen; trotzdem wird
der dem Idealismus abgewandten Haltung der Charakter eines Weltbildes
nicht abzustreiten sein. Nicht anders ist es bei Th. Fontane,
der einmal aussprach: „Man kann seinen Pessimismus auch in rot,
ja in zeisiggrün kleiden. Mehr, man kann auch wirklich dabei heiter
werden, vorausgesetzt, daß man ein glückliches Temperament hat.“


Gedankendichtungen können verschiedenartige weltanschauliche
Haltungen antithetisch nebeneinander stellen, wie es Schiller mit den
„Worten des Wahns“ und den „Worten des Glaubens“ tat. Rudolf
Unger konnte darin eine Illustration der Diltheyschen Weltanschauungstypen
erblicken und das eine Gedicht als Glaubensbekenntnis des
objektiven Idealismus, das andere als das des Idealismus der Freiheit
erklären. Immerhin verraten schon die Überschriften und noch mehr
die im einen Fall warnende, im andern Fall preisende Haltung des
Dichters, zu welcher Weltanschauung er sich selbst bekannte.


Bei zusammenprallenden Weltanschauungsgegensätzen im Drama
braucht dagegen die Haltung des Dichters nicht klar erkennbar zu
sein; ja, es ist die Frage, ob sie anders als durch das Geschehen
selbst ausgesprochen werden sollte. Oft muß die Weltanschauung des
Gegenspielers als Motivierung seiner Handlungen bestimmter zur Aussprache
gebracht werden, als die des Helden, selbst wenn diese mit
der des Dichters übereinstimmt. In den „Räubern“ entwickelt Franz
Moor sein materialistisches System in folgerichtigeren Gedankenreihen
als Karl Moor sein Gefühlsleben; in der „Jungfrau von Orleans“ gibt |#f0260 : 236|

der sterbende Freigeist Talbot das klare Bekenntnis eines Aufklärers,
das im Wortlaut sogar an das Testament Friedrichs des Großen erinnert,
während Johanna mehr durch ihre Taten, als durch Worte
Zeugnis ablegt von ihrem Glauben. Auch in Goethes „Faust“ ist
Mephistopheles weit mehr als der Titelheld Vertreter einer Weltanschauung,
die er als Kritiker der Schöpfung verneinend und zersetzend
formuliert. Wenn er so auftritt, ist er aber nicht der Gegenspieler
Fausts, sondern der des Herrn. Wird des Faustdichters eigene
Weltanschauung maßgebend offenbart, so geschieht es weder durch
Faust noch durch Mephistopheles, sondern durch göttliche Stimmen
am Anfang und Ende der Weltdichtung. Aber nun ist sowohl beim
Prolog als beim Epilog im Himmel wahrzunehmen, daß zwar die
sittliche Einstellung, mag man sie aktiv, kontemplativ oder mystisch
nennen, die des Dichters ist, daß aber das Weltbild, weder das sinnlich-räumliche
noch das metaphysische seiner eigenen Weltanschauung
entspricht. Für den Prolog im Himmel hat Heinrich Rickert nachgewiesen,
daß die kosmische Vorstellung in den Gesängen der Erzengel
die des ptolemäischen Weltsystems ist, anders als etwa in Klopstocks
„Messias“, wo mit dem kopernikanischen System Übereinstimmung
hergestellt ist. Für den Schluß des Ganzen hat Goethe selbst
zugegeben, daß er eine Anleihe bei den festgeprägten Himmelsvorstellungen
der mittelalterlich katholischen Weltanschauung habe
machen müssen, um den Helden zur Gnade gelangen zu lassen. Eine
andere Haltung mag man in dem „nicht so vieles Federlesen!“ des
„Westöstlichen Divan“ erkennen.


Außerhalb der dramatischen Gegensätze stehende Gestalten sind
die besten Sinndeuter des Geschehens. In diesem Sinn rechtfertigt
Schiller die Wiedereinführung des Chores, den er als einen „allgemeinen
Begriff“ bezeichnet: „Der Chor verläßt den engen Kreis der Handlung,
um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten
und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die
großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der Weisheit
auszusprechen.“ Was heißt das anderes, als daß der Dichter den Chor
als ein Organ und Sprachrohr für die Kundgebung seiner Weltanschauung
gebrauchen kann! Nach der Auffassung Grillparzers bedeutete
der antike Chor den Zoll, den der tragische Dichter dem Geist des
Volkes brachte; er war aber zugleich ein Schild gegen alle Verdächtigungen
seiner Gesinnung.


Ehe er den Chor einführte, hatte Schiller, ebenso wie Goethe,
bereits ein anderes Hilfsmittel aus der antiken Dichtung übernommen,
nämlich die Sentenz, die in knappster Form wesentliche Weltanschauungsgrundsätze |#f0261 : 237|

vermittelt („Es erbt der Väter Segen, nicht
ihr Fluch“, „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“). Sentenzen
sind epigrammatische Aussprüche, die aus dem Organismus des Kunstwerks
herausgenommen, ein selbständiges Weiterleben führen und zu
mancherlei Lebensfragen in Beziehung zu setzen sind. Sie haben zwar
ihre besondere Beziehung zur Grundidee des Werkes, dessen Blumenschmuck
sie bilden, aber ihre Wurzeln haben sie doch nicht eigentlich
in der inneren Form des Kunstwerks, sondern in einem anderen
Erdreich, eben in der Weltanschauung des Dichters. Ihr Vorkommen
ist eine Stileigentümlichkeit, die indessen nicht nur der Klassik zugehört;
sie können sich ebensogut im realistischen Roman finden,
etwa in den Gesprächen, die der alte Fontane in einer Plauderstunde
liebevoll ausgestaltet hat. Auch da ist es oft so, daß die Bonmots
nicht dem Charakter einer bestimmten Person angehören und aus
ihm heraus allein verständlich sind, sondern daß sie einem Mitteilungsbedürfnis
des Verfassers entspringen, genau so wie die allgemeinen
Betrachtungen, mit denen er als Erzähler sich in Beziehungen zur
Leserwelt setzen darf. Aus solchen Sentenzen und Aphorismen kann
die Analyse eines umfangreichen Einzelwerkes wenigstens Teilvorstellungen
von der Weltanschauung eines Dichters gewinnen.


Nietzsche hat in seiner „Geburt der Tragödie“ dem Roman, den er
auf das Vorbild des platonischen Dialogs zurückführen wollte, die
Stellung einer „ancilla philosophiae“ zuerkannt. In der Tat hat man
zeitweilig den unepischen Bestandteilen großer Romane mehr
Schätzung entgegengebracht als den epischen, und aus dem monströsen
„Arminius“ des Lohenstein sind alle Sinnsprüche ausgezogen
worden als „Arminius enucleatus“ oder „Lohensteinius sententiosus“.
Ähnliches könnte ebensogut bei modernen Gesprächsromanen wie
„Helianth“ oder „Zauberberg“ geschehen.


Der Roman bietet wie das Drama Gelegenheit zur Auseinandersetzung
verschiedenartiger Weltanschauungen, nur daß sie weniger
zum dramatischen Zusammenstoß gelangen, sondern mehr im duldsamen
Nebeneinander oder gar in epischem Nacheinander sich entfalten.
Insbesondere gehört es zum Wesen des Bildungsromans, daß der
Held zur Weltkenntnis durch Gegensätze hindurchgeführt wird, die
sich vor ihm auftun, und daß seine Entwicklung in vielfältigen Auseinandersetzungen
zur Eroberung einer eigenen gefestigten Lebensauffassung
gelangt. Dieses Ziel kann in der Abwandlung verschiedener
gedanklicher Systeme erreicht werden, wie in Wielands „Agathon“,
oder im Durchgang durch ästhetische, religiöse, pädagogische und
ökonomische Lebenssphären, wie in Goethes „Wilhelm Meister“, oder |#f0262 : 238|

durch die Bekanntschaft mit einer besonderen Philosophie, wie sie
Gottfried Kellers Grüner Heinrich bei den Feuerbachianern auf dem
Grafenschlosse erlebt. Die Auseinandersetzungen können sich in breiten
Gesprächen vollziehen, die die Entwicklung des Helden begleiten,
oder in Tagebucheinlagen und Briefen, die als Ruhepunkte der Selbstbetrachtung
den Fortschritt der Erzählung hemmen. Es können
episodische Gestalten eingeführt werden mit dem einzigen Zweck,
durch ihre Lehren, Warnungen und Weissagungen dem Leben des
Helden eine neue Wendung zu geben. Zu ihnen gehören Gurnemanz
und Trevrizent in Wolframs „Parzival“, der Narr, der Jupiter zu
sein vorgibt, in Grimmelshausens „Simplicissimus“ und die Abgesandten
der Gesellschaft des Turms im „Wilhelm Meister“. Als Raisonneure
kommen solche Mahner und Warner auch außerhalb des
Bildungsromans vor, z. B. in der Gestalt des Mittler in Goethes
„Wahlverwandtschaften“. Manchmal haben derartige Figuren auch
nur die Ansicht der Gesellschaft zu vermitteln, wie oftmals bei Fontane,
der allerdings selten sich in Widerspruch dazu stellt. Wie weit
Meinung und Weltanschauung des Dichters vertreten wird, entscheidet
sich im allgemeinen mit der Frage, ob der Verlauf den geäußerten
Ansichten recht gibt, ob die Befolgung oder Außerachtlassung ihres
Rates dem Helden zum Wohl oder zum Verhängnis ausschlägt. Unbedingte
Richtigkeit pflegen die Lebensregeln im Märchen zu haben,
das, wenigstens in seiner deutschen Form, eine ausgesprochen optimistische
Weltanschauung bekundet.


Es ist bei Betrachtung der dritten Stufe bereits angedeutet, in
welchem Maße die Prägung der Fabel von dem Weltbild des Dichters
abhängig ist. Auch andere Elemente der Analyse, wie wir sie in
Stimmung und Absicht, in Psychologie, Motiven und Charakteren
fanden, stehen mit diesem Zentrum in Zusammenhang. Die Schicksalsbegriffe
von Zufall, höherer Fügung und strenger Ursächlichkeit,
von Willkür oder Zwang des Handelns, die Wertbegriffe von Standhaftigkeit
im Leiden und Todesüberwindung, von sittlicher Freiheit,
von Pflicht der Entscheidung und Selbstbehauptung, die Relationen
endlich zwischen Schuld und Sühne, Belohnung der Tugend und Bestrafung
des Lasters, von diesseitiger und jenseitiger Vergeltung sind
durch das Weltbild des Dichters bestimmt. Der Ausgang jeder Tragödie
und jeder Komödie zwingt zu einem Bekenntnis. Wir wissen,
wie schwer es Lessing wurde, das Ende der „Emilia Galotti“ zu gestalten,
bei dem eine Schuld der Heldin gefunden und die Bestrafung
des Prinzen einer höheren Gerechtigkeit überlassen werden mußte.
Wir erkennen Grillparzers von Schopenhauer beeinflußten Pessimismus, |#f0263 : 239|

wenn am Schluß der „Medea“ der ungetreue Jason zur härtesten
Strafe, zu der des Weiterlebens, verurteilt wird. Die ganzen Fragen
der tragischen Schuld und der poetischen Gerechtigkeit bedeuten
weniger ästhetische als weltanschauliche Postulate, bei denen Wirkung
und Erfolg auch vom Einvernehmen mit den herrschenden Anschauungen
eines Kulturkreises und eines Zeitalters, eines Volkes und einer
das Publikum bildenden Gesellschaftsschicht nicht unabhängig sind.


b) Problemstellung


Der bisherige Weg der Analyse führt bereits an mehreren Stellen
auf den Begriff des Problems als Kern der Dichtung hin: sowohl bei
der Fabel und ihren Motiven als bei den Charakteren und ihrer
Psychologie erwies sich die Problemstellung als das Verbindungsglied
der Kette, in der diese Elemente mit der das Ganze beherrschenden
Idee verknüpft sind. Jedes Problem bedeutet eine Fragestellung, die
in der Idee ihre Beantwortung finden muß, und eine Idee kann
zur dichterischen Gestaltung gelangen nur in der Lösung von
Problemen. Wenn der dichterischen Idee selbst eine Polarität zugeschrieben
wird, wie es durch Ermatinger geschieht, so weist diese
Spannung entgegengesetzter Begriffe vielmehr auf ein zugrunde
liegendes Problem, das nach Lösung verlangt, zurück. Wenn andere
wiederum in Freiheit und Unsterblichkeit keine Ideen, sondern
Probleme sehen wollen, so rechtfertigt sich dieser Brauch nur, solange
Antithesen wie zwingende Notwendigkeit oder ewiger Tod der
Freiheit und Unsterblichkeit gegenüberstehen. Von den Problemen
gilt, was Jaspers als „antinomische Struktur des Daseins“ an den sogenannten
„Grenzsituationen“ aufgezeigt: „In jedem der Fälle: Kampf,
Tod, Zufall, Schuld liegt eine Antinomie zugrunde. Kampf und gegenseitige
Hilfe, Leben und Tod, Zufall und Sinn, Schuld und Entsündigungsbewußtsein
sind aneinander gebunden; das eine existiert nicht
ohne das andere.“ Immer liegt im Problem ein Entweder-Oder, gleichviel
ob es sich um Fragen praktischer Lebensgestaltung oder theoretischer
Erkenntnis, um ethische Grundsätze, Menschendeutung,
letzte weltanschauliche Entscheidungen oder metaphysische Wahrheiten
handelt.


Die Problemspannung kann das Erlebnis des Dichters gewesen sein,
von dem die Aneignung des ganzen Stoffes und die ganze Konzeption
des Werkes ihren Ausgang nahm. Wenn beispielsweise Rousseaus
Denkwürdigkeiten den Plutarch rühmten, weil er nur große Tugendhafte
oder erhabene Verbrecher darstellte, und in diesem Zusammenhang |#f0264 : 240|

der Graf von Lavagna als würdiges Gegenstück aus der neueren
Geschichte genannt wurde, so stand der junge Schiller vor der Frage,
welcher der beiden Typen menschlicher Größe in seinem Fiesco zu
verkörpern sei. Es handelte sich um das Problem des Verhältnisses
von Persönlichkeit und Staatswohl, das schon in den „Räubern“
berührt war, und als die Waagschale nach der Seite des Verbrechens
gegen die Freiheit sank, wurde ein Gegengewicht geschaffen: dem
Helden wurde ein großer Tugendhafter im starren Republikaner
Verrina gegenübergestellt. Ein ähnliches Charakterproblem entrollte
Heinrich von Kleist gleich im ersten Satz seines „Michael Kohlhas“,
indem er auf einen der rechtschaffensten und entsetzlichsten Menschen
der Zeit vorbereitete. Hier lag das Problem in der Frage: wie kann
man aus Rechtschaffenheit zum entsetzlichen Menschen werden? Nicht
selten ist der Vorwurf einer Dichtung von vornherein als solche Fragestellung
formuliert worden. Beispielsweise schrieb Theodor Storm über
seine Novelle „Ein Bekenntnis“ an Gottfried Keller: „Mein Thema:
Wie kommt ein Mensch dazu, sein Geliebtestes zu töten? und wenn
es geschehen, was wird mit ihm?“ Auch Büchners „Woyzeck“ hat in
der ersten Frage sein Problem gefunden. Die Frage des „Warum“
kann sogar in der Dichtung selbst aufgeworfen werden, wenn sie keine
Antwort darauf zu geben weiß. So heißt es am Schluß von Müllners
Schicksalsdrama „Die Schuld“:


Das Warum wird offenbar,
Wenn die Toten auferstehen.


Rudolf Unger, der nach Wilhelm Dilthey am tiefsten in die Probleme
dichterischer Lebensdeutung eindrang, sieht in den großen,
ewigen Rätsel- und Schicksalsfragen des menschlichen Daseins den
Kerngehalt alles Dichtens. Wenn von ihm vier Beispiele gegeben
werden im Schicksalsproblem, im religiösen Problem, im Verhältnis
zur Natur und in der Auffassung des Menschen, so schließt jede
dieser Lebenssphären wieder vielerlei verschiedene Fragestellungen
in sich, die zu Problemen der Dichtung werden können.


Zum Schicksal werden die Gegenpole von Freiheit und Notwendigkeit,
von Geist und Natur, von Sinnlichkeit und Sittlichkeit gerechnet,
deren zweites Paar auch unter das Verhältnis zur Natur, deren drittes
ebensogut unter die Auffassung vom Menschen gestellt werden könnte.


Zum religiösen Urproblem sind die Gegensätze zwischen der Endlichkeit
des Menschen und seinem unaustilgbaren Streben nach dem
Unendlichen und Ewigen gezählt, aber neben den subjektiven Verhältnissen
zum Unsichtbaren und Übernatürlichen, die in vielerlei Gegensätzen |#f0265 : 241|

wie Gefühlsgewißheit oder Vernunftbeweis, Autorität oder
persönliches Erlebnis, Glaubensdogma oder inneres Schauen, Fanatismus
oder Toleranz sich auswirken, stehen die objektiven Gegensätze
der Gottesvorstellung wie Transzendenz oder Immanenz, und die
religiösen Schicksalsfragen wie Erbsünde und Erlösung. Solche Weltanschauungsfragen
werden zu Problemen, sobald in der Dichtung ein
äußerer oder innerer Kampf um sie geführt wird. Aber in gleicher
Weise kann sowohl eigenes Gottgefühl als die Seelenlage des Menschen,
der für einen Gott gehalten wird (Gutzkows Maha Guru,
Hauptmanns Emanuel Quint) zum Problem werden. Das dritte von
Unger genannte Grundproblem des Daseins, das Verhältnis des Menschen
zur Natur, kann in Furcht und Aberglauben, Unterwerfung
und technischer Bewältigung wieder zu den Schicksalsfragen hinüberreichen,
während Fragen wie Vererbung, Anpassung und Rasse bereits
dem Kulturproblem sich nähern. Auch Liebe und Tod werden zu den
problematischen Naturformen des Menschenlebens gerechnet, und die
Gegensätze, die beiden gegenüberstehen, sind lieblose Ichsucht und
ideelle Todesüberwindung.


Das vierte Feld liegt in den gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen,
wie Familie, Staat, Bildung und Beruf; die Begriffspaarung
ist im Verhältnis von Persönlichkeit und Gemeinschaft, Individuum
und Staat, Eigennutz und Gemeinsinn, Selbstentwicklung und Erziehung
gegeben. Doch könnten die Problemkreise noch weitere Ausbreitung
finden im Ethischen (Gesetz oder Selbstbestimmung, Pflicht
oder Neigung, Schuld oder Verhängnis, Sein oder Schein, Wert oder
Unwert des Lebens), wie im Ästhetischen (Schön oder Erhaben) und
im Politischen (Volk und Menschheit).


Die Steigerung zum Problem läßt sich, wie schon oben (S. 173)
gezeigt, aus der Stufenfolge von Bild, Zug und Motiv heraus entwickeln.
Beispielsweise gibt die Ähnlichkeit zweier Menschen, die
sich aus dem Gesicht geschnitten zu sein scheinen, ein Bild der Vererbung.
Ein Zug ist die auch im Charakter sich auswirkende Angleichung
an die Vorfahren, die im Stammbaumroman eine Rolle
spielt. Zum Motiv wird das Charaktererbteil, wenn es sich in Handlung
umsetzt. Die körperliche Ähnlichkeit schafft weiter als Erkennungs-
oder Verwechslungsmotiv sowohl im Komischen (Menächmen,
Shakespeares Lustspiele) als im Tragischen (Grillparzers „Ahnfrau“;
das Doppelgängermotiv in Hoffmanns „Elixieren des Teufels“ oder
W. v. Scholz' „Perpetua“) und sogar im Tragikomischen (Kleists
„Amphitryon“, insofern der Held am Schluß als Erscheinungsform
Jupiters erklärt wird), dankbare Situationen. Als Problem aber tritt die |#f0266 : 242|

Vererbung in Erscheinung, wenn sie umkämpft wird, wenn sie einen
angeborenen oder prätendierten Rechtsanspruch auf Reich und Thron
begründet oder wenn sie als Fluch ein ganzes Geschlecht bedroht. Im
einen Fall kann die Bestimmung entweder nach vielen Prüfungen
sich durchsetzen (Wolframs „Parzival“) oder sie kann trügerisch zusammenbrechen
(Schillers „Warbeck“ und „Demetrius“); im andern
Fall erfüllt sich entweder das unausweichliche Verhängnis (Schillers
„Braut von Messina“, Ibsens „Gespenster“, Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“),
oder die blutsmäßige Bedrohung wird willensmäßig überwunden
(Goethes „Iphigenie“, Hauptmanns „Friedensfest“) oder es
kann sogar eine zwiefache Lösung in Parallele gesetzt werden (Hesses
„Hyazinth und Goldmund“).


Während Gottesvorstellung und Schicksal sich in religiösen Problemstellungen
zusammenfinden, gehören auf der anderen Seite Liebe
und Tod zueinander; sie stellen nach einem sinnreichen Bilde Paul
Ernsts die beiden Arme des Gottes der Dichtung dar, dessen Schultern
die Unendlichkeit peitscht; aber sie bilden zugleich die ewigen Probleme
der Philosophie des Lebens.


„Philosopher c'est apprendre à mourir“ lautet ein Ausspruch
Montesquieus, der die Bedeutung des „Memento mori“ für Selbstschau
und Weltbetrachtung kennzeichnet. Das dichterische Todesproblem,
dessen literarhistorische Verfolgung mit Ungers Arbeiten
über Herder, Novalis, Kleist einen entscheidenden, durch Walter
Rehm, Fr. W. Wentzlaff-Eggebert und viele andere verfolgten Anstoß
erfahren hat, läßt für die Frage Tod oder Unsterblichkeit die ideelle
Lösung offen in einer Reihe von Glaubensvorstellungen: dem lebenden
Leichnam bei primitiven Völkern, dem Totenheer der alten Germanen,
der Erhaltung der Entelechie in Goethes Sinn, den Übergang
in ein höheres Leben nach christlicher Vorstellung, dem Sternenleben
nach Kinderträumen, der körperlichen Wiederkehr, der Seelenwanderung,
der Weltseele, der unio mystica und dem pantheistischen
Eingehen in das All.


Die Auffassung der Liebe, der Paul Kluckhohn ein grundlegendes
Buch gewidmet hat, führt gleichfalls zu Unendlichkeitsvorstellungen.
Teils reichen sie in Urewigkeit zurück wie Präexistenz und Androgynenmythus
(Platons Gastmahl), und nehmen in poetischer Gestaltung
die Frageform des Problems an (Goethes: „Warum gabst du uns
die tiefen Blicke ... Sag, was will das Schicksal uns bereiten?“), teils
erstrecken sie sich als Liebe, die das irdische Leben überdauert, in
künftige Ewigkeit (El. Rowe, „Friendship in Death“ und ihre empfindsamen
Nachahmungen; ewige Liebe des Künstlers zu seinem Ideal |#f0267 : 243|

bei E. Th. A. Hoffmann). Liebe und Tod treten in Verbindung
durch die Probleme des Liebestodes und der Todesliebe. So ist Friedrich
von Hardenberg nach dem Verlust seiner Braut zur Weltanschauung
eines magischen Idealismus gelangt, kraft dessen er die
Wiedervereinigung mit der Geliebten erzwingen wollte, wie es die
„Hymnen an die Nacht“ allegorisieren. Das Motiv des Nachsterbens
aber kommt im Problem der inneren Selbstvernichtung durch gewolltes
Auslöschen des Lebenstriebes zum Triumph der Liebesidee in
Kleists Penthesilea und Grillparzers Hero, wie in Wagners Senta,
Elisabeth und Isolde. Und in Rilkes Spätdichtung gelangen die Liebenden
erst jenseits des Todes zu wirklichem Können.


Bei allen Zusammenhängen zwischen dichterischer und philosophischer
Problemstellung liegt der Unterschied darin, daß dichterische
Lebensdeutung immer an konkreten, wenn auch erfundenen Einzelfällen
und Konflikten aufgezeigt wird, die als symbolisch gelten dürfen,
während die Antwort der Philosophie eine abstrakte ist, die nicht
aus dem Einzelfall hervorgeht, sondern höchstens zu dessen begrifflicher
Erfassung verhelfen kann. Wenn Rudolf Unger nun der Dichtung
eine Hilfsstellung für die Philosophie beimessen möchte, weil
sie dem verallgemeinernden Denken bereits vorgearbeitet hat durch
Auswahl, Steigerung, Deutung und Sinngebung des Rohstoffs der
Wirklichkeit, so geht diese Auswertung des Verhältnisses einseitig
vom Standort der Philosophie aus. Die literaturwissenschaftliche
Analyse wird dagegen mehr an sich selbst denken und sich weniger
der Philosophie dienstbar machen, als vielmehr deren Hilfe in Anspruch
nehmen für die Klärung, Ergründung und Benennung der
dichterischen Problemstellung. Dabei müssen neben dem Standpunkt
heutiger Beurteilung, dem eine jetzt geltende Systematik Wegweiser
und Maßstab sein kann, nicht minder die zur Zeit des Entstehens
herrschenden weltanschaulichen Strömungen, in deren Licht der Dichter
sein Erlebnis sah, wie seine eigenen, persönlichen Lebensprobleme
zur Deutung herangezogen werden. Es ist derselbe Fall wie bei der
dichterischen Psychologie, die gleichfalls aus den zur Entstehungszeit
geltenden Seelenvorstellungen wie aus den persönlichen Erlebnissen
verstanden werden muß und daneben nach allgemeingültigen Gesetzen
des Seelenlebens überprüft werden kann. In ihrer lebenswahrsten
Gestaltung bietet sie Anschauungsmaterial für die wissenschaftliche
Seelenkunde. So wird auch hier nach Ungers methodischen Richtlinien
„die positive Arbeit an den Einzelproblemen und die Ausbildung einer
philosophisch orientierten Prinzipienlehre und heuristischen Topik
zweckmäßigerweise Hand in Hand gehen.“

|#f0268 : 244|

9. Siebente Stufe: Geist und Idee


Die Beziehung des Begriffes „Idee“ auf die Dichtung hat in ihren
vielfältigen Spielarten eine wechselvolle Geschichte. Aus dem Neuplatonismus
der Renaissance emporgestiegen, findet das Wort in
Scaligers Poetik eine mehr aristotelische als platonische Anwendung,
wird von Winckelmann in den Mittelpunkt seiner Kunstbetrachtung
gestellt, von Herder seiner Transzendenz beraubt und mit naturphilosophischer
Immanenz ins Innere des Kunstwerks verlegt, bei Goethe
durch den Begriff des Urphänomens verdrängt und in Hegels Ideenlehre
dem absoluten Geist untergeordnet.


In positivistischer Reaktion gegen die konstruktiven Auslegungen
hegelianischer Ästhetiker gab die Dichtungslehre des 19. Jahrhunderts
zeitweilig den Begriff Idee ganz auf. Scherers Poetik wollte nichts
davon wissen und glaubte mit Stoff, Thema, Vorwurf, Hauptmotiv
auszukommen; zur gleichen Zeit hat auch Dilthey davor gewarnt, in
jeder Dichtung eine Idee zu suchen, wobei er auf das Inkommensurable
in Shakespeares „Hamlet“ hinwies und auf alle vergeblichen Bemühungen,
dort eine Idee ans Licht zu ziehen. Wollte Dilthey damals
das zu allgemeingültiger Bedeutung erhobene Erlebnis an die Stelle
der Idee setzen, so hat seine spätere Entwicklung dahin geführt, in
der Weltanschauung des Dichters den ideellen Kern seiner Gestaltung
zu erblicken. Von da führt der Weg weiter zur Thronerhebung des
Problems durch Unger, zur Wiederherstellung der Idee durch Ermatinger,
zur Krönung des Geistes durch Cysarz, und gegenwärtig
scheint sich bei Pongs eine Identität von Idee und Existenz herzustellen.



Für das Verhältnis zwischen Problem und Idee ist im vorausgehenden
Abschnitt eine Formel gefunden worden, wonach die Idee
sich als entscheidende Lösung des Problems offenbart. Fragen wir
weiter, woher diese Entscheidung stammt, so werden wir zur Weltanschauung
des Dichters zurückgeführt. Wenn oben gesagt ist, daß
die einzelne Dichtung keine eigene, totale Weltanschauung haben
kann, so bleibt ihr doch der Ausdruck einer bestimmten Idee vorbehalten.
Idee ist aber die auf ein Problem bezogene und in seiner
Lösung ausgeprägte weltanschauliche Haltung des Dichters. Die dichterische
Idee scheint damit zum Organ der Weltanschauung herabgesetzt,
aber zugleich ist sie innerhalb der Dichtung zur entscheidenden
Bedeutung erhoben. Man kann sagen, daß die Idee ihre Wirksamkeit
entfaltet, wenn der Dichter etwas von seiner eigenen Weltanschauung
in die schwebende Waagschale der Problemstellung wirft.

|#f0269 : 245|


Die Idee gäbe, wenn wir bei diesem Bilde bleiben wollen, mit
ihrem Tiefgang erst dem Ganzen Halt und Gewicht so wie das Schiff,
erst wenn es seine Ladung hat, gesteuert werden kann. So sieht Emil
Ermatinger in der Idee den dynamischen Mittelpunkt der ursächlichen
Ordnung aller inhaltlichen Elemente; er läßt die ganze Vielheit
einzelner Gedanken und Problemstellungen von ihr ausstrahlen.


Das gegenseitige Verhältnis von Idee, Stoff und Form erblickt
Ermatinger in demselben Anschauungsbild eines Dreiecks, das unser
an den Eingang dieses Kapitels gestelltes dispositionelles Schema
entworfen hat (S. 111). Aber indem er Idee und Stoff sich in der
Form zur Einheit vermählen läßt, legt er das, was wir als Spitze des
Dreiecks ansahen, auf den Boden. Die Verbindung von Idee und Stoff
bildet bei ihm die Basis, auf der sich die Form aufbaut. Wir legten
dagegen Stoff und Form zugrunde und begrenzten das aufsteigende
Ineinanderwirken von Gehalt und Gestalt durch die Schenkel, die in
der Idee als der Spitze des Dreiecks oder dem Gipfel der Pyramide
zusammentreffen. Die Idee liegt dann nicht im Kiel des Schiffes,
sondern bildet Kapitänsbrücke oder Flaggenmast; sie ist gewissermaßen
der Dachfirst des Hauses, dem alle Glieder als Tragpfeiler
dienen. Alle Gedanken, alle Gestalten, alle Motive, alle Problemstellungen
stehen in Verhältnis zu ihr und zeigen den Weg zur Idee,
selbst wenn sie ihr ausweichen und entgegengesetzt erscheinen.


Für die Genesis des Kunstwerkes wäre dieses Bild zweifellos irreleitend,
denn die Idee ist entstehungsgeschichtlich keineswegs das
letzte Glied des Gefüges. Nur einmal, beim „Gyges“ hat Hebbel
festgestellt, daß zu seiner eigenen Überraschung, wie eine Insel aus
dem Ozean, erst bei Abschluß des Stückes die Idee der Sitte als alles
bedingend und bindend hervorgetreten sei. Daran wird richtig sein,
daß diese Zentralidee erst jetzt ihm bewußt wurde, während sie doch
wohl von Anfang an als ein verhüllter Gipfel zu dem Ideen-Hintergrund
gehörte, den der Dichter bei allen Arbeiten wie eine die Landschaft
abschließende Gebirgskette vor sich sah. Von manchen Theoretikern
des Schaffensvorganges, z. B. Pierre Audiat, ist die schöpferische
Idee (l'idée créatrice) wie der Geist, der über den Wassern schwebt,
an den Anfang der Schöpfung gesetzt worden. Die Analyse dagegen
kann ihre genetische Rolle erst rückläufig erschließen, nachdem die
Idee gefunden ist, und dieses Ergebnis stellt sich in der Tat als letztes
erst nach Aufnahme der ganzen Dichtung her. Manchmal kommt die
Idee am Ende eines Werkes zur Erörterung, wie der Staatsgedanke in
Kleists „Prinz von Homburg“ V, 5 und in Hebbels „Agnes Bernauer“
V, 10. Entscheidend für die Lösung der Problemstellung kann sogar |#f0270 : 246|

das letzte Wort einer Dichtung sein, z. B. in Schillers „Braut von
Messina“:


Das Leben ist der Güter höchstes nicht,
Der Übel größtes aber ist die Schuld.


Auch Goethe hat im Chorus Mysticus, der den Schluß der Faustdichtung
bildet, den tiefsten Sinn des Ganzen zusammengedrängt,
ohne daß man allerdings in diesen Versen eine problemlösende Idee
erkennen könnte. Dagegen hat er selbst gelegentlich den vorausgehenden
Engelchor als Schlüssel zum Verständnis des Werkes
bezeichnet:


Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen.

Will man in der Tat an dieser Stelle die Idee des Werkes offenbart
finden, so hat man in der Zweigliedrigkeit keine Polarität zu sehen,
sondern eine Steigerung. Ein Ideenkomplex entsteht im Zusammentreffen
von zwei geistigen Mächten. Das eine ist die in den Menschen
gelegte Kraft unstillbaren Strebens, das andere die in Gott ruhende
ewige Liebe. Das erste wird Problem im Pakt des ersten Teiles, aus
dem die Idee des unbezwingbaren Strebens trotz aller Irrungen
siegreich hervorgehen soll (entsprechend der Voraussage des Prologs
im Himmel). Das zweite Problem ist das der irdischen und himmlischen
Liebe, das im ersten Teil mit dem Erlöschen von Fausts Leidenschaft
endet, also mit einer Niederlage des Menschen, während es im
zweiten Teil durch die entgegenkommende Liebe von oben dem guten
Ausgang entgegenwächst.


Wie schon bei Gelegenheit der Fabel (S. 140) erwähnt wurde, hat
der Faustdichter selbst es nicht wahrhaben wollen, daß alles von
ihm auf den Faden einer einzigen durchlaufenden Idee aufgereiht
worden sei. Umgekehrt kann man in andern Fällen, wo der Dichter
selbst den Sinn eines Werkes nachträglich zusammengefaßt hat,
zweifeln, ob damit das Rechte getroffen wurde. So hat H. A. Korff
bestritten, daß mit den späten Widmungsversen der „Iphigenie“:


Alle menschlichen Gebrechen heilet reine Menschlichkeit

wirklich die Idee der Dichtung, die Goethe selbst später als „verteufelt
human“ bezeichnete, ausgesprochen sei.

|#f0271 : 247|


Die Idee braucht nicht als Zitat, als geflügeltes Wort, als zum Mitnehmen
eingewickelter Gebrauchsgegenstand dargereicht zu werden,
wie der moralische Satz in der Aufklärungspoetik. Mit Recht sagt
Ermatinger, die Idee sei nicht Grundgedanke, Lehrsatz, sichtbare
Moral, sondern als seelische Schau und Triebhraft „ein imaginärer
Punkt, der im Unsichtbaren wirkt“. Man könnte sie also dem Augenpunkt
eines perspektivischen Gemäldes vergleichen, auf den alle
Linien in ihrer Verkürzung hinführen. Es bleibt dabei eine Stilfrage,
ob die Lage dieses Punktes, der im Unendlichen zu denken ist, sichtbar
wird, wie es bei klassischer zentraler Komposition der Fall ist,
oder ob, wie bei der Winkelperspektive der Barockmalerei, die Linien
sich seitwärts verlieren, so daß der imaginäre Punkt außerhalb des
Bildes zu denken ist.


