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JOSEF KÖRNER

EINFÜHRUNG
IN DIE POETIK

1949 ────────────────────────────────────

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JOSEF KÖRNER

EINFÜHRUNG
IN DIE POETIK

1949 ────────────────────────────────────

VERLAG G. SCHULTE-BULMKE · FRANKFURT AM MAIN |#f0008 : E4|

1. bis 5. Tausend.
Veröffentlicht unter der Zulassungs-Nr. US-W-1042
der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung.

Erscheinungsdatum: Januar 1949.
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung vorbehalten.
Printed in Germany.
Druck: Maindruck, Frankfurt/Main-Fechenheim.

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ALLGEMEINER TEIL.


Poetik1) bedeutet Dichtungslehre. Das wurde in früheren Jahrhunderten,
solange die gesamte geistige Kultur gelehrten Charakter trug
(vom Humanismus bis zur Aufklärung), als Lehre der Dichtkunst, als
praktische Anweisung für den Dichter verstanden, dem sie die Regeln
der Kunstübung vorschreiben sollte; seitdem der moderne Geniebegriff
die Überzeugung durchgesetzt hat, daß jegliche Kunst unmittelbarer
Ausdruck urwüchsiger Begabung und daher nicht lehr- und lernbar sei,
versteht man Poetik als Lehre von der Dichtkunst, die deren Erscheinungsformen
beschreiben soll.


Wenn Kunst überhaupt darin west, innere Erlebnisse zu sinnlich erfahrbarem
Ausdruck zu bringen, so macht es das besondere Wesen der
Dichtung, daß ihr Ausdrucksmittel die Sprache ist; sie stellt sich vorzüglich
dar als Sprachkunst, als Wortkunst. Indem aber die Sprache zugleich
ein unentbehrliches Werkzeug des praktischen Lebens, nämlich kunstindifferentes
Verständigungsmittel des Alltags ist, bedarf es strengerer
Scheidung zwischen dem Sprachbegriff der Poesie und dem der Praxis.


Alle Sprache, die der Dichtung wie die des Alltags, hat eine Innen-
und eine Außenseite; sie ist nach Ursprung und Wirkung seelischgeistiges
Phänomen, das aber in Erscheinung treten kann nur als akustisches
Phänomen (oder als vermitteltes Zeichen eines solchen, als Schrift).
Erst Laute, die etwas bedeuten, bilden Sprache; aber neben dieser mittelbaren,
bedeutungshaften (sinn-darstellenden) Schicht eignet allen Sprachgebilden
noch eine zweite Komponente: die Schicht unmittelbar kundgebenden
Ausdrucks2) . In jedem Schelt- oder Kosewort verstärkt
oder verändert sich der konventionelle Bedeutungsinhalt der Vokabel
durch die besondere Gefühlsbetontheit, mit der sie verlautbart wird. Die
Alltagsrede macht den Klang nur in der unbewußten Steigerung des
Affekts zum Sinnträger ihres Gehalts; künstlerische Sprache aber ist
gerade gekennzeichnet durch dauernden Wechselbezug der beiden Schichten,
sie macht, indem sie die gemeinten Gegenstandsvorstellungen zugleich

1)
von lat. poética, griech. poietiké.
2)
Das expressive Element der Sprache ist dasjenige an ihr, was auch ohne Kenntnis
der signifikativen Konventionen (d. h. des Vokabulars und der Grammatik)
„verstanden“ werden kann; so „versteht“ das sprachlose Tier den sprechenden
Menschen, indem es aus dem Tonfall den gemeinten Ausdruck heraushört,
so der Mensch gewisse Gefühlsäußerungen noch in einer ihm fremden Sprache;
daher man den Gemütsgehalt auch gedanklich unbegriffener Gedichte „verstehen“
und genießen kann.
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in Wortklängen symbolisiert, jene nicht nur begrifflich verstehbar,
sondern auch sinnlich vernehmbar. Dies erst macht menschliche Rede
zur Sprachkunst. Solche Sprachkunst erscheint natürlich nicht erst im
Schrifttum der Hochkulturen; sie ist gleichzeitig mit der Sprache überhaupt
entstanden, die sich erst spät, und niemals völlig, in Gebrauchs-
und Kunstsprache geschieden hat, sodaß diese Scheidung auch heute
nicht streng durchführbar ist. In jedem Sprachgebilde sind beide Sprachschichten
anzutreffen, nur ihr gegenseitiges Verhältnis wechselt.


Das Doppelgesicht der Sprache, ihr Gebrauchscharakter einer- und
ihr Kunstcharakter andererseits, ist immer schon wahrgenommen oder
mindestens gefühlt worden, aber die Theorie hat sich lange vergeblich
bemüht, den Unterschied richtig zu erfassen. Irrtümlich vermengte man
die gegensätzlichen Wesensbegriffe Poesie und Nichtpoesie mit den
gegensätzlichen Formbegriffen Vers (gebundene Rede) und Prosa
(ungebundene Rede); freilich wurde, wie Cicero berichtet, schon von
einigen antiken Kennern die Prosa des Plato wegen ihres hinreißenden
Schwungs und der hell aufgesetzten Lichter der Sprache („quod incitatius
feratur et clarissimis verborum luminibus utatur“) für poetischer
gehalten als die Komödiendichter, welche trotz des Verses nur
die alltägliche Umgangssprache redeten. In Wahrheit sind als Poesie
alle (gebundenen wie ungebundenen) sprachlichen Gebilde anzusehen, die
zweckfreie künstlerische Wirkungen anstreben oder auslösen; zur Nichtpoesie
gehören sämtliche Sprachprodukte, die praktischen oder theoretischen
Zwecken dienen. Gereimte Merkverse zur leichteren Einprägung
grammatischer Regeln oder irgend einer hausbackenen Werk- und
Lebensweisheit1) haben demnach mit Poesie gar nichts zu tun, meisterliche
Prosasätze eines Stilkünstlers sind zur Gänze poetisch2). Jene teilen
eben nur einen Inhalt mit, diese bringen ein Erlebnis zum Ausdruck. In
solcher Weise haben die beiden größten Dichter der Deutschen das

1)
Was man nicht deklinieren kann,
Das sieht man als ein Neutrum an.
(Der kleine Lateiner.)
Schlechte und verdorbne Sachen
Sind durch Klugheit gut zu machen.
Hab ich nur immer gutes Brot,
Hat's mit dem Hunger keine Not
(Rudolf Zacharias Becker: Das Noth- und
Hilfsbüchlein, Gotha 1833).
2)
„Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren
ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden,
das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag
seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert, und das kochende
Meer der Woge des Kornfeldes gleicht“ (Hölderlin: Hyperion).
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Wesen des Dichterischen definiert. „Lebendiges Gefühl der Zustände
und Fähigkeit es auszudrücken“, äußerte der alte Goethe gelegentlich
zu Eckermann, „macht den Poeten“; und Schiller meinte genau das
Gleiche mit den Worten (an Goethe 27. März 1801): „Jeden, der
imstande ist, seinen Empfindungszustand in ein Objekt zu legen, so, daß
dieses Objekt mich nötigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen,
folglich lebendig auf mich wirkt, heiße ich einen Poeten“.


Es ist also des Dichters Sendung und Bestreben, seine (im Vergleich
mit dem Durchschnittsmenschen besonders intensiven oder besonders
mannigfaltigen) Erlebnisse in suggestiver Weise auszusprechen. Das
geschieht natürlich nicht aus bewußtem Vorsatz, sondern die seelische
Erregung, in die das Erlebnis versetzt, setzt sich in bewußtloser
Notwendigkeit, aus innerem Zwang, um in erregte Sprache, d. h. in
sprachliche Gebilde, die von der bloß zweckhaften Alltagsrede sich
unterscheiden durch größere Bewegtheit in Wortwahl, Wortstellung,
Wortklang.


Die Poetik als Lehre von der Poesie, die selber alles durch das Mittel
der Sprache künstlerisch Geschaffene umfaßt, gliedert sich daher in drei
Fächer; nämlich in


I. STILISTIK1), d. i. Lehre von den schriftmäßigen (literarischen,
gelegentlich aber auch vorliterarischen) Kunstformen
der Sprache
2);


II. PROSODIK3), d. i. Lehre von den klanglichen Kunstformen
der Sprache, ausgegliedert in die Lehren von


a) der Schallform der Prosa;


b) der Schallform des Verses (Metrik);


III. Poetik im engeren Sinne


oder GENERIK4), d. i. Lehre von den Wortkunst-(Dichtungs-)
Gattungen.

1)
abgeleitet vom griech.-lat. stilus („Schreibgriffel“).
2)
Ein Nebenzweig der Stilistik ist die Rhetorik (Redekunstlehre) als Lehre
von den mündlichen Kunstformen der Sprache; sie setzt die Stilistik voraus.
3)
abgeleitet vom griech. prosodia („Tonzeichen“).
4)
abgeleitet vom lat. genus („Gattung“).
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BESONDERER TEIL.

I. STILISTIK.


Die Stilistik als Lehre von den schriftmäßigen Kunstformen der
Sprache stellt sich eine doppelte Aufgabe; sie kann sein Stilschule, d. i.
praktische Unterweisung in der Stilkunst zur Ausbildung des technischen
Vermögens (Erziehung zum Schriftsteller), oder theoretische
Stilkunde, d. i. systematische Beschreibung der im (nationalen wie weltliterarischen)
Schrifttum entfalteten sprachkünstlerischen Formen, ihrer
seelischen Ursachen und ästhetischen Wirkungen. Nur mit dieser hat es
die Poetik zu tun.


Die psychologische Wissenschaft hat erkannt, daß in der dichterischen
Veranlagung keinerlei ursachloses Wunder zutage tritt, sondern nur die
besondere Steigerung allgemein-menschlicher Fähigkeiten; nur ein Gradunterschied,
kein Wesensunterschied scheidet den Dichter vom Nichtdichter,
die poetische Sprache von der Sprache überhaupt. Dichterische
Sprache ist gesteigerte Sprache; also findet sich in ihr nur verstärkt,
veredelt und vermehrt, was schon in der gewöhnlichsten Umgangsrede
angelegt erscheint. Sämtliche Formen der bildlichen und figürlichen
Redeweise des Dichters begegnen von Fall zu Fall auch im anspruchslosen
Sprachverkehr des Alltags.1)


Bilder und Figuren.


A. BILDER.

Das Bild ist der Ursprung wie aller Sprache so auch
aller Dichtung; noch heute strotzt die gemeinste Verkehrssprache von
deutlichen Bildern, und jene Wörter, die unbildlich zu sein scheinen,

1)
Das gilt vom einzelnen Wort wie von der mehrere Worte zusammenfassenden
Wendung. Poesie als kunstvolle Handhabung des Sprachmaterials nimmt diesen
Stoff jedoch nicht unbesehen auf, sondern wählt daraus, was künstlerischer Arbeit
besonders taugt. So betätigt sich dichterische Kunst vorzugsweise in der Wahl
des Ausdrucks. Diese kann entweder negativ sein, indem sie bestimmte ─ unedle
(unhöfische), abgegriffene und überfeine ─ Ausdrücke meidet (ebenso Fremdworte,
die aber bei mhd. und klassizistischen Poeten sogar beliebt sind), oder
positiv, indem sie geflissentlich solche Wörter sucht, welche die kunstmäßige Rede
von der abgebrauchten, glanz- und kraftlosen Alltagssprache abzuheben vermögen.
Man distanziert sich von ihr durch Wiederaufnahme schon außer
Gebrauch gesetzter Worte und Wortformen vergangener Sprachperioden (Archaismen),
oder man verjüngt ihr Gesicht durch mehr oder weniger kühne, mehr
oder weniger glückliche Neubildungen (Neologismen); diese bestehen teils aus neuartigen
Zusammensetzungen des gängigen Sprachmaterials, teils aus (der Schriftsprache
bisher noch fremden) Ausdrücken lokaler Mundart oder aus wirklich
neutönenden sprachschöpferischen Einfällen.
|#f0013 : 9|

haben bloß die sinnliche Bedeutung verloren, die sie in früheren Sprachzuständen
besaßen; alle etymologische Forschung hat keinen andern
Drang und Zweck, als die ursprüngliche Bildlichkeit der Wörter auszufinden.
Indem das sprachliche Bild Sinnliches vergeistigt, Geistiges
versinnlicht, stellt es die Abbreviatur dessen dar, was im Grunde die
Dichtung leistet. Sprache wie Dichtung denkt in Bildern; ist Dichtersprache
gesteigerte Sprache, so wird ihr wesentlichstes Kennzeichen
gesteigerte Bildlichkeit sein; diese vornehmlich löst jene suggestive
Wirkung aus, durch die der Empfindungszustand des Poeten auf den
Leser übertragen wird. Die Bildersprache legt um die dargestellten
Objekte die besondere Atmosphäre von Gefühlen und Stimmungen, in
der der Dichter seinerseits die Objekte erlebt hat. Solches leistet bereits


1. das schmückende Beiwort (epitheton ornans);

es taucht den bezeichneten
Gegenstand in die eigentümliche Farbe, Gesinnung oder
Wertung einer bestimmten Weltschau. In altertümlicher Dichtung
(Homer, altgermanische Poesie, südslawisches Heldenlied) ist es die
Weltschau einer ganzen Gesellschaft, eben des höfischen Publikums, für
das der Dichter singt; das Beiwort ist typisierend: „die ferntreffenden
Pfeile“, „das rosseernährende Argos“, „das wohlberuderte Schiff“, „das
rote Gold“, „der grüne Wald“, „die weiße Hand“. Der Wandel der
Kunstepochen spiegelt sich vielfach im Wandel der vorgezogenen typischen
Beiwörter: dem „silbernen“ Mond Klopstocks und seiner Göttinger
Jünger, auch des jungen Goethe, folgt der „goldene“ der Romantik, der
„rote“, „gelbe“, „bleiche“ des Impressionismus. Neuere Dichtung
schreitet vom typisierenden zum individualisierenden Beiwort (épithète
rare) vor, das die einmalige und einzigartige Anschauung eines besonderen
Temperaments ausdrückt; einen Höhepunkt bezeichnet Goethe1):
„das feuchtverklärte Blau“, „liebwirkende Seele“, „unverwelkliche
Bäume“, „glühendbittre Pfeile“, „grüngesenkte Wiese“. Die Übersteigerung
des individualisierenden Beiworts führt zum unerwarteten Beiwort,
das mit scheinbarer Unsinnigkeit lebendigste Anschaulichkeit verbindet;
in ihm glänzen Jean Paul, Heine, Thomas Mann, Rilke, der Expressionismus
(„Der Wirt trug einen hastig grünen Leibrock“, „ein Meer von
blauen Gedanken“, „dies atmende Erstaunen“, „die warme Armut“,
„diese lockeren und verbrüdernden Wochen der festheißen Backen

1)
der aber, wenn er bewußt Homer nachahmt, sich auch im typisierenden Beiwort
gefällt:
„Ließ die Ställe zurück und die wohlgezimmerten Scheunen“

(Hermann und Dorothea).
|#f0014 : 10|

zwischen Epiphanias und Aschermittwoch“). Ein glückliches Epitheton
zu finden, galt zu allen Zeiten als hohe dichterische Leistung; „die Beiwörter,
die rechten und sinnlichen“, sagt Jean Paul (Vorschule der
Ästhetik § 78), „sind Gaben des Genius“.