10. Synthesen


Wenn die Idee allen Elementen der Dichtung übergeordnet ist, so
wäre zu zeigen, wie sie zu dieser Suprematie gekommen ist, wie sie
aus dem Stoff aufsteigt, nach der Form blickt, Erlebnis und Stimmung
bildet, die Wahl der Gattung entscheidet, die Fabel prägt, die Absicht
klärt, an die Technik Bedingungen stellt, die Psychologie in Bewegung
setzt, in Selbstdarstellung sich ausspricht, die Charaktere unter sich
zwingt, die Motive wählt, mit der Wirklichkeitsauffassung sich in
Übereinstimmung setzt, die Sprachform und den Rhythmus beseelt, im
Stil ihr Gewand webt, in der Weltanschauung ihren Boden hat, in
den Problemen ihr Sprungbrett findet, und wie sie so sich aufschwingt
zum Thron, der ihr die Herrschaft gibt, unter der allen Untertanen
ein harmonisches Einvernehmen gewährt ist.


Diese neue Bindung aller in der Analyse voneinander gelösten
Glieder bedarf aber der Tragkraft des Hauptelementes, das in dem
bisher zugrunde gelegten Schema eingeklammert war, nämlich der
Persönlichkeit des Dichters. Ohne ihn ist keine Kausalität möglich.
Die Idee kann nicht aus dem Stoff geboren werden, ohne daß der
Dichter sie in den Stoff gelegt hat. So wenig der Stoff ohne den
Keim der Idee zu lebendiger Gestaltung gelangte, ebensowenig kann
die Idee konkrete Existenz gewinnen, ohne daß der Dichter sie persönlich
aus dem Reich der Mütter heraufgeholt und sich angeeignet
hat. Nicht von einer abstrakten Idee, sondern nur von der lebendigen
Kraft des Dichters aus ist die Genesis des Werkes darzustellen und
das Geschaffene nachzuschaffen. Einer Wiederholung des Entstehungsvorganges
in allen seinen Phasen, den günstigen Falles der Einblick |#f0272 : 248|

in die Werkstatt des Dichters durch seine Selbstbekenntnisse ermöglicht,
kann kein wesentliches Element, das bei der Analyse gefunden
war, entgehen. Analyse und Genesis kontrollieren sich also gegenseitig,
denn sie gehen denselben Weg in entgegengesetzter Richtung,
indem die eine vom Werk aus den Dichter sucht, die andere vom
Dichter aus das Werk aufbaut. Früher einmal habe ich ihr Zusammengehen
dem Bau eines Tunnels verglichen, der von beiden Seiten aus
in Angriff genommen wird. Die Berechnung erweist sich als richtig,
wenn die Bohrungen in der Mitte zusammentreffen; die Durchschlagstelle
ist der Prüfstein der Methode. Dabei ist mit allen Widerständen
zu rechnen, die ein zu sprödes oder zu brüchiges Material bietet.
Voraussetzung der richtigen Errechnung muß auf beiden Seiten Kenntnis
der geologischen Schichten sein und Feststellung der Struktur. Auf
seiten des Werkes haben wir diese Beschaffenheit durch die Analyse
kennengelernt; auf seiten des Dichters stehen wir vor Geheimnissen.
Was weiterhelfen kann, ist erstens die Vertrautheit mit dem Menschen,
seiner Wesensbeschaffenheit, seinem äußeren und inneren
Leben und seiner typischen oder individuellen Schaffensweise, zweitens
die Vertrautheit mit den Gesetzen des dichterischen Schaffens
als generellem Vorgang. Diese Bedingungen weisen die Genesis des
Dichtwerkes den Betrachtungen des zweiten Buches zu.


Daneben aber gibt es eine Reihe weiterer synthetischer Verwertungen
der in der Analyse gewonnenen Elemente. Jedes kann zusammengetan
werden mit seinesgleichen in kategorienmäßiger Gruppierung. Die
Stoffe, Situationen, Fabeln, Charaktere, Motive und Probleme sind
typologisch zu ordnen; die Formen der Gattung, der Technik, der
Psychologie, der Sprache und des Stils können auf ihre Entwicklung
hin untersucht werden. Da jeder Teil auf das Ganze schließen läßt,
und da das Verhältnis sich aufrechterhält bei Ausdehnung auf das
Gesamtwerk eines Dichters, eines Zeitalters, einer Landschaft und
eines Volkes, so kann man aus dem Querschnitt zu einer Charakteristik
des Ganzen gelangen. Nur wird diese um so dünner und oberflächlicher
sein, je weiter das gruppenmäßig zusammengefaßte Element
von der geistigen Spitze entfernt bleibt. Die sogenannte Stoffgeschichte
kann so gut wie nichts für die Wesensart des Ganzen erbringen, es sei
denn, daß sie die verschiedenartige Behandlung desselben Themas
psychologisch, stilistisch und völkerpsychologisch auswertet; auch die
Betrachtung einzelner Formen, z. B. des deutschen Hexameters, des
deutschen Madrigals, des deutschen Sonetts oder des deutschen
Ghasels im Vergleich mit antikem, orientalischem oder romanischem
Versbau kann sowohl zu entwicklungsgeschichtlichen als zu charakterologischen |#f0273 : 249|

und völkerpsychologischen Ergebnissen führen; die Geschichte
der einzelnen Gattung, z. B. des Dramas, läßt sich innerhalb
einer Nationalliteratur, eines Kulturkreises (Creizenach) oder sogar
der Weltliteratur (Klein) unternehmen, aber Viëtors Versuch, die
ganze Geschichte der deutschen Literatur nach Gattungen zur Darstellung
zu bringen, ist bei verdienstvollen Einzeldarstellungen geblieben.



Dagegen muß eine Gesamtdarstellung der Technik sich nach den
Einzelgattungen verteilen, wobei sie mehr auf systematische als entwicklungsgeschichtliche
Betrachtung zielen wird. Auch Motivgeschichte
und Stilgeschichte sind als repräsentativer Ersatz für vollständige
Literaturgeschichte in Angriff genommen worden. Desgleichen fehlt es
nicht an Versuchen, die Weltanschauung und die Wirklichkeitsauffassung
(Fricke, Lugowski) als Richtschnur zu wählen; die Menschendarstellung
ist als günstiges Beobachtungsfeld durch Heinz Kindermann
zum methodischen Spezialgebiet erklärt worden in Nachfolge Diltheys,
der bereits die Nachbarschaft von Dichtung und Anthropologie erkannt
hatte. „Literaturgeschichte als Problemgeschichte“ zu betreiben,
hat Unger befürwortet, ohne zu bestreiten, daß es auch andere Blickpunkte
und Dimensionen gebe, und Martin Heidegger hat diese Wendung
als eine Bewegung zur Seinsfrage anerkannt. Endlich gibt es
Geistesgeschichte und Ideengeschichte. Der weiteste Ausblick bietet
sich von den Gipfeln, weil alle Richtungen auf sie hinführen und alle
Elemente ihnen unterworfen sind. In dieser Höhenlage hat schon
Hermann Hettner die Entwicklung überschauen wollen; sehr viel
weiter ist H. A. Korff gestiegen, der seinen „Geist der Goethezeit“
als „Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen
Literaturgeschichte“ bezeichnen durfte. Trotz dieser sublimen Stoffüberwindung
wird aber neben der Ideengeschichte auch die von
Hettner verworfene Geschichte der Bücher und nicht minder die
der Dichter, der Gesellschaftsschichten, der Landschaften und der
Stämme ihr Recht behalten.


Von allen diesen Darstellungsmethoden, die im dritten Buch unter
dem Begriff der „Ordnungen“ zur Sprache kommen werden, muß
gelten, daß sie die Analyse der Einzelwerke voraussetzen, und dies
um so mehr, als die Einzelwerke nur nach bestimmten Elementen ihrer
Existenz in Betracht gezogen werden. Aus der Analyse der Einzelwerke
sind die Fäden gesponnen, mit denen das Gewebe großer Darstellungen
zusammengewirkt werden kann.

|#f0274 : E250|

VIERTER HAUPTTEIL

DEUTUNG UND WERTUNG

Das Werk selbst ist kein Ende, sondern eine Mitte:
es kann als Schlußstein in einem Bogen, der von Seele
zu Seele geht, als Gerät des Lebens begriffen werden.
Das Werk hat durch die opferhafte Selbstentäußerung
des schaffenden Geistes etwas erhalten, was ein Gegenstand
von sich aus nie hat: nämlich Sinn, eigene Bündigkeit;
es ist geistgeladene Materie geworden. Und
hier setzt nun die Tatsache des Verstehens ein, nimmt
von der anderen Seite das Werk gleichsam in Empfang
und läßt sich von ihm zu den Höhen und Tiefen seines
Sinngehalts führen.


Hans Freyer.


1. Das Verstehen


Die philologische Methodenlehre, die sich in einer Stufenfolge von
sprachlicher und sachlicher Interpretation, von niederer und höherer
Kritik des Textes wie von niederer und höherer Hermeneutik aufbaut,
gelangt nach Untersuchung aller Fragen des Sprachstandes und Wortschatzes,
der usuellen und occasionellen Wortbedeutung, der Sinngebung
im Einzelnen und der Formgebung im Großen mit ihrer höchsten
Zielsetzung kaum über die im vorigen Hauptteil behandelten
Aufgaben der Analyse hinaus. Übrig bleibt das, was Goethe zum Ziel
setzt, nämlich „das Innere, Eigentliche einer Schrift zu erforschen
und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen
Innern verhalte und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige
erregt und befruchtet werde“. Alles andere, die Quellen- und Gattungsbestimmung,
die Erschließung des biographischen Anlasses und
persönlichen Gehaltes, der Erlebnisse, des Planes, der Absicht, der
Motive und Probleme kann zu einer Feststellung und Handhabung
der Elemente führen, ohne daß das geistige Band erfaßt wird, das
alles zusammenschließt und uns mit seiner Wirkung in Bann zieht.
In seiner Handhabung liegt das eigentliche „Verstehen“, das man im
Anklang an Goethes Wort als ein „Erkennen von innen“ bezeichnet hat.


Die Methodenlehre des Sprachforschers Hermann Paul wollte mit
psychologischem Mechanismus dieses geistige Band als eine seelische
Gleichstellung von Verfasser und Leser erkennen. Das „Verstehen“ |#f0275 : 251|

eines Textes sollte dann zustandekommen, „wenn in unserer Seele
eben die Vorstellungsassoziationen erzeugt werden, welche der Urheber
desselben in der Seele derjenigen hat hervorrufen wollen, für
die er bestimmt ist“.


Dagegen erhebt sich als erster Einwand die Frage, ob ein Werk der
Selbstbefreiung, das aus Lebenskrisen und innerem Zwang hervorbrach,
überhaupt auf ein bestimmtes Publikum berechnet gewesen
sein muß. Stifter sagt im „Nachsommer“: „Der Künstler macht sein
Werk, wie die Blume blüht, wenn sie auch in der Wüste ist und nie
ein Auge auf sie fällt. Der wahre Künstler stellt sich die Frage gar
nicht, ob sein Werk verstanden werden wird oder nicht.“ Wie
mancher, der zu seinem eigenen Behagen schrieb, mag nicht anders
gedacht haben als Wilhelm Raabe, der den Erzähler der „Alten Nester“
Gott dafür danken läßt, daß er nicht weiß, an welche Leser sich das
eben Niedergeschriebene wenden wird. Andere mögen bei der Niederschrift
nur an einen einzigen Leser gedacht haben. Aber auch,
wenn es ein bestimmter Kreis war, so ist zu fragen, wie zunächst die
Gesellschaft, der ein Text zugedacht war, und wie danach ihr Geist
festzustellen sei. Durch Widmungen oder Berichte ist solcher Leserkreis
unter Umständen zu ermitteln, aber damit ist immer noch nicht
erfaßbar, welches seine Vorstellungsassoziationen waren. Selbst dann,
wenn der ursprüngliche Widerhall, von dem wir annehmen, daß er
beabsichtigt war, in Urteilen kundgegeben ist, bleibt es höchst ungewiß,
ob wir heute die gleichen Assoziationen als Eindruck des Textes zu
erleben imstande sind.


Der von Paul geschilderte Vorgang kann sich eigentlich nur bei
Verständigung durch das gesprochene Wort von Mensch zu Mensch
herstellen, wenn räumliche und zeitliche Gegenwart durch keinerlei
Trennung behindert und der Sprachgebrauch gleichgestimmt ist. Ohne
solchen Kontakt ist völlige Identität der Vorstellungsassoziationen
unerreichbar. Auf welche Weise dürfte es möglich sein, gegenüber
Dichtungen, die für die ritterliche Gesellschaft des Mittelalters bestimmt
waren, wie Minnesang und höfische Epik, ohne weiteres die
entsprechende Seelenhaltung zu finden, durch die das Verstehen verbürgt
sein soll? Nicht viel anders ginge es mit den gesellschaftlichen
Idealen des Absolutismus, wie sie in der klassischen Tragödie Frankreichs
gepflegt wurden. Und denken wir an Dantes „Göttliche Komödie“
so ist das ganze kosmische System, das sich in den drei Reichen
des Inferno, Purgatorio und Paradiso aufbaut, nur aus den Vorstellungen
mittelalterlicher Glaubenswelt zu verstehen. Das religiöse, naturwissenschaftliche,
politische, gesellschaftliche und ethische Weltbild |#f0276 : 252|

einer anderen Zeit und Kulturstufe ist einzuschalten. Wenn auch die
dichterische Kraft der Vision unmittelbar in Bann schlägt, so bleibt
für den unvorbereiteten Leser außer den sprachlichen Schwierigkeiten
viel Seltsames und Unerklärliches. Die vom Dichter gewollten Vorstellungsassoziationen
sind also durch den Erklärer erst auf großen
Umwegen historischer Reflexion zu erwecken.


Wenn französische Theoretiker, z. B. Pierre Audiat, an die Möglichkeit
einer vollständigen Reproduktion des Werkes aus der Einsicht
in die inneren Entstehungsbedingungen glauben, so muß dieses Verfahren
bei fremder Sprache, die zugleich Ausdruck anderen Denkens
ist, an der Verschiedenheit des geistigen Raumes scheitern. Aber selbst
bei einem nur zeitlichen Abstand entsteht das von E. G. Kolbenheyer
hervorgehobene Hindernis, daß die Lautgebilde und Werkmittel der
eigenen Sprache für uns verändert sind, „weil wir in einem anderen
Anpassungszustand des eigenen Volksstammes stehen“.


Will eine literarhistorische Methode bei Dichtungen entlegener Zeiten
und Länder die Vergegenwärtigung dadurch gewinnen, daß sie die
Kulturlage des Jahrhunderts und die gesellschaftliche Verfassung der
einstigen Leserschaft, für die das Werk bestimmt war, in Rechnung
zieht und sich mit historischer Einfühlung und Phantasie danach
umzuschalten bemüht, so verdoppelt sich die Aufgabe, und man nähert
sich den Gefahren eines Kreisfehlschlusses. Es müssen erst die allgemeinen
Voraussetzungen verstanden werden, ehe es an das einzelne
Werk geht, und diese allgemeinen Voraussetzungen sind wiederum
großenteils erst aus dem Verstehen vieler einzelner Werke jener Zeit
zu gewinnen.


Kommt man zu dem einzelnen Werk, dann liegen sowohl in den
Absichten des Urhebers als in der Reaktionsfähigkeit des Publikums,
für die es bestimmt war, unbekannte Variabeln. Selten sind die verschiedenen
Voraussetzungen so deutlich erkennbar wie bei Vergleich
der beiden altdeutschen Evangelienharmonien. Beim niedersächsischen
„Heliand“ sind die darstellerischen Mittel heidnischer Heldenepik zur
Volkspredigt verwendet, die eine Hörerschaft von Laien für die christliche
Idee gewinnen soll; die Mönchsdichtung Otfrids von Weißenburg
sucht dagegen, wie schon die verschiedenen Vorreden besagen,
auf dem Weg über die kirchlichen Vorgesetzten zu den Gläubigen
an Höfen und in Klöstern vorzudringen. Trotz dieser sichtbaren
Unterschiede bleibt das, was den Verfassern und dem Publikum beider
Dichtungen gemeinsam war, die Glaubensvorstellung und Seelenlage
des noch nicht lange christianisierten Germanen, für den Menschen
der Gegenwart und sein unmittelbares Erleben verschlossen.

|#f0277 : 253|


Man müßte in die Besonderheiten des Gefühlslebens und der Vorstellungswelt,
die jedes einzelne Werk mit seinem Zeitalter gemein
hat, eindringen können; man müßte, um zeitlich bedingte Schöpfungen
zu verstehen, sich dem Typus des Schöpfers und des Empfängers
innerlich angleichen. Voraussetzung für ein bewußtes Einleben wäre
die Erkenntnis des Typus. Aber, was für die Wesensbestimmung des
mittelalterlichen, des gotischen, des Renaissancemenschen oder des
sentimentalen Menschen zutage gefördert worden ist (Hoffmann, Worringer,
Scheffler, Wieser) besteht in Konstruktionen, die meist nur
aus einem Ausschnitt des Ganzen, aus einem bestimmten Ausdrucksgebiet,
sei es Dichtung, Kunst, Philosophie oder religiöses Leben,
abstrahiert sind und schon deshalb einseitig sein müssen. Bestenfalls
stellen solche Erkenntnisse ein Brillenglas her, das den Blick schärft,
aber ohne eigenes Augenlicht unnütz ist.


Was soeben von den mittelalterlichen Christusdichtungen gesagt
wurde, gilt nicht minder, wenn auch unter anderen Zeitumständen,
von der einzigartigen Wirkung des Klopstockschen „Messias“, die auf
einer durch pietistisches Gefühlsleben erweichten Seelenhaltung des
Menschen der Aufklärungszeit gegründet war. Man kann sich in die
Empfindsamkeit mittels aller religions- und kulturgeschichtlichen
Quellen einzuleben suchen, aber man wird durch dieses Zeitverstehen
dennoch zu einem anderen Erlebnis der Dichtung gelangen, als es das
der Zeitgenossen war. Eine Probe sind die verschiedenen erfolgreichen
Versuche, für den „Messias“ in Vortragsveranstaltungen unserer Zeit
eine neue Gemeinde zu werben; die Auswahl der Partien, in denen
das Machtwort der Dichtung heute zum ergreifenden Klang wird, ist
ganz verschieden von der, die den stillen Leser des 18. Jahrhunderts
mit tiefsten Eindrücken erschütterte.


Wie hier die einstige Wirkung und die heutige sich in notwendigem
Gegensatz befinden, so sind auch heutiges und einstiges Verstehen
nicht zu vollständigem Einklang zu bringen. Die Assoziationsfähigkeit
des Interpreten bleibt an sein persönliches Erleben gebunden, so daß
sein eigenes Verstehen wie das, zu dem er andere anleitet, ebenso
subjektiv sein muß als die ästhetische Würdigung, die nach jener
Theorie Hermann Pauls nur als geschichtlich feststellbare Wirkung
objektiv erfaßbar wäre. Eine Zusammenfassung aller geschichtlichen
Urteile aber würde bestenfalls ein einstmaliges „Verstandenhaben“
vermitteln, das uns großenteils fremd bleiben muß. Selbst wenn wir
uns bemühen, diese Fremdheit in geschichtlichem Erfassen zu überwinden,
so werden wir für unser eigenes unmittelbares Verstehen des
Werkes kaum eine andere Förderung erfahren können, als daß wir |#f0278 : 254|

in früheren Urteilen das bestätigt finden, was unsere eigene Empfindung
ist. Solche Übereinstimmung muß zu dem Schluß führen, daß
unmittelbar ästhetisch erfühlbar und sinngemäß verstehbar bei jedem
Werk der Ferne nur das Überzeitliche und Überräumliche ist, was
unabhängig von besonderen Kultur- und Geschmacksverhältnissen uns
allgemein menschlich berührt. Das Wort Goethes bestätigt sich: „Im
Grunde verstehen wir nur, was wir lieben.“ Der Umweg des geschichtlichen
Verstehens aus allen uns fremden Voraussetzungen kann nur
ein „Zuverstehensuchen“ und ein möglichst geringes Mißverstehen
bedeuten. Das wäre die größtmögliche Annäherung an ein unerreichbares
Ziel.


Anders als die philologische, kulturhistorische, völkerpsychologische
und soziologische Methodenlehre faßt der Philosoph den Begriff des
„Verstehens“. Seit Wilhelm Diltheys Anknüpfung an Schleiermachers
Hermeneutik ist es zum Kernbegriff einer geisteswissenschaftlichen
Psychologie und zum Pfeiler für die theoretische Grundlegung der
gesamten Geisteswissenschaften geworden. Die Theorie des Verstehens
ist als gegebenes Zwischenglied zwischen der Arbeit der einzelnen
Geisteswissenschaften und der Philosophie anerkannt; die Philosophie
wird, weil die Regelung der Erkenntnis und Sinndeutung aller geistigen
Gegebenheiten in ihre Hand gelegt ist, zum Knotenpunkt und
zum Wegweiser, der seine Arme nach verschiedenen Richtungen
ausstreckt.


Die Entwicklung der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert,
wie sie Joachim Wach in einem dreibändigen Werk dargestellt hat,
steht in Verbindung mit den Anweisungen für hermeneutische Praxis,
und ihre Betrachtung kann trotz des Willens zu einheitlicher Begriffsbildung
nicht verhehlen, daß Religionswissenschaft, Geschichtswissenschaft
und Kunstwissenschaften notwendigerweise ihre besonderen
Wege gehen. Auf die schon von Schleiermacher gestellte Frage, ob
die Hermeneutik als Kunst oder als Wissenschaft anzusehen sei, kann
die Antwort der drei Gebiete nicht ganz die gleiche sein. In der
Fragestellung liegt bereits die Anerkennung, daß sowohl Wissenschaft
als Kunst an dem Werke der Auslegung mitzuwirken haben; die Antwort
hat eigentlich nur das Gewichtsverhältnis der Beteiligung zu
bestimmen und zu entscheiden, ob es mehr darauf ankommt, daß
Wissenschaft sich in ihrer Anwendung durch Kunstsinn leiten läßt,
oder darauf, daß künstlerisches Denken sich unter wisssenchaftliche
Leitung stellt.


Daß das Verstehen von Kunstwerken, gleichviel, ob man es als
Nacherleben, Nachschaffen, Einfühlen, Sichhineinversetzen oder von |#f0279 : 255|

innen gewonnenes Anschauen des Seelischen bezeichnet, auch bei rein
rezeptivem Verhalten mehr als alles andere Verstehen von den Organen
künstlerischen Schaffens getragen werden muß, liegt auf der
Hand. Für Kunstverstehen, mehr noch für Kunsterklären als Anweisung
zum Verstehen und am meisten für Besprechen eines Kunstwerkes
in darstellender Vermittlung seines alle Eindrücke verbindenden Sinnes
ist künstlerisches Empfinden und künstlerische Darstellungsgabe
unerläßliche Voraussetzung.


Dem unmusikalischen Menschen fehlt mit dem Gehör jede Empfänglichkeit
zum Genießen eines Musikwerkes. Wie sollte er es verstehen
können, geschweige denn anderen verständlich machen? Der
Mensch ohne angeborenen Schönheitssinn wird vielleicht einer gewissen
Geschmacksbildung fähig sein, aber ohne ein farbenhungriges
Auge, ohne das feinste Fingerspitzengefühl des Tastsinnes, ohne rhythmisches
Mitschwingen im Hinblick auf Bau und Gliederung, ja ohne
einen gewissen Antrieb zum Nachbilden der aufgenommenen Sinneseindrücke
wird er nicht imstande sein, über Werke der bildenden
Kunst ein selbständiges Urteil zu gewinnen und anderen die Augen zu
öffnen. Ebensowenig wird ein Mensch ohne motorisches Körpergefühl
und mimische Ausdrucksgabe auf die Bewegungseindrücke der Tanzkunst
oder des Schauspiels mit Verständnis eingehen können.


Vollends erweist sich der amusische Mensch blind und taub gegenüber
den Werten der Dichtung, und wenn es so ist, können alle Methoden
der Welt sein Gebrechen nicht heilen. Es bleibt der Satz des
Empedokles in Geltung, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt werden
könne, und es stellt sich das Gleichnis des Plotin ein, das Goethe
zu seiner berühmten Anwendung umprägte:


„Läg' nicht in uns des Gottes eig'ne Kraft,
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?“

Die Dichtung ist weder Ohrenkunst allein noch Augenkunst, sondern
Kunst allseitiger Phantasiesinnlichkeit, und wenn der Dichter mit
allen Sinnen das Leben in sich aufgenommen und ihm seinen Sinn
gegeben hat, so muß der Verstehende mit gleicher Sinnesanspannung
im Auditiven, Visuellen und Motorischen das gestaltete Leben entgegennehmen
und seinen Sinn begreifen. Bewegliche Phantasie muß
auf alle Anregungen eingehen; sie muß Bilder und Gleichnisse in
lebendige Vorstellung umsetzen, muß Farben-, Licht- und Klangreize
empfinden, Wohllaut, Rhythmus und Dynamik der Sprache erfühlen,
innere und äußere Bewegung miterleben, Landschaft und Innenräume
schauen und ihre Stimmung einatmen, menschliche Züge durchdringen |#f0280 : 256|

und Charaktere erfassen, Affekte und Sehnsüchte durchbeben, Handlungen
in ihrer Folgerichtigkeit und ihren notwendigen Folgen
erkennen, Vordeutungen merken und Spannungen spüren und in allem
den Sinn des Ganzen erfassen, des Zusammenhanges aller Glieder
bewußt sein und die Begegnung mit dem Geiste suchen, aus dem das
Werk hervorgegangen ist. Und schließlich bedarf es nicht nur sprachlichen
Feingefühls, um Stil und Form der Dichtung persönlich zu
begreifen, sondern eine dem Dichter gewachsene und ihm sich angleichende
Sprachkunst allein kann die Eindrücke zusammenfassen, die
sein Werk erweckt. Denn literarisches Verstehen ist letzten Endes
nicht Sache eines Einzelnen, sondern einer Gemeinschaft, deren Vorsprecher
der Besprechende ist. Der Dolmetscher einer großen Dichtung
aber steht mit seiner Gemeinde nicht vor dem unmittelbaren
sinnlichen Eindruck des sichtbaren oder hörbaren Werkes selbst, wie
im Museum oder im Konzertsaal, sondern, weil das Wesen der Dichtung
Phantasiesinnlichkeit ist, muß er sie mit Phantasie begreifen; er
muß sie als Geist erscheinen lassen und ihr dazu die notwendige Atmosphäre
schaffen. Besprechen ist Beschwören, ein Heraufbeschwören
des Geistes, der in dem Werk verborgen ist und alle Teile zusammenhält.
Antwortet der Geist nicht dem an ihn ergangenen Ruf, so ist er
entweder nicht vorhanden, oder der Berufende versteht nicht die in
Anwendung zu bringende Zauberformel. Es ist, wie der Romantiker
Friedrich Schlegel in Anklang an Jakob Böhme, an Schelling und an das
Faust-Fragment ausgesprochen hat, eine Art magische Handlung, die
hier zu verrichten ist: „Wer entsiegelt das Zauberbuch der Kunst und
befreit den verschlossenen heiligen Geist? Nur der verwandte Geist.“


Man kann danach sagen, daß der Deuter der Dichtung ein versetzter
Dichter sein sollte. Kein Eigenschöpfer, dessen Geist eine ihm gehörige
Welt aufbaut, sondern vielleicht ein gehemmter Dichter, der
mangelnde Schöpfungskraft durch Einfühlung ersetzt und seinen
Lebensdrang in einem zweiten Leben erfüllt findet, gleich dem Übersetzer,
der in Mitempfindung und Nachgestaltung fremde dichterische
Welten sich anzueignen vermag, wenn er ihre Sprache versteht, oder
gleich dem Schauspieler, der mit seiner Menschengestaltung gedichtetem
Leben Deutung gibt, indem er es sinnvoll erfühlend nachlebt und
nachspricht. Die Hemmungen eigenen Schaffens begünstigen das Nachschaffen:
sie lenken verborgene dichterische Gaben in die Bahn des
Verstehens; sie verweilen bei beobachtendem Erkennen und gelangen
in angewandtem Kunstsinn auf die Wege der Wissenschaft, die nun
der Sinndeutung ihr Ziel setzt und das Erkannte Begriff werden läßt.
So wird auch beim Verstehen des Kunstwerkes Tatsache, was Hans |#f0281 : 257|

R. G. Günther vom Verstehen des Menschen sagt, daß es nicht ein
Wiederverwirklichen von bereits Verwirklichtem sei, sondern grundsätzliches
Entwirklichen in Umbildung, Symbolisierung, Typologisierung
und Projektion eines plastischen Gebildes auf eine Ebene.


Dieser Vorgang kann bis zur begrifflichen Prägung einer schlagwortartigen
Formel führen, als Schlüssel, auf dessen Druck alle geheimnisvollen
Pforten der Dichtung aufspringen sollten. Hat der
Dichter selbst solche Losung ausgegeben, so scheint man sich getrost
ihm überlassen zu dürfen, aber man wird doch selten mehr als einen
bloßen Wink zum Verstehen finden. Wenn z. B. Heinrich von Kleist
das Verhältnis zwischen „Penthesilea“ und „Käthchen von Heilbronn“
dem Plus und Minus der Algebra gleichsetzt, so ist das nur ein verbindlicher
Hinweis auf die innere Verwandtschaft der beiden polar
entgegengesetzten Frauencharaktere, in denen das widerspruchsvolle
Wesen des Dichters sich spiegelt. Kündigt Jean Paul seinen „Titan“
als „den großen Kardinal- und Kapitalroman“ an, so bestimmt er
damit nur die Stellung, die er diesem Werk in seinem Gesamtschaffen
beimißt. Bezeichnet Friedrich von Hardenberg das Thema seines
„Heinrich von Ofterdingen“ als „Poesie der Poesie“ im Gegensatz zur
„Poesie der Prosa“, die in Goethes „Wilhelm Meister“, dem „Candide
gegen die Poesie“, herrsche, so zeigt er damit mehr ein Mißverstehen
Goethes, als daß er dem Verstehen seines eigenen Werkes die letzte
Pforte öffnet. Nennt Gottfried Keller seinen „Grünen Heinrich“ während
der Qualen der Umarbeitung den „alten Sündenroman“ und den
„dämonischen Simpel“, so beweist sein Überdruß, daß er kein Verhältnis
mehr zur Urgestalt hatte. Manches Dichterwort kann sogar
bedeuten, daß der Verfasser sich selbst und sein Werk schließlich nicht
mehr verstanden hat.


Gefährlicher noch sind geistreiche oder oft nur witzige Schlagworte
feuilletonistischer Kritik. Wenn Goethes „Faust“ die „deutsche Göttliche
Komödie“ und Hölderlins „Hyperion“ ein „griechischer Werther“,
Luthers „Ein feste Burg“ die „Marseillaise des Protestantismus“,
Lessings „Nathan“ der „Zwölfte Anti-Götze“, seine „Emilia Galotti“
ein „gutes Exempel dramatischer Algebra“, Klopstocks „Messias“ ein
„Emblem der Langeweile“, Schillers Wallenstein ein „Ifflandscher
Hofrat in der Uniform des Dreißigjährigen Krieges“ genannt wurde,
so gehen die Beziehungen, Vergleiche und Vorstellungsassoziationen
fast durchweg an Kern und Wesen des zu verstehenden Werkes vorbei.
Die blendende Zauberformel, die ein Sinngebilde des eigenen Geistes
ist, kann eine Fata Morgana aufleuchten lassen, die keinen Aufschluß
gibt und als Blendwerk und Irrlicht sogar zum Mißverstehen verleitet. |#f0282 : 258|

Diese Verfälschung droht dann einzutreten, wenn man allzu geistvoll
wird, d. h. wenn der Geist des Deuters sich selbst ins Licht setzt und
den Geist des Objekts überstrahlen will. Dem ins Innere eindringenden
Verstehen, mit dem das Entstehen und Bestehen des Werkes erhellt
wird, vermag überraschendes Blitzlicht und sprühendes Feuerwerk
keine dauernde Klarheit zu geben.


Weil alles Verstehen sich in Mitteilung umsetzen will und erst in
der Mitteilung zur Klarheit, erst im Widerhall zur Sicherheit gelangt,
sprechen wir von der Deutung als einer aus dem Verstehen erwachsenden
Aufgabe der Literaturwissenschaft. Auslegung ist nach Heidegger
die Ausbildung des Verstehens und Zueignung des Verstandenen. Deutung
fassen wir als die Weitergabe der Auslegung auf. Es handelt sich
darum, die Lebensdeutung, die in der Dichtung enthalten ist, zu verstehen,
und dieses Verstehen muß wieder in Deutung umgesetzt werden,
indem es anderen vermittelt wird. Ist der Dichter ein Mittler
des Lebens, so ist der Ausleger, dem die Deutung zufällt, ein Mittler
des Verstehens. Er hat ohne Preisgabe seines eigenen Standortes sich
in zweifacher Weise einzuleben und hineinzuversetzen in die Seele
des Werkes, das er zu deuten hat, und in die Seele derer, für die er
die Deutung unternimmt. In diesem Sinne muß er drei Sprachen
beherrschen: erstens die der Dichtung, zweitens seine eigene, drittens
die der Hörer, deren Verständnis er erwecken will. Die Deutung steht
in einer dreifachen Abhängigkeit, und die Frage, für wen sie unternommen
wird, ist dabei von nicht geringer Wichtigkeit.


2. Die Wertung


Mit der Deutung verbinden wir als etwas Untrennbares die Wertung.
Zwar hat man von Wertfreiheit gesprochen, namentlich beim
geschichtlichen Verstehen, und hat in der voreingenommenen Beurteilung
eine trübende Gefährdung des Verständnisses befürchtet.
Aber solche Objektivität ist beim Kunstwerk nicht zu erzwingen, weil
der Sinn bereits einen Wert darstellt und weil im Verstehen notwendigerweise
eine Bewertung sich herstellen muß. „Alles verstehen“
heißt hier nicht „alles verzeihen“, sondern: alles als sinnvoll und
zweckmäßig erkennen. Im Gelingen dieser Erkenntnis liegt eine
Urteilsbildung, im restlosen Gelingen sogar nichts anderes als Bewunderung.



Dem Verstehen sind Grenzen gesetzt nach unten und nach oben;
der Sinn liegt, wie Gomperz gesagt hat, zwischen den Gegensätzen
von Sinnfreiheit und Sinnlosigkeit. Man kann in der Allgemeinverständlichkeit |#f0283 : 259|

einen Wert erblicken; Bürger, der Erneuerer der deutschen
Volksballade, hat sogar die Popularität geradezu als das Siegel
der Vollkommenheit gepriesen. Aber man kann nicht einmal sagen,
daß Allgemeinverständlichkeit und Volkstümlichkeit gleichbedeutend
seien; volkstümlich ist vielmehr gerade das, was Zusammenhänge,
die nicht auf der Oberfläche liegen, herzustellen aufgibt, wie Rätsel,
Sprichwort, Gleichnis, Symbolik. Das Allzuverständliche, Alltägliche,
Platte, das der Sinneserfühlung und -deutung gar keine Aufgabe stellt
weder in Form noch Gehalt, bleibt unter der Grenze des Verstehenswerten,
denn das Verstehen beginnt erst angesichts eines Unverstandenen.
Stefan George soll es sogar geradezu als ein Zeichen der Minderwertigkeit
erklärt haben, wenn ein Dichter von allen verstanden
würde.