2. Tropen1) oder Metaphórik2)

sind die Fachausdrücke der antiken
Rhetorik für die Vertauschung des nächstliegenden eigentlichen Ausdrucks
durch einen verwandten bildlichen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung. Rhetorikbezug vorhanden. Anmerkung: Metapher bzw. Metaphorik wird hier im weiteren Sinne, d.h. als Haupttropus, verstanden (unter Berufung auf die antike Rhetorik) Natürlich geschieht das beim
echten Dichter nicht als bewußtes Übersetzungsexerzitium, sondern es
liegt darin jedesmal eine echte Sprachschöpfung. Die Sprache gibt ja
niemals die Merkmale einer Erscheinung vollzählig an, sondern hebt
immer nur einen hervorstechenden Zug heraus, nämlich den, der im
Vordergrund des jeweiligen Interesses steht.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Den Hahn (urverwandt
mit lat. canere „singen“) haben die Germanen nach seinem Gesang
benannt, das Wort bedeutet ursprünglich „Sänger“, das altfranzösische
Tierepos taufte in derselben Weise den vulgären „coq“ in einen poetischen
„Chante-clair“ um. Wenn der Dichter von einem in bestimmtem
Bezug erfahrenen Gegenstand erregt ist, erlebt er an ihm vorwiegend
dieses bezügliche Element und betont es durch eine neue, eben dieses
Element hervorhebende Bezeichnung; der Hahn wird ihm zum „Tagverkünder“,
zum „Sonnenrufer“. Nun kann der gemeinte Gegenstand


α)

so bezeichnet werden, daß der übliche („eigentliche“) Ausdruck
innerhalb der eigenen Sphäre verschoben, d. h. an seine Stelle ein
Ausdruck gesetzt ist, der mit ihm in geistiger (logischer) oder sinnlicher
(räumlich-zeitlicher) Beziehung3) steht; man nennt das Metonymie4)
(vom griech. metonymía „Umnennung“). Beispiele: „ihn traf das
kalte Blei“ (= die aus Blei gefertigte Kugel, die nicht nur selber kaltes
Metall ist, sondern auch den Getroffenen kalt, d. h. tot macht); „alle

1)
vom griech.-lat. tropus „Wendung“.
2)
vom griech. metaphérein „übertragen“.
3)
also Vertauschung von Wirkung und Ursache, Werk und Urheber, Besitz und
Besitzer, Gefäß und Inhalt, Ort und Person, Rohstoff und Erzeugnis.
4)
Ein Sonderfall der Metonymie, in älteren Stilistiken in recht gezwungener Weise
davon unterschieden, ist die Synékdoche (griech. „das Mitverstehen“), auch
pars pro toto genannt, bei der es sich um Vertauschung von Teil und
Ganzem, von Allgemeinem und Besonderem, von enger und weitergefaßtem
Begriff handelt; auch das ist uralter sprachschöpferischer Vorgang, wie schon
aus Tier- und Familien- (ursprünglichen Über-)Namen gleich „Nashorn“,
„Langbein“, „Weißkopf“ u. ä. hervorgeht, bei denen ein auffälliger Köperteil
die Benennung veranlaßt hat. Beispiele: „Unser täglich Brot (= Nahrung) gib
uns heute“; „sein starker Arm (er, der starke Mann) beschütze uns!“
|#f0015 : 11|

Lande (= die Bewohner aller Länder) kamen in Aegypten zu kaufen
bei Joseph“; „Jahrhunderte (= die Menschen mehrerer Jahrhunderte)
harrten vergebens“; „ich lese Schiller“ (= Schillers Werke); „Zum
Kampf der Wagen und Gesänge“ (= der Wagenlenker und Dichter);
„und flehen um ein wirtlich Dach“ (= Unterkunft, Wohnung, Haus);
„den eine Mörderhand (= Mörder) erschlug“. Auch die anspruchloseste
Alltagsrede enthält Metonymien: „keine Hand (= kein Mensch) rührt
sich“; „die ganze Klasse (= alle Schüler der Klasse) steht auf“; „es blieb
ihm von seinem ganzen Vermögen kein Pfennig“ (= kein Geld, nichts).


β)

so bezeichnet werden, daß der übliche („eigentliche“) Ausdruck in
eine andere Anschauungssphäre verschoben wird, dabei aber seine Gestaltqualität
(Bildstruktur) beibehält; der Gegenstand wird in den
dem Dichter jeweils besonders nahen Umwelt- oder Gedankenkreis
gezogen und von hier aus neu benannt. Man nennt das Metápher.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Übertragung. Abgrenzung Metonymie als Parallelkategorie. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Dergestalt
ist das Universum und damit die Sprache bei Wolfram von
Eschenbach verrittert,

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Person nn. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Quelle/Person: Wolfram von Eschenbach bei J. P. Hebel verbauert,

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Person nn. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Quelle/Person: Johann Peter Hebel bei erotischen Poeten
sexualisiert.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Explikation Metapher als Übertragung. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Anmerkung: Quelle/Personengruppe: erotische Poeten Beispiele: „Pfeil der Sonne“

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Zitat ohne Angabe unverändert. Quellenannahme Person Schiller. Quellenannahme Werk. Explikation Metapher als Übertragung. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Anmerkung: Werkannahme: Die Jungfrau von Orleans (keine genaue Ausgabe angegeben) (= Sonnenstrahl, aus dem
Physikalischen ins Militärische transponiert);

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Zitat ohne Angabe unverändert. Quellenannahme Person Schiller. Quellenannahme Werk. Explikation Metapher als Übertragung. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Anmerkung: Werkannahme: Die Jungfrau von Orleans (keine genaue Ausgabe angegeben) „die Mäuslein (= Kindlein),
sie lächeln, im Stillen ergötzt“;

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Zitat ohne Angabe unverändert. Quellenannahme Person Goethe. Quellenannahme Werk. Explikation Metapher als Übertragung. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Anmerkung: Werkannahme: Der getreue Eckart (Gedicht, keine genaue Ausgabe angegeben) „die Klippe, die schroff und steil /
Hinaushängt (= hinausragt) in die unendliche See“;

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Zitat ohne Angabe unverändert. Quellenannahme Person Schiller. Quellenannahme Werk. Explikation Metapher als Übertragung. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Anmerkung: Werkannahme: Der Taucher (Gedicht, keine genaue Ausgabe angegeben) „der entsetzliche
Hai, des Meeres Hyäne“.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Zitat ohne Angabe unverändert. Quellenannahme Person Schiller. Quellenannahme Werk. Explikation Metapher als Übertragung. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Anmerkung: Werkannahme: Der Taucher (Gedicht, keine genaue Ausgabe angegeben) Die Rede des Alltags ist voll von Metaphern,

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Metapher als sprachimmanentes Phänomen.
ob wir nun von einem kalten, harten oder trägen Herzen reden oder
von weichem Gemüt, vom Schweigen des Waldes, von der Heiterkeit
des Himmels, oder ob die Börse verzeichnet, daß der Weizen steigt, daß
die Aktien fallen, daß Schafwolle anzieht; eine Metapher ist es sogar,
daß die Börse überhaupt etwas „verzeichnet“.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Metapher als sprachimmanentes Phänomen.


3. Vergleich und Gleichnis.

Die Metapher sucht für einen angeschauten
Vorgang einen suggestiveren, also deutlicheren Ausdruck; der Vergleich
eine verdeutlichende Analogie. Dort ist der Gegenstand in eine andere
Sphäre verschoben, hier wird die andere Sphäre neben ihn gestellt.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Vergleichung als Parallelkategorie. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. 1)
Der Vergleichungspunkt, d. h. jenes Merkmal, das Vergleich und Verglichenes
gemeinsam haben, heißt tertium comparationis. Beispiele: „Rot
(Vergleichungspunkt) wie Blut (Vergleich) ist der Himmel (Verglichenes)“.



Wird die Analogie-Sphäre mit Behagen ausgemalt, und zwar nicht
bloß in den analogen Zügen, sondern auch in andern, die mit dem

1)
Daher kann durch leiseste Verrückung die eine in die andre Figur verwandelt
werden: „Haare wie Gold“ (Vergleich); „das Gold ihres Hauptes“ (Metapher).
|#f0016 : 12|

eigentlich Gemeinten in keinem Zusammenhange stehen, so ergibt sich
das Gleichnis. Solche breite Behaglichkeit entspricht vor allem dem
epischen Stile, daher das Gleichnis dort besonders beliebt ist (Homer).
Beispiel:


Wie der wandernde Mann, der vor dem Sinken der Sonne
Sie noch einmal in's Aug, die schnellverschwindende, faßte,
Dann im dunkeln Gebüsch und an der Seite des Felsens
Schweben siehet ihr Bild, wohin er die Blicke nur wendet,
Eilet es vor und glänzt und schwankt in herrlichen Farben:
So bewegte vor Hermann die liebliche Bildung des Mädchens
Sanft sich vorbei und schien dem Pfad in's Getreide zu folgen

(Goethe: Hermann und Dorothea).


„Wie war dein Leben und Sterben so sanft und meerstille, du vergnügtes
Schulmeisterlein Wutz! Der stille laue Himmel eines Nachsommers
ging nicht mit Gewölk, sondern mit Duft um dein Leben herum:
deine Epochen waren die Schwankungen und dein Sterben war das
Umlegen einer Lilie, deren Blätter auf stehende Blumen flattern“


(Jean Paul: Wutz).


Weitet sich das Gleichnis zu selbständiger Handlung aus, die einen
moralischen Sinn anschaulich gestaltet, so entsteht die Parabel (Neues
Testament; Ring-Parabel in Lessings „Nathan“).


Tritt das Bild bei Wegfall der Vergleichspartikel (wie, als, gleich)
unmittelbar dem Verglichenen an die Seite, so ergibt sich der verkürzte
Vergleich. Beispiele: „Schwer und dumpfig, (wie) eine Wetterwolke, /
Durch die grüne Ebene / Schwankt der Marsch“; „Einem ist sie (sc. die
Wissenschaft) die (= wie eine) hohe, die himmlische Göttin, dem andern
/ (wie) Eine tüchtige Kuh, / die ihn mit Butter versorgt“ (Schiller).


Die Bild-Sphäre, die bei Vergleichungen neben das Verglichene gestellt
wird, muß festgehalten, es muß „im Bilde geblieben“ werden; dazu
bedarf es innerer Anschauungskraft. Wo diese fehlt, geraten verschiedene
(nicht wirklich gesehene) Bildlichkeiten durcheinander. Beispiel: „Laß
nicht des Neides Zügel umnebeln deinen Geist“. Solch fehlerhafter
Bildersprung (Katachrése; griech. „Mißbrauch“, sc. des bildlichen Ausdrucks)
stellt sich leicht dort ein, wo der ursprüngliche Anschauungsgehalt
eines Wortes nicht mehr deutlich empfunden wird; daher ist
gerade die mit verblaßten Metaphern übersättigte Alltagsrede voll
Katachresen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Z. B. „Wenn alle Stricke reißen, hänge ich mich auf“ (womit |#f0017 : 13|

denn, wenn alle Stricke gerissen sind?); „die baumlosen Straßen
bilden die Schattenseite der Stadt“.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch.


Bei Dichtern, denen es weniger auf Anschaulichkeit, als auf ausdrucksreiche
Sprachgebärde ankommt (Andreas Gryphius, Schiller), stören
auch die stärksten Katachresen nicht die pathetische Wirkung; die Bilder
wirken dann eben als bloße Metaphern, und hinter ihrer figürlichen
Bedeutung scheint die ursprüngliche sinnliche nicht mehr auf.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Explikation Metapher Katachrese als Unterkategorie. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Anmerkung: Quelle/Personen: Name1: Andreas Gryphius; (Name2: Schiller); Katachrese kann hier als Unterkategorie der Metapher angesehen werden. Beispiel:
„Und ich erwart' es, daß der Rache Stahl / Auch schon für meine Brust
geschliffen ist. / Nicht hoffe, wer des Drachen Zähne sät, / Erfreuliches
zu ernten. Jede Untat / Trägt ihren eignen Racheengel schon / Die böse
Hoffnung, / unter ihrem Herzen“ (Schiller: Wallensteins Tod).

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person Schiller. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher Katachrese als Unterkategorie. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Anmerkung: Quelle/Werk: Wallenstein


4. Die Hyperbel

(vom griech. hyperbolé „Ueberschuß“) ist ein übertreibender
Vergleich; sie übertreibt die Wirklichkeit bald ins Erhabene
durch Vergrößerung („himmelhochragende Felsen“), bald ins Humoristische
durch Verkleinerung („der große Teich“ = atlantischer
Ozean). Jedes Schimpfwort kann als Beispiel dienen; „Esel“ etwa ist
hyperbolischer Ausdruck für einen hohen, unmenschlich scheinenden
Grad von Dummheit und Störrigkeit. Die Hyperbel ist eine Lieblingsfigur
pathetischer (Shakespeare, Schiller, Hebbel, V. Hugo) wie komischer
Dichtung (Shakespeare, Jean Paul); zu viele und zu hochgesteigerte
Hyperbeln machen den Stil schwülstig. Beispiele: „O ich möchte den
Ozean vergiften, daß sie den Tod aus allen Quellen saufen! ─ ─ o daß
ich durch die ganze Natur das Horn des Aufruhrs blasen könnte, Luft,
Erde und Meer wider das Hyänengezücht in das Treffen zu führen!“
(Schiller: Räuber). „Ich will das Zauberwort einer günstigen Rezension
einem knirschenden Werwolfe vorhalten: ─ sofort steht er als ein lekkendes
Lamm mit quirlendem Schwänzchen vor mir“ (Jean Paul:
Titan). Die Umkehrung der Hyperbel heißt Litotes (griech. „Geringfügigkeit“);
sie bewirkt Nachdruck durch Anwendung eines scheinbar
schwächeren Ausdrucks, sagt weniger, als gesagt werden müßte. Gewöhnlich
wird das Gemeinte bezeichnet durch Verneinung seines Gegenteils:
„nicht wenig“ = viel; „nicht gut“ = schlecht; „Die schlecht'sten Früchte
sind es nicht, woran die Wespen nagen“ (Bürger); „Sie ist die erste
nicht!“ (= sondern eine von vielen) (Goethe: Faust). ─ Schreitet die
Litotes in der Abschwächung bis zum geraden Gegenteil dessen fort,
was eigentlich zu sagen war, so entsteht Ironie (Sokrates, Deutsche Romantik);
diese liegt allem Hänseln und Frotzeln der Alltagssprache |#f0018 : 14|

zugrunde. Eine Anwendung der Ironie in hoher Dichtung zeigt das
Gespräch zwischen Mephistopheles und dem Baccalaureus in Goethes
„Faust“ II:


Bacc.:

Gesteht! Was man von je gewußt,
Es ist durchaus nicht wissenswürdig.


Meph.:

Mich däucht' es längst. Ich war ein Tor,
Nun komm ich mir recht schal und albern vor.


5. Die Personifikation

(Vermenschlichung) ist, als Vergeistigung des
Sinnlichen, zunächst nur eine Abart der Metapher; es ist dasjenige Bild,
welches dem menschlichen Gemüt am nächsten liegt und dessen sich
daher schon die Primitiven und die Kinder bedienen;

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher Personifikation als Unterkategorie. wenn ein Kind
den Tisch, an dem es sich gestoßen, schilt und schlägt, so personifiziert
es das tote Gerät.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explikation Metapher Personifikation als Unterkategorie. Alle Mythologie und Religion der Urvölker ging aus
der Personifikation von Naturerscheinungen hervor; sie verleiht seelenlosen
Gegenständen, Umständen und Zuständen ein persönliches Gepräge
und bringt sie dadurch menschlicher Einfühlung näher.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher Personifikation als Unterkategorie. Beispiele: „Bedächtig
stieg die Nacht an's Land, / Lehnt träumend an der Berge
Wand, / Ihr Auge sieht die goldne Wage nun / Der Zeit in gleichen
Schalen stille ruhn“. (Mörike) Die Alltagssprache sagt, daß das Feuer
„frißt“, daß der Himmel „lacht“, daß die Fensterscheiben (oder auch die
Zwiebeln in der Küche) „schwitzen“; wir sprechen von der lieben
Frau Sonne, vom Hunger als dem besten Koch, vom Gevatter Tod.


Die Personifikation abstrakter Begriffe wird Allegorie (vom griech.
allegoreín „etwas anderes sagen“) genannt; eine solche gab z. B. Goethe
mit den „vier grauen Weibern“ (Mangel, Schuld, Sorge, Not) im II. Teil
des „Faust“. Während in der Allegorie das Bild nur auf eine willkürlich
gesetzte Bedeutung hinweist, durchdringen im Symból (vom griech.
sýmbolon „Zeichen“), im Sinnbild einander Sinn und Bild; hier gewinnt
ein geistiger Gehalt bildhafte Gestalt. Im weitesten Begriffe wird oder
soll alle Dichtung ─ wie überhaupt alle Kunst ─ symbolisch sein, d. h.
Geistiges in sinnliche Gestalt umsetzen.


B. FIGUREN.

Handelt es sich bei den Tropen um Vertauschung des
nächstliegenden („eigentlichen“) Ausdrucks mit einem verwandten bildlichen,
so bei den Figuren um syntaktische Besonderungen der Rede; sie
erhöhen nicht, gleich den Bildern, die Anschaulichkeit, sie wollen nur
durch veränderte Wort- und Gedankenstellung den Ausdruck lebhafter |#f0019 : 15|

und schärfer machen. Gehören die Bilder dem Reich der Phantasie an,
so die Figuren dem des Gemüts oder des Verstandes.


1. Das Wortspiel

bedeutet für die sprachliche Form ganz dasselbe, was
die Metapher für den sprachlichen Inhalt; es verknüpft zwei bedeutungsmäßig
unterschiedene, aber gleichtönende Sprachsphären dergestalt, daß
Klangverwandtschaft sich mit Bedeutungsfremdheit eint; diese wird
aber vermittelst eines durch jene herausgeforderten Denkakts für den
einmaligen Fall in überraschender Weise aufgehoben.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung nn. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Anmerkung: Wortspiel gewissermaßen als Parallelkategorie zur Metapher (Metapher als Tropus, Wortspiel als Figur) So verbindet sich
Klangspiel mit Sinnspiel. Die einfachste und geläufigste Art des Wortspiels
ist der Reim. Man kann das Wortspiel aber auch ansehen als eine
Umkehrung der Metapher; wenn diese aus neuer Anschauung unmittelbar
neue Sprache schafft, so bezieht das Wortspiel neue Anschauung
mittelbar aus dem gegebenen Sprachmaterial, ─ sie zieht die Dinge
durch das Medium der bereits geprägten sprachlichen Form.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung nn. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Anmerkung: Wortspiel gewissermaßen als Parallelkategorie der Metapher (Metapher = Tropus, Wortspiel = Figur) Die großen
Meister dieser Kunst heißen Shakespeare, Brentano, Heine, Nietzsche,
Karl Kraus. Leicht verfällt das Wortspiel, das bisweilen sehr geistreich,
ja tiefsinnig sein kann, in öde, charakterlose Witzelei (Saphir). Beispiele:
„Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang
und ein Untergang ist“; „Was Vaterland! Dorthin will unser Steuer,
wo unser Kinder Land ist“ (Nietzsche: Zarathustra). „Ein Schlachten
war's, nicht eine Schlacht zu nennen!“ (Schiller: Jungfrau); „Die
Armee ... / Kümmert sich mehr um den Krug als den Krieg, / Wetzt
lieber den Schnabel als den Sabel, / ... Frißt den Ochsen lieber als den
Oxenstirn ... / Und das römische Reich ─ daß Gott erbarm! / Sollte
jetzt heißen römisch Arm, / Der Rheinstrom ist worden zu einem
Peinstrom, / Die Klöster sind ausgenommene Nester, / Die Bistümer
sind verwandelt in Wüsttümer“ (Schiller: Wallensteins Lager, Kapuzinerpredigt);
„Wer sich nicht selbst zum besten haben kann, / Der ist
gewiß nicht von den Besten“ (Goethe).


2.

Das Wortspiel stellt die Fundamentalfigur aller übrigen akustischen
Sprachfiguren vor, deren verbreitetste die Lautmalerei, Klangnachbildung
(Onomatopöie, griech. „Namenbildung“, sc. nach dem
Naturlaute) ist. Diese sucht über die begriffliche Wortbedeutung hinaus
durch den Wortklang selbst bestimmte Gehörs- (mitunter auch Gesichts-)
Vorstellungen wachzurufen. Solche schallnachahmenden Wörter sind in
allen Kultursprachen reich zu belegen und quellen stets aufs Neue aus
Kindersprache und Mundart (donnern, summen, miauen, kläffen,
zischen, knarren, ratschen, huschen, lispeln, wispern). Dennoch bleibt |#f0020 : 16|

der Klang, sofern er Sprache, d. h. in das Gefüge ihrer Konventionen
eingegliedert ist, von vornherein so innig der Bedeutung verhaftet, daß
er von ihr überhaupt nicht völlig losgelöst werden kann, aus der bloß
akustischen in eine höhere Ebene des Vergeistigten aufsteigt. Darum
ist strenge Scheidung zwischen naturalistischer Schallnachahmung1) und
symbolischer Lautbedeutsamkeit2) gar nicht möglich. Auch besteht nur
selten oder niemals materielle Identität zwischen dem Gehörseindruck
und seiner klanglichen Wiedergabe3), immer jedoch eine ideelle Entsprechung;
und solche sekundäre Beziehungstreue (wie sie z. B. auch in
dem Verhältnis von Musik und Notenschrift, Fieber und Fieberkurve obwaltet),
scheint erst recht dort auf, wo die Sprache durch ihre Schälle
Phänomene anderer Sinnesbereiche symbolisiert: in dem Worte Zickzack
etwa ist das klangliche Widerspiel der silbentragenden Selbstlaute
gleichförmig der gebrochenen Linie des Blitzes, dem torkelnden Gang
des Betrunkenen, ─ kann demnach beides veranschaulichen. Alle Lautmalerei
ist eben akustische Metapher, die sich besonders oft und stark
Dichtern von hoher sprachmusikalischer Begabung aufdrängt.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch.


3. Empháse

(vom griech. emphaínein „anschaulich machen“), nachdrücklicher
Ausdruck. Das aufgewühlte Gemüt des Dichters ─ wie
übrigens jedes im Affekt befindlichen Sprechers ─ begnügt sich nicht
mit dem schlichten Ausdruck des Gemeinten, sondern gibt diesem Nachdruck
durch Umsetzung einer bloßen Aussage in die lebhafteren Formen
der Rede: in Ausruf oder Frage oder erregtes Stammeln. Emphase
liegt schon vor, wenn ein Wort im prägnanten (d. i. trächtigen) Sinne
gebraucht, also sein in der Alltagsrede schon verblaßter Ursinn wieder
aufgefrischt wird; „sei ein Mann!“, zu einem vollerwachsenen Menschen
gesagt, bedeutet: sei ein wirklicher Mann, mit allen den Eigenschaften,
die den Mann vom Kinde, vom Weibe, vom Greise unterscheiden. Eine
Rede von stärkster Emphase ist der berühmte Satz Cäsars: „ich kam,
sah, siegte“. Emphatisch ist jeder Ausruf, in dem sich eine Fülle von

1)
So wenn Ovid (Metamorphosen VI, 376) das Quaken der Frösche hören lassen
will: Quamvis sunt sub aqua, sub aqua maledicere temptant (was Voß so wiedergibt:
Ob sie die Flut auch bedeckt, auch bedeckt noch schimpfen sie kecklich).
2)
So wenn Ovid (Metamorphosen I, 315) durch Häufung des a-Lauts die Vorstellung
weit gedehnter Fläche hervorrufen will: Pars maris et latus subitarum
campus aquarum (Meerteil und breites Gefild der plötzlich bereiten Gewässer).
3)
Der Kuckuck z. B. ruft weder ein k noch ein u, sondern flötet zwei gleichgeartete
Töne, von denen der erste eine Terz höher liegt als der zweite; erst
die subjektive Klangphantasie des Hörers legt dem Kuckucksruf besondere Laute
der menschlichen Rede (in verschiedenen Sprachen mehr oder weniger verschiedene)
unter.
|#f0021 : 17|

Vorstellungen auf engstem Raume zusammendrängt: „Feuer!“ „Hilfe!“
„O Himmel!“ Die Dramen der Sturm- und Drangzeit wie des Expressionismus
kleideten das höchste Pathos der Leidenschaft in solche jähe
Ausrufe. Beispiele: „Umsonst! ─ Ins Loch mit dem Hund! ─ Bitten!
Schwüre! Tränen! Hölle und Teufel!ʻ (Schiller: Räuber I 2); „Meine
Seele! Sieh, wie sie rote Flügel schlägt und steigt! Güte und Liebe!
Demut und Glauben! Kindereinfalt und Seligkeit! Solch ein schmales
Leuchten! Geist zu Geist denn!“ (Hanns Johst: Der Einsame 8. Bild).


Dieser intensiven Emphase tritt zur Seite die extensive, die Wiederholung
der ausdrucksbetonten Worte am Anfang (Anáphora, vom
griech. anaphérein „heraufholen“) oder am Ende der Rede (Epíphora,
vom griech. epiphérein „nachtragen“). „Ja ich bin's du Unglücksel'ge, /
Ja ich bin's, den du genannt! / Bin's, den alle Wälder kennen, / Bin's,
den Mörder Bruder nennen, / Bin der Räuber Jaromir“ (Grillparzer:
Ahnfrau); „Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden“
(Goethe: Heideröslein); „Heute, nur heute / Bin ich so schön; / Morgen,
ach morgen / Muß alles vergehn! / Nur diese Stunde / Bist du noch
mein; / Sterben, ach sterben / Soll ich allein.“ (Storm); „Ich sah auf dich
und weinte nicht. Der Schmerz / Schlug meine Zähne knirschend aneinander:
/ Ich weinte nicht. Mein königliches Blut / Floß schändlich unter
unbarmherzigen Streichen: / Ich sah auf dich und weinte nicht“ (Schiller:
Don Carlos). Vgl. auch die wortwiederholenden Redensarten der Umgangssprache:
„Ja, ja“; „nein, nein“; „ei, ei“; „Schau, schau“; „doch,
doch“; „aber, aber“; „so, so“.


Wird diese extensive Emphase ihrerseits noch intensiviert, indem
zwar die gleiche Vorstellung mehrfach wiederkehrt, aber ihr Ausdruck
immer neue stufenmäßige Verstärkung des Wortes und Bildes erfährt,
so entsteht die Klimax1) (Steigerung, Gradation), welche in der Regel
hyperbolisch schließt. „Gefährlich ist's, den Leu zu wecken, / Verderblich
ist des Tigers Zahn; / Jedoch der schrecklichste der Schrecken, / Das ist
der Mensch in seinem Wahn“ (Schiller: Lied von der Glocke).


Die intensive Emphase des Ausrufs kann sich auch in die Form der
(sog. rhetorischen) Frage kleiden, die nicht eine noch unbekannte
Antwort heischt, sondern die ─ als selbstverständlich vorausgesetzte ─
Zustimmung des Angeredeten, durch welche sich der Sprecher in der
eigenen Stimmung befestigen lassen will.

1)
lat. „Leiter, Treppe“.
|#f0022 : 18|

Ich frage, gibt es einen Gott? Was ─ dürfen
In seiner Schöpfung Könige so hausen?

(Schiller: Don Carlos.)


Eine besondere Form des Ausrufs bildet der Anruf, die Apostrophe
(griech. „Abwendung“, nämlich des Redners von den anwesenden Personen
zu den abwesenden); sie wendet sich an die Personen oder personifizierten
Gegenstände, die der Sprecher mit dem leiblichen wie mit
dem geistigen Auge erschaut.


Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium (Schiller: Lied an die Freude);
Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Täler!

(Schiller: Jungfrau)


Ist schon der Ausruf vielfach nur aufs stärkste verkürzter Einwortsatz,
so kann lebhafte Rede mitunter gar in ein Stammeln unvollständiger,
grammatisch „unmöglicher“ Sätze übergehen, ohne daß die
Klarheit leidet; im Gegenteil, die Rede wird durch solche Unterdrückung
des Nebensächlichen und Betonung der bedeutsamen Vorstellungen nur
deutlicher. Die antike Rhetorik nannte diese Figur Ellípse (vom griech.
ellípsis „Auslassung“). Die lässige Alltagsrede wimmelt von dergleichen:
„Zu den Waffen!“, „Auf Wiedersehen“, „Zweiter Wien“ (= Ich
bitte um eine Fahrkarte zweiter Klasse nach Wien), „Weiter, Fischer!“
(= Schüler Fischer, lesen Sie weiter!). Die Figur war beliebt im Drama
des Sturmes und Dranges und des Naturalismus. Beispiele: „Wer mir
Bürge wäre? ─ ─ Es ist alles so finster ─ verworrene Labyrinthe ─
kein Ausgang ─ kein leitendes Gestirn. Wenn's aus wäre mit diesem
letzten Odemzug ...“ (Schiller: Räuber IV 5); „Herr du mein Gott,
die Hühner im Garten! Aber auch alle Hühner! Und wie sie picken!
Unsere schöne Grassaat!“ (Max Halbe: Jugend I).


Ein Sonderfall der Ellipse ist die Aposiopése (vom griech. aposiopán
„verstummen“), der Abbruch der Rede gerade vor der grammatischen
─ aber nicht psychologischen ─ Hauptsache (während die Ellipse nur
diese vorbringt und wegläßt, was in der Aposiopese allein übrig bleibt).
Das berühmteste Beispiel ist Poseidons „Quos ego!“ (= Euch werd' ich!
Virgil: Aeneis I, 139). Vgl. „Dich schützt Dein Wappenrock, sonst
solltest du ─“ sc. mich kennen lernen (Schiller: Jungfrau); „Ah! ich
dachte nicht, daß ihr nicht einmal zu dem verbunden seid, was ihr
versprecht, geschweige ─“ (Goethe: Götz). Nur scheinbar liegt Aposiopese
vor, wenn aus Gründen der Schicklichkeit oder der politischen |#f0023 : 19|

Vorsicht ein Satz nicht zu Ende gedruckt ist, wie etwa bei Goethe in
Götzens Antwort an den kaiserlichen Parlamentär.


Verwandt mit der Ellipse ist der Fügungsbruch, das Anakolúth (griech.
„Unfolge“). Das Herausfallen aus der Satzkonstruktion kennzeichnet in
der Alltagsrede den ungebildeten, aber auch den aufgeregten Menschen;
in der lebhaften Rede des Dichters, wo Eindrücke und Ausdrucksformen
sich drängen und verdrängen, wird die Figur kunstvoll verwendet, um
dem zweiten Teil des Satzes, der die Konstruktion in anderer Art fortsetzt,
als sie angefangen wurde, mehr Nachdruck zu verleihen. Beispiele:
„Ein Herr, der zu Lügen Lust hat, des Diener sind alle gottlos“
(Luther); „Mich kann das, Leonore, wenig rühren, / Wenn ich bedenke, /
wie man wenig ist, / Und was man ist, das blieb man andern schuldig“
(Goethe: Tasso); „Ich habe gefunden, sagte Serlo, daß, so leicht man
der Menschen Imagination in Bewegung setzen kann, so gerne sie sich
Märchen erzählen lassen, eben so selten ist eine Art von produktiver
Einbildungskraft bei ihnen zu finden“ (Goethe: Wilh. Meisters Lehrjahre).



Die emphatische Hervorhebung ist auch der eigentliche Sinn der


4. Antithése

(von griech. anthíthesis „Gegensatz“), in der zwei entgegengestellte
Begriffe einander in der Prägnanz verstärken. Sie ist ein
technisches Mittel, das alle Künste zur Wirkungssteigerung verwenden;
der Musiker erhöht den Reiz des Wohlklangs durch eingestreute Dissonanzen,
der Zeichner setzt schwarze Kontur auf das weiße Blatt,
um durch den Helligkeitskontrast die Deutlichkeit des Umrisses zu
heben. Von allen Redefiguren der Dichtersprache ist die Antithese am
völligsten dem Bereich des Verstandes, der Logik zugehörig; daher
findet sie sich am häufigsten und gehäuft bei philosophischen Dichtern.
So ist etwa der Stil Schillers aus lauter Antithesen zusammengeschichtet;
bisweilen stapelt er sie an einer einzigen Stelle zu ganzen Pyramiden
auf; z. B. in „Wallensteins Tod“ II 2: „Eng ist die Welt, und das
Gehirn ist weit; / Leicht bei einander wohnen die Gedanken, / Doch
hart im Raume stoßen sich die Sachen; / Wo Eines Platz nimmt, muß
das Andre rücken; / Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben“.
Auch der Alltag kennt die Antithese: „Du lachst, ich weine“; „Heute
rot, morgen tot“; „Lange Haare, kurzer Verstand“. Steigert sich der
Gegensatz zu scheinbarer Unverträglichkeit der Begriffe, die aber durch
einen übergreifenden Gedanken zu vertiefter Einheit zusammengefaßt
werden, so ergibt sich das Parádoxon (griech. „wider den Schein“): |#f0024 : 20|

„Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit“ (Schiller: Wallenstein);
„Was du ererbt von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu
besitzen“ (Goethe: Faust); „das Billigste ist das Teuerste“.