Etwas an sich Unbedeutendes kann immerhin verstehenswert sein,
wenn es in weiter zeitlicher und räumlicher Ferne liegt, den Rest
einer verlorenen Welt oder eines verschlossenen Seelenlebens darstellt,
und als dessen bescheidener Sinnträger zu betrachten ist. Insofern
stellen auch die harmlosesten künstlerischen Lebensäußerungen der
Naturvölker ihre Aufgabe des Verstehens, die in einer Überbrückung
der weiten Ferne zu lösen ist. Auch der primitivste Volkssang übt
einen ästhetischen Reiz aus, ohne daß sein Sinngehalt irgendwelche
Probleme zu stellen scheint; vielmehr muß das Verstehen hier auf die
symbolischen Ausdrucksformen des einfachsten Gefühlslebens und auf
sein Miterleben gerichtet sein. Darin hat Hermann Ammann sehr
richtig zwischen dem logischen Zusammenhang anderer Geisteserzeugnisse,
die überpersönliche Gültigkeit beanspruchen, und dem Bewußtsein
seelischer Gemeinschaft, den das lyrische Gedicht hervorbringt,
unterschieden, daß er dort das Verstehen mit Begreifen, hier mit Ergriffenwerden
gleichsetzt.


Aber der Wert mehrt sich, wenn Überpersönliches und Persönliches
zusammentrifft, und er steigert sich beim Ineinandergreifen ästhetischer,
sozialethischer, religiöser und politischer Gegebenheiten; er
wächst im Ringen um das Verstehen, in der Verwicklung und Tiefendimension
der Probleme, die es zu enträtseln und in einheitlicher
Sinnesklarheit als kunstvollen Zusammenhang zu begreifen gilt. Dieser
Möglichkeit sind indessen Schranken gesetzt. Zwar hat Goethe von
den poetischen Produkten gesagt: „Je inkommensurabler, desto besser!“
und er hat sich nicht gescheut, in seine Altersdichtung manches
hineinzugeheimnissen, was nicht jeder verstehen konnte und sollte.
Aber wo eine Sinneseinheit überhaupt nicht zu gewinnen ist, wo der
beherrschende Geist im Dunkel bleibt und sich auf keinen Ruf enthüllen |#f0284 : 260|

will, schwindet der Wert, und was durchaus unverständlich
bleibt, scheint nicht die erfolglose Mühe zu lohnen, die an die Deutung
verschwendet wird.


Wo liegen indessen die Grenzen? Was ein Verfasser selbst nicht
verstanden hat, muß, auch wenn der sprachliche Aufwand noch so
groß ist, als künstlerisch mißglückt betrachtet werden. Aber wenn
alles, was sinnlos zu sein scheint, ohne weiteres als wertlos verworfen
wird, so besteht die Gefahr voreiliger Aburteilung, die schließlich
nicht die Unverständlichkeit, sondern den Unverstand bloßstellt.
Sinnlos erscheint jedes Wortgebilde, dessen Sprache man nicht versteht,
und wenn das Objekt gleichwohl seine unerkannte Intention
besitzt, so liegt die Schuld des Nichtverstehens beim Subjekt, das sich
nicht bemüht hat, die ihm fremden Hieroglyphen und Chiffren lesen
zu lernen. In seinem paradoxen Fragment „Über die Unverständlichkeit“
hat Friedrich Schlegel es geradezu als Vorzug gepriesen, wenn
die harmonisch Platten gegenüber einem irrationalen Geisteswerk
hilflos bleiben. Das Heil der Familien und Nationen, der Staaten
und Systeme wollte er von dem Unbegreiflichen abhängig sein lassen:
„Ja, das Köstlichste, was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit
selbst, hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem
solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber
auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke
verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte.“


Die dunklen Offenbarungen eines Jakob Böhme, eines Hamann sind
mit ihren sprachlichen Schwierigkeiten durch das zähe Bemühen,
jeden Begriff und jeden einzelnen Ausspruch aus der Gesamtheit einer
eigenartigen Gedankenwelt und ihrer Zusammenhänge zu erklären,
erhellt worden. Der Gedankengang eines schwer verständlichen Werkes
ist schwerlich in blitzartiger Intuition mit einem Handstreich ohne
Vorbereitung zu bezwingen. Erst nachdem ein Trommelfeuer Bresche
geschlagen hat, kann der Angriff der Vordringenden und Nachdringenden
den Drahtverhau aller Hindernisse überwinden. Dank der Gemeinschaftsarbeit
eines Jahrhunderts darf man den zweiten Teil des
„Faust“ heute nicht mehr als unverständlich und wertlos verspotten.
Goethe selbst schrieb einmal an Heinrich Meyer, der rechte Leser des
Faust werde sogar mehr finden, als er selbst ─ der Dichter ─ geben
konnte. (20. 7. 31.) Auch Rilkes „Duineser Elegien“ erschließen beim
ersten Lesen schwerlich den tiefen Zusammenhang ihrer Lebensauffassung,
wenn sie auch durch die Bilder, durch die sprachliche Bewegung
und ihren Wohlklang gefangennehmen. Aber eine eifrige Forschung
ist auf dem Wege, dank der brieflichen Hinweise des Dichters und |#f0285 : 261|

dank systematischer Sinnesdeutung ihrer eigenen Sprache und ihrer
Grundvorstellungen das durchdachte System einer Harmonie von Gedanken
und Aufbau zu erkennen und damit erst den vollen Wert dieser
Dichtungen als Lebensdeutung zu erobern. Selbst die Wahnsinnsgedichte
eines Hölderlin verlangen Achtung. Wenn ihre Sprache
kaum verständlich scheint, so ist sie doch kein sinnloses Lallen, gleichviel
ob man sie als Abglanz früherer Sinngebung und Nachklingen des
wohllautenden Instrumentes oder als Offenbarungen eines dem
Irdischen Entrückten werten will. Selbst wenn das einzelne Stück für
die Auslegung nicht viel Neues hergibt, behalten sie doch Wert und
Bedeutung in ihrer Zugehörigkeit zum Gesamtwerk des Dichters.


Die wertende Deutung des Einzelwerkes kann sich zweierlei Aufgaben
stellen. Sie kann alle Elemente der Analyse als einen Akkord
empfinden, so daß in ihrem völligen Sinneszusammenhang eine Erscheinungsform
des Geistes und der vollendete Ausdruck einer tiefen
Idee begriffen wird. Sie kann zweitens in genetischer Erfassung,
wenn Erlebnis und Anstoß bekannt sind, die während der Ausführung
sich steigernde und zur vollkommenen Bewältigung der erlebten
Schicksalsprobleme reichende Verwirklichung der künstlerischen
Absicht als Auswirkung eines inneren Gesetzes verfolgen. Wenn
diese beiden Wege zusammentreffen, kommt die höchste Bewertung
des Kunstwerkes zustande, das schließlich „schlank und leicht, wie
aus dem Nichts entsprungen“, von aller stofflichen Schwere entbunden
vor dem verstehenden Beschauer schwebt. Nachdem es alle Proben
bestanden hat, kann es als eine von den Entstehungsbedingungen
losgelöste, erlebnistranszendente Objektivation des Geistes betrachtet
werden, als Durchbildung des Gehaltes in reiner Gestalt, als freies
Sein, als Erfüllung jener klassischen Idee des Schönen, das selig in
sich selbst ist.


Indessen gibt es auch Dichtungen, deren Sinn nicht in ihrer Form
aufgeht, sondern deren Bedeutung über sie selbst hinausreicht kraft
einer von ihrem Gehalt ausgehenden Wirkung, die sich nicht im
Ästhetischen erschöpft. Sie laden nicht zu ruhiger Betrachtung ein,
sondern rütteln zu leidenschaftlicher Erregung auf. Das sind Werke
der anspannenden, energischen Schönheit, wie sie Schillers Ästhetik
in Gegensatz stellte zur schmelzenden, lösenden Wirkung. Im religiösen,
vaterländischen, humanitären und sozialen Gemeinschaftserleben
liegen überästhetische Wirkungen, deren Ruf mit nicht geringerer Leidenschaft
beseelt, als Leid und Freud persönlichen Erlebens. Volksgeist
oder Zeitgeist, mit dem die Sinngebilde geladen sind, bilden einen
Sprengstoff für die reine Form, und wenn ihre befreiende Explosivkraft |#f0286 : 262|

die Mauern der Befangenheit niederlegt, so werden Tausende
taumelnd im Sturm mitgerissen.


Nationalhymnen, Choräle, Kriegslieder und Marschgesänge politischer
Bewegungen bewähren ihre zündende Wirkung erst als Verschmelzung
von Text und Melodie in verbindendem Gemeinschaftsbekenntnis.
Sie werden getragen von einem unterirdischen Strom der
Geschichte und führen mit sich die unbewußte Erinnerung an unzählige
Quellen der Begeisterung, die mit ihnen hervorbrachen. Die heiligende
Weihe kann solchen Gesängen schon mit der Entstehung zuteil geworden
sein oder bei späteren Anlässen sich gesteigert haben (der
Choral von Leuthen); aber sie können bei versickerndem Strom ihre
Wirkungskraft wieder verlieren wie die Geißlerlieder des Mittelalters
oder das Rheinlied von Nikolaus Becker. Dann ist ihr Wert nur noch
ein geschichtlicher, der uns Lebensziele und Zeitstimmung vergangener
Perioden in ihren Massensuggestionen verstehen läßt.


Auch im Drama stellen sich durch räumliche oder zeitliche Bindung
außerästhetische Beziehungen zum Leben der Gemeinschaft her.
Schillers „Wilhelm Tell“ steigerte erst durch Volksaufführung am
Vierwaldstätter See, dem Schauplatz des Geschehens, seinen Wert als
Schweizer Nationalfestspiel. Die geistlichen Dramen des Mittelalters
haben erst durch den Feiertag, für den sie bestimmt waren, ihre
Weihe erhalten. Ähnliche Wirkung stellt sich heute noch alljährlich
dar, wenn Vondels „Gisbert van Amstel“ in Amsterdam zu Silvester
gespielt wird oder Goethes „Faust“ an den beiden Ostertagen in
Weimar oder endlich Wagners „Parsifal“ an vielen Orten als Karfreitagsaufführung
und außerdem nach dem Willen seines Schöpfers
regelmäßig in den Bayreuther Festspielen.


Solch symbolischer Bedeutungswert wird mancher Dichtung erst
lange nach ihrem Entstehen zuteil. Ein Drama, wie Kleists „Hermannsschlacht“
ist in seinen leidenschaftlichen Haßverzerrungen und
seinem furchtbaren Wirklichkeitssinn entstehungsgeschichtlich zu
begreifen aus der Zeitlage, die die Gleichung zwischen Hermann ─
Marbod und Preußen ─ Österreich einerseits, zwischen den Römern
und Napoleon andererseits der tragenden Freiheitsidee auferlegte.
Die Deutung des Werkes muß auf die damalige Aktualität eingehen,
ohne daß damit das volle Verstehen gewonnen ist, denn dazu ist die
Ganzheit der deutschen Geschichte als Hintergrund notwendig. Zur
Zeit des Entstehens ist die von Kleist beabsichtigte politische Wirkung
keine geschichtliche Tatsache geworden, ebensowenig zur Zeit
des Erscheinens. Als das Werk zehn Jahre nach dem Tode des Dichters
ans Licht gezogen wurde, mußte der Aufruf, der noch 1813 gezündet |#f0287 : 263|

hätte, im Leeren verhallen. Die politische Wirkung hat sich erst in
späteren Zeiten eingestellt. Es tritt also in Erscheinung, was Nicolai
Hartmann als „geschichtliches Aufrücken künstlerischer Schöpfungen“
bezeichnet hat. Das Werk ist nun nicht mehr rein historisch zu betrachten
als dramatisiertes Flugblatt, das zum gemeinsamen Befreiungskampf
Preußens und Österreichs aufrufen wollte und seine Wirkung
damals verfehlt hat; die Gestalt des Realpolitikers Hermann ist auch
nicht mehr als Vorläufer Bismarcks zu würdigen; jetzt vielmehr, nachdem
die Auferstehung der Nation neue Begriffe von Einheit und Freiheit
mit sich gebracht hat, kann die hier gestaltete Idee des politischen
Führertums als großartige Vorausnahme aller geschichtlichen Erfahrung
aufgefaßt werden. Ähnliches geschah in den Jahren des Zusammenbruchs,
als Grabbes „Hannibal“ aus der Vergessenheit auftauchte
und erschütternde geschichtliche wie menschliche Analogien
erkennen ließ.


Wenn man in der allgemeingültigen Weisheit und dem Sehertum
einer Dichtung nicht nur das eigene Zeitgeschehen sich spiegeln sieht,
sondern in solcher Bewährung geradezu eine auf bestimmte gegenwärtige
Ereignisse und Zustände gerichtete Weissagung sehen will, läuft
man wiederum Gefahr, Beziehungen in eine Dichtung hineinzulegen,
die ihr nicht innewohnen. Es handelt sich bei derartiger Wiederkehr
des Gleichen um innere Gesetze und geschichtliche Notwendigkeiten
des Geschehens und um wiederholte Objektivierung des Geistes. Die
überzeitliche Gültigkeit der Idee offenbart sich gleicherweise im geschichtlichen
Verlauf wie in der dichterischen Gestaltung. Hier muß
der lebende Geist dem objektivierten Geist der Dichtung verstehend
entgegenkommen, ohne ihn seiner Freiheit zu berauben. Es darf nichts
untergelegt werden, was dem Werke nicht innewohnt, aber die Auslegung
wird immer das finden, was dem eigenen Standort am nächsten
liegt. Deshalb wird die Deutung aller Dichtungen und insbesondere
der größten, die die Zeiten überdauern, immer in einer Wandlung begriffen
sein und sich niemals in einer endgültigen Formel befestigen.


3. Wandelder Werte


Am klarsten kommt die ständige Metamorphose der Deutung bei
der Aufführung von Dramen und in der Gestaltung von Bühnencharakteren
zur Erscheinung. Die Theatervorstellung ist die sinnfälligste,
anschaulichste und eindringlichste Deutung, die einer Dichtung
zuteil werden kann, aber zugleich die willkürlichste, weil der
Darsteller sich nicht selbst aufgeben darf, sondern als Ausleger in |#f0288 : 264|

voller Person sich einsetzen muß. Man braucht nur an die Bühnenschicksale
des „Hamlet“ oder „Faust“ zu denken, um zu beobachten,
wie jedes Zeitalter seine eigene Auffassung solcher Stücke durchführt.
Jeder selbständige Darsteller versteht seine Rolle anders, und darin
findet nicht nur die Wandlung des Bühnenstils ihren Ausdruck, sondern
auch die veränderte Stellungnahme zum Sinn der Dichtung.


Es ist richtig, wenn Nicolai Hartmann zum Wesen der ästhetischen
Schau überhaupt eine synthetische Ergänzung von seiten des
Schauenden hinzurechnet, die in ihrem Spielraum der Freiheit des
Künstlers verwandt ist. Insbesondere steht diese Freiheit dem deutenden
Ausleger zu, der Aktualität der Wirkung zu suchen hat und andere
lehren muß, das Werk vom Standort und Geist der Zeit aus zu verstehen.



Es mag sogar an den Satz Kants erinnert werden, daß es nichts
Ungewöhnliches sei, einen Verfasser besser zu verstehen, als er sich
selber verstand. Ist dieser Ausspruch auf philosophische Wahrheiten
gemünzt, so kann er bis zu einem gewissen Grade auch in der Dichtungsdeutung
Bestätigung finden, ohne daß zu dem oben (S. 227 f.)
Gesagten ein Widerspruch entsteht. Wenn die Dichtung Gefäß göttlicher
Ideen ist, so kann sie sehnsuchtsvolle Vorahnungen künftiger
Erfüllung enthalten, die dem Verfasser kaum bewußt werden. Im
Mittelpunkt von Grimmelshausens „Simplizissimus“ steht beispielsweise
jene Weissagung eines Irren, der sich für den Gott Jupiter hält
und die Absicht verkündet, einen teutschen Helden zu erwecken, der
die ganze Welt bezwingen und zwischen allen Völkern Frieden stiften
werde. Die äußere Einkleidung scheint nichts als Hohn und Spott
über utopische Phantastereien anzudeuten, und so haben es vielleicht
die meisten Zeitgenossen verstanden, soweit sie nicht den wehmutsvollen
Kontrast zur Wirklichkeit empfanden. Aber der Inhalt der Verheißung
ist keineswegs verworren, wenn er auch alles zusammenschließt,
was in einem Jahrtausend an mystischen Erwartungen und rationalen
Erwägungen, wie die Welt zu bessern wäre, gehegt wurde, von den
apokalyptischen Märchenvorstellungen eines Wunderschwertes, das
alle feindliche Gewalten bannt, bis zum Auftreten eines aus dem Volk
aufsteigenden Diktators nach Art Cromwells in England und den neuen
Projekten wissenschaftlicher Organisation, wie sie Leibniz vertrat.
Um die Bedeutung der patriotischen Phantasie, die alles in einem
großen Wunschtraum vereinigt, zu verstehen, muß man sich der Herkunft
und der Beziehungen der Motive bewußt sein. Dann erweist
es sich als undenkbar, daß Grimmelshausen alles, was im deutschen
Volke seit Jahrhunderten als heilige Hoffnung und Sehnsucht lebte, |#f0289 : 265|

und alles, was an vernunftgemäßen Gedanken der Weltbesserung seiner
eigenen Zeit neue Wege zeigte, verhöhnen wollte. Die Absicht war
vielmehr, ein hohes Ideal als Gegenbild der trostlosen Gegenwart aufleuchten
zu lassen. Die Möglichkeit dazu boten jene literarischen Formen,
mit denen Moscherosch und seine Fortsetzer in Gesichten, Giordano
Bruno, Trajano Boccalini und andere in Göttergesprächen ihre
Urteile über Zeit und Welt ausgesprochen hatten. Grimmelshausen
konnte indessen im realistischen Roman nicht Jupiter selbst auftreten
lassen; so ließ er den Narren seine Rolle spielen, und es gelang ihm
durch einen genialen optischen Kunstgriff, in die Mitte des düsteren
Zeitbildes einen starken idealistischen Lichteffekt zu werfen, ohne daß
er sich zu dem Glauben, der seiner Sehnsucht entsprach, offen zu bekennen
brauchte. Vielmehr blieb er von Anfang bis Ende seiner
Schriftstellerei der skeptische Weltbetrachter, der im Zwielicht zwischen
den Gegensätzen von Schwarz und Weiß, von Höhe und Tiefe
sich mit gesundem Menschenverstand und Wissenstrieb zu behaupten
suchte.


Je mehr aber mit der Zeit die politische Wirklichkeit sich wandelte
und je mehr sich von dem, was vollkommen irreal erschienen war,
realisierte, desto mehr gewann die Verheißung an Gegenwartsnähe,
und desto ernstere Bedeutung fiel ihr zu. Schließlich war das Auftreten
dieser der Wirklichkeit entrückten Wirklichkeitsgestalt nicht
mehr als Episode, sondern als ideeller Mittelpunkt des Romans zu
verstehen, an dem die Probleme von Weltwirken und Weltabkehr,
von Wahn und Wahrheit, von beständiger Unbeständigkeit sich mit
dem Hintergrund der Zeitlage verknüpfen und zugleich von ihm
ablösten.


Grimmelshausens Roman ist ein treffendes Beispiel für das Wachsen
einer Dichtung im Laufe der Jahrhunderte. Der abenteuerliche Simplizissimus
hat auch als Buch seine Abenteuer gehabt. Damit ist nicht
der äußere Zuwachs gemeint, nämlich das sechste Buch und die Kontinuationen,
mit denen der Dichter selbst sich den geschlossenen Aufbau
verdarb, sondern das allmähliche Reifen, das dem Wirklichkeitssinn
kommender Zeiten und seinem Verstehen immer neue Seiten
erschloß. Von den lehrhaften Zeitgenossen trotz seines buchhändlerischen
Erfolges oder vielleicht gerade deswegen als elende Lumpenscharteke
verkannt, von den Nachahmern zerpflückt und zu Tode gehetzt,
wurde dieses bis auf den Namen des Verfassers in Vergessenheit
geratene Werk Grimmelshausens erst von den Romantikern wieder
ausgegraben; aber es wurde auch in der Folgezeit mehr als Kulturbild
denn als Kunstwerk geschätzt, bis man das Wunder des Zusammenklanges |#f0290 : 266|

von Gehalt und Form erlebte und neben der planmäßigen
Durchführung die Echtheit und Ursprünglichkeit volksverwurzelter
Lebenshaltung zu würdigen begann. Die Belesenheit des fleißigen
Exzerptors, die Anlehnung an Motive des Schelmenromans und der
Schwankliteratur und die Hineinziehung des Wissensschatzes fremder
Kompendien in seine eigene kleine Welt ist dieser Anerkennung nicht
im Wege. Der Vergleich mit den fremden Mustern zeigt vielmehr
gerade die Eigenart und Arteigenheit des Volksschriftstellers. Die
echt deutsche Haltung des besinnlichen Humors ordnet ihn der Linie
zu, die mit vielen Unterbrechungen von Wolfram von Eschenbach bis
zu Jean Paul und Wilhelm Raabe führt. Grimmelshausen konnte unter
die ewigen Deutschen aufgenommen werden, und diese Bewertung ist
es schließlich, die seinem Werk als dem wahrsten Ausdruck deutscher
Art, den jene Zeit finden konnte, Eingang in die Weltliteratur zu bahnen
im Begriff ist.


Die größten Dichtungen sind es, die im Aufstieg durch die Jahrhunderte
ihre Kraft bewähren, indem sie jeder Zeit etwas Neues, das
gerade für sie gesprochen zu sein scheint, zu sagen imstande sind.
In ihrem Reichtum bleiben sie dennoch unergründlich. Die Deutung
des Goetheschen „Faust“ findet kein Ende, und namentlich der zweite
Teil offenbart immer neue Ausblicke auf Lebensfragen der Gegenwart.
Aber man muß dieser Symbolik ihr Fließendes lassen, ohne den
ewigen Strom in einen Fischteich abzuleiten, aus dem man schmackhafte
Leckerbissen für die Tagesmahlzeit angelt. Man darf die Deutung
nicht festnageln auf erzwungene Aktualität, wie es in manchem
Faust-Kommentar geschehen ist. In solcher Didaktik bekennt das
Verstehen selbst seine ephemere Beschränktheit und setzt dem unendlichen
Leben der Dichtung ein endliches Ziel, durch dessen Treffpunkte
sie zur brauchbaren Tendenzschrift erniedrigt wird.


Goethe selbst hat sich manchmal Gedanken gemacht über die Antizipation
des Lebens durch die Dichtung; im eigenen Leben und Schaffen
hatte er Gelegenheit, die gestaltende Vorausnahme kommender Ereignisse
zu beobachten. Im Grunde ist jede große Dichtung ihrer Zeit
voraus und überragt sie. Wer am Fuße des Berges steht, sieht nicht
den Gipfel; der wächst, wenn man ihm näher kommt, aber das scheinbare
Wachsen hat seinen Grund im Aufsteigen und allmählichen Hinterherkommen
des Verstehens.


Weit häufiger als der Anstieg ist indessen die entgegengesetzte
Bewegung zu beobachten. Während Goethes klassische Werke einen
viel langsameren Weg zur allgemeinen Anerkennung gehen mußten,
als etwa dem „Werther“ beschieden war, haben die Werke anderer |#f0291 : 267|

Poeten den Gipfel ihres Erfolges gleich bei Erscheinen im Sturmlauf
errungen und sind dann von Stufe zu Stufe herabgesunken, bis sie
in völlige Vergessenheit untertauchten oder nur als Denkmäler unbegreiflicher
Geschmacksverirrung dem Gedächtnis erhalten blieben.
Der Überschätzung durch die Zeitgenossen folgte schon bei der nächsten
Generation eine abgestumpfte Gleichgültigkeit, die sich zum
Überdruß oder gar zur Verachtung steigerte, so daß weder der einstige
Erfolg noch das Werk selbst mehr verstanden werden konnte.
Übrig bleibt höchstens noch eine aufschlußgebende Bedeutung für
das geschichtliche Verstehen des Zeitalters, das solche Werke hervorbrachte,
und für den Geschmack, der sie zum Erfolge kommen ließ.


Man muß bei der Beurteilung derartigen Bedeutungswandels zwei
verschiedene Gruppen auseinanderhalten, deren Schicksale als Spekulationserfolg
und Modeerfolg zu trennen sind. Auf der einen Seite
stehen die Werke, die dank geschickter Berechnung und sicherer
Technik einen Massenerfolg errangen, der ihnen auch gegenüber
gewissen Publikumsinstinkten treu bleibt. Sie wurden indessen von
ernsthafter Kritik ihrer Zeit bereits als unecht bekämpft, wie das
etwa der Fall war bei Kotzebues Bühnenreißern, die zur klassischen
Zeit selbst über Deutschlands Grenzen hinaus den Spielplan beherrschten
und ihre unverwüstliche Wirkung auch heute noch nicht
ganz verloren haben. Zur anderen Gruppe sind Werke zu rechnen,
die zu ihrer Zeit nicht nur die Durchschnittsleserschaft, das „Man“,
von dem Heidegger spricht, sondern die Besten und Einsichtigsten
zu kritikloser Begeisterung hinrissen, weil darin neue Provinzen des
Seelenlebens erschlossen und den edelsten Gefühlen des Zeitalters
Ausdruck gegeben wurde. Als Beispiele solcher Wirkung sind die
moralischen Familienromane zu nennen.


„Unsterblich ist Homer,
unsterblicher bei Christen
der Brite Richardson“

lautete ein Epigramm Gellerts, das Lügen gestraft wird durch die
Tatsache, daß diese Modelektüre der empfindsamen Zeit heute nur
noch unter historischen Gesichtspunkten zu würdigen ist. Die Zeit
ist darüber hinweggegangen. Ein ähnlicher Fall ist der des Humoristen
Lawrence Sterne, bei dessen Tod Lessing schrieb, daß er ihm
mit Vergnügen ein paar Jahre von seinem eigenen Leben geschenkt
hätte, dem Jean Paul, der ohne ihn kaum zu denken wäre, die Totalität
eines Welthumors zusprach, und von dem Goethe wünschte, daß
auch das 19. Jahrhundert „wieder erführe, was wir ihm schuldig
sind, und einsähe, was wir ihm schuldig werden können“. Sein |#f0292 : 268|

„Tristram Shandy“ heißt für einen ernsthaften Dichter unserer Zeit
wie E. G. Kolbenheyer „eine Monstrosität, die heute kein vernünftiger
Mensch auszulesen imstande ist“.


Die verschiedenartigen Erscheinungen des Zeiterfolgs stellen unterschiedliche
Ansprüche an ein geschichtliches Verstehen. Im Fall der
Spekulationserfolge muß es von der typischen, für jedes Zeitalter in
gleichem Maße geltenden Eindrucksfähigkeit und Geschmackshaltung
der großen Menge, im Fall des Modeerfolges von der charakteristischen
Geistesbeschaffenheit eines bestimmten Zeitalters den Ausgang
nehmen; im einen Fall liegen die Elemente der Analyse, durch deren
aufdringliches Hervortreten das Gleichgewicht gestört wird, bei
Situationen, Absicht und Technik, im anderen Fall bei Wirklichkeitsauffassung,
Weltanschauung und Problemen; im einen Fall ist das
Phänomen des Erfolges mehr soziologisch, im anderen Fall mehr
geistesgeschichtlich zu begreifen.


Neben den stetigen Entwicklungsrichtungen des Steigens und Sinkens
ist aber auch die fluktuierende Bewegung eines wechselnden
Auf und Nieder als häufige Erscheinung zu verfolgen. Nicht nur die
Bewertung einzelner großer Werke, etwa der „Äneis“ des Vergil oder
des Klopstockschen „Messias“, hat im Lauf der Jahrhunderte periodische
Schwankungen durchgemacht; auch das Nachleben einzelner
Dichter zeigt in wechselnder Wertschätzung den Zickzacklauf einer
Fieberkurve. Namentlich steht, wie wir schon sahen, die Statistik
des Bühnenspielplans wie ein Wetterhäuschen vor uns, das über
Sonne und Niederschläge im Schicksal des Dramatikers Rechenschaft
gibt. Selbst die Klassiker sind von den Schwankungen nicht unberührt;
es hat Zeiten der Shakespeare-Erweckung, der Goethe-Ferne,
der Schiller-Renaissance und der Grabbe-Entdeckung gegeben, denen
dann wieder Gegenschläge folgten. Unter den attischen Tragikern
steht bald Aischylos, bald Sophokles, bald Euripides an der Spitze;
ebenso schwankt das Stilbild der französischen „haute tragédie“ im
Kurs. Für die Stil- und Geistesrichtung ganzer Zeitalter wie Barock,
Sturm und Drang, Romantik gab es im Urteil der Nachwelt Hausse
und Baisse. Aber diese Schwankungen sind weder als mechanisches
Gesetz noch als Walten des Zufalls zu verstehen, sondern als Wandlungen
des Geschmacks, der Empfänglichkeit und seelischen Bereitschaft
zum Mitgehen, wie der ästhetischen Grundsätze und der
Autoritäten, deren Geltung von unzähligen, kaum übersehbaren Faktoren
des Zeiterlebens abhängig ist.


Selbst die Dichtungsgattungen haben oftmalige Verschiebung ihres
Gewichtsverhältnisses erlebt; es gab epische, lyrische, dramatische |#f0293 : 269|

Epochen gemäß dem Stoff und den Problemen des Zeiterlebens, aber
die Wertschätzung stimmt nicht immer mit der Produktionsstärke
überein. Beispielsweise hat die deutsche Poetik des 17. und beginnenden
18. Jahrhunderts dem Heldenepos traditionell den ersten Rang
zuerkannt, und es hätte nicht an Gegenständen für epische Darstellungen
gefehlt; trotzdem ist jene Zeit gerade auf diesem Gebiet unfruchtbar
gewesen. Etwas Ähnliches ist es, wenn Meister der Novelle
wie Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer und Paul Heyse mitten
in der Blütezeit der Erzählungskunst nach dem Lorbeer des Dramatikers
hungerten. Auch die stammhafte Veranlagung für Pflege
einer bestimmten Gattung kann sich wandeln. Während die Schweiz
im 16. Jahrhundert in einer Blütezeit dramatischen Schaffens stand,
ist im 18. und 19. Jahrhundert dieser Strom versiegt. Während
Österreich im Mittelalter Stammland des Minnesanges war, ist im
19. Jahrhundert die Lyrik so sehr hinter dem dramatischen Trieb
zurückgetreten, daß man geradezu die lyrische Unfruchtbarkeit eines
Grillparzer als sein „bayrisches Erbe“ bezeichnen konnte.


Endlich sind für die Stellung der Dichtung überhaupt gegenüber
den anderen Künsten Wertschwankungen im Gesamtbewußtsein von
Volk und Menschheit zu beobachten. Die periodische Generationsfolge,
in der Wilhelm Pinder die Entfaltung von Architektur, Plastik,
Malerei und Musik aneinanderreihte, nahm zwar die Dichtung von der
Einordnung in diese schematische Entwicklung aus, aber einen rhythmischen
Wechsel ihrer Leistung und Einschätzung wird man gleichwohl
innerhalb jeder Kultur kennen. Und schließlich hat sogar die
Geltung der Künste überhaupt im Verhältnis zu anderen Kulturwerten
ihr Auf und Nieder erlebt.


Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Leistungshöhe und Empfänglichkeit,
bei der man kaum im einen die Ursache des andern
erkennen kann. Haben die Künstler, in deren Hand der Menschheit
Würde gegeben ist, ihr Publikum erzogen, oder sind sie von ihm
emporgetragen worden, wie jener Hamburger Pfahlbürger meinte, der
beim Abschied des großen Schauspielers Schröder ausrief: „Wie hefft
em billd't.“? Sind in klassischen Zeitaltern die Künste groß geworden,
weil man sie zu schätzen und zu fördern verstand, oder sind die
Künste so hoch geschätzt worden, weil sie in unerreichter Blüte standen?
Oder ist es ein einheitlicher Zeitgeist, der Entstehen und Verstehen
im Gleichgewicht hält? Dem widerspricht die oben gezeigte
Erscheinung des Aufrückens und Wachsens ebenso wie die verschiedenartige
Abhängigkeit der Künste von wirtschaftlichem Aufstieg,
politischer Macht und völkischem Willen, wovon die Baukunst wohl |#f0294 : 270|

den stärksten, die Dichtkunst, wenigstens in Deutschland, vielleicht
den geringsten Eindruck gibt.


Jedes einzelne Werk, jeder Dichter, jede Dichtungsepoche hat ihre
Wirkungsgeschichte, in der sich zunächst weniger ihr eigenes Wesen
kundgibt als die wechselnde Richtung der Zeiten in den Widersprüchen
ihrer Beurteilung. Nur indirekt, insofern das Verstehen eine
Verwandtschaft, das Mißverstehen ein Abgewandtsein des jeweiligen
Zeitgeistes gegenüber Werk und Dichter offenbaren, sind Rückschlüsse
aus der Wirkung auf die Wesensart eines Werkes möglich.
Vielleicht kann man aus der Spannweite der Pendelschwingung kontrastierender
Urteile etwas über Sicherheit oder Unsicherheit des
Wertes erschließen.


Die Wirkungsgeschichte bietet der Geschmacksgeschichte kaum nennenswertes
Material, wenn sie keine unbegreiflichen Widersprüche
aufweisen kann. Je überschwänglicher dagegen Lob und Tadel
auseinandergehen, desto weniger ist ein objektiver, fester Wert zu
erkennen, und desto mehr dienen die Urteile zur Charakteristik
derer, die sie aussprachen, so daß Wirkungsgeschichte mit Geschmacksgeschichte
gleichzusetzen ist. Je geringer die zeitlichen
Gegensätze ausschwingen, desto mehr kann die Wirkungsgeschichte
zur Wertbestimmung beitragen. Wenn sich die Schätzung des Werkes
geschichtlichen Schwankungen entzieht, nähert sie sich jener unerschütterlichen
Wertbeständigkeit, die Nicolai Hartmann das „Stehenbleiben
des Monumentalen“ nennt. Es gibt aber auch literarische
Denkmäler aus ältesten Zeiten, deren einstmalige Wirkungskraft nur
aus der Tatsache ihrer Erhaltung zu erschließen ist, wie schon bei
der Frage der Überlieferung (S. 69 f.) erörtert wurde. Ihr Wert bleibt
von jedem Wandel des Geschmackes unabhängig, weil er in ihrem
Alter, in ihrer Einmaligkeit, ihrer repräsentativen Bedeutung für
Zeitalter, Sprachstand, Bildungswelt beruht. Die Erhaltung der
Patina als einer darüber liegenden Schicht, die dem ursprünglichen
Kunstwerke nicht angehörte, verbietet eine tieferbohrende Analyse.
Die Deutung aber darf sich nicht auf das Einzelwerk beschränken,
sondern sie muß ihre Schlüsse ziehen auf die Beschaffenheit einer
ganzen Kultur, als deren Sinnbild das erhaltene Teilstück zu verstehen
ist.


4. Wertmaßstäbe


Die Quersumme geschichtlicher Urteile, die zum Mythus geworden
ist, darf dem Ausleger eines Werkes nur als Bestätigung eigener Eindrücke,
nicht als wesentliche Grundlage seines eigenen Verstehens |#f0295 : 271|

bedeutungsvoll werden, selbst wenn er in der dauernd von ihr ausstrahlenden
Wirkung die eigentliche Existenz einer Dichtung erkennen
will. Die Überschau über alle von ihr ausgeübten Eindrücke und
über alle im Laufe jahrhundertelanger Geltung gefällten Urteile entheben
ihn nicht der Pflicht, den Wert aus eigenem Eindruck zu
begründen.