Die Verbindung von scheinbar einander widersprechenden Worten,
der aber eine paradoxe Wirklichkeit den Widerspruch benimmt, wird
als Oxýmōron (griech. „spitzige Torheit“) bezeichnet: „junger Greis“;
„König ohne Land“; „die armen Reichen“; „der weise Narr“; „beredtes
Schweigen“. Besonders beliebt ist diese Figur bei Dichtern, die an den
inneren Konflikten und Gegensätzen unharmonischer Übergangszeiten
oder gebrochener Persönlichkeit leiden (Seneca, Hebbel, V. Hugo).
Bei Goethe sind die beliebten Oxymora („bewußte Bewußtlosigkeit“,
„wüste Fruchtbarkeit“ [nämlich der sizilischen Getreidefelder], „gesetzmäßig-frei“,
„Du übersinnlich-sinnlicher Freier“) Ausdruck einer Weltschau,
die widerstrebende Kräfte als polare Manifestationen einer
inneren Einheit wahrnimmt; bei Heine („schmutzige Reinheit“,
„kichernde Tränen“, „jauchzender Schmerz“, „betrunken nüchterne Gesichter“,
„lebenssüchtige Todesbegeisterung“) berufen sie die Ambivalenz
alles Irdischen und Menschlichen, hüllen die Dinge in ein
schmerzliches Zwielicht sowohl des Tragischen wie des Komischen.
Weitere Beispiele: „O viva morte, o dilettoso male“ (Petrarca: Sonett
CII; Förster verdeutscht: O freudenreiches Weh, o Tod voll Leben);
„Feather of lead, bright smoke, cold fire, sick health“ (Shakespeare:
Romeo and Juliet I 1; Schlegel übersetzt: Bleischwinge! Lichter Rauch
und kalte Glut!); „die ungesellige Geselligkeit der Menschen“ (Kant);
„pikante Geschmacklosigkeit“ (Jean Paul); Schiller gefällt sich in der
Häufung so krasser Stilfigur: „Diesem komisch-tragischen Gewühl, / ...
/ Diesem faulen fleißigen Gewimmel, / Dieser arbeitsvollen Ruh', /
Bruder! ─ diesem teufelvollen Himmel / Schloß Dein Auge sich auf
ewig zu“ (Elegie auf den Tod eines Jünglings).

|#f0025 : 21|

II. PROSODIK.


Die akustischen (klanglichen) Elemente der Sprache kommen in Vers
und Prosa gleichermaßen zur Geltung; das Unterscheidende liegt allein
darin, daß jene Elemente im Vers festen Gesetzen unterworfen werden
(gebundene Rede), während sie in der Prosa mehr oder weniger frei
bleiben (ungebundene Rede). Wenn jede systematische Gliederung sinnlich
wahrnehmbarer Vorgänge, die durch Abstufung der Schwere-
Elemente und Abstandszeiten sowie durch ordnende Zusammenfassung
der Glieder erfolgt, Rhythmus1) (griech. „gleichmäßige Bewegung“)
genannt werden kann, so eignet er auch aller in künstlerischen Absichten
und Wirkungen sich ergehenden Prosa. Nur daß er hier minder bewußt,
minder willkürlich hervorgebracht wird als in der, vorgegebenen Gesetzen
gehorsamen, gebundenen Rede. Aber alle großen Prosa-Meister
kannten und wollten ihn; Goethe belehrte den Schauspieler Heinrich
Franke, daß „beim Lesen und erst recht beim Sprechen eines gut gebauten
schönen Satzes eine stille Melodie mitschwingt“; Flaubert berichtet
von sich, daß ihm der Rhythmus seiner Sätze bisweilen schon vorschwebte,
ehe er sich über ihren Inhalt im Klaren war2); Schleiermacher
baute die Prosa seiner „Monologen“ eingestandenermaßen nach
rhythmischen Gesichtspunkten; Nietzsche wußte und erklärte, daß Prosa
sich nicht leichter, sondern eher schwerer schreibe als Verse, daß man
„an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten“ müsse, daß der
Takt des guten Prosaikers darin bestehe, „dicht an die Poesie heranzutreten,
aber niemals zu ihr überzutreten“. Es mit Fachworten auszudrücken,
die umstehend ihre Erklärung finden sollen: es gilt, aus
dem Numerus nicht ins Metrum zu fallen.

1)
Der Ursprung des Rhythmus wird wohl in dem (symmetrischen) Bau und den
periodischen (Herz- und Atem-)Bewegungen des menschlichen Körpers zu suchen
sein; von hier geht die allgemeine Tendenz zur Rhythmisierung sämtlicher Bewegungen
und Tätigkeiten (Marsch, Tanz, Rudern, Schmieden, überhaupt aller
regelmäßigen Arbeitsverrichtungen) aus; wahrscheinlich ist das gesamte Dasein
und Universum rhythmisch organisiert (Ebbe und Flut, Tages- und Jahreszeiten,
Gestirnbewegung).
2)
Vgl. die ähnlichen Äußerungen Schillers über seine poetische Produktion: „Das
Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich
hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff von Inhalt“ (an Körner 25. Mai
1792); „bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand;
dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung
geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee“ (an Goethe
18. März 1796).
|#f0026 : 22|


Wir stellen nebeneinander drei Satzgebilde:


1. Der Ménsch / scheint mit níchts / vertraúter zu sein, // als mit
seinen Hóffnungen / und Wǘnschen, // die er lánge im Hérzen / nä́hrt /
und bewáhrt; // und dóch, / wénn sie ihm / nun begégnen, // wénn sie
sich ihm / gleichsam aúfdringen, // erkénnt er sie nicht / und weícht /
vor ihnen zurück (Goethe: Wilhelm Meister).


2. Des Herzens Wóge / schäúmte nicht / so schön empór, / und würde
Geíst, // wenn nicht der álte / stumme Féls, / das Schícksal, // ihr
entgégen stände (Hölderlin: Hyperion).


3. Dein guter Náme / lag in diesem Tópfe, // und vor der Wélt /
mit íhm / ward er zerstóßen, // wenn auch vor Gótt nicht, / und vor
mír / und dír (Kleist: Der zerbrochene Krug).


Diese Sätze bestehen aus Silben, von denen einige sich durch Stärketon
vor den minder betonten auszeichnen; bei lautem Vortrag ordnen
sich die Silben zu Atemgruppen (sog. Kola). Jedes Kólon (griech. „Glied,
Abschnitt“) hat eine Silbe, die mit höchstem Nachdruck gesprochen
wird, den Silbengipfel (er ist oben mit Akut bezeichnet), an den sich
die übrigen Silben der jeweiligen Atemgruppe vorgeneigt (proklitisch)
oder rückgeneigt (enklitisch) anlehnen. Prüft man innerhalb der Kola
das Verhältnis der betonten und unbetonten Silben, so ergibt sich in
der ersten Probe eine nach Zahl und Stellung ganz unregelmäßige Folge
von Stark- und Schwachtönen, während diese in den Beispielsätzen 2
und 3 mit ausnahmsloser Regelmäßigkeit alternieren; in der Tat spürt
man bei lautem Lesen deutlich, daß 2 und 3 stärkeren und ebeneren
Rhythmus haben als 1. Aber 1 wie 2 sind Stellen aus Prosawerken, aus
Romanen, während 3 einem Versdrama entnommen wurde.


Vergleichen wir nun 2 und 3 miteinander, indem wir das Augenmerk
auf die Pausen (oben bezeichnet durch //) richten, vermittelst
welcher bei lautem Vortrag die Kola zu größeren Reihen zusammengenommen
und diese von einander geschieden werden, so finden wir,
daß in 3 die Zahl der von Pause zu Pause reichenden Starktöne immer
gleich, nämlich auf 5 festgelegt ist, während sie in 2 unregelmäßig
bleibt. Die drei Beispielsätze führten uns drei Möglichkeiten (mehr gibt
es nicht) deutscher Schallform vor: unrhythmische, der kunstlosen
Zwecksprache ganz nahe Prosa; rhythmische Prosa; metrisch gebundenen
Rhythmus (Vers).


A. PROSARHYTHMUS (NUMERUS).

Die obigen Beispielsätze
haben gezeigt, daß der Vers zwischen je zwei Pausen etwas Strenggemessenes |#f0027 : 23|

setzt, eine genau abgezählte Reihe von Silben oder mindestens
von Starktönen, während in der Prosa zwischen die Pausen
etwas weit Mannigfaltigeres tritt: weder die Zahl der Silben noch ihre
Akzentstufung ist festgelegt. Je regelmäßiger die Akzentverteilung
wird, desto mehr nähert sich ungebundene der gebundenen Rede. In
der Mitte stehen die freien Rhythmen, die man mit gleichem Recht
als rhythmische Prosa (Beispielsatz 2) oder als freien Vers (vers libre)
auffassen kann; die berühmten „Hymnen an die Nacht“ des Novalis
z. B. sind vom Dichter in freien Verszeilen niedergeschrieben, aber in
Prosa gedruckt worden.1) Freie Rhythmen setzen zwischen zwei Pausen
etwas laxer Gebildetes, das bald mehr zum Vers (Klopstocks und
Hölderlins Oden), bald mehr zur Prosa (Tiecks „Reisegedichte“, Heines
„Nordsee“) neigt; das Entscheidende liegt im Gehalt, der zu unpathetischem
oder hochpathetischem, minder oder stärker taktiertem Vortrag
zwingt. Was aber zwingt, ist die Art des Wortmaterials sowie
der Wortstellung: beides scheidet den freien Rhythmus unverwechselbar
von ungebundener Rede. Für unmöglich in dieser erklärte darum der
Dichter Arno Holz folgenden, an sich doch schlichten Satz:


„Hinter blühenden Apfelbaumzweigen steigt der Mond auf.“


Wenn der Versrhythmus vorhin definiert wurde durch die regelmäßige
Verteilung der zwischen je zwei Pausen gesetzten Akzente, er mithin
schon durch ein einziges solches Rede-Stück (die Verszeile) charakterisiert
ist, so beruht der Rhythmus des Prosasatzes (von den antiken
Rhetorikern Arithmos, Numerus = „Zahl“ genannt) auf Wahl und
Verteilung des gesamten Sprachstoffs im Satze, vor allem der betonten
Worte (nicht mehr der Silben); er kann daher nur auf Grund längerer
Text-Strecken ermittelt werden. Für den Numerus fällt ins Gewicht, ob
der Kontext einfache oder verwickelte Sätze aneinanderreiht, ob diese

1)
Hier folge ein Stück in beiden Fassungen:
[Beginn Spaltensatz]a.
Eine dunkle
Schwere Binde
Lag um ihre
Bange Seele.
Unendlich war die Erde,
Der Götter Aufenthalt
Und ihre Heimat
Reich an Kleinoden
Und herrlichen Wundern.
Seit Ewigkeiten
Stand ihr geheimnisvoller Bau.
[Spaltenumbruch]
b.
Eine dunkle, schwere Binde
lag um ihre bange Seele ─
Unendlich war die Erde ─
der Götter Aufenthalt, und ─
ihre Heimat. Reich an Kleinoden
und herrlichen Wundern.
Seit Ewigkeit stand ihr
geheimnisvoller Bau.
[Ende Spaltensatz]
|#f0028 : 24|

gleichmäßig oder unsymmetrisch, steigend oder fallend klingen, ob
lange oder kurze Worte vorwiegen, wie die schweren und die leichten
Wortkörper verteilt sind, ob die betonten Worte jambischen oder trochäischen
Bau haben; das Wichtigste aber sind die Pausen, d. h. Zahl,
Länge, Verteilung der (oft, aber nicht immer durch Interpunktion markierten)
lautleeren Einschnitte. Je regelmäßiger die Akzentverteilung
wird, desto mehr nähert sich die ungebundene der gebundenen Rede;
sie erhält dadurch jenen gehobenen Ton, dank welchem jedes Wort mit
anderm Klang auch geänderten Inhalt offenbart und durch den vor
allem sich kunstvolle Prosa von der gewöhnlichen Umgangsrede unterscheidet.
An der Grenze von Prosa und Vers liegen die freien Rhythmen,
mit einem Mindestmaß vorbestimmter Form, die aber vom Dichter
nicht eindeutig festgelegt ist und erst vom Vortragenden aus vielgestalter
Möglichkeit zu bestimmter Akzentverteilung verwirklicht wird.


B. VERSLEHRE (METRIK)

ist Lehre vom Versmaß (Metrum),
d. h. vom Wesen und den Formen des Verses, anders gesprochen, von
den Kunstformen der gebundenen Rede als klanglicher Gestalt.


Die deutsche Verswissenschaft hat lange unter Theorien gelitten, die
unerlaubter Weise von der quantitierenden (zeitmessenden) antiken
Metrik auf den ganz anders gearteten, akzentuierenden (tonwägenden)
deutschen Vers übertragen sind1); die späte Heilung wurde erst
in den letzten Jahrzehnten und dadurch bewirkt, daß man den Vers
nicht länger nach dem toten Druckbild betrachtete, sondern vornehmlich
als akustische Erscheinung untersuchte, als Schallform.


An der Schallform lassen sich nun folgende Bestandteile unterscheiden:


a) Der Rhythmus; für ihn kommt in Betracht


1. Die Schwereabstufung der Silben. Die übliche Sonderung in
betonte und unbetonte Silben ist allzu grob und wird der vielfältigen
Wirkung des Verses so wenig gerecht, als wollte man den
Farbenreichtum eines Gemäldes mit der Unterscheidung von hell

1)
Die abendländische Metrik kennt dreierlei Versprinzipien: a) Das quantitierende
(silbenmessende), wo die Lage der Hebungen sich richtet nach den sprachgeschichtlich
bedingten Quantitäten (Dauerzeiten) der Silben: es war das Prinzip
der antiken Metrik; b) das alternierende (silbenzählende), wo abwechselnd
eine Silbe Hebung, die folgende Senkung ist, was feststehende Silbenzahl
ergibt: es ist das Prinzip der romanischen Metrik; c) das akzentuierende
(silbenwägende), wo die rhythmischen Hebungen grundsätzlich mit den sprachlichen
zusammenfallen: es ist das Prinzip des germanisch-deutschen Versbaus.
|#f0029 : 25|

und dunkel erschöpfen. Die neuere Metrik ist viel feinhöriger
geworden und arbeitet mit weit reicherer Scheidung; sie stuft so:
Überhebungen (vollüberschwer, halbüberschwer, kaum überschwer),
Hebungen (vollschwer, untervollschwer, halbschwer, unterhalbschwer,
kaumschwer, unterkaumschwer), Indifferenz (d. i.
die Stufe zwischen Hebung und Senkung), schwere (halbleichte)
Senkung; normale (volleichte) Senkung, (überleichte) Übersenkung.


2. Die Abstufung der Abstandszeiten, d. h. der Zeiten, die sich
vom Schwerpunkt einer starktonigen Silbe bis zum Schwerpunkt
der nächsten starktonigen Silbe hinziehen.


3. Die Gruppierung der Silben.


b) Die Sprechmelodie1):


1. Die Tonbewegung: steigend, fallend


2. Die Tonlage: höher, tiefer.


c) Die Klangart. Hier kommen in Betracht:


Klangtypus, Klanglage, Klangfärbung, Stimmlage.


d) Die Sprechweise. Sie bestimmt das Zeitmaß (Tempo), die
Lautstärke, die Bindung (legato, staccato, portato) und die Lautung,
für die wieder maßgebend sind: Fülle, Spannung, die Lautbeschaffenheit
der Vokale und Konsonanten sowie deren Wechselverhältnis.



e) Der Versschmuck: Reim, Assonanz, Alliteration, Lautmalerei.



Als Vers-Stilistik und Vers-Psychologie untersucht die Metrik schließlich
auch die Beziehungen zwischen Bedeutungsmasse und Schallmasse,
zwischen Sinngehalt und Klanggestalt; sie fragt nach dem Wechselverhältnis
zwischen Gestimmtheit des Dichters und der sie ausdrückenden
Versform einerseits, zwischen Versform und Stimmungseindruck des
Hörers (oder Lesers) andererseits.

1)
Sie ist als klanglicher Ausdruck des gemeinten Gesamtsinns eines sprachlichen
Gebildes den Vorgängen der Wortprägung, Formbildung und syntaktischen Anordnung
der Satzglieder vorgegeben; so haftet sie mittelbar auch am geschriebenen
Wort, das, klingend gemacht, jene reproduzieren muß. Eine Tonbewegung
(Sprach melos; griech. „Gesang“), hat jede menschliche Rede, aber erst die
künstlerische Steigerung und Gruppierung macht sie zur Sprech melodie;
diese kann von aufwärts nach abwärts oder umgekehrt, oder im Zickzack auf
und ab gehen. Den Eindruck der Sprechmelodie bedingt der wechselseitige Tonbezug
der Hebungen.
|#f0030 : 26|

1. Verse.


Das Wichtigste am Verse ist sein Rhythmus. Der Versrhythmus beruht
auf den Verhältnissen, in denen (Ton-)Stärke und (Zeit-)Dauer gesprochener
Gebilde zueinander stehen. Die durch Stärke ausgezeichneten
Glieder der rhythmischen Reihe nennt man Hebungen, die zwischen den
Hebungen befindlichen schwachen Teile Senkungen; das Stück der Reihe
von Hebung zu Hebung heißt Takt1). Der Vers (lat. versus „Wendung“)
ist eine in sich abgeschlossene Reihe von Takten, deren Anzahl
entweder fest vorgeschrieben (Metrum) oder frei (vers libre) ist; die
Takteinheiten (Schritte) nannte die antike Metrik „Füße“. Taktmäßige
Gliederung ist das einzige objektive Merkmal, das den Vers von der
Prosa unterscheidet; bei dieser ist Taktschlagen („Klopfbarkeit“) ausgeschlossen.
Metra sind bloß klassifizierende Begriffe, die an sprachrhythmischen
Reihen einige (lange nicht alle) wesentliche (aber nur
äußerliche) Merkmale herausheben, nämlich Zahl und Lage der
Hebungen und Senkungen, die Bildung der Versschlüsse2) und die Art
der Einschnitte (Zäsuren). Da der Vers die metrisch fest geregelte Zeile
ist ohne Rücksicht auf die Gliederung des Satzes und Sinnes, wird es
Grundgesetz aller Versgestaltung, daß die Takte und Wörter, die Verse
und Sätze nicht zusammenfallen, sondern sich zu schwingender Einheit
durchwachsen. Wo Satz und Sinn den Versschluß überschreiten, entsteht
Versbrechung (Enjambement, französ. „Überschreitung“); z. B. „Ich
melde dieses neue Hindernis / Dem Könige geschwind; beginne du /
Das heil'ge Werk nicht eh', bis er's erlaubt“ (Goethe: Iphigenie). Einschnitte
entstehen im gesprochenen Verse an den Grenzen der Kola
(Atemgruppen); fällt die Kolongrenze in den Takt hinein, so bezeichnet
man die Schnittstelle als Zäsúr (lat. „Schnitt“):


Kola: Pfingsten, / das liebliche Fest, / war gekommen; // es


grünten / und blühten

1)
Takt (tactus, lat. „Berührung“) bedeutet eigentlich das Aufschlagen des Fußes
oder eines Stockes bei der Leitung eines Musikstückes.
2)
Die antike Metrik unterscheidet als kataléktisch (von griech. katalégein
„aufhören“) solche Verse, deren letzter Fuß unvollständig bleibt, von den vollständig
ausklingenden (akatalektisch) und den um eine Silbe überzähligen
(hyperkatalektisch).
Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo

(viertaktiger Trochäus, akatalektisch)
Rückwärts, rückwärts, stolzer Cid

(viertaktiger Trochäus, katalektisch)
Der Morgen kam, es scheuchten seine Schritte

(fünffüßiger Jambus, hyperkatalektisch).
|#f0031 : 27|


Takte: Pfingsten, das / liebliche / Fest war ge / kommen es /


grünten und / blühten.