Der objektivierenden Rechenschaft über das persönliche Erleben
eines Kunstwerkes und dem Übergang zu seiner Deutung und Wertung
können drei Maßstäbe dienen, von denen der erste mehr die
innere Beziehung des Werkes zum Dichter, der zweite mehr den nach
außen gehenden Eindruck des Werkes auf den Betrachtenden, der
dritte die Beziehung des Werkes zur Welt erfassen will. Der eine
trifft die seelische und menschlich-individuelle Bedeutung des Werkes
mit der Frage nach der Echtheit, der zweite die ausstrahlende
Kraft des Werkes mit der Frage nach der Größe, der dritte
die Weltbeziehung und gültige Bedeutung des Werkes mit der Frage
nach seiner Sinnbildhaftigkeit. Jeder dieser Maßstäbe ist
in vierfacher Richtung anzuwenden als Einschätzung nach dem
ästhetischen, dem ethischen, dem religiösen, dem
volkhaften Wert.


Auf die Fläche gebracht stellt die Kreuzung dieser Wertkategorien
sich in folgendem Schema dar:


ästhetischethischreligiösvolkhaft
Echtheit
Größe
Sinnbildhaftigkeit

a) Echtheit:


Im ästhetischen Eindruck offenbart sich die Echtheit als
widerspruchsloser Einklang und organisches Gleichgewicht aller Elemente,
die sich bei der Analyse ergeben haben, also der Harmonie
zwischen innerer und äußerer Form, zwischen Erlebnis und Gestaltung,
zwischen Stil und weltanschaulicher Haltung, zwischen Technik und Problemen,
zwischen sprachlicher Darbietung und Idee. ─ Die ethische
Echtheit tritt aus dem gewissenhaften Ernst hervor, mit dem Probleme
und Ideen aus der Tiefe eigensten Erlebnisses geschöpft und als folgerichtige |#f0296 : 272|

Grundanschauungen, Erziehungsgedanken und charaktervolle
Lebensmaximen durchgebildet sind. ─ Die religiöse Echtheit
offenbart sich als Innerlichkeit wahrhaften Bekennertums, das aus
Zwang der Überzeugung und Kraft der Entscheidung hervorgeht. ─
Die volkhafte Echtheit wurzelt in arteigenem Verwachsensein
mit dem Empfinden der Gemeinschaft und in dem rassebewußten Verantwortungsgefühl
einer Gegenwart, die mit Geschichte und Zukunft
des eigenen Volkes und der Menschheit sich verknüpft fühlt.


In jeder der vier Kategorien ist aber auch eine Wertverneinung als
Feststellung der Unechtheit möglich. Die Gegensätze liegen auf dem
Felde des Ästhetischen im Einseitig-Artistischen, in spielerischer
Routine, angelernter Effekthascherei und unorigineller Nachahmung,
die kein selbsterrungener organischer Ausdruck des eigenen künstlerischen
Willens ist. ─ Auf dem Felde der Ethik ist das Unechte
im Konventionell-Moralischen, in verlogenen Gefühlen, falscher Sentimentalität,
unsicher schillernder Koketterie oder frecher Frivolität
zu finden, was sowohl in der Gesinnung des Dichters als in den dargestellten
Charakteren und in der Motivierung der Handlung zum Ausdruck
kommen kann. ─ Auf religiösem Boden liegt das Unechte
im Mangel fester Weltanschauung, in haltlosem Zwiespalt und Widersprüchen,
in Pietätlosigkeit, erheucheltem oder verleugnetem Glauben
und starrem Dogmatismus, der die Bekenntnisformen nicht mit persönlichem
Leben und erkämpfter Überzeugung zu erfüllen vermag. ─
In der Beziehung auf das Volkhafte wirkt unecht jede Verleugnung
der angestammten Eigenart und jedes manierierte Nachlaufen hinter
fremden Moden.


Es ist nun die Frage, ob Echtheit oder Unechtheit in allen vier
Kategorien durchaus übereinstimmen werden, oder ob ein positiver
Wert in der einen Richtung sich mit Wertlosigkeit in anderen Beziehungen
vermengen kann. Es ist denkbar, daß, wie z. B. im Fall
Heine, eine künstlerische Echtheit im Ästhetischen bestehen mag, der
aber keine Festigkeit im Ethischen und Religiösen gegenübersteht,
während die vierte Kategorie subjektive Echtheit im Bekenntnis der
rassischen Heimatlosigkeit und aller ihrer Folgewirkungen, aber objektive
Unechtheit in bezug auf den erhobenen Anspruch der Volkhaftigkeit
zur Erscheinung kommen läßt. Dabei bleibt zweifelhaft,
ob das Echte oder Unechte schon im einzelnen Werk zum unverkennbaren
Augenschein werden kann, oder ob erst der Vergleich
mehrerer Werke, ja der Überblick über das gesamte Schaffen und der
Blick auf die Persönlichkeit des Dichters aus Einheitlichkeit oder
Widersprüchen endgültige Schlüsse erlauben.

|#f0297 : 273|

b) Größe:


Im ästhetischen Eindruck stellt sich die Größe zunächst als
ein organisches Verhältnis zwischen den äußeren Proportionen des
Umfangs und der menschlichen, schicksalhaften oder sogar kosmischen
und metaphysischen Bedeutung des Gegenstandes dar, wie etwa in
Dantes „Göttlicher Komödie“ oder in Goethes „Faust“. Dazu kommt
Kraft und Reichtum der Darstellung in allen Formen des Sprachausdrucks,
im Format der Menschengestaltung und der göttlichen Erscheinungen,
in der Naturbetrachtung und in aller Motivierung des
Geschehens. ─ Die ethische Größe kommt in der Tragweite der
behandelten sittlichen Probleme und ihrer Lösung zum Ausdruck, wie
in der Gestaltung der Charaktere und ihrer Motive, im idealistischen
Wollen, im Pflichtgedanken, in Opferbereitschaft und in der Selbstbehauptung
des Menschen gegenüber einem unerbittlich waltenden
Schicksal. ─ Die Größe des religiösen Gehaltes beruht auf leidenschaftlicher
Glaubenskraft und sehnsüchtiger Hingabe, auf unendlichem
Weltgefühl und metaphysischer Blickrichtung. ─ Die Größe
des Volkhaften liegt in der Bezogenheit des Einzelschicksals auf
das Ganze, in weiter geschichtlicher Schau, im lebendigen Verantwortungsgefühl
gegenüber der Gemeinschaft und in bewußter politischer
Haltung.


Auch hier kann der Gesamteindruck absoluter Größe beeinträchtigt
werden durch Mangel an Gleichgewicht; es können Verzeichnungen
eintreten durch verhältnismäßige Überbetonung einer bestimmten Wertkategorie,
z. B. der ethischen Probleme und Gedanken in Schillers
„Jungfrau von Orleans“, wie in den meisten Dramen Hebbels und
Ibsens, der religiösen Gefühle in Zacharias Werners „Martin Luther“,
des Politischen in Heinrich von Kleists „Hermannsschlacht“ und des
bodenständig Volkhaften im Gegenstück Grabbes. Es kann die ästhetische
Wirkung darunter leiden, daß die Durchführung in ihrer Gestaltungskraft
sich dem Gehalt als nicht ebenbürtig erweist wie bei
der alltäglichen Lustspielhandlung, die um die Ringparabel in Lessings
„Nathan“ herumgelegt ist, oder in Jean Pauls Romanen bei ihrer
manchmal in Gefühlsseligkeit zerfließenden Breite.


Die negativen Werte des Kleinen und Niedrigen offenbaren sich als
Bedeutungslosigkeit des Vorwurfs und Schwächlichkeit des Ausdrucks
im Ästhetischen, als menschliche Belanglosigkeit, Gleichgültigkeit,
Gefühllosigkeit und Roheit im Ethischen, als schwankende
Unsicherheit gegenüber dem Walten des Zufalls, als Verschwommenheit,
Unselbständigkeit oder Glaubenslosigkeit im Religiösen, als |#f0298 : 274|

dekadente Pathographie, zersetzender Psychologismus und überhebliche
Einzelgängerei im Volkhaften. Ganze Zeitalter werden durch
repräsentative Werke dieser Art in ihrer Kleinheit gekennzeichnet, so
daß der Verfasser, der dem Geist der Zeit seine Stimme lieh, kaum
die volle persönliche Verantwortung zu tragen hat. Auf der anderen
Seite können deshalb Vorzüge liegen, die jenen Werken einen geschichtlichen
Wert als Ausdruck ihrer Zeitstimmung verleihen. Der
Wahrheitsfanatismus, die unerbittliche Elendsmalerei von Degeneration,
Laster und Häßlichkeit bei den Naturalisten am Ende des 19. Jahrhunderts
oder der Expressionisten nach dem Weltkrieg haben keine
Größe, aber sie entbehren nicht der Echtheit im Ausdruck materialistischer
Öde oder perversen Zeiterlebens; ebensowenig darf der von ihnen
bekämpften Schönfärberei der vorausgehenden Generationen eine Sinnbildhaftigkeit
für den Geist des üppigen Epigonentums abgestritten
werden.


c) Sinnbildhaftigkeit


Dieser Begriff umfaßt alles das, was ein Werk über sich selbst und
seine Vereinzelung emporhebt und ihm einen bedeutunggebenden
Wert verleiht durch tiefere Beziehungen auf Menschheit und Weltgeschehen,
auf Volk und Zeit, auf Geschlechter und Lebensalter. Auf
ästhetischem Gebiet liegt der sinnhildhafte Wert im symbolischen
Lebensgehalt, in der Naturbeseelung und in der Leuchtkraft, mit der
ewige Ideen durch die Gestalt hindurchschimmern; im Ethischen
erscheint sinnbildhaft der Wirklichkeitssinn, der das Schicksal als
Weltgesetz unter dem Gesichtspunkt notwendigen Geschehens walten
läßt und für jeden Konflikt allgemein gültige Lösungen von typischer
Bedeutung findet. Im Religiösen tritt die Sinnbildhaftigkeit als
Ausdruck unmittelbaren inneren Gotteserlebnisses beim Einzelnen wie
als Glaubensform, die eine Gemeinschaft umfaßt, in Erscheinung; im
Volkhaften als schicksalmäßige Gebundenheit an die Gemeinschaft
und als Spiegelung des Ganzen in Sprache, Charakteren, Lebensbräuchen,
Gesinnung und Denkweise.


Den Gegensatz bildet das, was aus Mangel an Sinnbildhaftigkeit
bedeutungs- und beziehungslos ist. Es erscheint im Ästhetischen
als abstrakte Konstruktion und seelenlose Beschreibung, im Ethischen
als das leere Spiel des Zufalls oder die mechanische Kausalität
des Determinismus, im Religiösen als nihilistischer Materialismus,
im Volkhaften als Beziehungslosigkeit zur Gemeinschaft. Das
Sinnbildhafte gehört so sehr zum Dichterischen, daß man sich ein |#f0299 : 275|

formvollendetes Werk ohne symbolische Bedeutung überhaupt nicht
denken kann und daß das Fehlen jeder sinnbildhaften Züge nicht nur
Wert und Gültigkeit sondern geradezu den Charakter der Dichtung
aufhebt. So erblickte schon der junge Hebbel als werdender Dichter
in der Symbolisierung seines Innern durch Schrift und Wort die Aufgabe
seines Lebens.


Sinnbildhafte Werte können bereits in den einzelnen Teilen einer
Dichtung sichtbar werden. Dazu gehört ein bloßer Titel, der, wie
„Sturm und Drang“, einer ganzen Periode und ihrem Wirrsal den
Namen gegeben hat; dahin rechnen Charaktere, in denen sich wie in
Parzival, Werther oder Hyperion religiöse Erlebnisse, Zeitstimmungen
oder Freiheits-. Lebens- und Bildungssehnsüchte eines Standes, einer
Gesellschaft, eines Kulturzeitalters und eines Volkes spiegeln oder auch
deren Schwächen in humorvoller Selbstkritik offenbaren. So darf
Ibsens Peer Gynt sinnbildhaft genannt werden für den Norweger, wie
de Costers Ulenspiegel für den Flamen, Cervantes' Don Quixote für
den Spanier, Daudets Tartarin für den Südfranzosen, Jacobsens Niels
Lyhne für den Dänen, Lewis' Babbitt für den Nordamerikaner.


Zu diesen bezeichnenden Volkstypen gehören auch alle die Sagen-
und Schwankhelden anonymer Herkunft, in denen die Phantasie eines
Stammes oder einer Landschaft sich charakterisiert und verkörpert;
ebenso werden geschichtliche Gestalten durch Mythisierung sinnbildhaft,
und es kommt darauf an, wie ein Neugestalter diese Wesenszüge
persönlich erfaßt. Motive sind sinnbildhaft, wenn sie als bezeichnend
und deutend auf die Charakteristik einer Zeitlage, eines Stammes oder
bestimmter geschichtlicher Vorgänge übertragen werden können; so
symbolisieren die rasch dahinsterbenden indischen Blumenmädchen
in Lamprechts „Alexander“ die kurze Dauer der höfischen Dichtung,
oder jene „Frau Welt“, die in der Erzählung Konrads von Würzburg
dem Herrn Wirnt von Gravenburg gegenübertritt, stellt die Nichtigkeit
aller ritterlichen Ehren und Freuden dar als bezeichnend für den Verfall
der höfischen Ideale.


Das Sinnbildhafte ist endlich der Bereich, in dem allein die Ideen
zu sichtbarer Gestaltung gelangen können, ohne als Allegorien abstrahiert
zu werden.


Sinnbildhaft repräsentative Bedeutung kann ein einzelnes Werk für
die Gesamtleistung seines Dichters gewinnen ebenso wie ein einzelner
Dichter sinnbildhaft werden kann für die ganze Dichtung seines Zeitalters
und die geistige Haltung seines Volkes.

|#f0300 : 276|

d) Geltung


Die Anwendung dieser Wertmaßstäbe führt durchweg vom einzelnen
Werk zur Persönlichkeit seines Schöpfers, selbst wenn diese unbekannt
sein sollte. Dem Namen nach kann sie unbekannt bleiben; als Mensch
tritt sie gleichwohl in greifbaren Umrissen hervor und erweckt Liebe,
wenn die Echtheit ihrer Natur sichtbar wird, wenn ihre Größe erscheint
und wenn die Vertretung der Heimat, des Stammes, der Rasse, aber
auch der Generation und des Zeitalters in der Eigenart jedes Werkes
sich ausspricht. Gleichgültigkeit und Abneigung entstehen, wenn die
Proben der Echtheit, Größe und Sinnbildhaftigkeit nicht bestanden
werden. Während Liebe dauerndes Weiterleben verbürgt, pflegen die
Gegenstände der Gleichgültigkeit und der Abneigung sich unrettbar in
Vergessenheit zu verlieren.


Mit der Frage nach Geltung der Werte innerhalb einer umfassenden
Darstellung und nach der Rolle, die dem einzelnen Werk und der einzelnen
Dichtergestalt in der Literaturgeschichte beschieden sein kann,
soll dem letzten Buch des zweiten Bandes nicht vorgegriffen werden.
Aber im Rückblick auf bisher Besprochenes ist jetzt schon daran festzuhalten,
daß das einzelne Werk, wenn es nicht als Mannequin in einer
Modeschau des Zeitgeschmacks unterzubringen ist, sondern selbständige
Bedeutung beansprucht, nur durch die Beziehung zu seinem Schöpfer
in die Literaturgeschichte eingefügt werden kann. Der Name des Dichters
sagt nichts, wenn die Werke fehlen, wie etwa bei Heinrich v. Ofterdingen
oder Bligger v. Steinach. Aber das Werk ist obdachlos ohne
Vorstellung von seinem Dichter. Fehlt der Name, so lebt der Dichter
doch unter dem seines Werkes, etwa so wie ein unbekannter Bildhauer
als Naumburger Meister oder ein unbekannter Maler als Meister des
Marienlebens zur geschichtlichen Persönlichkeit werden kann. Es ist
beinahe so wie mit Voltaires Gottesbegriff: wenn es ihn nicht gäbe,
müßte man ihn erfinden, wie es denn auch mit unbekannten Größen,
als welche Homer oder der Dichter des Nibelungenliedes erscheinen,
geschehen ist. Sie leben in ihren Werken bis zu jener Ewigkeit, von
der einmal Caroline Schelling ein hyperbolisches Bild entworfen hat:
„Kritik geht unter, leibliche Geschlechter verlöschen, Systeme wechseln,
aber wenn die Welt einmal aufbrennt wie ein Papierschnitzel, so
werden die Kunstwerke die letzten lebendigen Funken sein, die in das
Haus Gottes gehen ─ dann erst kommt Finsternis.“

|#f0301 : E277|

ZWEITES BUCH: DER DICHTER

ERSTER HAUPTTEIL

DAS LEBEN

Eh' er singt und eh' er aufhört,
Muß der Dichter leben.   Goethe.


1. Grundsätzliches


Die Grenze zwischen analytischer und synthetischer Literaturwissenschaft
scheint den Begriff des Dichters mitten zu durchschneiden.
Nicht als ob durch diese Trennungslinie eine Begriffsspaltung einträte
und die organische Einheit des Dichters in ihrer Totalität, Substanz
oder Grundauffassung sich veränderte. Aber Sehweise und Richtung
der Beleuchtung wechseln. Es ist, als ob zwei Hälften gleich den entgegengesetzten
Phasen des Mondes sich ablösten, wobei die jedesmal
belichtete Seite nach außen scharf begrenzt ist, während sie innen zu
einem ungewissen Dunkel hin sich öffnet. Man hat geradezu von
einer „Antinomie“ zwischen Persönlichkeit und Werk in der biographischen
Darstellung gesprochen; wiederum hat man sich bemüht,
durch Untertitel wie „Der Mann und das Werk“ die beiden einander
ergänzenden Teile des Ganzen zusammenfassend in Beziehung zu
setzen. Dabei stellt das Kollektivum „Werk“ als Einheit von vielerlei
eine Synthese dar, während die Einzahl „Mann“ nach Analyse verlangt.
Von anderer Richtung aus gesehen kann es sich aber umgekehrt
verhalten: ebenso wie die einzelnen Werke Gegenstand der Analyse
waren, wird im Begriff des Dichters sich alles das synthetisch vereinheitlichen,
was aus der Einzelbetrachtung der Werke für das Bild
ihres Schöpfers zu gewinnen war. So sind Analyse und Synthese
eigentlich nicht zu trennen; sie müssen in ständiger Wechselwirkung
bleiben, wie es J. Huizinga für die Geschichtswissenschaft formuliert
hat: „Um die Analyse beginnen zu können, muß im Geist bereits eine
Synthese vorhanden sein.“


In der Sehweise einer Dichtergeschichte, wie sie oben (S. 65 f.)
gefordert wurde, stellt der Einzelne nicht weniger dar als die Summe
des von ihm Geschaffenen. Oder sogar mehr, insofern das organische
Ganze der Gestalt die Addition der Teile an Wert übersteigt. Zunächst |#f0302 : 278|

aber führt bereits die Zusammenfassung zu einer Einheit. Der Weg,
der ausging von der im Text vorliegenden Leistung, führt weiter zu
den anderen Texten gleichen Ursprungs und findet schließlich sein
Ziel im Dichter. Der Dichter bildet den Abschluß der Perspektive,
die Zusammenfassung und den Treffpunkt, auf den man von verschiedenen
Seiten hingeführt wird; er bedeutet den Generalnenner
für die „Gesammelten Werke“, von denen jedes einzeln verstanden
sein will, ehe aus ihrer Vielfältigkeit das Gesamtbild der literarischen
Persönlichkeit sich ergibt. Der Durchbruch zu dieser wesenhaften
Einheit, in der alle Schöpfungen ihren unmittelbaren Ursprung haben,
kann als erste Etappe zusammenschauender Synthese betrachtet
werden.


Von da aus eröffnen sich im Blick auf Vorgänger, Gleichstrebende
und Nachfolger die Perspektiven einer literarhistorischen Einreihung.
Man kann auch tiefer schauen und weiter zurückgehen, indem man,
wie Josef Nadler zur Begründung seiner Familien- und Stammestheorie
ausgeführt hat, die Persönlichkeit als etwas von allgemeineren
Mächten Abhängiges und Bewirktes betrachtet. Damit würde der
Urheberbegriff zum Anfangsglied einer höheren Begriffsbildung.


Vorerst aber müssen wir bei der vermittelnden Ursacheneinheit haltmachen,
ohne bereits das nächsthöhere Ganze in jenen allgemeineren
Mächten zu suchen. Alles geht durch den Dichter. Es gibt keine
unmittelbare Abhängigkeit eines Werkes von einem anderen; sie ist
nur mittelbar möglich, indem der Verfasser des einen dem Einfluß
des anderen erlegen ist. Selbst ein Plagiat charakterisiert den Plagiator
und wird nur durch seine Wesensart verständlich. Es gibt keine
bestimmenden Einwirkungen von erziehenden Bildungsmächten, Standesauffassungen,
gesellschaftlichen Anschauungen, Strömungen des
Zeitgeistes und religiösen Erlebnissen, die nicht zunächst die Persönlichkeit
des Schöpfers erfaßt hätten, ehe sie in seinen Werken zum
Niederschlag kommen konnten. Auch die Zugehörigkeit zu Rasse,
Volkstum, Stamm und Familie ist immer durch die Lebenseinheit des
Einzelnen vermittelt.


Dabei scheint das Leben des Dichters allerdings nur insoweit in
Betracht zu kommen, als es dichterisch gestaltet ist oder wenigstens
für die Gesamtheit der Werke einen Rahmen bildet, der sie in ihrer
Folge und Gliederung überschauen läßt. Der Philosoph Benedetto
Croce will deshalb überhaupt nicht die menschliche, sondern ausschließlich
die dichterische Persönlichkeit, nicht das Grundwesen des
Dichters, sondern nur die Entwicklung seiner Kunst zum Gegenstand
der Untersuchung werden lassen. Im biographischen Prinzip sieht er |#f0303 : 279|

eine natürliche Neugier, die zur Enttäuschung führen kann, wenn sich
hinter dem Künstler, Philosophen und Mann der Wissenschaft weniger
Anteilerregendes findet, als man erwartet hatte. Diese Enttäuschung
hat beispielsweise Friedrich Hebbel erlebt, als er den vorher von ihm
vergötterten Ludwig Uhland in Tübingen besuchte. Trotzdem wird
man sagen dürfen, daß der Eindruck des Menschen oberflächlicher
war, als das vorangegangene Erlebnis des Dichters, und daß sich bei
näherem Umgang auch das Verhältnis zum Menschen vertieft hätte.


Aber kann nicht umgekehrt die Erwartung übertroffen werden?
Und kann sich nicht auch die entgegengesetzte Enttäuschung einstellen,
wenn ein Werk in seiner Wirkung nicht das erfüllt, was
man sich nach der Person des Verfassers versprochen hatte? Die
Zielrichtung ist umgekehrt, sobald die Einheit der schöpferischen
Persönlichkeit bekannt ist und die verschiedenartigen Werke als ihre
Ausstrahlung aufgefaßt werden müssen. Der Fall scheint vornehmlich
in der Gegenwart möglich, in unmittelbarer Lebensnähe eines Dichters,
dessen Persönlichkeit uns vertraut, dessen äußere Erlebnisse uns bekannt
sind, den wir beim Schaffen beobachten und dessen entstehenden
Werken als neuen Selbstoffenbarungen mit Spannung entgegengesehen
wird. So schreibt z. B. Heinr. v. Kleist an Friedr. de la Motte
Fouqué, als er dessen neuestes Werk erwartet und von seinem eigenen
„Zerbrochenen Krug“ eine Probe sendet: „Die Erscheinung, die am
meisten, bei der Betrachtung eines Kunstwerks, rührt, ist, dünkt mich,
nicht das Werk selbst, sondern die Eigentümlichkeit des Geistes, der
es hervorbrachte, und der sich, in unbewußter Freiheit und Lieblichkeit,
darin entfaltet.“


Für wissenschaftliche und geschichtliche Betrachtungen kann ein
ähnliches Verhältnis auch in der Vergangenheit gegeben sein, wenn
das Leben eines Dichters sich vollständig vergegenwärtigt, wenn seine
Persönlichkeit in außerdichterischen Zeugnissen, Bekenntnissen und
Taten offen vor uns liegt, wenn Dasein und Persönlichkeit menschliche
Werte darstellen auch ohne Bezug auf die Werke. Wenn, wie
Friedrich Schlegel von Lessing sagte, er selbst mehr wert war als alle
seine Talente, dann können die Dichtungen als Beiwerk des Lebens
betrachtet werden. Sie gleichen den Planeten im Kreislauf um die
Sonne oder dem Ring des Saturn, der die Erscheinung des Ganzen
formgebend bestimmt, oder den Monden, die sich um das Gestirn bewegen,
aus dem sie hervorgingen und an das sie, wenn auch äußerlich
losgelöst, nach ihrem inneren Gesetz gebunden bleiben.


Zwar klagte ein Dichter wie Anton Wildgans, daß die Sehnsucht,
„eins zu sein mit seinen dunklen Taten“, keine Erfüllung finde:

|#f0304 : 280|

Aber immer haben die ihr Leben
Abgetrennt von mir und neben
Mir geführt wie kühle Saaten,
Die die Hände, jene mühevollen,
Die sie säten, nicht erkennen wollen.

Trotzdem bleiben die Werke bei allem Trennungsschmerz Fleisch und
Blut des Dichters; sie gehören ihrer Substanz nach zu seinem Leben
und werfen ihr Licht auf den Urheber zurück als Ausprägungen seines
Wesens. Die Aufhellung ihres Lebenszusammenhanges wird also zu
einem Mittel, die schon bekannte Wesensart des Schöpfers in tieferem
Einblick zu erschließen. Die Werke dienen der Deutung des Lebens.
So sah Wilhelm Dilthey in der Biographie die literarische Form des
Verstehens von fremdem Leben und den inneren Ausgangspunkt zur
Entwicklung einer psychologischen Wissenschaft.


Man kann allerdings fragen, ob nicht eine Biographik, für die
Seelenkenntnis zum Selbstzweck wird, mit mehr Recht dem Bereich
der allgemeinen Menschenkunde als dem der Literaturwissenschaft
zuzurechnen sei. Aber kann Seelenkunde überhaupt Selbstzweck sein?
Kein Charakter vermag psychologisch zu interessieren, den nicht
außergewöhnliche Leistungen, Handlungen oder mindestens Anschauungen
auf irgendeinem Gebiet bedeutungsvoll machen. Die gestellte
Frage wird für die Literaturwissenschaft wesenlos, wenn die Probleme
der Biographie sich auf nichts anderes als auf die seelischen Ursprünge
der Kunstwerke beziehen.


Die Einsicht in den Schaffensvorgang, die man als Biographie des
literarischen Werkes bezeichnen kann, wird zur Analyse des Dichters,
sobald das psychologische Verstehen sich nicht mehr auf die im Kunstwerk
dargestellten Vorgänge richtet, sondern statt des gestalteten Seelenlebens
die gestaltenden Kräfte sucht. Dann wird die Entstehungsgeschichte,
die außerhalb des Werkes einsetzt, in allen ihren Bindungen
nacherlebt. Sind die genetischen Verbindungslinien, die vom Dichter
zum Werk führen, aufgedeckt sowohl für jede einzelne Dichtung wie
für das gesamte Schaffen, so kann man auch den umgekehrten Weg
zurücklegen und, vom Werke aus an den Dichter anknüpfend, die Beziehungen
suchen, die sich zwischen seinem Leben und seinen Schöpfungen
offenbaren. Aus diesen Zusammenhängen ist der dichterische
Mensch zu analysieren.


Namentlich durch die mehr oder minder positivistische Methodenlehre
der Franzosen Henequin Lacombe, Paulhan, Paschal, Audiat
ist die Dichteranalyse in den Mittelpunkt aller literarhistorischen Aufgaben
gestellt worden. Die Psychologie des Dichters wird nach dieser |#f0305 : 281|

Einstellung begrenzt auf der einen Seite durch die ästhetische Analyse
des Werkes, auf der anderen durch die soziologische Analyse der Umwelt.
So wenig indessen die im dritten Hauptteil des ersten Buches
besprochene Werkanalyse sich allein auf die ästhetische Beurteilung
beschränken konnte, so wenig vermag die jetzt in den Mittelpunkt
tretende Analyse des Dichters mit Individualpsychologie oder Psychoanalyse
sich zu erschöpfen. Vielmehr kann eine zur Normierung und
Typisierung neigende psychologische Betrachtungsweise höchstens gewisse
gesetzmäßige Verbindungslinien herstellen zwischen zerstreuten
Wesenszügen, die bei Sammlung des biographischen Materials gewonnen
werden. An der Deutung dieses Materials und an der Zurückführung
auf seine Ursachen müssen alle anderen Wissenschaften vom Menschen,
zum mindesten Anthropologie, Biologie, Charakterologie und
Soziologie Anteil nehmen.


Es sind teils der Naturwissenschaft teils der Gesellschaftswissenschaft
angehörige Hilfskräfte, die schon Wilhelm Scherer anrief, als
er das Wesen des Dichters mit den drei Kategorien des Ererbten,
Erlebten
und Erlernten zu erfassen glaubte. Das eine betrifft
die Vorwelt, das andere die Innenwelt, das dritte die Mit- und Umwelt
des Dichters. So werden bereits die drei Ordnungen des Raumes, der
Zeit und der Gesellschaft vorweggenommen, denen, wie im dritten
Buch zu zeigen ist, der Einzelne zugeteilt werden kann. In seinen
Lebensraum ist der Dichter hineingeboren als Glied eines Volkes, eines
Stammes, einer Familie und als Erbe seiner Ahnen. Die Lebenszeit,
die von Geburt und Tod begrenzt ist, bringt ihn in Schicksalsgemeinschaft
mit seiner Generation und läßt ihn an allem Geschehen teilnehmen.
Der Lebenskreis, in dem er sich bewegt, vermittelt die Einflüsse,
die in seinem Schaffen sich spiegeln.


An der bequemen Formel Scherers haben geisteswissenschaftliche
Psychologie, Intuitionsphilosophie und Phänomenologie nachmals
wegen der darin zutage tretenden positivistischen Orientierung scharfe
Kritik geübt. Heute, da die schroffe Scheidung von Natur und Geist
sich wieder gemildert hat und die Schlagbäume zwischen naturwissenschaftlicher
und geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung vor biologischer
Betrachtungsweise hinfällig werden, kann die Dreiheit ihre
Auferstehung erleben. Allerdings hat sich das Gewicht etwas verschoben:
das Erlernte dürfte nicht mehr die Bedeutung haben, die
man ihm einst mit mehr oder weniger mechanischer Feststellung
sogenannter „Einflüsse“ beimaß; das Erlebte, das erst durch Dilthey
zum Zentralbegriff erhoben wurde, ist auch nicht mehr allein ausschlaggebend;
das Ererbte dagegen lenkt alles Augenmerk in viel |#f0306 : 282|

höherem Maße, als es zu jener Zeit möglich war, auf sich. Der
Dichter ist zugleich Erbe und Erblasser; er ist ein Mittelglied
mehrerer Ketten und Wirkungsreihen, die in ihm teils Anfang teils
Ende finden. Das rassisch bedingte Körper- und Geistesverhältnis, das
in Leibesbeschaffenheit und Antlitz äußerlich sichtbar wird, führt
bis zu unbekannten Quellströmen der Urzeit zurück; weiter hat der
Dichter im Erbgang Gesinnung und Glauben, Brauch, Recht und
Denkart seines angestammten Volkstums als heiliges Pfand überkommen;
er schaltet und waltet im tausendjährigen Reich der Sprache
und wuchert mit dem ihm anvertrauten Pfunde; er ist mit Kolbenheyers
biologischer Metaphysik zu sprechen in seiner Konstitution
„der erbbedingte Reaktionskomplex und Funktionsexponent des
lebendigen Plasma, das sich auf seinen Anpassungswegen der Individuation
in weiteren und engeren Formen (Art, Stamm, Familie, Einzelwesen
usw.) bedienen muß“.


Der Dichter ist also artgebunden durch das Blut seiner Vorfahren
wie durch Überlieferung und Erziehung seiner Familie. So ist er auch
in seinem Dasein durch Natur, Selbstbestimmung und Pflicht gegenüber
der Gemeinschaft an Fortpflanzung und Mehrung dieses Erbteils
gehalten. Er kann es verschleudern, verschwenden und verleugnen;
er kann es als eine Last mit sich herumtragen und „feindselig gegen
alles Ererbte“ sein, wie Rilke einmal sagte, oder er kann es als etwas
aus dem Bewußtsein Verlorenes suchen wie Chamissos Peter Schlemihl
seinen Schatten; immer verdankt er doch Leben und Existenz den
Wurzeln seines Ursprungs.


Indessen muß gesagt werden, daß auch beim geborenen Dichter
alles, was er als Anlage geerbt hat, nicht mehr bedeuten kann als eine
günstige Empfänglichkeit für die einmaligen göttlichen Gaben des
Genies, die erst durch das Leben zur Entfaltung gebracht werden. Das
Erbteil einer empfindlichen Aufnahmefähigkeit für alle sinnlichen und
gefühlsmäßigen Eindrücke des Lebens, das Erbteil einer kühnen Einbildungskraft,
die aus jenen ins Innere aufgenommenen Lebenseindrücken
eine eigene Weltschöpfung aufbaut, und das Erbteil einer
packenden Ausdrucksfähigkeit in sprachlicher Gestaltung und Formung
des inneren Lebens bilden den Mutterboden, durch den das
Schicksal seinen aufreißenden Pflug zieht, in den die Erlebnisse keimhaltigen
Samen streuen und aus dem ein günstiges Klima reifende
Frucht in sprießendem Wachstum aufgehen läßt. Die rassische, stammhafte
und familienmäßige Erbbedingtheit wird also bei der Analyse
der dichterischen Persönlichkeit die erste Voraussetzung bilden, ohne
daß damit die letzten Zugänge zur Individualität geöffnet wären.

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2. Ererbtes


Rasse, Stamm und Sippe sind die drei Grade körperlicher und geistiger
Erbgemeinschaft, deren Bereich sich über den unendlichen Weg
vom dunkeln Ursprung der Menschheit bis zur Geburt des Einzelnen
erstreckt. Wenn auch die Rasse das Weiteste, räumlich und zeitlich
Umfassendste ist, so gehen die beiden anderen Begriffe doch nicht in
ihrer Summe auf. Aus einer urzeitlichen Rasse können vielerlei Völker
und Stämme hervorgegangen sein, ebenso wie in einem Volk verschiedene
Rassen vermischt sind. In einem Stamm können unzählige
Familien verzweigt sein, ebenso wie in einer Familie der Blutstrom
verschiedener Stämme zusammenfließt. Das Volk ist nicht Teilbegriff
einer Rasse, wenn auch bestimmte Rassenmerkmale in seinem Typus
vorwiegen mögen. Ebenso wenig läßt sich der Stamm, der nach alten
Mythen auf einen Urvater heroischer oder göttlicher Abkunft zurückgeht,
in lauter Familien auflösen, wenn auch die Familie das Sinnbild
und das Fortpflanzungsmittel des Stammes darstellt. Im Laufe der
Jahrtausende sind neue Rassen, im Laufe der Jahrhunderte neue Völker
und Stämme entstanden, und neue Familien bilden sich fortwährend
in rasse- und stammerhaltender oder rassezerstörender Funktion.
Wenn Weltgeschichte und Weltverkehr für Kreuzung von Rassen,
für Ineinanderaufgehen von Völkern und Stämmen, für Wanderung
und Wechsel von Landschaft und Heimat, für Blutverbindung fremder
Familien oder für Seßhaftigkeit, Inzucht und Häufung des Erbgutes
gesorgt haben, so ließ das Würfelspiel des Schicksals aus dem Urbestand
immer neue Mischungen hervorgehen, als deren letzter Wurf
jedesmal ein Einzelner anzusehen ist. In seiner Eigenart müssen wir
die ererbten Züge suchen, weil er in Lebenskräften und Geisteshaltung
durch sie bedingt ist.