Die Schnittstelle, an der Takt- und Kolongrenze zusammenfallen, nennt
man Diärése (vom griech. diaíresis „Trennung“):


Des schweren Krieges Last, // den Deutschland jetzt
empfindet

(Opitz).


Nach dem Prinzip der akzentuierenden Metrik dürfte der deutsche
Versfall niemals dem Prosafall widersprechen, es sollten also stets Kolongipfel
und rhythmische Hebung zusammenfallen. Das war restlos
nur beim Stabreimvers (s. u. S. 36) der Fall, der zwei Halbzeilen zu
einer Langzeile bindet, indem er begrifflich oder gefühlsmäßig bedeutungsvolle
Wörter durch gleichen Anlaut (Stäbe) hervorhebt1):


wélaga nû, wáltant got, // wêwurt skihit.
Wohlan denn, waltender Gott, Wehsal geschieht

(Hildebrandslied).


Ihre Tonstärke bringen die gehobenen Silben aus der natürlichen Prosarede
mit, sie erwerben sie nicht erst durch ihre Stellung im Verse; die
Alliteration verdeutlicht blos das logische Satzgefüge. In den neueren
deutschen Versgebilden, die ausnahmslos aus der Fremde importiert,
also von anders geformten Sprachen übernommen sind, stimmen Vers-
und Prosafall naturgemäß nicht allemal überein; durch Störung der
Harmonie zwischen Versbetonung und Satzbetonung (zwischen Metrum
und Akzent) entsteht entweder Tonbeugung (Vergewaltigung des Prosafalls)
oder Durchbrechung des metrischen Rahmens; solche Verletzung
läßt sich heilen durch den Ausgleich der sog. schwebenden Betonung. In
dem Vers:   Abgesetzt wurd' ich. Eure Gnaden weiß ─


verlangt der Sprachakzent die Betonung ábgesetzt, das Metrum die
Lesung abgésetzt; die Stimme muß daher verschleifend über den konkurrierenden
Silben schweben.


Von den möglichen Taktarten verwendet der deutsche Vers im
Grunde nur drei: den sog. Jámbus (griech. „Schleuderer“), der die
Hebung der Senkung folgen läßt (xx́: Vereín, geságt), den sog. Trochä́us
(griech. „Läufer“), der umgekehrt der Senkung die Hebung vorausschickt
(x́x: Sónne, gében), und den sog. Dáktylus (griech. „Finger“),
welcher der Hebung zwei Senkungen nachsendet (x́xx: schö́nere,
Gábriel). Die Umkehr des Daktylus (xxx́: elegánt, unterdrǘckt), der

1)
Im 19. Jhdt. haben Richard Wagner und Wilhelm Jordan versucht, diese urdeutsche
Versform der modernen Dichtung zurückzugewinnen.
|#f0032 : 28|

sog. Anapä́st (griech. „Widerschlag“), kommt im deutschen Vers nur
in Mischung mit den drei vorerwähnten Taktarten vor.


Die beliebtesten, verbreitetsten Taktreihen (Versarten) der deutschen
Dichtung sind:


a) Jambische: 1. Der Viertakter, von Otfried bis Opitz der deutsche
Normalvers, als Knittelvers (mit freier oder fester Silbensumme)
von Hans Sachs und Fischart über Gryphius,
Kortum und Goethe bis zu Gerhart Hauptmann im
Schwange, gilt im Gegensatz zu den schwierigeren, seit
dem 16. Jahrhundert aus der antiken und romanischen
Dichtung übernommenen Maßen als der eigentlich
deutsche Vers, obwohl er erst um die Mitte des 9. Jahrhunderts
lateinischer Poesie abgeborgt wurde.


Beispiele: α) freier Knittelvers (nur die Zahl der Hebungen
ist festgelegt, die der Senkungen unbestimmt):


Mit dem Hándel gíbts nur Kleínigkeíten,
Denn es íst kein Géld únter den Leúten

(Kortum: Jobsiade).


β) strenger Knittelvers:


Drauf hát der Rheín sein' Ábscheid g'nómmen,
Auf dáß er báld ins Méer möcht kómmen

(Fischart: Das glückhafte Schiff von Zürich).


2. Der Fünftakter ─ Quinar, Blankvers (d. h. reimloser
Vers) ─, im 18. Jh. aus der englischen Dichtung
übernommen, gilt seither als der obligate deutsche Bühnenvers.



Heraús, in eúre Schátten, rége Wípfel

(Goethe: Iphigenie).


Vor gráuen Jáhren lébt ein Mánn im Ósten

(Lessing: Nathan).


3. Der Sechstakter wird Senár oder Trímeter1)
genannt,
wenn er mit Zäsur im 4. Jambus versehen ist; Alexandriner2),
wenn mit Diärese nach dem 3. Takt; Nibelungenvers,
wenn er sich aus zwei Dreitaktern zusammensetzt,

1)
Die antike Metrik nimmt je zwei „Füße“ (= Takte) zu einem „Metrum“ zusammen.
2)
So genannt nach einem altfranzösischen Alexanderepos des 12. Jahrhunderts, in
dem diese Versart erstmals verwendet worden ist.
|#f0033 : 29|

deren erster hyperkatalektisch schließt. Der
Trimeter, obligater Vers der griechischen Tragödie, ist
von den deutschen Klassikern nur gelegentlich (Schiller's
„Jungfrau von Orleans“, Goethes „Faust“ und „Pandora“)
verwendet worden; der Alexandriner, Lieblingsvers
des französischen Theaters, wurde von dort in
die deutsche Barockdichtung (Andreas Gryphius, Angelus
Silesius) übernommen; den Nibelungenvers haben die
deutschen Romantiker dem mhd. Heldenepos nachgebildet.



Beispiele:


α) Trimeter: „Bewúndert víel und víel geschólten,


Hélená“ (Goethe; Faust II).


β) Alexandriner: „Spring án, mein Wǘstenróß //


aus Álexándriá (Freiligrath).


γ) Nibelungenvers: „Es stánd vor álten Zeíten //


ein Schlóß so hóch und héhr“ (Uhland).


b) Trochäische: 1. Der Viertakter wurde durch Herders „Cid“ in die
deutsche Dichtung eingeführt, von den Übersetzern und
Nachahmern des spanischen Dramas liebevoll gepflegt:
„Traúernd tíef saß Dón Diégo“ (Herder).


„Eines nur ist Glück hiernieden, / Eins: des Innern
stiller Frieden / Und die schuldbefreite Brust!“


(Grillparzer: Der Traum ein Leben).


2. Der Fünftakter; das berühmteste Gebilde in dieser
Versart ist Goethes Bearbeitung der südslavischen
Ballade von Asan Aga:


„Glǘcklich kámen síe zur Fǘrstin Haúse“.


3. Der Achttakter (Oktonár, Tetrámeter), in der antiken
Tragödie und besonders Komödie zuhause, wurde
erst durch Platens aristophanische Lustspiele eingedeutscht:



Scheínt sie aúch geschwä́tzig, láßt sie; dénn


es íst ein álter Braúch,


Gerne plaudern ja die Basen und die Parabasen


auch (Platen: Die verhängnisvolle Gabel).

|#f0034 : 30|

c) Daktylische: 1. Der Hexámeter (griech. „Sechstakter“), der klassische
Vers des antiken Epos, ist erst durch Klopstock in
der deutschen Dichtung heimisch geworden; von allen
modernen Völkern haben nur die Deutschen und die
Tschechen ihn nachzuahmen vermocht. Freilich hat die
Umsetzung aus dem quantitierenden ins akzentuierende
Versmaß seinen Bau stark verändert. Nach den Gesetzen
der antiken Metrik konnten die beiden „Kürzen“
überall ─ mit Ausnahme des fünften Fußes ─ durch
eine Länge ersetzt werden, d. h. an Stelle des Daktylus
( [Abbildung] ) der Spondeus ( [Abbildung] ) treten: den Spondeus aber
vermag der akzentuierende deutsche Vers nicht nachzubilden,
er muß ihn durch einfachen Trochäus ersetzen.
Der deutsche Hexameter ist demnach ein daktylischtrochäischer
katalektischer Sechstakter, mit Zäsur im
dritten oder vierten Takt (Penthemímeres, Hephthemímeres),
oder mit Diärese nach dem vierten Takt.


α) Nun erhob sich Achilleus vom Sitz // vor seinem
Gezelte;
β) Fernes schreckliches Spiel // und des wechselnden
Feuers Bewegung;
γ) Grausame! welcherlei Rede versendest du? // Pfeile
des Hasses (Goethe: Achilleis).


In diesem Metrum sind die Homer-Übersetzungen von
J. H. Voß und dessen Idyllen abgefaßt, Goethes Versepen
(Reineke Fuchs, Hermann und Dorothea, Achilleis),
die idyllischen Epen des 19. und 20. Jahrhunderts
(Mörike, Hebbel, Paul Heyse, F. Saar, Thomas Mann,
Gerhart Hauptmann, Anton Wildgans, Börries v.
Münchhausen). Jüngste deutsche Dichter wie Hermann
Hesse, R. A. Schröder, Hans Brandenburg, J. M.
Wehner, L. F. Barthel, F. G. Jünger bekunden zu dem
altberühmten Verse eine neue Liebe.


2. Der Pentámeter (griech. „Fünftakter“) ist gleichfalls
ein Sechstakter, nämlich ein an zwei Stellen ─
nach der Penthemimeres und am Schlusse ─ abgebrochener
(d. h. um einen Halbtakt verkürzter) Hexameter;
da diese Halbtakte („Füße“) nach antiker Messung |#f0035 : 31|

zusammen ein „Metrum“ ergeben, so erachtete
man den Vers gleich einem um ein Metrum subtrahierten
Hexameter, woraus sich der irreführende Name
erklärt. Verwendbar und verwendet worden ist der
Pentameter nur in Verbindung mit dem Hexameter,
dessen beschwingten Gang er nachdenklich unterbricht;
diese, in der antiken Dichtung für Epigramm und Elegie
verwendete zweizeilige Strophe nannten die Alten
elegisches Dístichon (griech. „Doppelreihe“). Berühmte
deutsche Werke in diesem Maße sind Goethes „Römische
Elegien“, Goethes und Schillers „Xenien“, elegische
Dichtungen von Hölderlin, Platen, Mörike und Ferd.
v. Saars „Wiener Elegien“.


Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,
x́ x x́ x x x́ x x́ x x́ x x x́ x


Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab
x́ x x́ x x x́ x́ x x x́ x x x́


(Schiller).


Jede dieser mannigfaltigen Versarten hat ihren eigenen Klang- und
Formcharakter, eine besondere innere Haltung („Ethos“), auf die der
Dichter Bedacht nehmen muß; keineswegs läßt sich in diese Formen jeder
beliebige Inhalt einfüllen. In den metrischen Typen haben sich unterschiedliche
Grundstimmungen des Gemüts entfaltet: energisches Vorwärtsstreben
hier, ruhevolles Beharren dort; so hebt sich der beflügelte
Jambenschritt ab von der schweren Gehaltenheit der Trochäen, der
feierliche Schwung des Hexameters vom ungestümen Anprall des Anapästs.
Doch bleibt das meßbare (abzählbare) Metrum immer etwas
Mechanisches, Äußerliches, wird übermächtigt vom individuellen dynamischen
Rhythmus, in dem das besondere Wesen des einzelnen Poeten
sich zum Klang gestaltet; daher gleiche Metren verschiedener Dichter
bisweilen sehr ungleich, verschiedene Metren gleicher Urheber erstaunlich
verwandt tönen

1)
──────
Diese Tatsache, erst in jüngster Zeit von der Verswissenschaft beachtet, drängte
sich schon Herders feinem Ohre auf (Werke ed. Suphan V, S. 356).
.


2. Versgruppen.


Wir sind von der Silbe zum Takt, vom Takt zum Verse vorgeschritten;
die nächst höhere metrische Einheit ist die Versgruppe oder Strophe. |#f0036 : 32|

Gedichte, die nur Vers an Vers reihen, ohne daraus bestimmt abgegrenzte
Gruppen zu bilden, nennt man stichisch (von griech. stíchos „Reihe,
Zeile“).


Das griechische Wort strophé („Wendung“) bedeutete ursprünglich
die Tanzwendung des Chors im Drama und das während des Tanzes
gesungene Liedstück, danach allgemein Verbindung mehrerer Verse zu
einem rhythmischen Ganzen. Ins Deutsche kam der Terminus erst durch
die Renaissancepoeten des 17. Jahrhunderts; vorher herrschte allgemein
das heimische Wort „Gesätz“. Beide Ausdrücke meinen ein geschlossenes
metrisches Gebilde, das durch gleichmäßige Wiederholung eine Dichtung
zusammensetzt; der künstlerische Reiz beruht auf dem Widerspiel der
beharrenden metrischen Form und des wechselnden Inhalts.


Das einfachste und älteste Gesätz ist das zweizeilige. Die altgermanischen
Heldenlieder banden je zwei Halbzeilen durch Stabreim zur sog.
Langzeile (vgl. o. S. 27); nach dem Aufgeben des Alliterationsverses
wurde dieses schlichte Gesätz beibehalten, nur daß die Bindung durch
den Endreim erfolgte; so entstanden die viertaktigen Reimpaare Otfrids,
des frühen Minnesangs, der mittelhochdeutschen Epik. Aus verwickelterer
Reihung von Kurzversen und Langzeilen entsteht der Strophenreichtum
der hochmittelalterlichen Lyrik, deren Gesätze dreiteilig gebaut
sind; sie bestehen jeweils aus zwei Stücken von gleichem Bau, den sog.
Stollen („Aufgesang“), und einem dritten, von den Stollen verschiedenen,
dem „Abgesang“. Dieser Rahmen ermöglichte die mannigfaltigste
Füllung mit Taktreihen beliebiger Länge und Zahl. Der Minnesang
kannte Gesätze bis zu 17, der Meistergesang gar bis zu 100 Versen.


Von den kunstvollen mittelalterlichen Strophen wird nur eine
einzige in der neueren Dichtung wiederverwendet: die vierzeilige
Nibelungenstrophe, in der die deutschen Heldenepen abgefaßt sind. Sie
bestand aus 3 gleichgebauten Langzeilen, die sich aus je 2 jambischen
Dreitaktern (der erste hyperkatalektisch) zusammensetzen, während die
zweite Hälfte der vierten Zeile viertaktig ist; je zwei Zeilen sind durch
Reim verbunden. Schema:


xx́ / xx́ / xx́ / x // xx́ / xx́ / xx́ a
xx́ / xx́ / xx́ / x // xx́ / xx́ / xx́ a
xx́ / xx́ / xx́ / x // xx́ / xx́ / xx́ b
xx́ / xx́ / xx́ / x // xx́ / xx́ / xx́ / x́x b


Mit Einebnung jenes Unterschiedes haben Tieck, Uhland u. a. die Form
zur neuen Nibelungenstrophe umgeschaffen:

|#f0037 : 33|

Der höchste Wein des Lebens fließt in dem Schlachtgefild,
Man schöpft die goldne Welle in Helm und blanken Schild,
Und wie wir zechen fröhlich, Trompetenton erklingt,
So daß die Labung selig zum vollen Herzen dringt

(Tieck: Kaiser Octavianus).


Mit der Renaissance drangen antike Strophenformen in die deutsche
Dichtung ein, die aber erst durch Klopstock, Hölderlin und Platen,
neuestens durch R. A. Schröder und Josef Weinheber würdige Nachbildung
fanden; es kommen vor allem drei Strophen in Betracht:


a) die sapphische:


[Beginn Spaltensatz]x́x / x́x / x́xx / x́x / x́x
x́x / x́x / x́xx / x́x / x́x
x́x / x́x / x́xx / x́x / x́x
x́xx / x́x

[Spaltenumbruch]


Oeder Denkstein, riesig und ernst beschaust du
Trümmer bloß, Grabhügel, den Scherbenberg dort,
Hier die weltschuttführende, weg von Rom sich
Wendende Tiber!


(Platen)

[Ende Spaltensatz]


b) die alkäische:


[Beginn Spaltensatz]xx́x / x́x / x́xx / x́x / x́
xx́x / x́x / x́xx / x́x / x́
x / x́x / x́x / x́x / x́x
x́xx / x́xx / x́x / x́x

[Spaltenumbruch]


Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe!


(Hölderlin)

[Ende Spaltensatz]


c) die asklepiadeische:


[Beginn Spaltensatz]x́x / x́xx / x́ // x́xx / x́x / x́
x́x / x́xx / x́ // x́xx / x́x / x́
x́x / x́xx / x́x


x́x / x́xx / x́x / x́

[Spaltenumbruch]


Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,
Das den großen Gedanken
Deiner Schöpfung noch einmal denkt


(Klopstock).

[Ende Spaltensatz]


Aus romanischer Metrik drang im 16. Jahrhundert das Sonett („Klinggedicht“)
ein, im Zeitalter der Romantik die Terzine, die Stanze und
noch schwierigere Formen (Kanzone, Sestine, Triolett, Dezime, Glosse);
aus dem Orient wurden im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts das
Ghasél und die Makáme1) übernommen. Das Sonett besteht aus 14

1)
Dieses arabische Wort bedeutet urspr. „Versammlung“ und meint eine Zusammenkunft,
bei der die Zuhörer durch Stegreifdichtung unterhalten wurden. Die Makame
ist eine rhythmisch freie, mit witzigen Wortspielen durchsetzte Mischform
von Reimprosa und Reimvers. Beispiel: „Wie ich sah seines Feuers Funken ─
seiner Glanzlichter Prunken, ─ sucht' ich seine Mienen zu unterscheiden ─ und
ließ meinen Blick auf seinem Antlitz weiden. ─ Und siehe, es war von Serug unser
Scheich, ─ den ich nicht hatte erkannt sogleich, ─ weil in der dunklen Nacht von
seinem Haar ─ inzwischen Mondlicht geworden war“ (Rückert).
|#f0038 : 34|

jambischen Fünftaktern, und zwar aus zwei parallel gebauten vierzeiligen
Strophen (Quartetten) in der Reimbindung abba und aus zwei,
durch neue Reime (cdc) in sich verschränkten, parallel gebauten Dreizeilern
(Terzetten)1). Die weltliterarischen Meister dieses strengen
Strophengebäudes sind Petrarca, Shakespeare und Camões; bei den
Deutschen Gryphius, Platen, Rilke. Das Sonett eignet sich durch seinen
logischen Bau (seine beiden, metrisch unterschiedenen Teile gestalten
den Inhalt in Satz und Gegensatz, Frage und Antwort, Problem und
Lösung) zum dichterischen Ausdruck von Denkerlebnissen, zu philosophischer
Lyrik (Wilhelm von Humboldt).


Die Terzíne (ital. „Dreizeiler“) besteht aus drei jambischen Fünftaktern,
deren erster mit dem dritten reimt, während der zweite den
Reim für die erste und dritte Zeile der nächsten Strophe anschlägt, so
daß eine ununterbrochene Kette entsteht; das ganze Gedicht abschließend,
folgt dem letzten Gesätz noch ein Vers, der mit dessen Mittelzeile
reimt (aba, bcb, cdc ... yzy, z). Die großen Dichter dieser
Form sind Dante, Chamisso, Liliencron, Hofmannsthal.


Die Stanze (von ital. stanza „Zimmer“ = Reimgebäude), auch Ottave
rime
(ital. „acht Reime“) genannt, besteht aus 8 jambischen Fünftaktern
in der Reimbindung abababcc (also 2 Terzinen plus 1 Reimpaar);
sie ist die Strophe des „romantischen“ Heldengedichts und der
lyrischen Ansprache (Prolog, Epilog). Die mächtigsten Beherrscher dieser
schwierigen Strophe waren Ariost, Tasso, Camões, Goethe, Byron,
Liliencron.


Das Ghasél (arab. „Gespinnst“) besteht aus 10─30 unter sich gleichen
Versen beliebiger Taktart, die mit einem Reimpaar beginnen und denselben
Reim in den geraden Zeilen festhalten, während die ungeraden
reimlos bleiben (aa ba ca ... za).


Im Wasser wogt die Lilie, die blanke, hin und her,
Doch irrst du Freund, sobald du sagst, sie schwanke hin und her;
Es wurzelt ja so fest ihr Fuß im tiefen Meeresgrund,
Ihr Haupt nur wiegt ein lieblicher Gedanke hin und her

(Platen).

1)
Fünfzehn inhaltlich zusammenhängende Sonette verflechten sich dadurch zu
einem Sonettenkranze, daß der Schlußvers des einen Sonetts immer als
Anfangsvers des nächstfolgenden gesetzt und das fünfzehnte (sog. Meistersonett)
aus den Anfangsversen der vierzehn vorangegangenen gebildet wird. In solchem,
schon mehr spielerischem Kunststück hat sich heutigentags der Wiener Josef
Weinheber versucht.
|#f0039 : 35|


Der Klassiker des Ghasels ist der Perser Hafis, deutsche Nachbildungen
schufen Rückert, Platen, Leuthold u. a.


Die Einteilung und Benennung aller übrigen in deutscher Dichtung
verwendeten Strophengebäude wird nicht nach ihren rhythmischen Verhältnissen
vorgenommen, sondern ganz äußerlich nach der Zahl der
zusammengefaßten Verse und der Art des sie bindenden Sprachschmucks
(Reim, Assonanz, Alliteration). Die Fülle der Möglichkeiten ist da
sehr groß; Annette von Droste-Hülshoff z. B. verwendet in rund 300
Gedichten mehr als 200 verschiedene Strophenformen.


3. Versschmuck.

A. Der Reim1)

ist im Grunde Wortspiel, Spiel mit den Klangwerten
der Sprache; und zwar können zu diesem Spiel entweder bloße Einzellaute
verwendet werden, Konsonanten (Alliteration) wie Vokale (Assonanz),
oder die Verbindung von Konsonant und Vokal zu einer oder
mehreren Silben (Silbenreim). Alle diese Klangspiele sind unrhythmische
Größen und eigentlich erst aus Rhetorik und Stilistik in die
Metrik gelangt. Die antike Verslehre kennt solchen Sprachschmuck überhaupt
nicht, er wurde von den Alten nur in der Prosa, hauptsächlich
zur Verzierung der Rede verwendet. Aus der gehobenen, rhetorischen
Prosa, in der der Silben- oder Endreim eine immer mehr zunehmende
Bedeutung erlangt hatte, vor allem aus der frühchristlichen Predigt, die
mit psalmodierender (dem Gesang nahe kommender) Stimme vorgetragen
wurde, kam er (seit etwa 600 n. Chr.) in die der Predigt verwandte
mittellateinische Hymnenpoesie und von hier in die geistliche
deutsche Dichtung; das erste größere Reimwerk unseres Schrifttums
war Otfrids Evangelienharmonie (um 870). Der Endreim, das ohr- und
augenfälligste Kennzeichen nahezu aller gebundenen deutschen Rede,
nach der (unzutreffenden) Vulgärmeinung das wesentlichste Kennzeichen
deutscher Dichtung überhaupt, ist also ein Geschenk der Kirche.


1.

Ob der Konsonantenreim, die sog. Alliteration, welche vor Einführung
des Endreims im deutschen Vers (und im altgermanischen überhaupt)
das einzige Bindungsmittel ausmachte, selbständige (autochthone)
Schöpfung war oder gleichfalls antikem Brauche nachgebildet wurde, ist

1)
Das Wort „Reim“ kommt her von rythmus, was im Mittellatein den nicht
quantitierenden, sondern alternierenden oder akzentuierenden (meist endreimenden)
Vers bezeichnet; daher hatte das mhd. rîm zuerst die Bedeutung „Reim-
vers“, die sich in Kehrreim (regelmäßig wiederkehrende Verszeile, Refrain)
bis heute erhalten hat.
|#f0040 : 36|

noch ungeklärt. Es handelt sich dabei (s. o. S. 27) um den Gleichklang
der Stamm-Anlaute betonter Worte (Anfangsreim), wie er auch in Redewendungen
des Alltags vorkommt: Kind und Kegel, Haus und Hof,
Wind und Wetter, gut und gern, bitter und böse, biegen oder brechen,
gäng und gäbe. Die Alliteration ist ausschließlich Konsonantenreim,
denn daß auch Vokale staben konnten, und zwar alle durcheinander
(also a unterschiedslos mit e, i, o, u), erklärt sich daraus, daß man den
Vokaleinsatz bei starkbetonter Silbe als Konsonant empfand.


2.

Der Silben- oder Endreim besteht im Gleichklang einer oder
mehrerer Silben bei verschiedenem Anlaut der ersten Reimsilbe; stimmen
die Reimsilben in Vokalen und Konsonanten genau überein, so heißt der
Reim rein (Traum ─ Baum; Wunde ─ Kunde); ist Vokal oder Konsonant
etwas verschieden, so heißt er unrein (sprießen ─ grüßen; Gruß ─
Kuß; reiten ─ meiden); erklärt sich die (graphische) Verschiedenheit aus
mundartlicher Aussprache, so heißt er dialektisch: dergestalt reimte z. B.
der Schwabe Schiller: Menschen ─ wünschen1)
. Reimt auch der Anlaut
der Reimsilbe, so heißt der Reim rührend: du hast ─ die Hast; doch sind
rührend reimende Wörter nur erlaubt, wenn sie verschiedene Bedeutung
haben. Ist das konsonantische Element überhaupt nicht am Gleichklang
beteiligt, so sprechen wir von Assonanz2) (lat. „Anklang“): Stab ─
Macht; sehen ─ regen; loben ─ stoßen. Vollreim wie Assonanz erscheinen
auch in ständigen Redensarten der Verkehrssprache: Knall und
Fall, Saus und Braus, schlecht und recht, Sang und Klang, holterdipolter;
kurz und gut, mit Wissen und Willen, von gutem Schrot und Korn,
Leute von Rang und Stand.


Reim, Assonanz, Alliteration entspringen und entsprechen dem
Wunsche, die Glieder einer rhythmisch gebundenen Rede klanglich wie
inhaltlich in eine dem Ohr und Auge wahrnehmbare engere Beziehung
zu setzen; der Reim kennzeichnet obendrein auch den Aufbau der
Strophe.


Die Formen des Endreims werden unterschieden:


a) nach der Zahl der reimenden Silben

1)
Heine (Walzel) II, S. 357 reimt, offenbar jüdelnd: Moschus ─ Wohlfahrts ausschuß.
2)
Sie ist ein beliebtes Bindungsmittel in der romanischen Dichtung, bes. im spanischen
Drama und Romanzero, und wurde von dort im Zeitalter der Romantiker
auf deutsche Dichtung übertragen (Tieck, Brentano).
|#f0041 : 37|


α) einsilbige (männliche1), stumpfe): Land─Hand; Mahl─Saal;


β) zweisilbige (weibliche1), klingende): heute─Leute; Regen─Segen;


γ) dreisilbige2) (gleitende): érblichen─sterblichen; singende─klingende.



b) nach der Stellung der Reime:


α) am Ende des Verses:


1) paarende: sie verbinden zwei unmittelbar aufeinander folgende
Verse: aa bb cc (Reimpaare);


2) gekreuzte (überschlagende): ab ab;


3) umarmende (umschließende): abba;


4) unterbrochene (d. h. durch reimlose Zeilen3) von einander
getrennte): abcb.


β) am Anfang oder im Innern des Verses:


1) Schlagreim bilden zwei innerhalb eines einzigen Verses unmittelbar
aufeinander folgende Reimwörter:


Singen, springen soll die Jugend,
Die Alten walten alter Tugend.


2) Im Binnenreim reimt das Versende mit einem andern Wort
des gleichen Verses:


Eine starke, schwarze Barke
Segelt trauervoll dahin.
Die vermummten und verstummten
Leichenhüter sitzen drin


(Heine).


B. Lautsymbolik.

Hüllt sich der Vers mit den nach Regel gesetzten
Reimen sozusagen in ein vorgeschriebenes Festgewand, so läßt sich
dieses auch noch mit allerlei frei verteiltem Schmuck verzieren: innerhalb
der einzelnen Zeile und zwischen ihnen werden Selbst- und Mitlaute
zu den mannigfaltigsten Klangspielen angeordnet. Bald will krasse
Schallnachahmung (s. o. S. 15 f.) den Bedeutungsinhalt dem Ohre sinnfällig
machen:


Und ho̱hler und ho̱hler hö̱rt man's he̱ulen


(Schiller: Das Lied von der Glocke);

1)
Der Ausdruck stammt aus der französischen Metrik, wo einsilbige Maskulina wie
grand, fils zweisilbigen Femininen wie grande, fille gegenüberstehen.
2)
mehr als dreisilbige Reime begegnen nur im Ghasel (s. o. S. 34 f.).
3)
Reimlose Verse in der Umgebung gereimter nennt man Waisen; reimen die
Waisen der einzelnen Strophen eines Gedichts untereinander, so nennt man sie
Körner.
|#f0042 : 38|

Gehe̱ul, Gehe̱ul aus ho̱her Lu̱ft,
Gewiṉsel kam aus tief̱er Gruf̱t

(Bürger: Lenore);


bald hebt Alliteration (s. o. S. 35 f.) die sinnbeschwerten Wörter gleichsam
unterstreichend hervor:


Und mir ist nichts aus jener Zeit geblieben,
Als nur dies Lie̱d, mein Lei̱den und mein Lie̱ben

(Ernst Schulze: Die bezauberte Rose).


Feinere Wirkungen erzielt mittelbare Lautsymbolik (s. o. S. 16), wie
sie schon Goethes Vers so wohllautend, stimmungsreich und sinntief
macht, die aber erst von der überzüchteten Spätkunst französischer
und deutscher Lyriker der letzten Jahrhundertwende (Verlaine, Rimbaud,
Mallarmé; George, Hofmannsthal, Rilke) zu virtuoser sprachmusikalischer
Untermalung des Gemeinten und Gefühlten ausgebildet
ist.

[Abbildung]

Ein sanfter W̱ịnd vom blauen Hịmmel w̱eht,
Die Mỵrte stịll und hoch der Lorbeer steht

(Goethe: Mignon).

[Abbildung]

Man ḻịspeḻt̰ ḻeicht̰e Ḻịed̰chen,man spịt̰zt̰manch Sịnngedicht̰

(Uhland: Graf Eberhard der Rauschebart).

[Abbildung]

Und̰ immer w̱eht̰ der W̱ind̰, und̰ immer w̱ịeder
Vernehmen w̱ịr und̰ reden vịele W̱ort̰e

(Hofmannsthal: Ballade des äußeren Lebens).

|#f0043 : 39|

III. GENERIK ODER LEHRE VON DEN DICHTUNGS-
(WORTKUNST-)GATTUNGEN.


Lyrik, Epik und Dramatik bezeichnet Goethe als „die drei Naturformen
der Poesie“; in der Tat sind sie weder durch geschichtlichen
Zufall noch infolge willkürlicher Setzung gelehrter Systematik entstanden,
sondern erwachsen aus den Grundfunktionen seelisch-geistigen
Lebens: dem Fühlen, Erkennen und Wollen; in genauer Korrelation zu
diesen drei Vermögen des Gemüts stehen die drei Dichtungsgattungen1).
Entwickelten sich jene bio- und phylogenetisch aus einem Vorstadium
dumpfen Lebensgefühls, so sind, wie die ältesten Zeugnisse der großen
Literaturen und die Kunst heutiger Primitivvölker erkennen lassen, in
Urzeiten Lyrik, Epik und Dramatik, vereint mit Musik und Tanz,
ein ungeschiedenes Gesamt gewesen, aus dem sich erst allmählich die einzelnen
Darbietungsformen abgesetzt und zur Eigenständigkeit ausgesondert
haben.