Dieses Erbgut kann in der äußeren Erscheinung des Dichters sich
offenbaren. Das Rassische ist in Schädelform, Augen-, Haar- und
Hautfarbe, Körperbau, Haltung, Gang und Ausdrucksbewegungen
erkennbar, während Volkszugehörigkeit und Sprache ebenso wie Geburtsort
und Familienname schon oft zu rassischen Fehldiagnosen
geführt haben. ─ Für die Merkmale des Stammes, dessen rassische
Züge nicht einheitlich zu sein brauchen, kommt als formgebend und
stilbildend die Sprache hinzu. Die Tätigkeit der Gesichtsmuskeln ist
es, die nach Fritz Lange in die ererbte Grundform neue Züge als Eindrücke
von Erlebnissen und Erfahrungen, Umwelt und Beruf einzeichnet.
Wenn vor allem die gewohnheitsmäßige Artikulation der
Sprache gestaltenden Einfluß auf das Antlitz und seine Muskulatur |#f0308 : 284|

ausübt, so können sich typische Erscheinungen herausbilden, wie sie
Willy Hellpach, ausgehend vom „fränkischen Gesicht“, in der Physiognomik
der deutschen Volksstämme beobachtet hat. Schon Lavater
sprach von der Naturgeschichte der Nationalgesichter, und Clemens
Brentano hat in seiner heiteren Novelle „Die mehreren Wehmüller“
Ausdruck und Motiv übernommen. Hellpach will für solche Einheitsbildungen
nicht die Rassenzusammensetzung verantwortlich machen,
sondern sieht sozial-psychische Ursachen in regionalem Temperament
und regionaler Mundart. Zum Wesen des Stammes gehört seine Heimat
und der Boden, mit dem er verwurzelt ist. ─ Als Familienerbteil
endlich übertragen sich zusammen mit Rassen- und Stammesmerkmalen
die konstitutionellen Eigentümlichkeiten, die mit persönlichen
Temperaments- und Charakteranlagen in Übereinstimmung
stehen. Sie sind, wie Ernst Kretschmer gezeigt hat, für Art, Richtung
und Stil des dichterischen Schaffens wie für Temperament und
Lebensauffassung bestimmend, womit aber nicht gesagt ist, daß ererbte
Konstitution und ererbte Dichtergabe von derselben Seite stammen
müssen. Goethe wenigstens hat in vielzitierten Versen, deren meist
unbeachtet bleibender Zusammenhang die Originalität und Selbständigkeit
des Individuums ironisch in Frage stellt, sein eigenes Familienerbteil
deutlich getrennt:


Vom Vater hab' ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterlein die Frohnatur
Und Lust zum Fabulieren.


Die erbbedingten Eigenschaften spiegeln sich auch im Schaffen des
Künstlers. Die Selbstdarstellung, zu der jedes Werk bewußt oder unwillkürlich
sich ausprägt gibt den Gestalten des Bildhauers und Malers,
ja selbst der Sehweise des Landschafters, den Proportionen des Architekten,
dem Rhythmus des Musikers, den Bewegungen des Tänzers und
Schauspielers Formen, die seiner eingeborenen Anlage, seiner Sinnesempfänglichkeit,
seinen Schönheitsidealen, seinem inneren Gesetz und
seiner persönlichen Haltung entsprechen. So können auch dichterische
Gestalten, je nachdem ob sie mit Sympathie oder Antipathie dargestellt
sind, als Typen oder Gegentypen des rassischen, stammhaften und
konstitutionellen Bildes ihres Schöpfers angesehen werden. Schiller
hat gewiß in Karl Moor und Fiesko nicht sein Selbstbildnis geben
wollen, aber doch steht die indirekte Schilderung beider, gleichviel ob
sie mit dem Auge des Hasses oder der Liebe gesehen ist, nicht in
Widerspruch zum eigenen Rassetypus des Dichters. (Moor: „sein langer |#f0309 : 285|

Gänsehals, seine schwarzen feuerwerfenden Augen, sein finsteres
überhangendes buschichtes Augenbraun“; Fiesko: „stolz und herrlich
trat er daher, nicht anders als wenn das durchlauchtige Genua auf
seinen Schultern sich wiegte.“) Dagegen sind im mißgestalteten Franz
Moor, der ja eigentlich seinem Bruder gleichen müßte, ferner im
Juden Spiegelberg, im Mohren Muley Hassan, im kriecherischen Sekretär
Wurm die Gegentypen mit mehr oder weniger humorvoller Abneigung
gezeichnet. Wiederum hat Hebbel seinen orientalischen
Frauengestalten, ob sie nun Judith, Mariamne und Rhodope heißen,
durchaus nordische Charakterzüge verliehen.


Geschulter Blick kann Rasse und Stamm, ja sogar Konstitution des
Schöpfers aus den von ihm gestalteten Gebilden ablesen wie aus der
Gestalt seiner eigenen Bildnisse. Vielleicht sind die Gebilde sogar
zuverlässigere Blutzeugen, weil sie mehr Ursprünglichkeit besitzen,
während die Porträts, die man als rassekundliche Zeugnisse der Vergangenheit
heranziehen muß, bezeichnender sein können für Sehweise
und Wesensart der Maler als für die der Dargestellten. Das gilt
namentlich für die älteren Zeiten; beispielsweise erkennt man
in den Minnesängergestalten der Heidelberger Liederhandschrift
mehr Anpassung an die Motive der Dichtungen als individuelle
Charakteristik.


Trotzdem darf das, was an sichtbaren Spuren des Lebenswandels
eines Dichters erhalten ist, nicht übersehen werden. Gemälde und
Zeichnungen, Plastiken, Silhouetten und Kopfabgüsse stellen nicht
nur für oberflächliche Anschauung gefällige Illustration dar, sondern
sie können je nach Zuverlässigkeit zum wissenschaftlichen Studienmaterial
werden. Neben Beschreibungen des äußeren Eindrucks und
zufällig überlieferten Körpermessungen sind auch museale Erinnerungsstücke
unter Umständen von gewissem Vorstellungswert; freilich können
solche Reliquien nur dann wissenschaftliche Wichtigkeit beanspruchen,
wenn die daraus gewonnenen Schlüsse auf die äußere Erscheinung
des Dichters und seine rassischen, stammhaften und konstitutionellen
Merkmale in irgendeinen aufschlußgebenden Zusammenhang
zu bringen sind mit der dichterischen Eigenart.


Die Behandlung des Materials, das für die körperliche Erscheinung
eines Dichters überliefert ist, unterliegt gleichen Grundsätzen wie der
überlieferte Text; die Reihenfolge ist auch hier: Sammlung, Kritik,
Gliederung, Deutung. Die Ikonographie stellt ähnliche Aufgaben wie
die Bibliographie; Dichtermuseum und Bilderatlas bedeuten als Arbeitsstätte
und Material ungefähr dasselbe wie Bibliothek, Archiv
und Bücherkatalog. Wenn eine vollständige Sammlung des Bild- |#f0310 : 286|

materials vorliegt, wie sie etwa für Goethe in den Werken von Rollett,
Zarncke und Schulte-Strathaus, für Schiller durch O. v. Güntter,
für die ganze deutsche Literaturgeschichte durch Könnecke unternommen
worden ist, so wird die damit verbundene Prüfung jedes
einzelnen Stückes, die Ausscheidung des Unechten, die Anzweiflung
des Unsicheren, die Feststellung des Ursprünglichen, die Ermittlung
des Darstellers, seines Könnens und seiner Treue sowie die vergleichende
Untersuchung etwaiger Abhängigkeit vorausgesetzt. Mit
der Datierung verbindet sich die Eingliederung in den überlieferten
Lebensgang und die Beobachtung äußerlicher Wandlung, in der sich
nicht nur das allmähliche Reifen und Altern, sondern auch der tiefgegrabene
Eindruck der Erlebnisse und der Wechsel der Lebensstimmungen
offenbart. Übrig bleibt dann noch die Deutung nicht nur der
einzelnen Stücke, sondern des ganzen Materials, dem ein physiognomisches
Gesamtbild der Persönlichkeit, ihrer Ursprünge und ihrer Entwicklung
abzugewinnen ist.


In der Auswertung des Materials trennen sich die anthropologischen
Gesichtspunkte, die auf das Gruppenmäßige und Typische zielen, von
den literaturwissenschaftlichen, die das Individuelle erfassen sollen.
Wenn mit einer gewissen Vorliebe die Bilder großer Männer, deren
Genealogie, Lebensgeschichte, Persönlichkeit und Leistung als bekannt
gelten, zum Studienmaterial für Rassen- und Stammesforschung
herangezogen werden, so geschieht es in der Absicht, ihre im Äußeren
ausgeprägte Wesensart als Baustein für den Beweis typischer und artgemäßer
geistiger Leistung zu verwerten. Nicht das Verstehen des
einzelnen und seiner Schöpfungen, das vorausgesetzt wird, sondern
der Beweis einer Übereinstimmung von Morphologie und Psychologie
und die Feststellung allgemeiner Zusammenhänge zwischen körperlicher
und geistiger Ausdrucksform bilden das Ziel. Die Literaturwissenschaft
dagegen müßte gerade das, was anthropologisch erst
ermessen werden soll, als gegeben voraussetzen; sie müßte mit den
unerschütterlich feststehenden Ergebnissen der Rassen- und Stammesforschung
als Tatsachen rechnen dürfen, sowohl um sie für das verstehende
Eindringen in die Wesensart eines Dichters zu verwerten als
auch umgekehrt, um aus Gesinnung und Gestaltungsweise unanfechtbare
Schlüsse auf die Blutzugehörigkeit ziehen zu können.


Mangels fester Formeln für das Verhältnis zwischen der körperlichen
und geistigen Natur des Menschen bleibt die gegenseitige Hilfeleistung
unsicher. Die Literaturwissenschaft läuft Gefahr, in den von
Rassen- und Stammesforschung ihr überlieferten Ergebnissen ein allzu
weitmaschiges Netz von Grundsätzen entgegenzunehmen, während |#f0311 : 287|

umgekehrt die von der Literaturwissenschaft an die Anthropologie
übermittelten Fälle in bezug auf die geistige Leistung Ausnahmen darstellen,
auf die keine Gesetze zu gründen sind.


a) Rasse


Die Zusammenarbeit der aufblühenden Rasseforschung und der
jugendlichen Literaturwissenschaft befindet sich vorläufig in tastenden
Anfängen. Auf der einen Seite wird sie erschwert nicht nur durch eine
schwankende Terminologie (westlich oder mediterran, ostisch oder
alpin, fälisch oder dalisch), die zudem ungewiß läßt, welche Rassen
als primär, welche als sekundär anzusehen sind. Dazu kommt, daß die
psychologische Ausdeutung der Rassenmerkmale noch keineswegs einheitlich
geklärt ist. Auf der anderen Seite liegt das Hindernis darin,
daß die Literaturwissenschaft für die älteste Zeit so gut wie gar kein,
für die neuere Zeit aber verhältnismäßig wenig eindeutiges Bildmaterial
zur rassischen Diagnose beisteuern kann.


Schädelmessungen, wie sie schon bei Gräberfunden der Vorgeschichte
einen typischen Durchschnitt ermitteln lassen, stehen für Dichter der
mittleren und neueren Zeit selten zur Verfügung; auch da ist das
Material nicht immer zuverlässig, wie die peinlichen Schicksale der
Schillerschen Gebeine zeigen. Aus den Schiller-Bildnissen aber und
mehr noch aus seiner Dichtung werden verschiedene Ergebnisse gezogen:
Otto Hauser z. B. bezeichnet ebenso wie Richard Weltrich
Schiller als rein nordisch in Leben und Schaffen, während Hans F. K.
Günther einen dinarischen Einschlag betont, der sich auch in Schillers
Stil, in einer überfliegenden, ausladenden Sprache, die den Wirklichkeitssinn
und das Abstandhalten der nordischen Art zurückdrängt,
äußern soll. Bei Heinrich von Kleist besteht ebenfalls ein Widerspruch
nicht nur in der Bildüberlieferung (zwischen der umstrittenen Maske,
die auch für Achim von Arnim in Anspruch genommen wurde, und
der besser beglaubigten, aber weniger sagenden Miniatur), sondern
ebenso in der geistigen Haltung und im Stil der Dichtung. Hier sieht
Günther die nordische Rassenseele von einer krankhaften Veranlagung
durchsetzt, die von ihm als Störung der Erbanlage angesehen wird.
Auch von den Werken werden nur „Robert Guiskard“ und „Michael
Kohlhaas“ als rein nordisch anerkannt. Die Bildnisse konnten bei dieser
Charakteristik, die einer eigentlichen Bestimmung der rassischen
Elemente ausweicht, kaum eine Rolle spielen.


Je näher wir der Gegenwart kommen, desto eher findet sich dank
reicher photographischer Überlieferung die Möglichkeit exakterer |#f0312 : 288|

anthropologischer Untersuchung. Die seltene Gelegenheit, Rasse und
Volkstum einer lang ansässigen und in sich ziemlich abgeschlossenen
Bevölkerung, aus der mehrere Dichter, nämlich die drei Brüder
Kinau (darunter Gorch Fock) und Hinrich Wriede, hervorgegangen
sind, statistisch aufzunehmen, bot das Fischerdorf auf der Altona
gegenüberliegenden Elbinsel Finkenwärder. Die Bevölkerung hat sich
zwar nicht als durchaus reinrassig erwiesen, aber die nordischen
Kennzeichen in Schädelform, Augen-, Haar- und Hautfarbe herrschen
doch in ungewöhnlich reichem Maße vor. Gerade die vier Dichter
scheinen allerdings in ihrem Äußeren nicht ganz der Reinkultur des
Typus von Finkenwärder zu entsprechen und die in ihrer Generation
hervortretende Begabung ist in früheren Zeiten des Fischerdorfs nicht
bemerkbar, so daß ein bedeutungsvoller Beitrag für die Erbbestimmung
dichterischer Anlage aus dieser sorgfältigen Untersuchung
ebenso wenig herausspringen konnte als bei mangelnder Ahnentafel
die Erklärung der Abweichungen.


Anders liegt es in dem Falle Wilhelm Raabes, dessen Abstammung
durch den neuesten Biographen Wilhelm Fehse eingehende Untersuchung
erfahren hat. Führt die Ahnentafel väterlicherseits zurück
auf das Bergmannstum des Harzes, dessen Urwelt den symbolischen
Hintergrund vieler Erzählungen bildet, so hat sich damit das Blut der
Ebene vermischt, deren Geschlechterreihe im Gelehrten- und Beamtentum
des Braunschweigischen (Schottelius) eine ehrenvolle Rolle spielte.
In Raabes Körperlichkeit mischen sich nordische Züge, zu denen die
hohe, schlanke, langbeinige Gestalt, der stark nach hinten ausladende
Langschädel, das schmale, hellhäutige Gesicht, die graublauen Augen
und das dunkelblonde Haar gehören, mit Zügen, die der fälischen
Eigenart zugeschrieben werden, wie die viereckige Gestaltung der
Stirn und die breitgeformte Nase. Aber damit ist noch nicht gesagt,
welche Rassenzüge der väterlichen, welche der mütterlichen Familie
zugeschrieben sind. Wahrscheinlich hat schon früher mehrfache Kreuzung
stattgefunden. In Raabes geistiger Wesensart sind dieselben
Widersprüche bemerkbar: der Drang nach freiester Persönlichkeitsentfaltung,
das eigenwillige Schöpfertum, die von einer scharfen Intelligenz
gebändigte Phantasie, die abstandhaltende innere Vornehmheit
dürfen als Eigentümlichkeiten nordischer Haltung in Anspruch
genommen werden, während die innere Einsamkeit, das Behagen der
Enge, die nüchterne Sachlichkeit und die hellseherische Mystik dem
fälischen Wesen zufallen. Aus dieser Gegensätzlichkeit zwischen rationalen
und irrationalen Kräften werden nun die Spannungen und Konflikte
des Raabeschen Lebens und Dichtens erschlossen, deren Überwindung |#f0313 : 289|

schließlich dem Lebensgefühl des Humors gelingen konnte.
Was aber dessen Art betrifft, so wird durch Siegfried Kadner der gröbere
und deftige fälische Humor getrennt von dem feineren und milden
nordischen, der bei Raabe wohl vorwiegt.


Der Gegensatz der beiden verwandten und oft vermischten Rassen
kann nicht allein für die Widersprüche in Raabes Persönlichkeit entscheidend
sein; sicher haben auch berufliche und gesellschaftliche
Erfahrungen, Gewohnheiten, Schicksale der Vorfahren und die landschaftliche
Verschiedenheit ihrer Herkunft mitgewirkt. Immerhin
stellt der beobachtete Zwiespalt vor ungeklärte Probleme, denen Erbforschung
und Literaturwissenschaft in gemeinsamer Arbeit weiter
nachgehen sollten, nämlich inwieweit überhaupt rassische Zwiespältigkeit
Konflikte schafft, die dem in sich widerspruchsvollen Dichter
Erlebnis werden und ihn ohne Bewußtsein der Ursache zur Auseinandersetzung
und selbstbefreienden Gestaltung zwingen.


Die Fragestellung kann nicht bis zu der Folgerung ausgedehnt
werden, daß eine absolut reinrassige Herkunft, wie sie bei der europäischen
Vermengung äußerst selten, wenn nicht geradezu ausgeschlossen
sein muß, weniger gewaltsame Spannungen kenne und künstlerisch
minder produktiv bleibe. Oder gar, daß Dichtung überhaupt erst aus
Rassengegensätzen entstehe. Aber es ist nicht zu verkennen, daß die
Untersuchungen über die Ursprünge des Genies, die seinerzeit Reibmayr
unternahm und die neuerdings von Kretschmer wieder aufgenommen
wurden, auf einen Vorzug der Kreuzung artverwandter
Rassen hinführten. Auf jeden Fall liegt in der Verschiedenheit der
von den Eltern ererbten Charakteranlage und in den daraus folgenden
inneren Spannungen eine Vertiefung und Bereicherung der Erlebnisfähigkeit
des werdenden Dichters. Man denke an E. T. A. Hoffmann,
dessen Doppelleben als gewissenhafter Beamter und ausschweifendes
Genie wie dessen ständiges Erlebnis des Gegensatzes zwischen Philister
und Künstler auf die Wesensverschiedenheit der Eltern und
ihrer Familien zurückzuführen ist. Moderne Gestaltungen des Gegensatzes
zwischen Bürger und Künstler scheinen auf ähnlicher Gegensätzlichkeit
der Erbgrundlagen zu beruhen. Wie dem auch sei, es
besteht die Forderung, den Auswirkungen verschiedenartiger Blutbindung
in allen erkennbaren Fällen nachzugehen.


Andere Literaturen geben dazu vielleicht noch mehr Anlaß und
bessere Beobachtungsmöglichkeit als die deutsche; z. B. Nordamerika,
wo die Rassenprobleme des Schmelztiegels noch in jüngerer Zeit zu
verfolgen sind, oder Großbritannien, wo die wallisischen, schottischen,
irischen, angelsächsischen und normannischen Elemente in der Siedlungsgeschichte |#f0314 : 290|

faßbar werden. Bisher ist aber diesen Vorgängen von
Mundartforschung und Volkskunde, die ganze Gruppen und Landschaften
als Einheit aufzunehmen in der Lage sind, mehr Beachtung
geschenkt worden als von der Literaturgeschichte. Mir ist keine Biographie
Lord Byrons bekannt, bei der die Auswirkung englischschottischer
Blutmischung in seiner Dichtung analysiert würde;
dagegen wird bei Dante Gabriel Rossetti in Bernhard Fehrs Darstellung
Italienisches und Englisches unterschieden, freilich mehr als
Bildungseinfluß denn als Erbteil. Die gleichen Probleme komplizieren
sich bei Joseph Conrad (Korzeniowsky) 1857─1923, wenn das, was
ukrainisch, was polnisch, was etwa jüdisch und was englisches Bildungsgut
ist, sich sondern ließe von dem Einfluß exotischer Erlebnisse, die
das Thema seiner Erzählungen bilden.


Für Deutschland hat Joseph Nadler vor allem im Kolonisationsgebiet
einen günstigen Boden zur Aufhellung geistesgeschichtlicher
Probleme gefunden. Er hat neuerdings in Auseinandersetzung mit
Günther der Rassenkunde die Aufgabe gestellt, für die beiden räumlich
weit getrennten Wohngebiete der ostischen Rasse, nämlich Oberrhein
und Ostmitteldeutschland, „die räumliche Dichte bestimmter
geistiger Vorgänge“ zu prüfen. Hatte sich ihm vorher das ostdeutsche
Kolonisationsland als Ursprungsland der Romantik dargestellt, so
konnte er die Augen gegenüber der Tatsache nicht verschließen, daß
auch in Westdeutschland schon im 18. Jahrhundert vorromantische
Strömungen ihr Quellgebiet haben. Die Übereinstimmungen führen
zu der Frage, ob nicht diese beiden Gegenden durch die Vorherrschaft
der ostischen Rasse zu Kernlandschaften des denkerischen und
mystischen Geistes in Deutschland geworden seien. Indessen hat dieser
Geist auch am Niederrhein seinen Sitz, und Ernst Kretschmer sucht
ihn auf Grund von Rassekarten auch dort durch alpine (ostische) Einsprengsel
zu erklären. Diese Fragestellungen, die weit über die Analyse
der einzelnen Persönlichkeit hinausgehen, werden im dritten Buch
zu erörtern sein.


Bleiben wir zunächst bei der Erbanlage einzelner Persönlichkeiten,
so stellt unter den Romantikern eine Gestalt wie Ludwig Tieck vor
das Rätsel, wie dieses in der Metropole der Aufklärung aufgewachsene
Berliner Kind überhaupt zum Romantiker werden konnte. Wenn
jetzt die amerikanische Biographie von Edwin H. Zeydel es wahrscheinlich
macht, daß das illegitime Pflegekind des Pfarrers Latzke,
das der Seilermeister Johann Ludwig Tieck aus Jeserig bei Brandenburg
heimführte, eine Russin zur Mutter hatte, so klärt sich aus dem
großmütterlichen slawischen Erbe vielleicht die lässige Apathie und |#f0315 : 291|

weiche Stimmungshingabe des Dichters auf, die wiederum ihr Gegengewicht
in einem vom Vater ererbten, sehr nüchternen kritischen
Intellekt fand. Der innere Widerstreit zwischen den beiden Anlagen
mag die Voraussetzung bilden für die Selbstzersetzung des Romans
„William Lovell“ und für die stimmungzerstörende Form der Ironie,
die in den Literaturkomödien in Blüte steht. Ein anderes Beispiel
haltloser Zerrissenheit aus rassischem und volkhaftem Zwiespalt mag
in der italienisch-französisch-deutschen Blutmischung Clemens Brentanos,
die Chamberlain zu Unrecht als die einer syrosemitischen
Bastardfamilie charakterisierte, sich darstellen. Weiter wird man bei
Paul Heyse, der das epigonale Artistentum nachgoethischer Zeit mit
gewissem Glanz repräsentierte, das Erbteil der jüdischen Mutter nicht
verkennen, wenn man seine weichliche Wesensart mit fester verwurzelten
Zeitgenossen wie Gottfried Keller, Theodor Storm oder Wilhelm
Raabe vergleicht. Mit Recht führt Ludwig Finckh die Geschlossenheit
seines Wesens auf rein schwäbische Abstammung zurück. Rilke wiederum
wollte seine „gründlichen Beziehungen zur französischen Geistigkeit“
aus der elsässischen Herkunft seiner mütterlichen Familie erklären,
was mehr kulturellen als rassischen Einschlag bedeuten würde.
Auch das versprengte französische Blut der Friedrich de la Motte
Fouqué, Willibald Alexis, Theodor Fontane, Luise von François, die
alle nach Norden gerichtet sind, stellt vor Aufgaben rassischer Untersuchung,
denen die Forschung bisher erst geringe Aufmerksamkeit entgegenbrachte.



Während der Bahnbrecher der genealogischen Literaturforschung,
August Sauer, als seine letzte literarische Gabe eine seitenlange, nach
Ländern geordnete Aufzählung aller deutschen Schriftsteller, deren
Ahnen aus der Fremde kamen, hinterließ, machte schon vorher Fernand
Baldensperger auf das fremdstämmige Blut in der französischen
Dichtung aufmerksam, das aus Italien bei Scudéry, Rivarol und Zola,
aus Spanien bei Guez, Balzac, Laclos, Florian, aus England bei Moncrif
und Gresset, aus Deutschland bei George Sand sich herleitet. Rassenkundliche
Untersuchungen sind an diese Feststellungen noch kaum
angeknüpft worden. Auf die sichtbar nordische Herkunft des Normannen
Flaubert, der von sich selbst sagte, „je suis Allemand“, hat
Günther hingewiesen, aber auch hier hätte nicht weniger als bei Kleist
die krankhafte Anlage, die Flaubert mit dem Epileptiker Dostojewski
teilte, beachtet werden sollen. Weiter bleibt die Fortwirkung des
Negerblutes der beiden Dumas, die in ihrem Äußeren sich nicht verbirgt,
zu erforschen. Die schwarze Rasse war auch in der Abstammung
des Russen Alexander Puschkin vertreten, der zum Urgroßvater mütterlicherseits |#f0316 : 292|

einen in Frankreich erzogenen Neger, der der Leibmohr
Peters des Großen wurde, gehabt hat. Unter den deutschen Dichtern
aber hat man in Ferdinand Freiligraths löwenartigem Haupt negroide
Züge entdecken wollen. Sollten danach die eigenartigen afrikanischen
Phantasien des „Mohrenfürst“ und „Löwenritt“ als Atavismen aufgefaßt
werden dürfen?


Bei solchen unerforschten Zusammenhängen fehlt vorläufig jede
Erfahrung dafür, über welchen Zeitraum hinaus und bis zu welchem
Grad der Verdünnung derartige Einsprengsel noch wirksam sein können;
denn die biologischen Pflanzen- und Tierexperimente, die durch
zahllose Generationen die Erhaltung bestimmter Erbmerkmale erweisen,
haben noch keine unmittelbare Beweiskraft für das Fortleben
geistiger Eigenschaften durch ebenso viele Glieder.


Als beinahe erheiterndes Beispiel des Äußersten an Kombinationsmöglichkeit
sei eine Folgerung aus Goethes Ahnenreihe erwähnt. Die
elfte Geschlechterfolge führt im 15. Jahrhundert auf die Frankenberger
Familie Soldan, deren Vorfahr nach Familienüberlieferung ein im
Anfang des 14. Jahrhunderts getaufter Türke (oder Araber) Sadok Seli
Soltan gewesen sein soll. Wäre es demnach erlaubt, die Flucht in die
Patriarchenluft des Ostens, die der Dichter des „Westöstlichen Divan“
antrat, als Wirken einer geheimen Stimme des Blutes, die in ferne
Ahnengefilde lockte, aufzufassen? Damit nicht genug. Ein jüdischer
Sprachforscher, der nach den Grundsätzen der Finckschen Sprachtypenlehre
Übereinstimmung zwischen Goethes Alterssprache und der
türkischen Syntax entdeckt hatte, glaubte nun in dem „Tropfen Türkenblut“
die Erklärung und schlagende Bestätigung seiner Hypothese
zu finden.


Mündliche Familientraditionen stellen immer eine sehr unsichere
Quelle dar. Nach dem Genealogen Karl Knetsch, der die grundlegende
Ahnentafel Goethes aufgestellt hat, ist jene abenteuerliche Verbindung
der Frankenberger Familie Solden mit dem seligen Sadok zu bezweifeln.
Aber wohl läßt sich auf Grund dieser Ahnentafel errechnen, daß
über die Marburger Familie Orth im 16. Jahrhundert das Blut sowohl
Karls des Großen als seines Gegners Widukind in Goethes Adern gekommen
ist. Was lassen sich daraus für Schlüsse auf seine staatsmännische
Begabung ziehen, zumal auch andere Fürstlichkeiten wie Heinrich
der Vogler, Otto der Große, die Staufer Friedrich Barbarossa,
Heinrich VI. und Friedrich II. sowie Landgraf Ludwig von Thüringen
und die heilige Elisabeth in die Reihe der Vorfahren treten. Ferner
ist in der Ahnenreihe ein Minister wie der Kanzler Brück und ein
Maler wie Lukas Cranach vertreten. Trotzdem gewährt das rassische |#f0317 : 293|

Bild Goethes keine ungemischte Freude; der Dichter, dessen Vatersname
auf gotische Abstammung hinweist, scheint kein rein nordischer
Mensch gewesen zu sein. Walter Rauschenberger, der diesen Schluß
aus vorhandenen Ahnenbildern zieht, glaubt aber, daß gerade auf dem
mannigfaltigen Erbanteil, der an mehrere Rassen und fast an alle deutschen
Stämme gebunden ist, der Universalismus Goethes in seiner einzigartigen
allumfassenden Menschlichkeit gegründet sei. Dagegen hat
Walther Tröge behauptet, die gewaltige dichterische Leistung Goethes
habe ihre blutsmäßige Voraussetzung in seinen thüringischen Bauernahnen,
denen er die Kraft für seine Sendung verdanke.


b) Stamm


Als Josef Nadler 1934 das Verhältnis zwischen Rassenkunde, Volkskunde
und Stammeskunde in ihrer Bedeutung für die literaturwissenschaftliche
Methode abwog, sprach er der Rassenkunde keineswegs
die große Bedeutung ihrer Aufgaben ab und zweifelte nicht an der
endlichen Lösung: „Erst von der Rasse her sind die letzten Aufschlüsse
zu erwarten, die weder die Volkskunde noch die Stammeskunde geben
können.“ Aber es wurde demgegenüber der Vorteil betont, in dem sich
gegenwärtig noch die beiden anderen Wissenschaften befinden, weil
nicht mehr Fragen von ihnen und an sie gestellt zu werden brauchen,
als sie zu beantworten in der Lage sind. Damit brach Nadler eine
Lanze für seine eigene Lehre, die von ihm in vielen grundsätzlichen
Darlegungen erörtert, vor allem aber in der großen „Literaturgeschichte
der deutschen Stämme und Landschaften“ zur Anwendung gebracht
ist. Auch in dieser glänzenden und bestechenden Darstellung, die auf
viele bisher kaum geahnte Zusammenhänge überraschendes Licht wirft,
sind indessen die klaren Beantwortungen, soweit sie den Einzelnen
betreffen, an Zahl geringer und methodisch primitiver als die Fragestellungen.



Gegen die Einseitigkeit, mit der die Stämme als die eigentlichen
Spieler des Dramas auf die Bühne geführt werden, wie gegen die Zweiseitigkeit,
die im Wechsel und Ineinanderwirken mit den stammhaften
Verkörperungen auch die Umwelt und den landschaftlichen Hintergrund
als Wandeldekoration mitspielen läßt, sind mancherlei Bedenken
geäußert worden. Das letzte Wort der Auseinandersetzung, das
zurzeit vorliegt, faßt höchte Anerkennung in dem Urteil zusammen,
daß ein Buch von deutscher Art und Kunst, eine Geschichte der Einswerdung
des deutschen Volkes entstanden sei, bei dem die Literatur
nur das Belegmaterial für die Stammeskunde bilde, so daß System und |#f0318 : 294|

Quintessenz des Werkes eigentlich in der kleinen Schrift „Das stammhafte
Gefüge des deutschen Volkes“ vorliege.


Eine synthetische Betrachtungsweise ist damit gekennzeichnet. Ihr
ist weniger an der Dichtung gelegen, als an dem Menschen, der sich in
ihr ausspricht, und im Menschen wird nicht der Dichter gesucht,
sondern die Stammesseele, deren Sprachrohr er ist. In der Tat hat
Nadler einmal auf einer Soziologentagung erklärt, es komme nicht
darauf an, etwas aus den Stämmen herzuleiten, sondern Material zu
erschließen für die Erkenntnis des Stammesproblems. Indem wir die
Besprechung dieser Methode den Ordnungen des Raumes im dritten
Buch zuweisen und die Erörterung der Darstellungsgrundsätze dem
fünften Buch vorbehalten, müssen wir uns hier zunächst auf den entgegengesetzten
Standpunkt stellen und fragen, was wir von der Analyse
des Stammeserbes beim einzelnen Dichter zu erwarten haben.


Wir begegnen aufs neue dem schon oben beobachteten Unterschied
zwischen anthropologisch-typisierender und psychologisch-individualisierender
Zielsetzung. Es ist etwas anderes, ob die Ergebnisse der Einzelanalyse
von vornherein zu Bausteinen eines allgemeinen Systems
bestimmt sind oder ob ein fertiges und zuverlässiges System bei der
Analyse des Einzelnen zur Verfügung steht. Um der Zusammenfassung
willen muß Nadler viele Ergebnisse der Einzelanalyse übergehen; die
Zwangslage der Einordnung läßt nicht zu, daß der verschiedenartige
Blutanteil bei einem Dichter in gleichem Maße zu Recht kommt; jeder
muß in seinem Paß zu einem bestimmten Stamm Farbe bekennen.
Selten wird den beiden Faktoren Herkunft und Umwelt ein Gleichgewicht
zugestanden wie bei dem alemannisierten Rheinfranken Fischart.
Unter Umständen ist einmal das Landschaftliche ausschlaggebend wie
bei dem geborenen Hessen Grimmelshausen, dessen Familie thüringischen
Ursprungs ist und der als Dichter des Schwarzwaldes Anschluß
bei den Alemannen findet. So entscheidet die Gelegenheit, auf welches
Feld des Schachbrettes die Figur geschoben wird, und der Meister kann
seine Partie immer nur um den Preis gewagter Opfer gewinnen. Die
Figuren haben verschiedene Bewegungsmöglichkeit: die eine kann als
Bauer nur zu den unmittelbaren Vorfahren rücken; die andere durchquert
als Läufer das ganze Feld, um an einem fernen Urahnen Anschluß
zu suchen, die dritte biegt als Springer um die Ecke und findet
neben der gradlinigen Abstammung eine Bestimmung in der landschaftlichen
Umgebung; der vierten sind wie der Königin Bewegungen aller
Art erlaubt. Goethe z. B. vertritt zunächst durchaus das fränkische
Stammesblut. Da aber die deutsche Klassik in Thüringen ihren angestammten
Boden hat, bleibt unausgesprochen, ob dem Klassiker |#f0319 : 295|

Goethe bereits im Blute seiner zahlreichen thüringischen Ahnen das
Schicksal vorausbestimmt war oder ob er erst mit der Übersiedlung
nach Weimar in den landschaftlichen Bannkreis klassischer Weltschau
trat.


Wie der Stil, so erscheinen auch einzelne Gattungen stammhaft
bestimmt; es muß beispielsweise dem bayrisch-österreichischen Spieltrieb
die Anlage für Drama und Theater seit frühester Zeit angeboren
sein (vgl. oben S. 269), während die Begabung des schwäbischen Stammes
in der Lyrik glänzt. Schiller scheint eine Ausnahme zu bilden.
Es hätte besser gepaßt, wenn er bajuwarischen Stammes gewesen
wäre. Für die Herleitung des dramatischen Naturells wäre deshalb die
Abstammung von einer wappengleichen Tiroler Adelsfamilie Schiller
von Herdern, die der Freiburger Archivar Albert nachzuweisen suchte,
willkommen. Inzwischen aber haben schwäbische Genealogen die
lückenlose Ahnenreihe der Remstaler Weinbauern Schilcher bis ins
14. Jahrhundert hinaufgeführt. Dem Biographen Richard Weltrich, der
die zusammenfließenden Blutströme sorgfältig prüfte, blieb nichts
anderes übrig, als die dramatische Begabung auf einen von der mütterlichen
Seite herkommenden fränkischen Einschlag zurückzuführen.
Nadler nun liebäugelt zunächst noch mit der Familie Schiller von
Herdern, während er später eine ununterbrochene alemannische Entwicklungslinie
des Dramas aufzudecken sucht, die von Nikodemus
Frischlin über den aus Ehingen stammenden Jesuiten Bidermann, den
„Höhepunkt der bairischen Barockkunst“, zu Schiller führt, in dessen
Geist Frischlinus redivivus ersteht. Das sind Versuche, stammesmäßig
zu begründen, was Günther durch den dinarischen Einschlag rassisch
erklären wollte. Unter den blutmäßigen Vorfahren Schillers findet
sich im übrigen keiner, der als Dichter oder Dramatiker hervorgetreten
wäre. Dem harten Beruf des Winzers, dem auch Grillparzers dinarische
Vorfahren oblagen, wird man schwerlich einen zum Drama führenden
Erbeinfluß zuschreiben.