A. Lyrik.


Lyrik ist Dichtung des Gefühls, unmittelbarster Ausdruck einer mächtigen
inneren Erregung im Dichter, und auch ihre Wirkung auf den
Genießer besteht in Gefühlserlebnissen. Sie ist, da alle Dichtung in
sprachlichem Erlebnisausdruck besteht, die Urform des Dichterischen.
Während Epik und Drama den subjektiven Gefühlsausdruck zurücktreten
lassen vor der gegenständlichen Darstellung, hat in der Lyrik
umgekehrt alles Gegenständliche bloß symbolischen Wert, das Stoffliche
ist nur Träger einer Stimmung, jeglicher „Inhalt“ nur Metapher eines
Gefühlsgehalts.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Daher überwiegen hier auch die ausdruckshaften
(akustisch-musikalischen) Elemente der Sprache die bedeutungshaften;
die Übertragung der vom Dichter erlebten Stimmung auf den Leser
oder Hörer geschieht nicht sowohl durch die Begrifflichkeit des bezeichnenden,
als durch unmittelbare Suggestion des bannenden Worts, durch
den mitreißenden Rhythmus der in Tonbewegung umgesetzten Erregung.
Indes scheidet ein Weniger oder Mehr des auch der Lyrik unentbehrlichen

1)
Die ältere Poetik hat als eine vierte, selbständige Hauptgattung der Dichtkunst
die didáktische (vom griech. didaktikós „belehrend“) oder Lehr-
Dichtung
angeführt. Nach der oben gegebenen Definition der Dichtung als
zweckfreier Wortkunst ist aber das Lehrgedicht (die in metrische Form gekleidete
sachlich-belehrende, also zweckhafte Darbietung irgendwelchen Wissens) ein in
sich widersprüchlicher Begriff; es ist bestenfalls eine Misch- und Zwitterform von
Dichtung und Wissenschaft.
|#f0044 : 40|

gegenständlichen Elements innerhalb dieser Dichtungsgattung zwei
große Gruppen:


a) die unmittelbare oder „reineLyrik,

die ein erlebtes Gefühl wirklichkeitsgetreu
wiedergibt, aufs stärkste unterstützt von den akustischen
Werten der Sprache. Es ist jener Bereich bekenntnishafter Ich-Lyrik, des
eigentlichen (musik-nahen) Lieds, welcher, seit der Entdeckung des
Volkslieds durch Herder und seiner Erneuerung durch Goethe und die
Romantik, irrigerweise lange Zeit als einzig berechtigt galt. In Wahrheit
hat sich damit nur eine (in ihrer geschichtlichen Erscheinungsform wie
in ihren geistigen Möglichkeiten sogar außerordentlich beschränkte) Sonderart
lyrischer Kunst zu erheben versucht über eine andere, nicht
minder berechtigte:


b) die mittelbare, Abstand setzende Lyrik,

die das Gefühlserlebnis
nur in der Spiegelung eines zwischengeschalteten Symbols (Landschaftsbild,
Rollenträger, Begebenheit) wiedergibt. Nicht nur die gesamte
antike und die überwiegende Mehrheit der romanischen Lyrik rechnet
hieher, auch die Hauptmasse des Minnesangs sowie der deutschen
Barockdichtung; ja selbst während der Vorherrschaft volksliedartiger
Erlebnisdichtung ist deren Gegenpol, die symbolische Bild- und Gedankenlyrik,
niemals völlig verstummt, Hölderlin, der alte Goethe, Platen,
Hebbel, Hermann Lingg haben sie mit Bewußtsein gepflegt, mit C. F.
Meyer, Stefan George und Rilke ist sie wieder in den Vordergrund
getreten und hat die allzu ideenarme Gefühlslyrik beiseite gerückt.


Gegenüber der ─ trotz suggestiver Starktönigkeit nach Gehalt und
Form im Grunde doch eintönigen ─ „reinen“ Lyrik umfaßt die symbolische
ein weit reicheres Formenrepertoire; sie wird zur Ballade1),
wenn als Symbolträger ein Formenrepertoire gewählt ist (Bürger,
Goethe, Heine, Fontane, Börries von Münchhausen, Agnes Miegel);
zur Ode oder Hymne2), wenn sie mit hochgesteigertem Pathos erhabene

1)
von balláre „tanzen“; urspr. romanische Bezeichnung eines Tanzliedes, die im
Spätmittelalter als Name volkstümlicher Heldenlieder nach England und von
dort im 18. Jahrhundert nach Deutschland kam. Die älteste Poetik unterschied von
der Ballade in recht gezwungener Weise die Romanze (von span. romance,
d. i. Dichtung in der Volkssprache, der lingua romana, im Unterschied zur
literarischen lingua latina), die sich nur äußerlich von jener abhebt, indem
sie statt nordisch-germanischer meist südlich-romanische Stoffe wählt.
2)
Der Unterschied ist bloß metrisch, indem die Ode (griech. „Lied“) in strengen
(meist antiken) Strophen aufgebaut, die Hymne (griech. „Lobgesang“) in freien
Rhythmen abgefaßt ist. Eine Unterart der Hymne, nämlich die dem Dionysos,
später auch andern Göttern und Heroen gesungene, wurde von den Alten
Dithyrámbe genannt; ein Name, der in neuerer deutscher Dichtung bisweilen
zur Bezeichnung gesteigerter Hymnik verwendet ist.
|#f0045 : 41|

Gemeinschaftsgefühle (vor allem religiöse und nationale) und abstrakte
Gedanken vorträgt (Klopstock, Goethe, Hölderlin, Novalis' „Hymnen
an die Nacht“, Platen, Nietzsche, Rudolf Alexander Schröder, Däubler);
zur Elegie (griech. „Klagelied“), wenn sie gedachtem und ersehntem
ideellem Zustand einen beklagenswerten wirklichen entgegenstellt
(Klopstock, Goethe, Schiller, Hölderlin, Mörike).


B. Epik.


Das griechische Wort, mit dem wir jegliche Erkenntnislehre bezeichnen,
Theorie (lat. speculatio) bedeutet ursprünglich „Anschauung“.
In der Tat erkennt der Mensch vor allem mit Hilfe des Gesichts, des, bis
zur Vernachlässigung anderer, von allen Sinnen bei ihm am besten ausgebildeten;
Erkenntnis ist Schau, Schau des körperlichen wie des geistigen
Auges. Solches erkennende Wahrnehmen ist Haltung und Leistung
des Epikers; sein Welterleben ist nicht die jähe Gefühlswallung des
Lyrikers, sondern ruhevolle, besonnene, kühlen Abstand wahrende
Seinsschau1); sein weitreichender Blick umgreift das gesamte Weltgefüge,
schweift über die Menschen, die Erde hinaus zu den Göttern
und Gestirnen. So entrollt etwa Homer ein Bild des ganzen griechischen
Lebens, seiner materiellen wie ideellen Kultur, seines mythischen Glaubens.
Tolstoi bannt in seine Romane ein ganzes riesiges Volk mit allen
seinen Ständen, vom Monarchen bis zum letzten Dienstboten. Wählt
der Epiker aber einen engeren Darstellungskreis, dann wandelt sich die
extensive Totalität zur intensiven, und er ist unerschöpflich in Einzelzügen;
relativ winzige Ereignisse und Zustände werden bei Stifter,
G. Keller, Th. Mann, H. Stehr in möglichst lückenloser Ausführlichkeit
geschildert. Auf das sinnliche Schauen ausgerichtet, macht der Epiker
auch das Innere seiner Gestalten, ihre Gedanken, Gefühle und Bestrebungen
möglichst anschaulich, versinnlicht Gemütslagen durch Vorführung
des bezeichnenden Mienen- und Gebärdenspiels (Nibelungenlied,
H. v. Kleist, C. F. Meyer), läßt die sittlichen Wesenheiten in ihrer
körperlichen Erscheinung sich ausprägen (Dickens, Raabe), spiegelt in
Kleidung, Wohnung und Hausrat2) menschliche Seelen (Scott, Balzac);
G. Keller z. B. könnte durch die umständlichste direkte Charakterschilderung

1)
Es ist kein bloßer Zufall, daß viele bedeutende Epiker sich auch als Maler betätigt
haben: Goethe, E. T. A. Hoffmann, G. Keller, Herm. Hesse.
2)
Vgl. Goethe (Jub.-Ausg. XXXIII, S. 20): „So lassen Kleider und Hausrat eines
Mannes sicher auf dessen Charakter schließen.“
|#f0046 : 42|

seiner Züs Bünzlin („Die drei gerechten Kammacher“) nicht die
eindringliche Anschaulichkeit bewirken, die des Mädchens Raritäten-
Lade mit ihrem lächerlichen Krimskrams vermittelt.


„Die Epopöe, der Roman, die einfache Erzählung“, schreibt Schiller,
„rücken die Handlung schon ihrer Form nach in die Ferne, weil sie
zwischen Leser und die handelnden Personen den Erzähler einschieben“.
Alle Epik stellt Vergangenes dar: ein Gelebt-Haben, Gesehen-Haben,
Geschehen-Sein; denn jegliches Erzählen ist, ausdrücklich oder verdeckt,
ein besinnliches Zurückblicken, vom ʻEs war einmal' des Märchens bis
zur modernen Erinnerungsnovelle (Heyse, Storm, v. Saar); und dies
zwingt die Erzählung schon rein formal zu größerer Ruhe und Gemessenheit,
zum Distanzhalten, zu gelassenem Stil.


Diese drei Merkmale: der Totalität, der sinnlichen Anschaulichkeit
und des ruhevollen Vortrags eignen sämtlichen Arten epischer Dichtung,
die übrigens, literargeschichtlich wie stilistisch, zunächst in zwei große
Gruppen sich scheiden: die Erzählung in gebundener und die in ungebundener
Rede; beide Gruppen gliedern sich ihrerseits wieder nach dem
jeweiligen Umfang in Groß-, Mittel- und Kleinformen.


a) Erzählung in gebundener Rede (Versepik).


1. Das Epos im engeren Sinn (Epopöe, Heldengedicht) ist die
typisierend stilisierte Großerzählung kultureller Frühzeit, jene Dichtungsgattung,
in der junge Völker die Erinnerung an die eignen großen
Schicksale und an die Taten ihrer Helden (Heldensage) idealisierend
festhalten; es ist Ausdruck eines noch undifferenzierten Weltgefühls,
seine Gestalten stellen nicht Einzelindividuen unverwechselbarer Besonderheit
dar, sondern sind festgeprägte Typen, die sich nur reliefartig
abheben vom Hintergrund einer völkischen Gemeinschaft. In diesem
Sinne darf man noch heute vom Volksepos sprechen, wiewohl die früher
mit dieser Bezeichnung verbundene Vorstellung vom dichtenden Volk,
von naturhaftem Gemeinschaftswerk längst als romantisches Phantasma
abgetan und erkannt ist, daß auch die großen Volksepen1) (Homer:
Ilias und Odyssee; die indischen Epen: Mahabharata, Ramajana;
die französische „Chanson de Roland“; das Nibelungenlied; das finnische
„Kalewala“) von je einem, wenn auch namentlich unbekannten,
großen Dichter herstammen. Epen, deren Dichter man kennt (Vergils

1)
Man ersetzt diesen Ausdruck daher jetzt allgemein durch den unmißverständlichen
„Heldenepos“.
|#f0047 : 43|

„Äneis“, das „Schahname“ des Persers Firdusi, die großen Verserzählungen
des Mittelalters und der Neuzeit), bezeichnet man als Kunstepen,
ohne damit einen formalen Gattungsunterschied absetzen zu wollen.
Ein solcher ergibt sich freilich schon daraus, daß vom Kunstepos (dem
dann aber auch Rolands- und Nibelungenlied als entfernte Abkömmlinge
Vergils zuzurechnen wären) die naiven stilistischen Mittel des
älteren Heldenepos durch gelehrt-literarische Übernahme in ihrem
Wesen verändert werden.


An Stelle der völkischen Heldensage sind schon in den „höfischen“
Epen des Mittelalters internationale Sagen und Märchen (besonders aus
dem Artuskreis: Parzival, Tristan und Isolde) getreten, und das „phantastische“
Epos der italienischen Renaissance (Ariosto: „Der rasende
Roland“) wie des deutschen Rokoko (Wieland: „Oberon“) blieb bei
diesem Brauch; erst die Romantiker und deren Nachfolger kehrten
wieder zur nationalen Sage zurück (Fouqué, A. Grün, W. Jordan),
pflegten aber ebenso gern das Märchenepos (Platen: „Die Abassiden“,
E. Schulze: „Die bezauberte Rose“). Das 19. Jahrhundert schätzte, seinem
geschichtlichen Grundcharakter gemäß, vor allem das historische
Epos, in dem Tassos „Befreites Jerusalem“ und Voltaires „Henriade“
vorangegangen waren (Lenau: „Die Albigenser“, H. Lingg: „Die
Völkerwanderung“, A. Meißner: „Ziska“, Hamerling: „Ahasver in
Rom“ und „König von Sion“). Das religiös-weltanschauliche Epos,
dessen Höchstleistungen in Dantes „Göttlicher Komödie“ und Miltons
„Verlorenem Paradies“ liegen, haben schon im Frühmittelalter der
Dichter des „Heliand“ und Otfrid in seinem „Krist“, im 18. Jahrhundert
Klopstocks „Messias“ (und in dessen schwächlicher Nachfolge
Bodmer und Wieland), im 19. Jahrhundert F. W. Weber („Dreizehnlinden“)
gepflegt.


Das hochgespannte und bisweilen auch überspannte Pathos des großen
Heldengedichtes forderte seit eh und je die Verspottung heraus; solches
Schicksal widerfuhr schon dem altgriechischen Epos mit dem parodierenden
Gegenstück eines Froschmäusekriegs (Batrachomyomachie). Das
Verfahren des komischen Epos ist dabei ein doppeltes: entweder richtet
es das epische Pathos auf geringfügige Dinge (Parodie: nach Boileaus
„Kirchenpult“ und Popes „Lockenraub“ in Deutschland von Zachariä
als Spezialität gepflegt, gipfelnd in Kortums „Jobsiade“), oder es macht
einen erhabenen Stoff durch niedrige Behandlungsweise lächerlich (Travestie:
Blumauers travestierte Aeneis, Karel Havlíčeks „Taufe des |#f0048 : 44|

heil. Wladimir“). Vom komischen Epos unterscheidet sich das humoristische,
das weniger durch formalen Scherz, als durch inhaltliche und
gehaltliche Laune das Lachen erregen will (Heine, Busch, Watzliks
„Stilzel“).


Eine Art Verbindung von komischem (parodirendem) und humoristischem
(satirischem) Epos stellt das Tierepos dar, das im Bilde der
Tierwelt die Schwächen und Torheiten des menschlichen Gesellschaftslebens
bloßstellt (Goethe: „Reineke Fuchs“; Heine: „Atta Troll“).


Im 20. Jahrhundert hat das große Versepos eine Wiedergeburt erlebt,
und zwar in nahezu allen seinen möglichen Formen; die großen Leistungen
dieser Zeit sind die weltanschaulichen Epen von Spitteler („Olympischer
Frühling“), Däubler („Nordlicht“) und Gerhart Hauptmann („Till
Eulenspiegel“, „Der große Traum“); als Kuriosität sei „Der große
Plan“ des Expressionisten Johannes R. Becher gebucht, ein Versepos auf
den sowjetrussischen Fünfjahresplan.


2. Das idyllische Epos ist die Mittelform des Versepos; es gestaltet
im Stil und Metrum des großen Heldengedichts, aber ohne parodische
Absicht, kleinbürgerliches Stilleben (Voß: „Luise“; Goethe: „Hermann
und Dorothea“; Mörike: „Idylle vom Bodensee“; G. Hauptmann:
„Anna“). Wird die gebundene Rede nur zur äußeren Einkleidung einer
nicht alltäglichen Geschichte gebraucht, so spricht man von Versnovelle
(Paul Heyse: „Novellen in Versen“).


3. Die Kleinformen der Verserzählung stehen an der Grenze der
Lyrik, die sie überschreiten, wenn das mitgeteilte Ereignis nur Symbol
eines Gefühls- oder Denk-Erlebnisses sein will (poetische Erzählung;
vgl. o. S. 40 über Ballade und Romanze).


b) Erzählung in ungebundener Rede (Prosaepik).