Es bleiben noch zwei Probleme zu besprechen, die sich aus dem
Verhältnis von Stamm und Rasse ergeben. Einmal taucht die Frage
auf, ob ein aus Rassenmischung hervorgegangener Stamm tatsächlich
als psychische Einheit gelten darf. Wenn Erich Schmidt im Eingang
seiner Lessingbiographie von den zweierlei Obersachsen sprach, den
meist ruhig daheimbleibenden, sanften, artigen, wortreichen, maßvollen,
verträglichen, geduldigen (Leibniz, Gellert, Ludwig Richter)
und den rastlosen, heftigen, eigenrichtigen, wuchtigen, kampfbereiten
(Pufendorf, Lessing, Fichte, Moritz Haupt, Richard Wagner, H.
v. Treitschke), so bezeichnet er einen Gegensatz, der in der Siedlungsgeschichte |#f0320 : 296|

seine Erklärung finden kann. Ob man aber die unternehmenden
Kämpfernaturen auf die Germanen, die anderen auf das
Slawentum zurückzuführen hat oder ob es sich umgekehrt verhält, ist
nicht sicher. Daß der Name Lessing slawischen Ursprunges ist, entscheidet
nicht die Abstammung; es könnte auf dem Gehöft, das den
Namen „Wäldchen“ trug, ein germanischer Siedler gesessen haben,
dessen Nachkommen sich nach ihrer Heimat nannten. Nadler bestreitet
das und führt auf eine Abstammung von tschechischen Hussiten
das Ruhelose, Entwurzelte und den Mangel an geschichtlichem Empfinden
zurück. Ebenso sieht Sauer in Heinrich v. Treitschke, dem allerdings
das geschichtliche Empfinden nicht fehlte, den Nachkommen
hussitischer Eiferer. Im Falle Lessings beruht die Annahme auf einer
ungesicherten Tradition, an der die Familie selbst nicht festhält. Aber
selbst wenn ein Vorfahre zehnten Grades über den Kamm des Erzgebirges
gekommen wäre, so bliebe es zwar möglich, aber nicht zwingend
notwendig, daß unter Hunderten von Ahnen nun gerade sein
Erbteil allein sich ausschlaggebend durchgesetzt hätte.


Es besteht die weitere Frage, inwieweit und auf wie lange der heimatgebundene
Stammescharakter unverändert bleibt. Wenn sogar die
Rasse unter klimatischen Einflüssen und verwandelten Lebensformen
im Laufe von Jahrhunderten oder Jahrtausenden durch Auslese sich
ändern kann, wie neuere anthropologische Forschung feststellte, so
wird derartige Wandlung in viel höherem Maße den Stamm treffen,
dessen Einheit sich erst in Lebens- und Schicksalsgemeinschaft geformt
hat. Er ist nicht allein in Sprache und Sitte, sondern auch in ständischem
Berufsleben, Erziehungswesen und Verfassung den Bedingungen
der Landschaft unterworfen, die er sich zu eigen machte und mit
der er verwuchs. Dabei ist das geistige Leben des Stammes und seine
Schöpferkraft auch von politischen Geschehnissen nicht unbeeinflußt
geblieben. Mit den kulturellen Schwerpunkten des deutschen Geisteslebens
verändert sich sogar die Häufigkeit besonderer Begabungen in
ihrer Verteilung auf die einzelnen Stämme. Das zeigen die zu oberflächlicher
Übersicht geeigneten Tabellen und Karten, die Kurt Gerlach
in Nachfolge Nadlers angefertigt hat und die für die verschiedenen
Zeiträume keineswegs das gleiche Bild geben. Vielmehr hat, wie
gerade Nadler zeigt, fast jedem Stamm des deutschen Volkes einmal
sein Tag in der Geschichte geglänzt, in dem alle seine Gaben zu besonderen
Ehren kamen.


Außer der familienmäßigen Blutsverbindung gehören zu den aufbauenden
Komponenten des Stammes die geopolitischen Faktoren und
alle die Einwirkungen, die Willy Hellpach als „Geopsyche“ zusammenfaßt. |#f0321 : 297|

Man kann, wie beim einzelnen Menschen, so auch beim Stamm
von erworbenen Eigenschaften sprechen, und es ist die gleiche umstrittene
Frage, bis zu welchem Grad daraus dauernde Prägung werden
kann, die sich vererbt. Das Problem gilt für den Stamm, wenn er, wie
in der Völkerwanderung, unter andere Lebensbedingungen versetzt
wird, und er betrifft in gleicher Weise den Vereinzelten, der sich in
der Diaspora befindet. Wenn die Ahnen bereits die unmittelbare Stammeszugehörigkeit
aufgegeben haben, indem sie fern von ihrem Ursprung
Wurzel schlugen, wie weit kann dann noch bei den Enkeln von
Stammesbewußtsein oder unbewußter Erhaltung ererbter Art die Rede
sein? Schon von der zweiten Generation der Losgerissenen läßt sich
sagen, daß zwar die Blutgebundenheit nicht erlöschen kann, daß aber
die etwaige Preisgabe aller angeeigneten Lebensformen und Bräuche,
insbesondere der Sprache, dem Stamm der Väter fremd werden läßt.
Bei dem besten Willen zur Arterhaltung bleibt immer fraglich, wieviel
den Nachkommen noch durch Erziehung und festgehaltenen Brauch
mitgegeben werden oder wieviel davon ohne diese Vermittlung erhalten
bleiben kann. Für die mögliche Übertragung erworbener Eigenschaften
bildet aber weniger der Stamm als die Familie das gegebene
Feld der Beobachtung.


c) Konstitution und Charakter


Der engste Bezirk, in dem die Vererbung nicht nur Möglichkeit,
sondern unentrinnbare Notwendigkeit bedeutet, ist die Ehe, die das
Rätsel „Aus zwei mach eins“ verwirklicht, indem ein eigenes Neues
aus zweierlei Erbmassen sich bildet. Vater und Mutter sind Träger
und Vermittler des Erbgutes zweier Familien, die mit den verschiedenen
Vermögen an rassischen und stammhaften Anlagen auch einen verschiedenartigen
Bestand an geistigen und körperlichen Dispositionen
aufwiesen, deren Charakter sich nicht nur aus Berufstradition, konfessioneller
Bindung, Umwelteinflüssen und Geschicken herleitet, sondern
auch in bestimmter physischer Konstitution Form gewonnen hat.


Bei den geistigen Anlagen treten wieder die Fragen der Übertragbarkeit
erworbener Eigenschaften auf. Wenn man von Stefan George
sagte, daß ihm der mittelalterliche Katholizismus im Blut lag, ohne
daß er irgendwelchen kirchlichen Einflüssen in seinem Leben nachgegeben
hätte, so ließe sich die ererbte Mentalität ebensowohl
rassisch als stammhaft begründen, da es den Glaubensbekenntnissen
an ethnologischen Voraussetzungen ihrer Verbreitung nicht fehlt.
Ältere Erbforschung, deren Gedankengänge heute nicht mehr verfolgt |#f0322 : 298|

werden, hat sogar das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion
der organisierten Materie aufgefaßt und angenommen, daß die gehäuften
Erfahrungen vergangener Generationen in der protoplasmatischen
Substanz der Zelle vererbbar seien und im Unterbewußtsein
weiter wirken. Es war ein romantischer Gedanke von Carus (1846),
den 30 Jahre später Ewald Hering erneuerte, der in R. Semons Lehre
von der „Mneme“ zurückkehrte und den Ludwig Klages im Begriff des
„Vitalen Gedächtnisses“ wieder aufgenommen hat. Wilhelm Jordan
hatte ihm in seinen „Andachten“ im Sinne eines biogenetischen Gesetzes
Ausdruck gegeben:


Erinnerung ist's, womit im Mutterschoße
Du selbst, o Mensch, erst alle Daseinslose,
Die deine Ahnen langsam einst erstiegen,
Befähigt bist, in Monden zu durchfliegen.


Der Ahnenglaube, wonach nicht nur Charaktere, sondern Schicksale
und Erlebnisse der Vorfahren erbgedächtnismäßig im Blute getragen
werden, ist ein beliebtes Motiv der Dichtung, das neuerdings zu Gestaltungen
wie dem „Cornet Rilke“, Maria Wasers „Geschichte der
Anna Waser“ und Jakob Schaffners „Gang nach St. Jakob“ Anlaß
gegeben hat. Die Dichter ahnen in ihrem eigenen Leben die Wiederkehr
der Vorfahren. Der Drang nach räumlicher Weite, der im Anblick
des Meeres Erfüllung findet, ließ Jeremias Gotthelf an eine im Bremischen
ansässige Familie Bitzius Anknüpfung suchen, um sich diese
Sehnsucht hereditär zu erklären. Ebensowenig überlieferungsmäßige
Grundlage hatte Hermann Löns, in dessen Adern schweres westfälisches
Bauernblut sich mit literarischer Tradition mischte, seine Vorfahren
im Fischerberuf zu suchen; es war eine lediglich aus eigener naturidyllischer
Neigung heraus gefühlsmäßig erschlossene freie Ahnenwahl.
Metempsychotische Dichterphantasie kann zu Erscheinungen führen,
die der französische Psychologe Pascal als „pseudo-hérédité“ bezeichnet.
Als ein Beispiel führt er Flaubert an, der gelegentlich mit
der eingebildeten Erinnerung an frühere Existenzen kokettierte: „Mon
individu actuel est le résultat de mes individualités disparues. J'ai
été le bâtelier sur le Nil, leno à Rome du temps des guerres puniques,
puis rhéteur grec dans Suburre, où j'étais dévoré des punaises. Je suis
mort, pendant la croisade, pour avoir mangé trop de raisin sur la plage
de Syrie. J'ai été pirate, moine, saltimbanque et cocher. Peut-être
empereur d'Orient aussi.“


Berufstradition braucht nicht erworbene Eigenschaft zu sein, sondern
kann auf Erbanlage beruhen, wie an den Erfinderfamilien der
Siemens und Krupp, an der Gelehrtenfamilie Planck, deren Begabung |#f0323 : 299|

auf theologischem, juristischem und naturwissenschaftlichem Gebiet
sich entfaltete, bei der Mathematikerfamilie Bernoulli, der Musikerfamilie
Bach, den Malerfamilien Holbein, Breughel, Tischbein, Kaulbach
zu sehen ist. Allerdings handelt es sich bei Musik und Malerei
um Künste, für die nicht nur ererbte Anlage, sondern auch persönliche
Unterweisung und Begabungsförderung von seiten des Vaters in
Betracht kommt. Diese Übermittlung des Handwerksmäßigen spielt
bei der Dichtung keine Rolle, es sei denn, daß man an die isländischen
Skalden denkt, deren Beruf teilweise das Privileg bestimmter Sippen
gewesen zu sein scheint. In neuerer Zeit gibt es trotz der Schlegel,
Dumas, Daudet, Hawthorne, Kurz, Seidel, Huch kaum ein Beispiel
für Dichterfamilien, bei denen sich die Gabe in außergewöhnlichem
Maße und in lückenloser Folge über mehr als zwei Generationen
gleichen Namens vererbt hätte. Wohl aber kommt es vor, daß bei
einem Urenkel die schlichte lyrische Ausdruckskraft des Ahnen wieder
hervorbricht, wie bei Hermann Claudius, dem Nachfahren des Wandsbecker
Boten. Es kann auch eine Enkelin sein, wie Lulu v. Strauß
und Torney, deren Großvater Victor v. Strauß schon in einem Roman
„Das Erbe der Väter“ (1850) das Problem angeschnitten hatte, das
die Enkelin in ihrem Jugendwerk „Ihres Vaters Tochter“ wieder
aufnahm.


Wie unter den Jenaer Romantikern Carolinens Wort von der Verschrobenheit
als dem Familienübel der Brentanos verbreitet war, so
ging unter dem preußischen Militäradel das Sprichwort um, alle
Kleists seien Dichter. Aber bei den drei Vertretern, die diese Familie
der Literaturgeschichte geschenkt hat, bei Ewald v. Kleist, Franz
v. Kleist und Heinrich v. Kleist, die nicht in unmittelbarer Erbfolge
verwandt waren, hat sich der Dichterberuf im offenen Gegensatz zur
militärischen Familientradition herausgebildet; bei dem Größten unter
ihnen kann man neben der vaterländischen Gesinnung allenfalls die
Ruhmsucht, die zu so vielen Kränzen noch einen auf die berühmte
Familie herabringen wollte, als verpflichtendes Ahnenerbe in Anspruch
nehmen. Dagegen hat einem Detlev v. Liliencron der Junker im Blut
gesteckt, obwohl er schon durch die Mesalliance seines Großvaters um
den Besitz, von dem er als Mäzen und Poggfred-Schloßherr träumte,
gekommen war; sein Dichtertum erwuchs aus dem Offiziersberuf, aber
seine Widersprüche lagen zwischen aristokratischer Haltung und erdgebundener
Sinnlichkeit. Ähnliches hat Strindberg („Der Sohn einer
Magd“) empfunden.


Der Bergmannsberuf, den Zacharias Werners Luther-Drama in der
schönen Gleichung zwischen der Reformation und dem Ausgraben |#f0324 : 300|

eines verfallenen Schachtes symbolisierte, hat auch in Wilhelm Raabe
und Paul Ernst tiefdringende poetische Nachkommen gefunden. Im
ganzen sind unter den Dichterahnen verhältnismäßig wenig Bauern,
mehr Handwerker und viele Gelehrte zu zählen. Dabei gewinnt die
Landpfarre, in der religiöse Bildungswelt, Volkstum und freie Natur
zusammenwirkten, besondere Bedeutung als Dichterwiege. Niemals
aber ist der Dichterberuf an eine Kaste gebunden, sondern immer
wieder tauchen aus der Tiefe wunderbare Kräfte auf, für die man im
Erbe der Vorfahren keine Erklärung findet: der Maurersohn Friedrich
Hebbel, der schon im fünften Jahr zu dichten begann und sich durch
eiserne Willenskraft und vielseitige Förderung zu den Bildungsquellen
seiner Entwicklung durchrang, oder in jüngster Zeit die Arbeiterdichter
Lersch und Bröger oder die schwedisch-finnische Dienstmagd
S. Salminen, die Verfasserin des Romans „Katrina“.


Die Berufstradition der Pfarrerfamilie kann man namentlich bei
Lessing verfolgen, dessen juristischer Großvater schon eine Schrift „De
religionum tolerantia“ verfaßte. Der Enkel Gotthold Ephraim fühlte
sich in der Gabe des Zornes ganz als Erbe seines Vaters, des eifernden
Primarius von Kamenz, und rief dessen Iraszibilität an: „Nun mach
bald, was du machen willst, knirsch mir die Zähne, schlage mich vor
die Stirn, beiß mich in die Unterlippe! Indem tue ich das letztere wirklich,
und sogleich steht er vor mir, wie er leibte und lebte ─ mein
Vater seliger. Das war seine Gewohnheit, wenn ihn etwas zu wurmen
anfing: und so oft ich mir ihn einmal recht lebhaft vorstellen will, darf
ich mir nur auf die nämliche Art in die Unterlippe beißen.“ Hier
erstreckt sich die Vererbung bis zu den charakteristischen Ausdrucksbewegungen
des Affektes, und man denkt an jene wunderbare
Mischung von Eigenheiten und Zügen eines Geschlechts, für die
Jakob Grimm in der Gedächtnisrede auf seinen Bruder Wilhelm
Zeugnis ablegt: „Da hält ein Kind den Kopf oder dreht die Achsel,
genau wie es Vater oder Großvater getan hatte, und aus seiner Kehle
erschallen bestimmte Laute mit denselben Modulationen, die jenem
geläufig waren; die leisesten Anlagen, Fähigkeiten und Eindrücke der
Seele, warum sollten nicht auch sie sich wiederholen?“


Die sichtbare Übereinstimmung zwischen ererbten Gewohnheiten
und Seelenleben, zwischen Ausdrucksformen des Leiblichen und Geistigen,
zwischen Körperbau und Charakter steht neuerdings als Gegenstand
morphologischer und psychologischer Forschung im Vordergrund.
Der Psychiater Ernst Kretschmer hat die Grundtypen leptosomer,
asthenischer oder athletischer Leibesbeschaffenheit auf der einen Seite
sowie pyknischen Körperbaus auf der anderen Seite in Parallele gesetzt |#f0325 : 301|

mit zwei verschiedenen Seelenlagen, die nicht nur in krankhaften Auswüchsen,
sondern auch als Eigenschaften gesunder Menschen zu beobachten
sind: schizothym und zyklothym. Es handelt sich dabei um
Erbanlagen, die sowohl in den rassischen Merkmalen als auch in den
geheimnisvollen Erscheinungen der inneren Sekretion begründet zu
sein scheinen. Sie können deshalb in den verschiedenen Lebensphasen
des Individuums Veränderung erfahren, die sich wieder seelisch auswirkt.
Kretschmer unterscheidet danach zwei Gruppen in Künstlertemperament
und Ausdrucksart, in Weltanschauung und Stil.


Die einen sind die Idealisten, die anderen die Realisten. Hochgewachsen
und hager sind die Pathetiker, Romantiker und formvollendeten
Stilkünstler; sie haben „autistische“ Neigungen zur Absonderung
von den Mitmenschen und zum humorlosen Ernst; sie schwanken
zwischen heroischen und idyllischen Kontrasten und kennen nicht
die Mitteltöne des ruhigen und naiven Geschehenlassens und Genießens.
Zu ihnen werden vornehmlich Dramatiker und Lyriker gezählt,
wie Schiller, Grillparzer, Kleist, Grabbe, Hölderlin, Novalis, Platen,
aber auch der Epiker Tasso.


Die wohlbeleibten Pykniker zyklothymen Temperaments dagegen
stehen als Realisten und Humoristen mitten in der Welt und lassen
die Dinge an sich herankommen. Auch sie sind nicht durchaus glückliche
Naturen, sondern zeigen zirkuläre Neigung zu periodischen
Schwankungen, zeitweiligem Stimmungswechsel und sogar zu melancholischen
Gemütserkrankungen. Bei ihnen überwiegt der Stofftrieb
den Formtrieb, und sie wenden sich als Dichter der unstilisierten
Prosa und der episch breiten Erzählung mit gemütswarmer und farbig
reicher Einzelschilderung zu. Die Alemannen Gottfried Keller, Jeremias
Gotthelf, Hermann Kurz, aber auch der Rheinfranke Goethe und
der Mecklenburger Fritz Reuter werden zu dieser Gruppe gerechnet.


Bei Legierungen aber wie der humorvollen Phantastik Mörikes, dem
romantischen Realismus Hebbels, dem sentimentalen Humor Jean
Pauls, der beschaulichen Pathetik Raabes und dem kritischen Menschenverstand
Lessings werden auch gemischte Körperformen erkannt.
Diese Zwischenstufen, die sich mannigfach vermehren lassen, beweisen
eine größere Reichhaltigkeit der Erscheinungsformen als der aufgestellten
Typen. So hat der Psychologe E. R. Jaensch als Kritiker des
Kretschmerschen Systems vielleicht nicht ganz unrecht, wenn er nur
dem pyknischen Typus, der auf Grund schwäbischen Beobachtungsmaterials
gefunden ist, volle Gültigkeit zuerkennt und in dem Gegentypus
der Nichtpykniker vielerlei wesensverschiedene Haltungen vereint
sieht. Allerdings hat Jaensch mit seiner eigenen Typologie des |#f0326 : 302|

Eidetikers und des Integrierten, von denen im zweiten Hauptteil dieses
Buches zu sprechen ist, (S. 345 ff.) sich demselben Einwand ausgesetzt,
da er den Gegentypen der Nicht-Eidetiker und Desintegrierten zunächst
keine positive Bestimmung geben konnte, sondern erst später dem
vielfach differenzierten Integrationstypus den des Synästhetikers gegenüberstellte.



Wie weit diese körperlichen und seelischen Anlagen auf rassische
Eigenschaften und stammhafte Eigentümlichkeiten zurückzuführen
sind, ist noch nicht geklärt, obwohl Kretschmer sowohl wie Jaensch
bereits Versuche zur Anknüpfung gemacht haben. Wenn auch die
schizothymen Züge mehr der nordischen, die zyklothymen Züge mehr
der ostischen Rasse zu entsprechen scheinen und der erste Integrationstypus
nach Jaensch in England, der zweite vor allem in Süddeutschland,
der Synästhetikertypus in Frankreich zu Hause sein soll, so sind
die Unterschiede von Schmalwüchsigkeit und Breitwüchsigkeit wie die
Charakter- und Temperamentverschiedenheiten gleichwohl in allen
Rassen, auch den nicht europäischen, vorhanden; die Konstitutionsunterschiede
spiegeln sich selbst in den ostasiatischen Buddhatypen.


Eine Weiterbildung des Kretschmerschen Systems im Kompromiß
mit älterer Typologie und neueren psychologischen Experimenten stellt
sich in der psychiatrischen Charakterkunde von Hermann Hoffmann
und in der pädagogischen von Gerhard Pfahler dar. Pfahlers Buch
„Vererbung als Schicksal“ nimmt wieder besonders Bezug auf die dichterischen
Anlagen und gewinnt aus der Mischung von verschiedenen
Graden der Aufmerksamkeit und Perseveration, der Ansprechbarkeit
des Gefühls und der vitalen Energie zwölf Grundformen menschlicher
Erbcharaktere. Für die Einordnung der Dichter ist die Unterscheidung
von festem und fließendem Gehalt bestimmend, aus der sich zwei
Gruppen ergeben, die weder rassisch noch stammhaft geschieden sind.
Zum Typus des festen Gehaltes, der sowohl Kretschmers schizothymer
Konstitution wie Schillers sentimentalischen Menschen und der Introversion
des Züricher Psychiaters Jung analog ist, werden außer Hölderlin,
Schiller, Hebbel auch C. F. Meyer, Stefan George und Rilke
gerechnet; zu den Charakteren fließenden Gehaltes, die den Zyklothymen,
den Naiven, den Extravertierten, den Farbensehern entsprechen,
rechnen Fritz Reuter, Ludwig Thoma, Jeremias Gotthelf, Matthias
Claudius, Gottfried Keller. Diese Einteilung wird durchkreuzt von
einer vertikalen Unterscheidung nach den Gegensätzen starker und
schwacher Aktivität, wobei Schiller, Kleist, Reuter und Keller auf die
eine, Rilke und Claudius auf die andere Seite treten. Offenbar zielt
diese Gliederung weniger auf den Stil als auf die Gattung: starke |#f0327 : 303|

Aktivität prädestiniert zu Drama und Erzählung, schwache zur
Lyrik.


Pfahler macht sogar den Versuch, durch ein primitives Schulbeispiel
die Erbbestimmung einer Dichterfamilie zu veranschaulichen: der
Vater besaß starke vitale Energie, enge fixierende Aufmerksamkeit,
starke Perseveration, starke Ansprechbarkeit des Gefühls nach der
Unlustseite und konnte infolgedessen zum Tragiker werden; der Sohn
hatte von der Mutter weite fluktuierende Aufmerksamkeit, schwache
Perseveration, starke Ansprechbarkeit des Gefühls nach Lustseite mitbekommen
und schrieb infolgedessen Romane; der Enkel aber hat das
Grundfunktionsgefüge des Großvaters geerbt, nur sind Aufmerksamkeit
und Gefühlsansprechbarkeit zurückgetreten, so daß er nun als
Gelehrter auf dem Felde der Naturwissenschaft seine Gaben bewähren
kann. Namen sind nicht genannt, und es bleibt zweifelhaft, ob der
Fall, der an sich möglich ist, aus der Erfahrung stammt; es ist kein
großer Tragiker bekannt, dessen Sohn Romane schrieb und dessen
Enkel Naturforscher wurde; vielmehr macht die Mannigfaltigkeit des
Lebens immer einen Strich durch solche Rechnungen, und die Lebenstragik
hat den meisten tragischen Dichtern männliche Nachkommen
versagt oder, wie im Fall Schiller, bei gesunder Erbfolge keine weitere
dichterische Bewährung gebracht.


d) Genialität


Literarhistoriche Genealogie wird zur Genialogie, wenn sie den
Ursprüngen der Dichtergabe nachgeht. Die Erbforschung, die aus dem
Erfahrungsstoff der Literaturgeschichte Schlüsse ziehen will, ist indessen
auf sehr lückenhaftes Material angewiesen. Eine so große Rolle
das Zwillingsmotiv in der Dichtung spielt, so wenig ist ein Fall eineiiger
Zwillinge, die nach Erbgesetzen als Dichter die gleiche Entwicklung
hätten nehmen müssen, bekannt. Anders liegt es bei den Musikern,
unter denen der Vater Johann Sebastian Bachs einen ganz gleich gearteten
Zwillingsbruder hatte. Geschwister ungleichen Lebensalters,
wie sie um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts besonders häufig
gleiches Erbgut bedeutsam vertraten (Humboldt, Schlegel, Hardenberg,
Tieck, Brentano, Eichendorff), haben sich meist (mit Ausnahme
der Gebrüder Grimm) nach den Unterschieden ihrer Anlagen und Charaktere
auseinander gelebt.


Es wäre zu untersuchen, wie weit die Verschiedenheit der Gaben
und Charaktere in solchen Fällen mit dem Übergewicht des väterlichen
oder mütterlichen Erbteils zusammenhängt. Es ist behauptet worden, |#f0328 : 304|

daß die ererbte Begabung bei Musikern in der Regel vom Vater ausging.
Stefan George meinte, wie Sabine Lepsius erzählt, daß der Mann
überhaupt immer die Begabung vom Vater habe und ihm ausschließlich
ähnlich sähe, was in seinem Fall zutraf. Rilke, der seine Erziehung
von der Mutter erhielt, würde das Gegenteil gesagt haben. Arthur
Schopenhauer, der Sohn einer bedeutenden Mutter, wollte es geradezu
als Gesetz ansehen, daß der Intellekt von der Mutter, die irrationalen
Gaben vom Vater vererbt würden. Ebenso schrieb Sainte Beuve der
Mutter entscheidenden Einfluß zu. Neuere Erbforschung scheint ihm
Recht zu geben. Auf jeden Fall ist es eine einseitige Anwendung der
Stammestheorie, wenn in der Regel der väterlichen Aszendenz nachgegangen
wird.


Genealogische Bemühungen haben mehrere Urmütter ermittelt, in
denen die Ahnentafeln bedeutender Dichter und Philosophen zusammentreffen.
So entdeckte Hanns Wolfgang Rath in Regina Bardili, geb.
Burckhardt (1599─1669), eine schwäbische Geistesmutter, zu deren
Nachkommen Uhland, Hölderlin, Schelling, Gerok, Ottilie Wildermuth
und der Philosoph Niethammer gehören, während Eduard Mörike auf
ihren Stiefbruder zurückzuführen ist. Eine poetische Ahnfrau von ähnlicher
Bedeutung findet sich unter Goethes Aszendenz in Esther Ley,
geb. Ritter (7. Ahnenreihe). Für sie ist keinerlei Zeugnis dichterischer
Begabung beizubringen, wenn man nicht aus der Tatsache, daß ihr
Mann poeta laureatus war, Schlüsse ziehen will. Aber durch sie ist
Goethe mit Hegel, Uhland, Hauff, Gerok und J. J. Moser blutsverwandt.



Was die weibliche Dichtergabe betrifft, so hat Ina Seidel im Hinblick
auf eigene Erbabhängigkeit feststellen wollen, daß in fast allen
Fällen „der Funke der Anlage im Zickzack von der männlichen, der
väterlichen Linie auf die weibliche „töchterliche übersprang“. Die
Literaturgeschichte kennt Gegenbeispiele. Die märkische Sappho Anna
Luise Karsch, die als Viehmagd auf dem Lande aufgewachsen war,
vererbte ihre Gabe als poetisches Kunkellehen über die Tochter Karoline
Klenke und die Enkelin Helmina von Chézy bis zum Urenkel,
dem Romanschriftsteller Wilhelm von Chézy, mit dem sie dann erlosch.
Aus den einzelnen Gliedern dieser Reihe ist zu sehen, daß in ihrer
Schriftstellerei mehr dem Zeitstil Tribut gezollt wurde als einer bestimmten
Richtung der Erbanlage. Ähnliches gilt von der langen
Ahnenreihe, die sich von der empfindsamen Sophie von Laroche über
Maximiliane Brentano, Bettina von Arnim, Gisela Grimm bis zu Elisabeth
von Heyking und Irene Forbes-Mosse hinzieht. Alle tragen geniale
Züge und stehen in ihrer Zeit. Unter den Kindern der von Goethe |#f0329 : 305|

einstmals geliebten Maxe Laroche hat aber das einzige, das sich zum
wirklichen Genie entwickelt hat, Clemens Brentano, keine Fortpflanzung
erlebt, und es ist die Frage, ob aus jenem Achim Ariel, den ihm
die Dichterin Sophie Mereau schenkte und der nur fünf Wochen alt
wurde, bei Lebensfähigkeit ein Dichter erstanden wäre. So endet in
Clemens ein Seitenzweig der Erbreihe, während durch die Nachkommen
seiner Brüder der Name in der Wissenschaft weiter zu hervorragenden
Ehren gelangte.


Das Wort Goethes, wonach eine ganze Familie eines Tages alle bisher
vereinzelten und angedeuteten Anlagen in einem ihrer Glieder
ausspreche, ebenso wie ein ganzes Volk in einem oder mehreren Männern
seine sämtlichen Verdienste zusammenfasse, hat nur im Vordersatz
mit Erbgesetzen zu tun. Daß aber dann höchste Steigerung und
Zusammenfassung soviel wie Erschöpfung bedeuten kann, hat in
Goethes eigener Familie tragische Bestätigung gefunden.


Das dichterische Genie scheint einen besonderen Fall innerhalb der
Erbgesetze darzustellen; es beruht zwar auf Erbanlagen, aber es ist
nicht vererbbar. Wenn es dem einmaligen günstigen Zusammentreffen
von vielerlei Erbgut entstammt, so kann der damit gesegnete Mensch
doch nicht in jedem Sinne glücklich genannt werden. „Selig, welchen
die Götter, die gnädigen, vor der Geburt schon liebten“, so hat zwar
Schiller, nicht ohne Beziehung auf Goethe, den Günstling des Schicksals
gepriesen:


Ihm ist, eh' er es lebte, das volle Leben gerechnet;
Eh' er die Mühe bestand, hat er die Charis erlangt.


Trotzdem hat gerade Goethe im Alter das bittere Wort gesprochen,
er könne sich keines Augenblicks in seinem Leben erinnern, in dem er
wahrhaft glücklich gewesen sei. Das Genie aus Geburtsanlage bedarf
zu seiner Entwicklung eines Lebens voller Schmerz und Entsagung.
Dichtung ist dem vertiefenden Leid verpflichtet, so wie die Perle nach
einem Worte Rückerts als Krankheitsträne der Muschel aufzufassen
ist. Hofmannsthal spricht in einem Brief an Stefan George von dem
purpurnen Licht verklärter Wundmale, das sein Werk ausstrahle. Es
wird soviel Selbstopferung in eigenen Qualen und mitfühlender Hingabe
an die Grausamkeiten des Daseins vom Dichter gefordert, er wird
von soviel Leidenschaften verzehrt und muß sich soviel Schmerz von
der Seele schreiben, daß Christian Morgenstern geradezu sagen konnte,
ein Dichter müsse siebenundsiebzigmal als Mensch gestorben sein, ehe
er als Dichter etwas tauge. Auch die Erbanlagen, die ihm als Disposition
zu Krankheit und körperlichem wie seelischem Leid in die Wiege |#f0330 : 306|

gelegt werden, haben ihren schicksalhaften Anteil an dem Gebot des
„Stirb und werde“, in dessen Zeichen sich die Entwicklung des Dichtergenies
vollzieht.


3. Lebensgang und Schicksal

a) Daten


Drei Wege der Darstellung eines Dichterlebens sind gekennzeichnet
durch die verschiedene Art, sich mit dem Zahlengerippe des äußeren
Verlaufs abzufinden. Das an geschichtliche Zeitfolge und Kausalität
gebundene biographische Herkommen führt nach Musterung der
Ahnenreihe an die Wiege des Helden und läßt ihn mit dem Tage seiner
Geburt und unter den Aspekten dieser Stunde von Jahr zu Jahr fortschreitend
zur Hauptperson werden. ─ Eine auf die Problemstellung
des Lebens und der Dichtung gerichtete essayistische Gestaltung dagegen
zieht es vor, mit einer charakteristischen, sinnbildhaften und
spannungweckenden Situation des entwickelten Daseins einzusetzen
und die Daten der Geburt und des frühen Werdens an einer nebensächlichen,
mehr oder minder versteckten Stelle verschämt nachzuholen,
da diese Tatsachen doch nicht ganz verschwiegen werden
können. ─ Ein rein künstlerisches Dichterporträt aber verschmäht
alle Zahlen und gibt sie höchstens in einer Zeittafel am Schlusse zur
Orientierung bei, so wie bei einem Gemälde für Angaben über die
Lebenszeit des Dargestellten Platz bleibt auf dem Rahmen oder in
einem daruntergesetzten Täfelchen, das dem Museumskatalog entspricht.



Als Reaktion gegen die positivistische Überschätzung des Meßbaren
entsteht eine ausgesprochene Abneigung gegen alles Ziffernmäßige, das
sprachkünstlerisch nicht in Eigenform zu bringen ist. Damit verbindet
sich eine Geringschätzung des übertriebenen Aufwandes, den die Einzelforschung
im Dienste unwesentlicher Feststellungen verschwendet
hat. Weiter kommt dazu die Gewißheit, daß die Lebensdaten berühmter
Männer als Bestandteil des Schulwissens und der allgemeinen Bildung
längst bekannt sind, daß sie im Konversationslexikon und auf
Abreißkalendern gefunden werden und daß die Presse unzählige
Schreiber ins Brot setzt, durch die bei Gelegenheit jedes Jubiläums
die Anlässe des Gedenkens ins allgemeine Bewußtsein zurückgerufen
werden.


Die drei Darstellungsmethoden stehen in einer entwicklungsgeschichtlichen
Reihenfolge, die auch von der Bedeutung des Gegenstandes
abhängt. Zunächst hat, wie Walter Muschg in seiner Untersuchung |#f0331 : 307|

über „Das Dichterporträt in der Literaturgeschichte“ anerkennt,
die historisch orientierte Biographie als „Gefäß für die Dokumente
des Dichterlebens“ den Vorrang. Sie bleibt ein „die Ideen
nur andeutendes Vorspiel“, wenn mit Sammlung und Kritik des biographischen
Materials eine bisher noch nicht getane Arbeit geleistet
werden mußte. Sind diese Aufgaben restlos erfüllt, so kann die vollständige
Wiederholung feststehender Ergebnisse zum lähmenden Ballast
werden; eine Biographie, die als Nachschlagewerk alles Wissenswerte
vermitteln will, wie die auf zwölf Bände berechnete Goethe-
Biographie, die Wilhelm Bode begann, verliert das Wesentliche der
Erscheinung aus dem Auge und wird unlesbar. Das ist nicht erst eine
Erfahrung unserer Zeit, sondern schon der alte Christoph Martin Wieland
hat den klugen Ausspruch getan: „Wo es mir darum zu tun ist,
zu wissen, was für ein Mann einer war, ist ein einziger Zug, der uns in
das Innere seines Geistes und Herzens blicken läßt, wichtiger als ganze
Bogen voll gleichgültiger Begebenheiten ─ wiewohl freilich im gewissen
Sinn an großen Menschen nichts Gleichgültiges ist.“


Für vollständigen Überblick über den äußeren Verlauf eines bedeutenden
Lebens gibt es brauchbarere Hilfsmittel, die wissenschaftlicher
Sammeltätigkeit zu danken sind. Da ist z. B. die von Flodoard Freiherrn
v. Biedermann knapp zusammengestellte und erweiterungsfähige
Chronologie „Goethes Leben“ oder die von seinem Vater begonnene
und von ihm neu bearbeitete Sammlung von „Goethes Gesprächen“ zu
nennen. Für Schiller sind die ausführlichen Regesten Ernst Müllers
vorhanden, die fast jeden Tag des Lebens ausfüllen, sowie die Zusammenstellung
aller Urkunden und Berichte in dem dreibändigen Werk
„Schillers Persönlichkeit“. Die Tabellen werden gerade dadurch nützlich,
daß sie auf jede darstellerische Färbung verzichten; außer Kommentierung
und kritischer Beleuchtung der Zuverlässigkeit jedes Einzelberichts
verbieten auch die vollständigen Zusammenstellungen des
Urkundlichen alle persönliche Einmischung des Sammlers.


Eine Darstellung, die sich von solchem Rohstoff befreit sieht, darf
zur Gliederung des Ganzen fortschreiten, die um so klarer herauszuarbeiten
ist, je mehr die Probleme des Lebens in Zusammenklang
gebracht werden können mit denen der Dichtung. Endlich winkt als
letztes Ziel die eindringende Deutung, mit der die Gesamterscheinung
von ihrem Wesenskern aus erkannt und nach ihrer Lebensidee im
überzeitlichen Sein erfaßt wird. Damit ist die völlige Überwindung
des Rohstofflichen erreicht durch eine Gestaltung, der gleichwohl das
ganze biographische Material in unerläßlicher Vorarbeit zum Unterbau
dienen muß. Nirgends darf die eigene Auffassung um einer |#f0332 : 308|

aphoristischen Konzeption willen in Widerspruch treten zu den überlieferten
Tatsachen, und weder mag leichtfertige Unkenntnis als Entschuldigung
dienen, noch ist der spielenden Phantasie erlaubt, da, wo
ein Problem liegt, willkürliche Entscheidungen zu treffen. Darin
bestehen die wissenschaftlichen Schranken, die der künstlerischen
Freiheit des Biographen gesetzt sind. Wer mit dem Stoffe ringt, darf
den Ring, der ihm gezogen ist und der von den Kampfrichtern kontrolliert
wird, nicht verlassen.


Solch Großkampf einer um das letzte gehenden Entscheidung ist
indessen nur bei einem gewaltigen Lebensstoff, dessen Bewältigung
den härtesten Widerständen begegnet, lohnend und durchführbar. Es
gibt daneben Mittelgewichts- und Leichtgewichtskämpfe. Bei einem
Dichter mittlerer Bedeutung ist, nachdem die erste Aufgabe der
historischen Biographie Erfüllung gefunden hat, kaum über die zweite
Aufgabe des problem- und geistesgeschichtlichen Essays, der den Typus
in seine Zeit stellt, hinauszukommen. Bei einem Kleinen genügt überhaupt
die Ermittlung der Lebensdaten, um sein Werk nach Lebensraum,
Lebenszeit und Gesellschaft einzugliedern in den Gesamtverlauf.
Hier kommen wir zur lokalgeschichtlichen Würdigung und zu jener
Wertung, die Benedetto Croce (oben S. 63) nur als kulturgeschichtlich
anerkennen will. Der italienische Philosoph hat selbst ein Beispiel gegeben
in der reizvollen Skizze über Goethes ersten italienischen Sprachlehrer
Domenico Giovinazzi, wobei es ihm sichtliches Vergnügen bereitete,
dem Literarhistoriker zu zeigen, auf welchem Wege einer
solchen, an sich unbedeutenden Persönlichkeit, die nur als Statist fungiert,
hätte auf die Spur gekommen werden können.


b) Hilfsmittel


Die Quellen für die zeitliche Festlegung eines Lebenslaufs unterscheiden
sich zunächst kaum von denen der archivalischen Geschichtswissenschaft:
Kirchenbücher, Urkundensammlungen, Zeugenunterschriften
bei Verträgen, Gerichts- und Magistratsprotokolle, Zunftbücher,
Schul- und Klosterakten, Universitätsmatrikeln, Aufgebote,
Geburtsanmeldungen von Nachkommen und Totenbücher lassen die
Grenzsteine eines Lebens am Anfang, in der Mitte oder am Ende
entdecken. Von den damit gegebenen festen Punkten aus kann eine
Strecke nach vorwärts oder rückwärts abgeschritten werden. In
der Neuzeit zeigt die Fülle der Nachrichten manchmal Widersprüche,
zwischen denen, z. B. bei Ermittlung der Geburtstage von Schiller und
Kleist, erst ein endgültiger Ausgleich geschaffen werden mußte. Für |#f0333 : 309|

Heine wurde diese Datierung bei den unwahrhaftigen Angaben, die
er selbst gemacht hat, sogar ein Problem. In älteren Zeiten dagegen
ist man für jedes überlieferte Datum so dankbar, daß man an seiner
Glaubwürdigkeit ohne Not nicht zu rütteln wagt.


Nicht immer ergibt sich der Fund eines wichtigen Datums methodischer
Nachforschung, sondern oft fällt er als Beisteuer nachbarlicher
Hilfeleistung ab, wie es etwa bei Ermittlung des Ackermanndichters
geschah (oben S. 99 f.). Schwerlich wäre ein Walther-Biograph darauf
gekommen, die Reiserechnungen des Wolfger von Ellenbrechtskirchen
zu durchstöbern, in denen das einzige urkundliche Zeugnis für das
Leben Walthers von der Vogelweide versteckt ist. Vergebens hatte
man alle Vogelweidhöfe in Tirol und anderen Gegenden beachtet, um
etwas über die Familie zu erfahren, und umsonst hatte man im Würzburger
Lusamgärtlein eine Grabinschrift gesucht. Aber hier stand zu
lesen, daß der Bischof von Passau und spätere Patriarch von Aquileja
am Martinstage des Jahres 1203 Walthero cantori de Vogelweide in
der Gegend von Zeiselmauer 5 solidos spendierte, damit er sich einen
Pelzrock für den nahenden Winter anschaffen könne. Daß er damit
der Bitte eines verlorenen Spruches von Walther entsprach, ist nicht
ausgeschlossen; aber ein Riesengebäude von Hypothesen über Walthers
Parteistellung und über Wolfgers politische Bedeutung konnte außerdem
auf dieser Notiz errichtet werden.


Auch ein Grimmelshausen-Forscher wäre kaum darauf verfallen, die
Kirchenbücher von Offenburg einzusehen, um daraus etwas zu erfahren
über die am 30. August 1649 vollzogene Vermählung des ehrbaren
Johann Jakob Christoff v. Grimmelshausen, des löbl. Elterschen Regimentes
Secretarius, des Herrn Johanns Christoffel, Burger zu Gelnhausen
Sohn, mit der tugendsamen Catharina Henningerinn, der Tochter
eines Wachtmeister-Leutnants. Es ist vielmehr so, daß eine Grimmelshausen-Forschung
überhaupt erst mit der Entdeckung dieser
Urkunde ins Leben treten konnte. Vorher war der Verfasser des
Simplicissimus als Samuel Greifenson von Hirschfeld oder Melchior
Sternfels von Fuchsheim in den Bücherverzeichnissen zu finden, und
nun erst war der Beweis erbracht, daß die achtundzwanzig Buchstaben
des kaum weniger auffallenden Namens Christoffel von Grimmelshausen,
unter dem die höfischen Romane „Dietwald und Amelinde“ und
„Procimus und Lympida“ erschienen waren, kein Pseudonym darstellen.
Von hier aus fand man den Weg nach der Geburtsstadt Gelnhausen
und zu weiteren Spuren der dortigen Familie; nach der anderen
Seite konnte man den Lebensweg weiter verfolgen zum Amtssitz des
Prätors von Cernhein, mit welchem Anagramm der Schultheiß von Renichen |#f0334 : 310|

die Vorrede seines Lebensromanes gezeichnet hatte. In Renchen
fand sich auch die Sterbeurkunde. Von dem bayerischen Obersten
Johann Burkard Freiherrn v. Elter kam man zu seinem Schwager, dem
Freiherrn Hans Reinhard v. Schauenburg, der vorher dasselbe Regiment
und die Festung Offenburg kommandiert hatte. Das Familienarchiv
der Freiherrn v. Schauenburg erschloß eine Menge von Urkunden
über Grimmelshausens Tätigkeit nach dem Kriege als Schaffner
und als Wirt „Zum silbernen Stern“ in Gaisbach bei Oberkirch. Auf
der Spur der Obersten v. Schauenburg und v. Elter kam man zum
Münchener Reichsarchiv, wo die Kriegsberichte an den Kurfürsten von
Bayern in den Schriftzügen des Regimentsschreibers und sogar mit
Zeichnungen von seiner Hand erhalten sind und die Standorte des
Regiments in den letzten Kriegsjahren überliefern. So ist es schließlich
dahin gekommen, daß von kaum einem anderen Dichter des
17. Jahrhunderts so viele Lebenszeugnisse erhalten sind als von dem
bis vor 100 Jahren unbekannten Verfasser des Simplicissimus. Zwei
große Bände konnte die Urkundensammlung füllen, die der Marburger
Archivdirektor Gustav Könnecke zusammengebracht hat und die J. H.
Scholte aus seinem Nachlaß herausgab.


Aber eine Lücke liegt in den Jugendschicksalen von der Entführung
durch die Kroaten bis zur Verlegung der Götzschen Dragoner aus
Westfalen nach dem Schwarzwald. Diese Spanne umfaßt gerade die
Kriegsabenteuer des Heranwachsenden, die im Roman dargestellt sind.
Und nun entsteht die Frage, bis zu welchem Grad die Romanhandlung,
die in den Anfangs- und Endpunkten Spessart und Schwarzwald sich
mit dem Leben des Dichters deckt, als Ganzes eine autobiographische
Lebensdarstellung bietet. Hier muß abgezogen werden, und alles, was
sich als herkömmliches Roman-, Novellen- und Schwank-Motiv oder
als Entlehnung aus historischen Quellen („Theatrum Europäum“)
erweist, ist aus der Lebensgeschichte zu streichen, ebenso alles das,
was einen chronologischen Verstoß gegenüber dem geschichtlichen
Verlauf darstellt. Dann bleiben nur Hessen und Westfalen mit den
Hauptpunkten Hanau und Soest als erlebte Schauplätze übrig.


c) Dichtungen als biographische Quellen


Die Frage, wie weit aus der Dichtung Angaben über das Leben herausgelesen
werden dürfen, macht das besondere Problem aus, durch das
sich literarhistorische Biographik von der historischen unterscheidet.
Zunächst erscheint eine ganz einfache Gleichung folgerichtig: soweit
Dichtung aus dem Leben hervorgegangen ist, müssen Rückschlüsse aus |#f0335 : 311|

der Dichtung auf das Leben erlaubt sein. Blicken wir von hier aus
noch einmal auf Grimmelshausen, so hat es sich der Vorredner der
posthumen Gesamtausgabe von 1683/4, die „Der aus dem Grabe der
Vergessenheit wiedererstandene Teutsche Simplicissimus“ betitelt ist,
leicht gemacht, indem er die Schicksale des Romanhelden einfach mit
denen des Verfassers identifizierte. Das war, wie wir eben sahen, unberechtigt.
Umgekehrt konnte, wie oben (S. 102 f.) gezeigt wurde, ein
Zeitgenosse Grimmelshausens, Johann Beer, erst durch die Übereinstimmungen
zwischen seinem Leben und seinen Dichtungen ermittelt
werden. Offenbar hängt es von der Wesensart des Dichters, von der
Beweglichkeit seiner Phantasie oder dem Tatsachensinn seines Realismus
ab, bis zu welchem Grade seine Lebensgestaltung an wirkliche
Verhältnisse gebunden ist. Von diesem Unterschied zwischen Ichdichtern
und Sachdichtern soll im zweiten Hauptteil (S. 354) die
Rede sein.


Die Beurteilung hängt aber nicht allein von dem Typus des Dichters
ab, sondern auch von den Wirklichkeitsbegriffen seiner Stammesart,
seines Standes, seiner Gesellschaft und seines Zeitalters. Das Programm
einer groß angelegten Untersuchung über „Wahrheit und Dichtung im
Mittelalter“, an deren Durchführung der allzu frühe Tod ihn hinderte,
hat Arthur Hübner 1933 der Preußischen Akademie der Wissenschaften
vorgelegt. Es sollte sich dabei hauptsächlich um die Auffassung
geschichtlicher Wahrheit in der epischen Dichtung handeln, aber auch
die Wirklichkeitsverhältnisse, die dem Minnesang zugrunde lagen,
kommen in Betracht. In der Scheinwelt der höfischen Dichtung herrscht
ein Spiel poetischer Fiktion, das begründet ist in den romanischen
Anschauungen von hoher Minne als Lehensdienst und unterwürfigem
Werben um eine meist verheiratete Herrin. Ähnliche Entfernung von
wirklichen Lebensverhältnissen bleibt auch noch im Petrarkismus des
16. und 17. Jahrhunderts erhalten. Aber schon Wolfram v. Eschenbach
hat die Konvention durchbrochen, indem er die herkömmliche
Form des Tageliedes zu einem Preis des ehelichen Glückes umbog, und
Walther von der Vogelweide tat ein Gleiches, indem er eine neue Konvention
dörflicher Tanz- und Liebeslieder schuf, die sich an verlorene
volkstümliche Dichtung anschloß. Die Literarhistoriker aber hatten
Unrecht, die aus seinem Leben einen Roman von aufeinanderfolgenden
Erlebnissen hoher und niederer Minne machen wollten ähnlich wie
man es mit der Corinna in Ovids „Amores“, mit Catulls Lesbia oder
mit Dantes Beatrice und Petrarcas Laura versucht hat. R. M. Meyer
hat durch eine parodistische Anwendung auf Goethes Lyrik diese
Deutungsweise mit billigem Witz ad absurdum geführt. Dabei war |#f0336 : 312|

gerade Goethe in einer für frühere Jahrhunderte kaum denkbaren
Weise wirklicher Erlebnisdichter. Aber sein Leben ist in der Dichtung
Symbol geworden, und wenn er von seinen Gelegenheitsgedichten
sagte, sie seien alle durch die Wirklichkeit angeregt und hätten darin
Grund und Boden, so heißt es ein anderes Mal von den „Wahlverwandtschaften“,
alles sei darin erlebt, aber nichts so dargestellt, wie
es erlebt worden sei. Diese Äußerungen führen zu dem Unterschied
von Leben und Erleben, der im zweiten Hauptteil dieses Buches zu
besprechen ist.


Schon die Zeitgenossen haben Goethes Dichtung falsch verstanden;
sie haben Berichtigungen des „Werther“ verfaßt, weil sie ihn als
Schlüsselroman lasen und das Schicksal des Selbstmörders Jerusalem
wiedergegeben glaubten, oder sie waren gekränkt, weil sie, wie Lottes
Bräutigam Kestner, ihr eigenes entstelltes Bild am Pranger sahen. Unmittelbare
Wirklichkeitsspiegelung ist im „Werther“ weniger bei den
menschlichen Verhältnissen zu finden, als in den Naturerlebnissen, für
deren Niederschlag vielleicht die echten Briefe Goethes an Merck Verwendung
fanden.


Wohl gibt es Romane autobiographischen Gehaltes, wie „Anton
Reiser“, „Lucinde“, „Der grüne Heinrich“ oder in neuerer Zeit Liliencrons
„Leben und Lüge“, Schaffners „Johannes“ und „Der kleine Held“
von W. v. Molo, die zwar nicht durchweg, aber doch in bestimmten
Partien als Darstellung eigener Lebenslage oder als Jugenderinnerung
aufzufassen sind. Die Liebe Heinrichs zu Anna kann man, nachdem
Hunziker alle Übereinstimmungen in Glattfelden festgestellt hat, zur
Lebensgeschichte Gottfried Kellers rechnen, so wie die „Bekenntnisse
eines Ungeschickten“ zu der Friedrich Schlegels. So hatte wohl auch
der Gotthelf-Biograph Walter Muschg recht, wenn er aus den verhüllt
autobiographischen Romanen „Bauernspiegel“ und „Leiden und Freuden
eines Schulmeisters“ mancherlei zur Aufhellung des inneren Lebens
von Bitzius verwertete, zumal dieser selbst in einem Brief verraten
hatte, wie sehr die unterdrückte Natur der Käser und Jeremias
einer inneren Lage des Verfassers entsprach. Mit mehr kritischer Vorsicht
sind indiskrete Abrechnungen wie George Sands „Elle et lui“ oder
d'Annunzios „Fuoco“ zu betrachten, in denen unter ein erlebtes Liebesverhältnis
ein nicht unvoreingenommener Schlußstrich gemacht
wird.


Als Theoretiker der biographischen Darstellung redete Muschg in
der oben erwähnten Abhandlung auch der Anekdote das Wort, weil
sie der eigentliche Träger der Symbolik sei: „Sie zeugt, wenn auch
schwach und meist durch das Auge Dritter gesehen, von der sagen- |#f0337 : 313|

oder mythenbildenden Kraft der Persönlichkeit. Sie gibt nur den
Charakter, nicht die geschichtliche Wirklichkeit des Helden wieder.“


Wenn Nietzsche sagt, aus drei Anekdoten sei es möglich, das Bild
eines Menschen zu geben, so rechnete er mit der Treffsicherheit des
Karikaturisten. Wird der Dichter zum Anekdotenhelden, so pflegen
allgemein-menschliche Züge einseitig hervorzutreten. In einem Bändchen
„Gottfried-Keller-Anekdoten“ beispielsweise findet sich fast ausschließlich
das Bild des rauhbeinigen Saufkumpans überliefert, das eine
Maske des Dichters war.


Auf jeden Fall muß die Einschränkung gelten, daß die symbolhafte
Anekdote als solche zu kennzeichnen ist und nicht mit beglaubigten
Tatsachen durcheinander gebracht werden darf. Beispielsweise ist jene
ergreifende Erzählung Moritz Hartmanns von dem wahnsinnigen deutschen
Dichter, der wie ein Geist unter den griechischen Götterbildern
eines französischen Schloßparks auftaucht, trotz ihrer symbolischen
Bedeutung für den von Apoll Geschlagenen nicht als urkundlicher
Aufschluß über die Erlebnisse Hölderlins bei der Heimwanderung aus
Bordeaux zu verwerten.


d) Selbstbekenntnisse


Autobiographien. Die Anekdote spielt auch in den Selbstdarstellungen,
die für die Technik der Biographie vorbildlich wurden,
eine wichtige Rolle. In „Dichtung und Wahrheit“ bedeutet der Besuch
des jungen Leipziger Studenten bei Gottsched und die Ohrfeige, die
der mächtige Perückenträger dem säumigen Diener verabreicht, ein
schlagkräftiges Sinnbild für die Begegnung zweier Generationen. Man
wird sie deshalb nicht mit jedem Zug als wirklichen Vorfall in Goethes
Leben einsetzen dürfen. Nicht anders ist es mit dem faustischen Vorklang
des Frankfurter Gretchen, mit dem Märchen vom „Neuen Paris“
oder mit der Sesenheimer Idylle. Heinrich Düntzer hat mit hoffnungsloser
Nüchternheit nachgewiesen, daß der nächtliche Ritt nach Sesenheim
niemals stattgefunden hat, sondern dem Gedicht „Willkommen
und Abschied“ nacherzählt wurde. Ebenso hat man feststellen müssen,
daß der Familienbestand des Sesenheimer Pfarrhauses in der Zahl der
Kinder dem Personal des Goldsmithschen „Vicar of Wakefield“ angeglichen
ist. Nachdem in kritischen Untersuchungen von Gustav
v. Loeper, Gustav Roethe, Karl Alt und Kurt Jahn alle künstlerischen
Rücksichten, die im Titel des Werkes gerechtfertigt sind, alle Schwächen
von Goethes Gedächtnis und alle Hilfsmittel, die er benutzte,
erkannt wurden, bleibt die höhere Wahrheit des Kunstwerkes bestehen; |#f0338 : 314|

aber eine Biographie, die geschichtliche Wirklichkeit sucht, kann sich
gelegentlicher Berichtigung von „Dichtung und Wahrheit“ nicht entziehen.



Tagebücher und Briefe. Wären Tagebücher Goethes aus
der von ihm dargestellten Jugendzeit erhalten, so würden sich chronologische
Berichtigungen aller Art auf Schritt und Tritt einstellen;
es ist aber fraglich, ob der Dichter seine Selbstbiographie unter solcher
Kontrolle überhaupt geschrieben hätte. Für die Weimarer Jahre, für
die er alle Stützen seines Gedächtnisses zur Hand hatte, bedeuteten
sie keine Förderung. Die geplante Fortsetzung von „Dichtung und
Wahrheit“, deren Schema vorliegt, blieb unausgeführt, weil die allzu
nahe Wirklichkeit und der bedrängende Lebensstoff keine darstellerische
Distanz finden ließen. Erst mit den Reisen durch die Schweiz und
nach Italien konnte Goethe die Lebensbeschreibung fortsetzen, weil
er in den eigenen Reiseberichten, die in die Ferne führten, bereits
geformte Unterlagen besaß. Auch Briefe sind indessen nicht immer
objektive Quellen, da sie sich nach dem Verhältnis zum Empfänger
richten und manchmal durch allerlei Rücksichtnahme gefärbt sind. Die
Berichte, die Goethe aus Italien an Frau v. Stein und an den Herzog
richtete, haben verschiedenen Charakter, und die Redaktion des Reisewerkes
mußte einen Ausgleich herstellen.


Von fremden Fälschungen müssen wir natürlich absehen, aber auch
Briefe, deren Echtheit einwandfrei feststeht, geben durchaus nicht
immer zuverlässige Lebensnachricht. Die Meldungen z. B., die Schiller
aus Bauerbach nach Stuttgart schickte, enthalten erfundene Angaben
über Aufenthalt und Reisepläne, um etwaige Verfolgung auf falsche
Fährte zu lenken. Auch Goethe hat, wenn er sich selbst auf der Flucht
fühlte, wie bei der winterlichen Harzreise und bei der Fahrt nach
Rom, die Aufenthaltsorte verheimlicht, bis das Ziel, dessen Bezwingung
eine Schicksalsfrage bedeutete, erreicht war. Heinrich v. Kleist
wiederum hat über Zweck und Ergebnis seiner Reise nach Würzburg
in Briefen an die Braut so dunkle Andeutungen gemacht, daß ihr Sinn
noch heute umstritten ist.


Reiseeindrücke: Beschreibungen ferner Länder, die in literarischer
Form vor die Öffentlichkeit treten, können, auch wenn sie
nicht von Schellmuffsky oder Münchhausen verfaßt sind, mehr enthalten,
als der Verfasser sah. So hat Joseph Bédier nachgewiesen, daß
Châteaubriand gar nicht alle Gegenden Amerikas, die er beschrieb,
selbst zu besuchen imstande war, sondern daß er die Berichte anderer
Reisender mit solcher Einfühlung und so starkem Kolorit verarbeitete,
daß seine Schilderungen den Eindruck der Echtheit erwecken. Auch |#f0339 : 315|

Fontane ist bei seinen „Wanderungen durch die Mark“ nicht ohne
fremde Hilfe ausgekommen. Bei Schiller wollte man nicht glauben,
daß der Dichter des „Wilhelm Tell“ den Vierwaldstätter See nicht
gesehen habe, von dem er nach Beschreibungen, mündlichen Erzählungen
und Karten ein so anschauliches Bild entwarf. In anderer
Weise wiederum hat Jean Paul, ohne Italien zu kennen, im „Titan“
die Borromäischen Inseln und Ischia als traumhafte Phantasielandschaften
mit glühendem Farbenrausch in sprachliche Musik gesetzt.
Goethe dagegen hätte Mignons Sehnsuchtslied nicht angestimmt, ohne
Berg, Wolkensteg und Teufelsbrücke mit eigenen Augen gesehen und
die Italien-Sehnsucht auf der Höhe des Gotthard mit eigenem Herzen
erlebt zu haben. Auch Lord Byron begann seinen „Prisoner of Chillon“
unter unmittelbarem Eindruck des Schlosses, dessen Gefängniszelle
er besucht hatte; er hat mit seinem Manfred das Hochgebirge
erklettert, und er schwamm selbst von Sestos nach Abydos, um die
Leistung Leanders zu erproben. Aber daraus ist keine Herodichtung
entstanden. Chamissos „Salas y Gomes“ wiederum ist durch den Anblick
des verlassenen Eilands angeregt, aber wenn man nicht von der
Weltreise des Dichters wüßte, würde man ebensowenig als bei anderen
Robinsonaden auf erlebte Wirklichkeitseindrücke schließen.


Wollte man alle lokalen Angaben aus Dichtungen als erlebt ansehen,
so käme man zu phantastischen Folgerungen, und aus jedem Dichter
würde ein Weltreisender. Eher sind umgekehrte Schlüsse erlaubt. Aus
der geographischen Unbekümmertheit, mit der Calderon Jerusalem
ans Meer verlegte und Shakespeare Böhmen als eine Insel behandelte,
darf man wohl folgern, daß sie diese Länder nicht einmal auf einer
Karte gesehen haben. Dagegen ist für das dänische Lokalkolorit im
„Hamlet“ anzunehmen, daß dem Dichter Schilderungen vorlagen von
englischen Schauspielern, die Kroneborgs Schloßterrasse kannten.


Lokaltreue ist immer von der Art der dichterischen Einbildungskraft
abhängig und von der Nahrung, die sie benötigt. Der Romantiker
Achim v. Arnim, der in den „Kronenwächtern“ das alte Waiblingen
aus seiner Phantasie geschildert hatte, ließ bei einem späteren Besuch
den Wagen am Tor umkehren, weil die Stadt seiner Vorstellung nicht
entsprach und für ihn so nicht existieren sollte. Der finnische Dichter
Koskenniemi erzählt dagegen, daß er in seiner Jugend von Florenz
träumte und daß dieses phantastische Traumbild so fest in seiner Einbildungskraft
haften blieb, daß der spätere Besuch der Arno-Stadt mit
den ganz anderen Eindrücken es nicht verdrängen konnte. Flaubert
wiederum hielt es für nötig, als Vorstudien zu den „Versuchungen des
heiligen Antonius“ und zu „Salambo“ Reisen nach Ägypten und Tunis |#f0340 : 316|

zu unternehmen, um die Atmosphäre Nordafrikas einzufangen und
Klima, Art, Sitten und Lebensweise der Menschen zu beobachten. Er
glaubte schließlich, in „Salambo“ etwas gemacht zu haben, „was Karthago
ähnlich sieht“. Aber es bleibt die Frage, ob die Farbenorgien des
von ihm gezeichneten Stadtbildes archäologisch soviel getreuer sind
als das Traumbild von Florenz, das Koskenniemi in sich trug.


Lebenswirklichkeit und Dichtung. Der phantasievolle
Dichter ist, auch da, wo er zuverlässigste Wirklichkeit geben will, gar
nicht dazu imstande; er ist immer ein Künstler, der nach Goethes Wort
„aus Wahrheit und Lüge ein drittes bildet, dessen erborgtes Dasein
uns bezaubert“. Wie es im „Westöstlichen Diwan“ heißt:


Dichten zwar ist Himmelsgabe,
Doch im Erdenleben Trug.


Immer wieder drängt sich die Frage auf, welchen Zweck es denn
haben kann, gegen die Fata Morgana, mit der die Magie des Dichters
in Bann schlägt, eine nüchterne Wirklichkeit auszuspielen. Man kann
antworten, daß auch der Luftspiegelung irgendeine Wirklichkeit zugrunde
liegt und daß die Wissenschaft zur Erklärung des Mediums,
das solches Fernbild fortpflanzte, verpflichtet ist. Zur Errechnung
der Strahlenbrechung muß aber der Ausgangspunkt ermittelt werden.
Wieder ist es Goethe, der als Naturwissenschaftler sich mit allen Erscheinungen
der Spiegelung befaßte und in ihnen ein Gleichnis für
die innere produktive Kraft des Menschen fand. In einem Aufsatz
„Wiederholte Spiegelung“ hat er das Nachklingen seines Sesenheimer
Erlebnisses den entoptischen Erscheinungen verglichen, die durch wiederholte
Spiegelung die Leuchtkraft der Farben nicht abschwächen,
sondern steigern: „ein jugendlich seliges Wahnleben, das sich unbewußt
eindrücklich in dem Jüngling abspiegelte und viele Jahre in seinem
Inneren fortgehegt wird, kommt nach langer Zeit in lebhafter Erinnerung
zur Aussprache nach außen und spiegelt sich somit abermals ab,
das Bild drückt sich andern ein, die an der Örtlichkeit aus Trümmern
von Dasein und Überlieferung eine zweite Gegenwart schaffen, und
diese Spiegelung fällt auf den alten Liebhaber zurück, in dessen Seele
sich die Gegenwart der Geliebten von ehemals wieder lieblich erneuert.“


Wenn nach diesem Gleichnis das Erlebnis bereits als produktives
Verhalten zum Leben erscheint, so finden wir Übereinstimmung
mit der Stufenfolge, die ein Spruch Goethes unter Benutzung Leibnizscher
Begriffe herstellt: „Das Höchste, was wir von Gott empfangen
haben, ist das Leben, die rotierende Bewegung der Monas um sich
selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt ... Die zweite Gunst des |#f0341 : 317|

von oben wirkenden Wesens ist das Erlebte, das Gewahrwerden, das
Eingreifen der lebendig bewegten Monas in die Umgebungen der
Außenwelt, wodurch sie sich selbst erst als innerlich Grenzenloses, als
äußerlich Begrenztes gewahr wird ... Als drittes entwickelt sich nun
dasjenige, was wir als Handlung und Tat, als Wort und Schrift gegen
die Außenwelt richten.“


Von der zweiten und dritten Stufe wird erst an späteren Stellen
dieses Buches zu sprechen sein: vom Erlebnis im zweiten Hauptteil,
der dem Seelenleben des Dichters gilt, während die als Wort und
Schrift gegen die Außenwelt gerichtete Tat als Schaffensvorgang das
Thema des dritten Hauptteils bilden soll. Zunächst haben wir bei der
ersten Stufe, dem Leben der Monade, zu bleiben.


e) Schicksal


Geburt und Grab bedeuten Anfang und Ende des individuellen
körperlichen Lebens. Wenn Goethes Selbstdarstellung im Einklang mit
dem ersten orphischen Urwort großen Wert legt auf den Zeitpunkt des
Eintritts ins Leben, so daß der geheimnisvolle Sternenglanz astrologischer
Zusammenhänge auf die Mittagsstunde des 28. August geworfen
wird, fallen Dichtung und Wahrheit zusammen. Die Stunde mag
unfaßbarem Einfluß der Gestirne als der Sinnbilder kosmischer Gesetze
unterliegen; der Tag, auf den die reife Frucht fällt, bringt in seinem
gesetzmäßigen Abstand von der Empfängnis alle erbmäßige Einwirkung
zum Abschluß und prägt die Form, die ihrer lebenden Entwicklung
entgegenstrebt; die Jahreszeit ist von Gewicht für die ersten
Lichteindrücke des Kindes und legt den Grund für die Aufnahmefähigkeit
seines Erlebens; das Jahr der Geburt aber bedeutet zwangsläufige
Einordnung in eine Altersgruppe von Zeitgenossen, die sich
zur Schicksalsgemeinschaft verkettet, indem sie gemeinsam lernt und
alle großen Ereignisse der Zeit auf gleicher Altersstufe und in gleicher
Empfänglichkeit miterlebt.


So ist das Datum der Geburt entscheidend für die ineinander
webende und wirkende Dreiheit von Ererbtem, Erlebtem und Erlerntem,
die erst in der Stunde des Todes auseinander fällt. Der Tod aber
ist schon mit dem Zeitpunkt der Geburt gesetzt, als äußerste Lebensgrenze,
die mit fortschreitenden Jahren immer bedrohlicher naherückt.
Gesteigertes Naturgefühl sucht den Kontrast des täglich wiederkehrenden
Sonnenaufgangs und des immer neu erwachenden Frühlings als
tröstende Symbole auf, wie es in Herders „Tithon und Aurora“ geschieht,
oder Abendstimmung und herbstliches Welken werden mit |#f0342 : 318|

ahnender Wehmut empfunden. Der Tod übt vorgreifenden Einfluß auf
das Leben aus, sei es, daß seiner sichtbaren Ankündigung ausgewichen
wird, wie es durch den alten Goethe geschah, sei es, daß die drohende
Ruhe allem Wollen und Schaffen eine überstürzte Beschleunigung gibt.
Der Tod kann mit Bewußtsein in das eigene Leben hineingezogen
werden, wie bei Novalis, der das Sterben als einen philosophischen
Akt betrachtete, oder bei Kleist, der den Tod als ewigen Refrain des
Lebens erkannte, oder bei Rilke, dessen Gebet dahin ging, seinen
eigenen Tod zu haben:


Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
Darin er Liebe hatte, Sinn und Not.


Und ähnlich schreibt schon der von Rilke so sehr geliebte Jacobsen:
„Ich glaube, jeder Mensch lebt sein eigenes Leben und stirbt seinen
eigenen Tod, das glaube ich.“ (Frau Marie Grubbe, 17. Kap.)


Auch das Erlebnis des Todes anderer kann zum Schicksalsmotiv
des eigenen Daseins werden. So kam Zacharias Werner dazu, dem
24. Februar, an dem er seine Mutter und seinen Freund Mnioch verlor,
verhängnisvolle Bedeutung beizumessen, und Novalis begann mit dem
Todestag der Sophie v. Kühn eine neue Zeitrechnung. Auch Jean Paul
spielt beim Emanuel des „Hesperus“ wie im „Quintus Fixlein“ mit
solchem Fatalismus und soll sogar selbst einmal, wie der Schwede
Atterbom erzählt, seinen Todestag vorausgesagt haben, ohne daß diese
Ahnung sich erfüllte.


Tod und Liebe stehen in innerer Lebensverbindung, denn auch die
Liebe unterliegt biologischen Gesetzen. Das Goethe-Buch des Psychiaters
P. J. Moebius erregte 1903 Aufsehen mit der Beobachtung
eines siebenjährigen Rhythmus im Liebesleben und poetischen Schaffen
Goethes. Durch Hermann Swoboda wurde dieser Gedanke pythagoräischer
Zahlenmystik, der schon in der Fließschen Periodenlehre
medizinisch begründet worden war, aufgenommen und zu der Theorie
ausgebaut, daß jedes siebente Jahr des Menschen ein Hochjahr an
körperlicher und geistiger Zeugungskraft sei. Als Voraussetzung für
die Erzeugung eines Genies wird Zusammentreffen desselben Siebenjahrs-Pulses
in Homorhythmie der beiden Elternteile angenommen;
irgendeine Beziehung zur Siebenzahl wird bei fast allen großen Dichtern,
sei es in ihrem eigenen Leben, oder in dem ihrer Eltern nachgewiesen,
und wo die Rechnung nicht völlig aufgeht wie bei Goethe,
kann es durch Kreuzung mit dem weiterwirkenden elterlichen Siebenjahr-Rhythmus
erklärt werden.


Der Geopsychologe Hellpach und der Psychiater Kretschmer sind |#f0343 : 319|

von diesem Beispiel der Goetheschen Lebenskurve in gleicher Weise
angezogen worden und suchen nach Erklärungen, teils aus dem Einfluß
kosmischer Perioden, teils aus der zirkulären Konstitution. Aber
es muß gesagt werden, daß die Projektion der Wochentage auf Lebensphasen
nicht ungezwungen durchzuführen ist. Zweijährige Erregungsperioden
sollen nach Kretschmer mit siebenjährigen Zwischenpausen
abwechseln. Das würde neunjährige Gesamtperioden ergeben. Wenn
aber 1767 (Kätchen Schönkopf) und 1772 (Lotte Buff) als die ersten
Höhepunkte aufgefaßt werden, so fällt der weit stärkere Erregungszustand
des Sesenheimer Erlebnisses und des erwachenden Sturm- und
Drang-Geistes gerade in die Mitte der angenommenen Pause. Die Tatsachen
wollen sich dem klinischen Bild nicht einfügen. Für die Mitte
des Lebens muß Kretschmer selbst zugeben, daß die periodische Wellenbewegung
verwischt ist; er läßt in diesen Jahren größter geistiger
Gesundheit an die Stelle erotischer Erlebnisse die Freundschaft mit
Schiller treten, die 1794 einsetzt und 1800/1 einen Kulminationspunkt
erreicht; man kann aber nicht sagen, daß die dazwischenliegenden
sieben Jahre, in denen Wilhelm Meisters Lehrjahre, die Balladen, Hermann
und Dorothea entstanden und der Faust wieder aufgenommen
wurde, die Bedeutung einer schöpferischen Pause hätten. Im Alter
allerdings, das in den Jahren 1807/8 (Minchen Herzlieb), 1814/5 (Marianne
v. Willemer), 1821/3 (Ulrike v. Levetzow) drei mit gesteigerter
Schaffenskraft verbundene Liebeszustände bringt und dann noch einmal
1830/1 mit dem Abschluß des Faust zu einer erstaulichen produktiven
Leistung sich steigert, scheint die Lebenskurve den angesetzten
regelmäßigen Wellengang zu bestätigen. Es ist aber wesentlich, daß
nur für den abnormen Zustand wiederholter Pubertät, den Goethe den
genialen Naturen zuschreibt, diese Periodizität zu erkennen ist, während,
wie man wohl sagen darf, für den jungen Goethe die Liebe Normalzustand
war.


Die Goethe-Biographie würde in einen Systemzwang geraten, wenn
sie diesen Siebenjahresplan als periodisches Aufbauprinzip benutzen
würde. Wohl aber muß sie eine grundlegende Beobachtung gelten
lassen, nämlich die, daß Liebe bei Goethe immer vor der Geliebten
da war, daß er Friederike fand, weil er einen Gegenstand für die in
ihm klingenden Liebeslieder suchte und daß er Suleika besang, noch
ehe ihm Marianne v. Willemer erschienen war. Denselben Zustand
hat Jean Paul, obwohl er kein Lyriker war, seinem Albano, dem Helden
des „Titan“ beigelegt, in dessen Herz bereits Freundschaft und Liebe
war, bevor er einen Freund und eine Geliebte gefunden hatte. Ein
anderes schicksalbestimmendes Wirken des Daimon, das sich in Goethes |#f0344 : 320|

Jugend mit beinahe gesetzmäßiger Regelmäßigkeit durchsetzt, ist
die von Schuldgefühl und Selbstquälereien begleitete plötzliche Flucht
vor der Liebe und vor jeder gesellschaftlichen Bindung. Die Analyse
des Psychiaters deutet auf Triebambivalenz und sieht die Problematik
solches biologisch begründeten Liebes- und Gefühlslebens mit den Voraussetzungen
der genialen Persönlichkeit und mit den Folgerungen aus
ihrer Anlage verbunden. Wenn Kretschmer auf ein Wort Nietzsches
verweist, wonach die konstitutionelle Triebnatur eines Menschen bis
in die letzten Gipfel seines Geistes hinaufragt, so verkennt er anderseits
nicht die Gefahr einseitiger Überspitzung. Die ist den Psychoanalytikern
oft zum Verhängnis geworden, indem sie den Zugang zu
allen seelischen Entwicklungen mit dem einzigen Passepartout unterbewußter
Triebe öffnen wollten. Sie blieben dabei auf der niederen
Stufe des Lebens, die noch kein bewußtes Erlebnis und noch weniger
Dichtung geworden ist, sondern nur unmittelbare oder mittelbare
Grundlage für das eine wie das andere bildet. Niemals bringt Triebleben
von sich aus Dichtung hervor, sondern in der Dichtung liegt eine
selbständige Kraft, das dunkle Triebleben ins Bewußtsein zu ziehen,
es durch lösende Aussprache zu überwinden und durch diese heilende
Selbstbefreiung krankhaften Zuständen zu entrinnen. So wird Dichtung
selbst zur rettenden Flucht aus der Lebenswirklichkeit. „Wenn
ich nicht Dramas schriebe, ginge ich zugrunde“, hat Goethe einmal
bekannt in der Zeit, da das Drama „Stella“ für das bedrängende Erlebnis
einer Doppelliebe zum Ventil werden mußte.


Das Fluchtmotiv, das im Mittelpunkt dieses Dramas steht, scheint
einen besonderen Schicksalszug im Leben der Dramatiker auszumachen.
Bei Grillparzer hätte Swoboda das Siebenjahr bestätigt
finden können, war er doch 28 (4 × 7) Jahre alt, als er nach Italien
reiste, und 7 Jahre später trat er seine erste Reise nach Norddeutschland
an. Bei Goethe fallen die Zeiten dramatischen Schaffens mit den
Fluchtperioden zusammen, wie sich an Götz, Clavigo, Egmont, Faust,
Iphigenie, Tasso zeigen läßt. Mit Schillers Flucht aus Zwang und Enge
der Heimat ist es anders beschaffen; da war die dramatische Entladung
bereits vorausgegangen, und die Flucht sicherte die einzige Möglichkeit
zur Freiheit weiteren dichterischen Schaffens.


Der Charaktergegensatz Goethes und Schillers, den Ludwig Klages
durch ein Mehr von Lebensabhängigkeit und ein Mehr von Geistesabhängigkeit
bezeichnen will, veranschaulicht sich in dem verschiedenen
Verhältnis zwischen Leben und Dichtung. Schillers Leben wird
gelenkt durch den Willen zur Dichtung, während Goethes Dichtung von
dem Willen zum Leben getragen wird; es gibt noch ein drittes Verhältnis, |#f0345 : 321|

das sich willenlos den Lebenswellen überläßt, aber das kann
nur dem lyrischen, nicht dem dramatischen Menschen zu eigen sein.
Nur selten, bei der Flucht von Mannheim nach Sachsen (Charlotte
v. Kalb) und bei der Entfernung von Dresden nach Tharandt (Henriette
v. Arnim) spielt für Schiller die Befreiung aus erotischen Konflikten
mit; die weiteren Schauplatzveränderungen seines Lebens sind von
ebenso klarbewußter Zielsetzung der dichterischen Entwicklung bestimmt,
wie die ideellen Bildungsreisen in die Welt des Altertums, der
Geschichte und der Philosophie. Der Weg nach Thüringen, die vorübergehende
Rückkehr zur Heimat, die Übersiedlung von Jena nach
Weimar um des Theaters willen und die noch im letzten Lebensjahr
geführten Verhandlungen über eine Berufung nach Berlin lassen die
starke Zielbewußtheit erkennen. Es ist trotz der Störung durch Krankheit
und Todesnähe eine ziemlich gerade verlaufende Schicksalslinie,
deren letzte Wendung der Tod, der schon vorher sich angemeldet hat,
vereitelte. Aber sein Schatten hat das Licht feuriger Kraftanspannung
verstärkt.


Bei Lessing vollzieht sich die häufige Schauplatzveränderung in
einem unruhigen Rhythmus, der in dreifach gespaltenem Lebensziel
seine Ursache hat: das dramatische Schaffen findet in Leipzig, Potsdam
und Hamburg, die kritische Publizistik in Berlin, die gelehrte Betätigung
in Wittenberg, Breslau und Wolfenbüttel angemessene Daseinsbedingungen.
In plötzlichen Sprüngen fluchtartigen Charakters vollziehen
sich die schroffen Übergänge, die zugleich durch die bald
anziehende, bald abstoßende Polarität zwischen dem rauschenden
Strom der Welt und der stillen Welt der Bücher bedingt ist. Noch
weit jäher und unstäter kreuzt der Zickzack-Kurs eines Heinrich
v. Kleist stoßweise von Ort zu Ort; die Verbindungslinien zwischen
Potsdam, Frankfurt, Paris, Bern, Weimar, Königsberg, Dresden, Berlin
bilden ein schwer zu entwirrendes Diagramm seines vom Dämon
gejagten Lebens.


Die Lebensläufe der Lyriker zeigen nicht solche Plötzlichkeit überraschender
Willensantriebe, sondern suchen in minder kontrastreichen
Kurven, aber mit nicht geringerer Unrast nach Veränderung der Eindrücke.
„Uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhen“, steht über
dem heimatlosen Dasein der Hölderlin, Brentano, Platen, Lenau,
George, Rilke.


Dagegen setzt der Erzähler sich gern und bald zur Ruhe, um schließlich
in unveränderter Seßhaftigkeit auf seinem Beobachtungspunkt
gegenüber dem Leben, das er an sich herankommen läßt, zu beharren.
Wieland in Weimar, Jean Paul in Bayreuth, Gottfried Keller in Zürich, |#f0346 : 322|

Adalbert Stifter in Linz, Theodor Storm in Husum, Wilhelm Raabe
in Braunschweig, Hermann Stehr in Schreiberhau können als Beispiele
solches Sicheinnistens genannt werden. Am beharrlichsten war wohl
der Berliner Theodor Fontane, dessen Sarg aus derselben Wohnung
in der Potsdamer Straße 134c herausgetragen wurde, die er ein Vierteljahrhundert
vorher bezogen hatte.


Gleichviel wie es mit dem ursächlichen Zusammenhang beschaffen
sei, ob die auf stille Lebensbeobachtung verlegte Ruhe des Daseins
zur epischen Haltung des Berichtes hinführt oder ob es die beschauliche
Erzählkunst ist, die ein Dasein ruhiger Lebensbeobachtung fordert,
ein schicksalhafter Zusammenhang zwischen Charakter, Lebensgang
und Dichtungsgattung ist unverkennbar. Die leidenschaftliche
Ausdruckskraft des Dramatikers und die eindrucksempfängliche
Innerlichkeit des Lyrikers verschmähen das Gleichgewicht seelischer
Ruhelage und verlangen nach Gegensätzlichkeit und Wechsel im
eigenen Erleben, während der Erzähler mehr auf reiche Bildungseindrücke
der ihn umgebenden Welt angewiesen ist und sie zu erarbeiten
Grund hat. So wird sich die Periodisierung des Lebens beim
Dramatiker und Lyriker mehr nach den inneren Erschütterungen und
Problemen, bei dem Epiker mehr nach den Eindrücken der Umwelt
und dem Fortgang der Zeit zu richten haben. Für beides gilt die von
Goethe in den allgemeinen Betrachtungen der „Farbenlehre“ empfohlene
Dreiteilung, wonach das Leben jedes bedeutenden Menschen,
das nicht durch einen frühen Tod abgebrochen wird, in den Epochen
der ersten Bildung, des eigentümlichen Strebens und der Vollendung
sich abstufen läßt.


4. Anpassung und Beeinflussung


Erbgut und Umwelt sind die beiden Hauptfaktoren, die als Entelechie
und Determination, als innere Entwicklungsrichtung wie von
außen her formende Kraft im Leben des einzelnen Ausgleich suchen
und beim Aufbau der Persönlichkeit ineinander wirken. Wenn in
Goethes orphischen Urworten die zusammengehörigen Paare Daimon-
Eros und Tyche-Ananke getrennt werden, um sich in einer der Lebensfolge
entsprechend veränderten Reihe zu umschlingen, so entspricht
es dem Ineinanderübergreifen innerer und äußerer Schicksalsfügung.


Zeitweilig hat die Wissenschaft den Einflüssen der als Tyche und
Ananke bezeichneten Bestimmungen übertriebenes Gewicht beigemessen,
aber niemals konnte sie so weit gehen, den Menschen in seinem
Sein und Handeln ausschließlich als Produkt der Umwelt aufzufassen, |#f0347 : 323|

da diese ja keine Substanz hervorbringen kann. Selbst die sinnloseste
materialistische Formel „Der Mensch ist, was er ißt“ kann das nicht
gemeint haben; noch weniger war es der Sinn der oft einseitig mißverstandenen
deterministischen Milieutheorie. Wenigstens hat Taine die
rassische Erbanlage ausdrücklich vorangestellt vor der Umwelt, weil
sie durch diese erst geformt werden soll.


Auf der anderen Seite kann die äußerste Folgerichtigkeit von Erb-
und Rassenlehre trotz der bestimmenden Entwicklungsmächte des
Blutes, zu denen Daimon und Eros zu rechnen sind, die notwendige
Mitwirkung der Umwelt nicht ausschließen. Und wenn es nur soweit
ginge, daß die Rasse sich die ihr entsprechende Umwelt schafft oder
sucht, wie nach neueren biologischen Lehren (v. Uexküll) die Umwelt
nicht etwas das einzelne Lebewesen Bestimmendes, sondern eine durch
seine Sinne bestimmte Merk- und Wirkwelt darstellt, seine Eigenwelt,
wie man zwecks Vermeidung von Mißverständnissen zu sagen vorschlug.



Neben die Kraft des Blutes stellt sich die des Bodens und wenn nicht
außerdem die Einwirkung geistiger Kräfte anerkannt werden müßte,
wo blieben dann alle Bemühungen der Seelsorge, der Erziehung, der
Heilkunst ebenso wie alle Fortschritte der Kultur und Technik, wenn
sie auch noch so fragwürdig sind? Wo bliebe schließlich der Sinn der
Dichtung, wenn sie nicht nur als selbstbefreiender Ausdruck, sondern
als mitreißender Wirkungswille und als Sendung, für die eine Umwelt
vorauszusetzen ist, betrachtet wird?


Am wenigsten kann der Dichter in seinen Daseinsbedingungen von
der ihn umgebenden Welt losgelöst werden, verdankt er ihr doch allen
Erlebnisstoff, den er formt und an dem er sich bildet. Wie im dichterischen
Erlebnis Inneres und Äußeres, Schöpferisches und Leidendes
einander entgegenstreben, miteinander ringen und sich durchdringen,
so ist es auch im Werdegang der dichterischen Persönlichkeit. Zweierlei
Verhalten, das zur Entwicklung und Wandlung führt, ist dabei zu
unterscheiden: die Aktivität eines mehr oder weniger bewußten Hineinwachsens
in die Umwelt mit allen ihren zugehörigen Bereichen;
anderseits die Passivität der Hingabe an von außen wirkende Einflüsse.
Im Grunde geht beides zusammen, und das Mehr oder Weniger hängt
von dem Verhalten der Umweltfaktoren ab. Aktive Anpassung stellt
sich gegenüber einer passiven Ruhelage ein; passive Unterwerfung
gegenüber aktiv eindringenden und fordernden Mächten. Unveränderlich
sind, soweit sie als Ganzes dem Einzelnen gegenüberstehen, die
in sich beruhenden Verhältnisse des Raumes, wie Haus, Heimat, Landschaft,
Sprache, Volkstum, zu denen der Werdende anschmiegend und |#f0348 : 324|

sich einfügend vordringt, auch wenn er nicht in sie hineingeboren ist.
Eingreifend mit dem Anspruch auf Formung, ja oft auf Vergewaltigung
sind die dem Zeitgeist verschriebenen, in wirkenden Persönlichkeiten
verkörperten Bildungsmächte wie Schule und Lehre, Vorbild und Führertum;
zu ihnen gehört sogar die Dichtung selbst in ihrer ganzen
Dynamik. Alles dringt auf den Werdenden ein, und er muß sich von
ihm mitreißen lassen, wenn er nicht zum Widerstand gereizt wird.


a) Familie


Zwischen den Gegensätzen steht die Familie, die beides bedeuten
kann: Erbgut und Umwelt, feste Überlieferung und eingreifende Bildungsmacht.
Sie selbst schließt in ihrer Zusammensetzung oftmals
Gegensätzliches zusammen; die Wesensverschiedenheit der Eltern in
bezug auf religiösen Geist und Erziehungsgrundsätze führt zu Auseinandersetzungen
zwischen Verstand und Gefühl, deren unbewußter Gegenstand
das Kind ist. Schiller beispielsweise trug weit mehr Charaktererbgut
seines rationalistischen Vaters als seiner pietistischen Mutter
in sich; aber die Mutter, in deren Händen die erste Erziehung lag,
wußte die Kinder zu religiösen Ekstasen mitzureißen wie bei jenem
Spaziergang, da sie auf der Höhe des Berges schwärmerisch niederknieten
und den Allmächtigen anriefen. Goethe wiederum war viel
mehr Kind seiner mit pietistischen Kreisen befreundeten Mutter; aber
die Sorge für die Heranbildung faßte der rationalistische Vater als
seine Lebensaufgabe auf. In beiden Fällen also setzt die Erziehung
mit einem Gegensatz gegen das dominierende Erbgut der Anlage ein;
aber das tiefere Erlebnis stieg doch aus dem Unterbewußtsein auf;
schließlich haben die Müttergestalten in Goethes Dichtung und umgekehrt
die Väter in Schillers Dramen das Übergewicht behalten.


Wenn sich andere Glieder der älteren Generation einmischen, wenn
ihnen gar nach dem Tode des einen Elternteils oder nach Trennung
der Ehe eine Mitverantwortung zufällt, so mehren sich die Konflikte.
Der Großvater v. Labes bei Achim v. Arnim, der Komtur v. Hardenberg
bei Novalis, die Tante Massow bei Kleist, die Tante Möhn bei
den Brentanos, der Owehonkel und Tante Füßchen bei Hoffmann,
Tante Pinchen bei Fontane sind Gestalten, deren Geisteshaltung und
Persönlichkeit zu erforschen sind, um die ernsten oder heiteren Erlebnismotive,
die aus ihrer Einwirkung sich ergaben, zu erkennen.
Von nicht geringerer Bedeutung aber ist das frühe Verhältnis zu Geschwistern,
seien es ältere Schwestern, wie Ulrike v. Kleist, die eine
fast mütterliche Haltung annehmen, seien es jüngere, wie Cornelia |#f0349 : 325|

Goethe, an der der Bruder zum Schulmeister werden wollte. Die
psychoanalytische Annahme frühester Inzesterlebnisse, von der schon
oben (S. 166) die Rede war, kann nur dann von literarhistorischer Bedeutung
sein, wenn sie, wie bei Lord Byron, wirklich dichterisches
Erlebnis und, wie im „Manfred“, als solches gestaltet wurde.


b) Heimat


Der Biograph, der die Ursprünge seines Helden sucht, muß wortwörtlich
in Dichters Lande gehen. Es genügt nicht, daß er Landkarte
oder Stadtplan vor sich hat und aus Urkunden, Bildern und
Beschreibungen auf seinem Schreibtisch ein Papiermodell aufbaut,
das nur die Haltbarkeit eines Kartenhauses besitzt. Er muß sich
selbst auf die Wanderschaft begeben, muß Land und Leute, Sitte, Art
und Redeweise des Volksschlages kennenlernen, um mit offenen Sinnen
die Atmosphäre der Dichterheimat in allen ihren Stimmungen aufzunehmen.
Dieselbe Luft einzuatmen, die das Kind einsog, zu den von
der gleichen Morgensonne bestrahlten alten Giebeln aufzuschauen und
unter den noch heute dort spielenden Kindern ein Ebenbild zu finden,
die bergbekränzten Fluren zu durchstreifen, die den Natursinn des
Dichters weckten, die Geisterstimmen des Wipfelrauschens, das murmelnde
Lied des Flusses und den Glockenschlag der alten Turmuhr zu
vernehmen wie einst ─ wenn es möglich ist, bei veränderter Welt
noch etwas von all diesem Kindheitszauber der Heimat zu erhaschen,
so ist der Lebensquell der Darstellung erschlossen.


Je besser die Erinnerung des Dichters selbst die Umwelt, in der er
heranwuchs, festgehalten hat, desto mehr Verpflichtung besteht, die
Farben seiner Darstellung in eigenem Augenschein aufzufrischen.
Goethes Selbstdarstellung ist ein biographisches Muster für das Mitgehen
mit dem Helden in der schrittweise sich aufhellenden Weitung
des Horizontes. Konzentrische Kreise entwickeln sich wie Ringe auf
dem Wasserspiegel; der Weg führt vom Fensterausblick des Zimmers
durch das Haus und zu seiner Baugeschichte, vom Haus auf die Straße,
von der Straße in die Stadt, von der Stadt zu ihrer Geschichte und von
der Geschichte zur Vergegenwärtigung der Zeitereignisse, die Frankfurt
in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rückten. „Zum Sehen
geboren, zum Schauen bestellt“ wuchs dieses Großstadtkind heran,
aber es fehlt in der Darstellung seiner Frühentwicklung zunächst der
Sinn für Natur, dessen Erweckung erst einer späteren Periode vorbehalten
ist. Anders verlaufen die Knabenjahre Hölderlins, der sich
vom „Wohllaut des Haines“ erzogen fühlte; seiner Kindheit sind, wie |#f0350 : 326|

Dilthey schön gezeigt hat, die weichen Linien der lieblichen Hügellandschaft,
die ein Gefühl der Geborgenheit, des sich Anschmiegens
und doch Sich-Fortsehnens vermitteln, frühe Begleitmusik; Hölderlins
Griechentraum hat später dem niegesehenen Sehnsuchtsland manche
Farben seiner ersten Kindheitseindrücke verliehen, sowie seine Kindheitserinnerungen
griechische Form annahmen. Jean Paul wiederum
hat weniger die Landschaft als das wärmere Verhältnis zu den Menschen
im Auge, wenn er die Enge der Heimat bevorzugt: „Lasse sich
doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern
wo möglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen.“


Mit der Eindrucksfähigkeit des Dichters und mit seiner tiefen
Empfänglichkeit für Sinneseindrücke steht die Klarheit der haftenden
Erinnerungsbilder im Zusammenhang und die Stärke des Gedächtnisses,
das weiter als bei anderen Sterblichen zurückreicht. Rudolf G. Binding
sah als früheste Erinnerung den Garten vor sich, in den er, noch
ehe er gehen oder sprechen konnte, hinausgetragen wurde; Spitteler
wollte das Bild der goldnen Türme von Solothurn als Erinnerung aus
dem dritten Lebensjahr in sich tragen; der finnische Dichter Koskenniemi
weiß, daß er in Gesellschaft seines Vaters, den er bald danach
verlor, an der Grenze des ersten und zweiten Lebensjahres zum ersten
Male das Meer erlebt hat, und dieses Erlebnis rechnet er als seinen
eigentlichen Geburtstag. Victor Hugo hat seine Kindheitserlebnisse
noch in spätester Dichtung verwendet, und Balzac erklärte, er habe
von Kindesbeinen an Erinnerungsbilder umrissen und fertig wie Wirklichkeit
vor sich gesehen. Wir werden auf diese als „eidetisch“ bezeichnete
Anlage zur Hervorbringung innerer Vorstellungsbilder im
zweiten Hauptteil zurückkommen; hier sei nur bemerkt, daß nach den
Untersuchungen von Jaensch diese Gabe namentlich den Kindern verliehen
ist, während sie bei Erwachsenen sich verliert. Weil aber der
Dichter in Empfänglichkeit und innerer Vorstellungskraft Kind bleibt,
sind gerade die frühesten Eindrücke von dauernder Bedeutung.


Wichtig wird die Heimatlandschaft nicht nur durch das Naturbild,
durch Klima, Luft, Licht, Farben und Linien, sondern auch durch
ihre geschichtlichen Beziehungen. Es ist möglich, daß bei dem Knaben
Grimmelshausen, so wenig Bildung er genoß, schon in der alten Reichsstadt
Gelnhausen angesichts der Kaiserpfalz Barbarossas ein Sinn für
Vergangenheit und geschichtliches Leben erwachte, dem er später in
historischen Romanen und als Kalenderschriftsteller nachging. Der
Phantasie des Knaben Herder haben sich die Trümmer der alten
Deutschordensburg über seiner Vaterstadt Mohrungen eingeprägt, und
die Heimatlandschaft blieb noch in späteren Jahren die immer wiederkehrende |#f0351 : 327|

Szenerie seiner Träume. Auf Klopstock hinterließ die Vaterstadt
als Stammsitz sächsischer Königsmacht weit nachhaltigeren Eindruck,
als der Humanismus Schulpfortas, der ihn für seine erste Bildungsepoche
zum „Lehrling der Griechen“ stempelte. Es ist bezeichnend,
daß er später den Schauplatz der Varus-Schlacht in der Nähe
Quedlinburgs suchte und daß er seinen Bardiet „Hermannsschlacht“
an Ort und Stelle zwischen den Felsen des Bodetals sich gespielt
dachte. Wilhelm Raabe wiederum hat geglaubt, daß bei Stadtoldendorf,
wo er seine Schulzeit verbrachte, in den Waldhöhen des Ith der
„Campus Idistavisus“ des Tacitus zu finden sei, und das nahegelegene
Odfeld, in dem er ein „Odinsfeld“ sah, hat er als Schicksalslandschaft
nicht nur zum Schauplatz, sondern geradezu zum Helden einer seiner
großen historischen Erzählungen gemacht.


Die altehrwürdige Herzogsstadt Heinrichs des Löwen, die Raabe
sich später als Alterssitz aussuchte, konnte wiederum die beiden
Frauen unserer Zeit, die im Geschichtsroman ihr Stärkstes geleistet
haben, schon mit den ersten Kindheitseindrücken auf geschichtliche
Weltbetrachtung lenken: Ricarda Huch und Ina Seidel. Die zweite
hat bekannt, daß das Deutschland der alten Kaiser und Herzöge, der
grauen Burgen und Dome, der großen Ströme und Waldgebirge, der
bunten Bauern- und Bürgerkultur und jener immer noch spürbaren
Tradition der Verbundenheit mit dem heiligen römischen Reich ihr
ebenso wirklich wie unwirklich war: „Ich lebte in ihm und aus ihm
wie ein Baum aus seinem Erdreich, der auch nicht weiß, welche Kräfte
sein Wachstum speisen.“


Von Walter Scott aber, dem Neubegründer des historischen Romans,
hören wir, daß er schon als Kind in den Schlössern seiner Heimat
zwischen alten Tapeten und Ahnenporträts wundersame Nerveneindrücke
hatte. „Die Vorstellung von mittelalterlichen Gewaltwesen und
Aberglauben erfüllte ihn mit einer Furcht, die etwas Ansteckendes
hatte.“


Wo Denken und Dichten in der Gestaltung geschichtlicher Stoffe
ihr Feld finden, pflegt der Keim schon in frühen Kindheitserlebnissen
zu liegen. Wenn ererbter geschichtlicher Sinn, wie z. B. bei Theodor
Fontane, außerdem durch den Vater lebendige Förderung erfährt, so
gehen wir von Anlage und Umweltanpassung bereits zu den Bildungseinflüssen
weiter. Dazwischen liegt, was an Mythen, Sagen, Märchen
und Liedern der Heimat mit der Landschaft verbunden ist und zugetragen,
zugeraunt und zugesungen wird. Die gruseligen Geschichten,
die der kleine Grillparzer von Mägden erzählt bekam, die schreckerregende
Ballade von der „Großmutter Schlangenköchin“, die die |#f0352 : 328|

Geschwister Brentano in der Kindheit hörten, die Märchenerzählungen
der Mutter, die den Knaben Mörike zur Erfindung eigener Geistergeschichten
anregten, sind für die Entwicklungsrichtung der Kindesphantasie
bereits bedeutungsvoll geworden. Nicht minder haben die
Spiele mit Geschwistern und Altersgenossen, bei denen der werdende
Dichter sich oft schon erfinderisch hervortat, z. B. der junge Schiller
als Prediger, der junge Goethe als Theaterleiter, der junge Lessing als
Liebhaber von Büchern, die er noch kaum lesen konnte, sinnbildhafte
Bedeutung für das spätere Wirken. Im Spiel wächst das Kind zuerst
in die Gemeinschaft des Volkstums hinein; mehr spielend als lernend
gelangt es zugleich in den ersten Besitz der Sprache noch ehe es zur
Schule geht.


c) Lehrer und Leiter


Während der Raum der Heimat und Kindheit eines Dichters zum
eigenen Erlebnis des Darstellers werden muß und nicht ohne ein gewisses
Maß von Intuition und dichterischer Empfindung ermessen
werden kann, beansprucht die Schulzeit und die Zusammenfassung
alles dessen, was „erlernt“ wurde, mehr objektives Zeitverstehen.
Hier hat der Pädagoge mitzusprechen aus Kenntnis der nationalen
und lokalen Bildungsgeschichte, aus geistesgeschichtlicher Einsicht in
die Erziehungsgrundsätze des Zeitalters, aus erfahrener Urteilsfähigkeit
über die möglichen Erfolge und Mißerfolge der angewandten
Lehrsysteme und aus Vertrautheit mit den typischen Erscheinungen
der Jugendpsychologie. Diese Voraussetzungen zwingen zu einer rationalen
Behandlung, ist doch das Anschauungsmaterial für diese künstliche,
zeitgebundene Umwelt ein völlig anderes als das der natürlichen,
räumlichen. Hier handelt es sich um Vergängliches und Veränderliches,
dessen Wiederherstellung auf papierenen Grundlagen beruht und
weniger erlebt als erwiesen werden kann. Der Geist der Schule ist aus
Aktenstücken zu beschwören, bei deren Sammlung auf Echtheitsprüfung
nicht verzichtet werden darf; auch das Anekdotische ist nur mit
Vorsicht zu benutzen, so hübsch es etwa klingt, wenn der Leipziger
Rektor Fischer seinen Thomanern von der philologischen Genialität
des einstigen Universitäts- und Stubengenossen vorschwärmte, der leider
seine großen Gaben nicht ausnutzte und auf Abwege geriet: „Und
nun ─ nun wurd' er nach und nach ─ ach ich mag's nicht sagen!
Frag' er nur die Leute, die's verstehn; der Kerl hieß Lessing.“


Aus Lessings Fürstenschulzeit sind Humanitätsbekenntnisse ans
Licht gezogen worden, die den Knaben bereits naseweis als künftigen
Nathan-Dichter präsentieren ─ die Mache liegt auf der Hand. Dagegen |#f0353 : 329|

ist Klopstocks Valediktion in Schulpforta, die den werdenden
Messias-Dichter mit erstaunlicher Zielbewußtheit in die Zukunft
blicken läßt, gegen jeden Einwand gesichert. Goethes „Labores juveniles“
reizen in der Handschrift des Knaben zur graphologischen Untersuchung,
ob in den Ergebnissen des Schönschreibunterrichts bereits
selbständige Charakterzüge zu finden sind. Ebenso stellt der Inhalt vor
die Frage, ob es sich um Diktat handelt, oder ob eine muntere Erfindungsgabe
sich frei betätigte.


Aus der Stuttgarter Militärakademie sind viele Schulreden überliefert,
in denen die Zöglinge vom Herzog gestellte Themen zu behandeln
hatten. Nur wo es protokollarisch feststeht, daß Schiller der Redner
war, darf ihm der Text zugeschrieben werden. Alle diese oratorischen
Übungen sind uniformiert und tragen des Herzogs Rock; sucht man
das Schillersche darin, so wird man das gestaute Pathos der Auflehnung
eher aus dem, was nicht gesagt wird, heraushören. Der Psychiater
Kretschmer spricht von biologischen Entwicklungshemmungen
des Pubertätsablaufes, die den üblichen Protest gegen die Autorität,
der sonst nur eine kurze Durchgangsphase bildet, bei Schiller fortdauern
lassen als Leitmotiv seines ganzen Schaffens und persönlichen
Empfindens bis zum ethischen Freiheitsidealismus der Reifezeit. Wenn
diese Diagnose richtig ist, so wäre das ganze Leben und Dichten eine
fortgesetzte Selbstbefreiung von dem in jungen Jahren erlittenen Zwang
gewesen.


Belege des positiven Wertes der Karlsschulbildung sind dagegen
in nachgeschriebenen Kollegheften erhalten, die zeigen, in welchem
Maße der Hochschulcharakter der Anstalt bereits für Schillers spätere
historische und ästhetische Schriftstellerei den Grund legte. Ein Vergleich
mit den eigenen Veröffentlichungen der nicht unbedeutenden
Lehrkräfte läßt erkennen, daß der Jenaer Professor noch für kleine
historische Aufsätze seiner „Neuen Thalia“ die Vorlesungen seines
Lehrers Nast nutzte, während der als engelgleicher Mann verehrte
Professor Abel ihm ein Fundament ästhetischer Anschauungen vermittelt
hat, das englische und schottische Grundsätze eklektisch zusammenzog
und das er noch beim Übergang zur Kantschen Ästhetik
brauchen konnte. Die neueste Schiller-Biographie von Reinhard Buchwald
tat recht daran, die Mittlertätigkeit dieses Lehrers auf Grund
seiner eigenen Schriften in neues Licht zu setzen, während die Nachlese,
die aus Karlsschulakten noch zu den persönlichen Verhältnissen
des Eleven Schiller beigebracht werden konnten, das Bild der Anstalt
und ihres Einflusses nicht mehr wesentlich verändert.


Die Gemeinschaftserziehung im Internat, gleichviel ob sie militärisch, |#f0354 : 330|

theologisch oder philosophisch organisiert war, ist auch bei
Klopstock, Wieland, Lessing, Hölderlin ein Urquell enthusiastischen
Freundschaftskultes gewesen. Die Einzelerziehung, die Goethe mit
seiner Schwester genoß, stellte mehr das empfangende Ich in den
Mittelpunkt; ein Gegenstück ist die Vereinsamung des begabten Klippschülers
Friedrich Hebbel, durch die sich die Willensanspannung der
Selbstbildung mit eiserner Kraft erhärtet hat, während er selbst den
Frost seiner sonnenlosen Jugend als Nachteil für das ganze weitere
Leben empfand.


Wenn, wie es Goethe in Straßburg erfuhr, sich die ganze Dynamik
neuer umwälzender Kunst- und Lebensauffassung in einem einzigen
Menschen verkörperte, so kann die Einwirkung nicht so sehr aus dem
Gesamtbild des genialen Anregers, der selbst viele Wandlungen durchgemacht
hat, erfaßt werden, sondern es sind die Ideen, mit denen Herder
gerade im Zeitpunkt der fruchtbaren Berührung sich trug, in den
Vordergrund zu stellen. Die Gelegenheit, in der mitteilende Gebefreudigkeit
und Empfänglichkeit zusammentrafen, ist entscheidend. Die
Schriften, die damals im Werden waren (Über die älteste Urkunde des
Menschengeschlechtes, Über Ossian und die Lieder alter Völker, Vom
Ursprung der Sprache) zeigen besser als die bereits vorher erschienenen
Werke Herders, welche Funken im mündlichen Verkehr übersprangen.



Handelt es sich um einflußreiche akademische Lehrer, wie Ernesti
und Christ, denen Lessing in Leipzig philologische Schulung und
kritischen Rechtssinn verdankte, oder Abraham Werner in Freiberg,
zu dessen Füßen die romantischen Naturphilosophen saßen, oder
Fichte in Jena, dessen ethisches Feuer den „Bund freier Männer“
ent