Die Versepik hat ihr eigentümliches Wesen, ihren besonderen Stil
davon, daß sie ursprünglich auf akustische Wirkung angelegt, für den
lauten Vortrag bestimmt war; ungebundene Erzählung ist von vornherein
für stilles Lesen bestimmt, ja sie verdankt ihren Ursprung, d. i.
den Übergang gebundener Epik in prosaische, dem umstürzenden Wandel
des spätmittelalterlichen Publikums aus Zuhörern einer adeligen
Gesellschaft in Leser einer einsamen bürgerlichen Stube; die Erfindung
des Buchdrucks hat diesen Prozeß beschleunigt und besiegelt.

|#f0049 : 45|


1. Der Roman1) ist der legitime Nachfolger des Helden-Epos. Wie
dieses in undifferenzierten Zeiten die noch ungebrochene völkische Gemeinschaft
darstellt, so er innerhalb der atomisierten, zerfallenden
Gesellschaft der Neuzeit das vereinzelte und seelisch vereinsamte Individuum;
das Epos entfaltete flächenhaft ein homogenes Sein, der Roman
zeichnet in die Tiefendimension eine menschliche Sonder-Entwicklung.
Die unabsehbare Fülle und die wirre Zerrüttung modernen Lebens zu
umgreifen, bedurfte es einer weiten, bequemen und geduldigen Form,
eines für jeden Inhalt geeigneten Gefäßes; dessen war nur ungebundene
Rede fähig, nur eine von künstlerischen Gesetzen möglichst unbelastete
Dichtungsgattung. In dieser seiner Freiheit und Vielseitigkeit liegen
freilich auch die Gefahren, die dichterischen Schwächen des Romans;
seinem Gehalte nach wohnt er in bedenklicher Nachbarschaft zu den
zweckhaften Wissenschaften, vor allem zu denen der Menschenkunde
(Anthropologie) im weitesten Sinne: der Geschichte, Psychologie, Soziologie,
Pädagogik, Kunstwissenschaft (historischer, psychologischer, Gesellschafts-,
Erziehungs-, Künstler-Roman); der Form nach grenzt er,
wo seiner Sprache die rhythmische Getragenheit fehlt, an den verwaschenen
Stil der Tageszeitung, in die er als Unterhaltungsroman völlig eingeht.
So muß das Urteil über diese Dichtungsart notwendigerweise verschieden
ausfallen, je nachdem man ihre Vorzüge oder ihre Gebrechen
in den Blick nimmt; noch für Schiller war sie „schlechterdings nicht poetisch“,
für Fichte „die Form der Epoche vollendeter Sündhaftigkeit“;
heute wird sie von manchen Dichtern und Kunstwissenschaftlern als
die höchste und reinste Gattung gepriesen, an umfassendem Gehalt der
Lebenswiedergabe über das Drama gestellt; ein Urteil, das hinsichtlich
der Leistung etwa eines Thomas Mann vollauf zurechtbesteht.


Der Roman kann auf jede der drei möglichen Zeitstufen gestellt
werden; als Geschichtsroman schildert er vergangenes Dasein, als Zeitroman
die Gegenwart, als utopisch-phantastischer Roman eine erträumte
(ersehnte oder gefürchtete) Zukunft. Der Zeitroman selbst zeichnet
entweder einläßlich die geistig-seelische Entwicklung eines Einzelnen
(Bildungs- und Erziehungsroman: Grimmelshausens „Simplicissimus“,
Goethes „Wilhelm Meister“, Kellers „Grüner Heinrich“, Hesses „Peter
Camenzind“) oder entrollt weitschichtig das gesellschaftliche Dasein

1)
Der Name bedeutet ursprünglich ein Schriftwerk in der romanischen Volkssprache
(s. o. S. 40), meinte zunächst die mittelalterliche Vers erzählung und ging, als
diese das Versgewand abwarf, auf die prosaische Erzählung über; nach Deutschland
kam das Wort erst im 17. Jahrhundert.
|#f0050 : 46|

einer bestimmten Lokalität (Landschaftsroman, Dorfroman, Großstadtroman),
eines bestimmten Berufs oder Standes (Standesroman: Bauernroman,
Arbeiterroman, Militärroman, Schulroman etc.), einer weiteren
oder engeren Sippe (Generationenroman, Familienroman). Das prosaische
Seitenstück zum metrischen Tierepos bildet der Tierroman, ein
solches zum komischen (richtiger zum humoristischen) Epos der komische
Roman (Cervantes: „Don Quixote“, Jean Paul, Raabe).


2. Die Mittelform der Prosaepik wird Novélle (ital. Neuigkeit“)
genannt. Im Unterschied zum Roman, der ein umfassendes Zeit- oder
Lebensbild vorführt, bietet sie nur einen einzigen, aber markanten Zeit-
oder Lebensausschnitt, der in dem äußern oder innern Schicksal der
dargestellten Personen eine entscheidende Wendung herbeiführt; sie ist
also viel geschlossener als der allseits offene Roman, in der Konzentration
auf einen zentralen Konflikt dem Drama näherstehend, und über
haupt die strengste Form der Prosadichtung1). Auch sprachlich unter
steht und gehorcht sie höheren Anforderungen, denn sie hat den Kontakt
mit der mündlichen Erzählung, der sie entstammt, noch nicht so ganz
verloren wie der Roman, ist (wenigstens in der Fiktion) für ein vorhandenes
oder gedachtes Hörpublikum bestimmt; die Rücksicht auf dieses
fordert klangliche Wohlgestalt, straffe Komposition, rasches Tempo
und packende Motive. Gerne werden mehrere Novellen durch eine
Rahmenerzählung zu einer übergreifenden künstlerischen Einheit zusammengeschlossen
(G. Keller: „Das Sinngedicht“).


Meister und Muster der Gattung sind der Italiener Boccaccio („Decamerone“)
und der Spanier Cervantes („Moralische Novellen“); im deutschen
Sprachgebiet haben sie mit besonderem Erfolg gepflegt Goethe,
Kleist, Tieck, Hoffmann, Stifter, Keller, C. F. Meyer, Storm, Heyse,
Raabe, F. v. Saar, Marie von Ebner-Eschenbach, Paul Ernst, Binding.


3) Die Kleinformen der Prosaepik sind das Märchen, die Kurzgeschichte,
die Anekdote. Beim Märchen unterscheidet man in der
gleichen Weise und mit ebenso fraglichem Recht wie beim Epos eine
volksmäßige und eine kunstmäßige Form2); die von den Brüdern

1)
Für lässigere Form hat sich der anspruchslose Gattungsname Erzählung (im
engeren Sinne) eingebürgert.
2)
Statt zwischen Volks- und Kunstmärchen (auch die Grimmschen Märchen sind
Kunstleistung, Ergebnis hohen und in rastloser Feilarbeit erst allmählich erworbenen
stilistischen Könnens) unterscheidet man besser zwischen Ur- und
Neumärchen. Während das Urmärchen durch den Volksmund gegangen, in wirklicher
Gemeinschaftserzählung „zersagt“ ist, entsteht das Neumärchen aus willkürlicher
Kombination echter Märchenmotive durch ein schriftstellendes Individuum.
|#f0051 : 47|

Grimm, den Sammlern der deutschen Kinder- und Hausmärchen, vertretene
Meinung, daß in diesen uralte Anschauungen germanischer Vorzeit
treu bewahrt wären, trifft keineswegs zu, denn die meisten sind
nachweislich erst in und seit dem Hochmittelalter aus der näheren oder
ferneren Fremde eingeführt worden. Das Märchen ist eine phantasievoll
ausgeschmückte spannende Erzählung mit glücklichem, naiven
Gerechtigkeitssinn befriedigendem Ausgang, deren typisierte (menschliche
oder tierische) Helden in einem nicht näher bezeichneten Irgendwo
und Irgendwann Wunderbares erleben und mit Zauberkräften die
Schranken der Naturgesetze zu durchbrechen vermögen. Bunte, nicht
tiefe Erfindung kennzeichnet das Märchen; es dringt, wie das geistige
Auge des Kindes, nicht in das innere Wesen der Dinge, es bleibt auf
der Oberfläche von Begebenheiten wie Personen haften.


Eine Sonderform des Märchens ist die Legénde (lat. „das zu Lesende“),
welche die wunderreiche Lebens- und Leidensgeschichte der Heiligen
oder des Heilands selbst oder einzelne wunderbare Ereignisse ihres
Erdenwallens in Vers (Goethe: „Legende vom Hufeisen“) oder Prosa
erzählt.1)


Die Kurzgeschichte ist eine gedanklich wie formal anspruchslose, bloß
entspannender Unterhaltung dienende Erzählung alltäglicher, aber
eigenartig angeschauter Vorgänge mit unerwartetem, oft verblüffendem
Schluß; sie hat sich neuestens in Zeitung und Zeitschrift als ständiger
Artikel eingebürgert (Hans Franck, Oscar Maria Graf, Karel Čapek).


Weit höher steht nach Gehalt und Form die Anekdote (griech.
„Unveröffentlichtes“). Sie ist knappster, an eine bestimmte, meist
historische Persönlichkeit gehefteter Bericht über irgend eine absonderliche
Begebenheit oder witzige Äußerung; ihre unübertroffenen Meister
sind H. v. Kleist und J. P. Hebel („Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“).
In unseren Tagen hat Wilhelm Schäfer die Anekdote durch
symbolische Vertiefung der Handlung zu einem Mittelding zwischen
Novelle und Kurzgeschichte ausgeweitet.


Von Ur- wie Neumärchen zu sondern ist die (besonders in der deutschen
Romantik beliebte) Märchennovelle, die das Märchenschema durch philosophisch-symbolische
Vertiefung oder phantastisch-humorige Aufschwellung zu umfänglicherer
Erzählung ausweitet (Goethe, Novalis, Tieck, Arnim, Brentano, Hoffmann).
1)
Erst in neuester Zeit ist sie Gegenstand weltlicher Prosaepik geworden (G. Keller,
Flaubert, Tolstoi, Binding).
|#f0052 : 48|

C. Dramatik.


Die Willensaktion, deren Ziel im Erreichen oder Vermeiden eines
bestimmten Zustandes liegt, ist das Urbild aller Tätigkeit. Davon schafft
das Drama (griech. „Handlung“) ein Abbild. Im Unterschied zum
„schauenden“ Epiker, der betrachtend erkennt, erlebt der Dramatiker
die Welt als Tätigkeit, als Kräftespiel, als Kampf; eine einzelne Handlung
reißt er aus dem Seinszusammenhang und gestaltet dieses scharf
umgrenzte Stück Weltgeschehen in geballter Zusammendrängung, unter
Verzicht auf Extensität; wollende, handelnde, kämpfende Menschen
führt er vor, deren Zielstrebigkeit Hemmung und durch das Hemmnis
erst recht Steigerung erfährt. Dieses Wechselspiel von Bestrebung und
Widerstand kann in einer äußeren zwischenmenschlichen Handlung vor
sich gehen, im Aneinandergeraten zweier gegensätzlicher Willensträger,
oder in einer innenmenschlichen Handlung, im Auseinanderbrechen einer
einheitlichen Persönlichkeit in widerstreitendes Begehren (Konflikt zwischen
Neigung und Pflicht, zwischen sittlichem Wollen und naturhaftem
Trieb); die (äußeren und inneren) Hemmungen1) sind selber nicht immer
aktive Kräfte, sondern können mitunter ruhende Zuständlichkeiten sein,
deren bloße Existenz das zielstrebige Subjekt schwer behindert: man
spricht im einen Fall von Kampfdrama (im deutschen Schrifttum ist
Schiller der ausgesprochenste Kampfdramatiker), im andern von Stauungsdrama
(antikes und modernes Schicksalsdrama, naturalistisches
Milieu-Drama). Das Drama stellt demnach eine zielstrebige, durch aktive
Gegenwirkung oder passiven Widerstand gehemmte Handlung dar,
welche die Träger dieser Zielstrebigkeit und Hemmung vermittelst leibhafter
Gebärdung und Wechselrede vorführen.2)


Durch solche Leibhaftigkeit überschreitet das Drama die Grenzen der
Wortkunst. Lyrik und Epik wirken allein durch das Wort, sie stellen
dar durch das Mittel der Sprache; beim Drama („Schau-Spiel“) tritt
zur vermittelten inneren Schau die unmittelbare äußere. Vermöge der
leibhaften Vorführung von Personen ist es darauf angelegt, aus dem

1)
Äußere passive Hemmung bereitet ein unaufhebbarer physiologischer (Vererbung)
oder soziologischer Zustand, innere eine entsprechende seelische Veranlagung (z.
B. Hamlets handlungsscheuer grüblerischer Hang, der seinen klaren und einheitlichen
Willen nicht zur Tat werden läßt).
2)
Die Handlungsträger (die sog. dramatischen Charaktere) haben Daseinsrecht und
Interesse nur in bezug auf die (zielstrebige) Handlung, jede darüber hinausgehende
individualisierende Charaktergestaltung (Goethe, Romantik) ist bereits Übergang
in die (extensive) epische Gattung.
|#f0053 : 49|

(idealen) Vorstellungs- in den (empirischen) Wahrnehmungsraum hinüberzuwechseln,
aus dem Bereich der Dichtung in das der bildenden
Kunst. Ein Drama reiner Wortkunst ist erst in unsern Tagen möglich
und wirklich geworden durch die Erfindung des Rundfunks: es ist das
Hörspiel, dem sich eine noch unbekannte Zukunft eröffnet.


Die Zielstrebigkeit der dramatischen Charaktere kann gerichtet sein
auf ein zukünftiges Gelingen oder auf ein Vermeiden von Wirkungen
schon in der Vergangenheit liegender Ursachen; danach unterscheidet
man das (synthetische) Zieldrama (Schillers „Wallenstein“) vom (analytischen)
Enthüllungsdrama (Sophokles: „König Oedipus“; Schiller: „Braut
von Messina“; Kleist: „Der zerbrochene Krug“). Nur für das Zieldrama
gilt das von Gustav Freytag aufgestellte pyramidenförmige Schema,
welches die Handlung vom ersten (Situation und Atmosphäre exponierenden,
den Konflikt im „erregenden Moment“ andeutenden) Akt über
eine oder mehrere Stufen der Steigerung auf den Höhepunkt von Spannung
und Konflikt und von da über den Umschwung (Peripetie) und
eine oder mehrere Stufen des Abstiegs (fallende Handlung) zur schließenden
Katastrophe begleitet; solcher Bau bedingt eine Teilung in 3 oder 5
Akte. Auf das Enthüllungsdrama ist Freytags Schema schon darum nicht
anwendbar, weil hier wesentliche Teile der Vorfabel keineswegs in der
Exposition, sondern erst in der Katastrophe dem Zuschauer bekannt
werden und bekannt werden dürfen, weil ihre Kenntnis die Lösung
bringt (Lessing: „Nathan der Weise“; Kleist: „Käthchen von Heilbronn“).



Nach dem Ergebnis des im Drama vorgeführten Kampfes werden
unterschieden: die Tragödie oder das Trauerspiel, das Schauspiel und
das Lustspiel.


1. Tragödie1) und Trauerspiel

lassen den dramatischen Kampf mit
dem ─ leiblichen (Schiller: „Wallenstein“) oder seelisch-sittlichen
(Goethe: „Tasso“) ─ Untergang des Helden enden. Es kann aber auch
mit der leiblichen Vernichtung ein seelisch-sittlicher Sieg zusammengehen;
dies ist z. B. in allen Märtyrerdramen der Fall, wo die Trauer
über den irdischen Untergang überstrahlt wird vom Glück des Eingangs
in die überirdische Seligkeit, ─ aber auch in den meisten Dramen Schillers,
in denen der christliche Himmel verweltlicht ist zur sittlichen Idee.

1)
griech. „Bocksgesang“, so genannt nach den im Kostüm bocksähnlicher Satyrn
auftretenden Chören des Dionysoskultes, aus dem das altgriechische Drama entstanden
ist.
|#f0054 : 50|

Doch nur ein Trauerspiel, das jeden optimistischen Ausblick auf eine
ausgleichende göttliche Gerechtigkeit verweigert, vielmehr durch Aufzeigen
der sittlichen Unzulänglichkeit des Weltgeschehens das metaphysische
Vertrauen zur Sinnhaftigkeit der Welt, zur Güte und Vernünftigkeit
der waltenden Gottheit erschüttert, verdient im prägnanten Sinne
den Namen der Tragödie als eines Dramas von tragischem Gehalt
(Shakespeare: „König Lear“; Schiller: „Don Carlos“; Hebbel: „Agnes
Bernauer“). Wo der Held sich seinen Untergang durch eigene Schuld
bereitet, liegt bloßes Trauerspiel vor; nur wo er schuldlos oder noch
besser im paradoxen Widerspruch zu seiner ethischen Verdienstlichkeit
untergeht, darf man von Tragödie sprechen1).


2. Das Schauspiel

unterscheidet sich vom Trauerspiel nur durch die
günstige Wendung, die ein ernster Konflikt im Abstieg der Handlung
erfährt, so daß ein versöhnlicher Ausgang möglich wird (Goethe: „Iphigenie
auf Tauris“).


3. Zum Lustspiel

rechnen alle dramatischen Arten, in denen Welt
und Menschen in erheiternder (komischer, satirischer, ironischer) Weise
behandelt werden.


Wie neben dem Trauerspiel die Tragödie, steht neben dem Lustspiel
die Komödie2); das Komische1) ist die Umkehrung des Tragischen, die
Beruhigung und Erheiterung (Lachen) auslösende Erkenntnis, daß in
dieser verworrenen Welt nichts ganz ernst zu nehmen, daß die Wirklichkeit
geistig unzulänglich sei. Von der zu so überlegener Weltschau
gediehenen Komödie, die er für das Großartigste hielt, was Dichtung
überhaupt leisten könne, sagt Schiller: „Ihr Ziel ist einerlei mit dem
Höchsten, wonach der Mensch zu ringen hat, frei von Leidenschaft zu
sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall
mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu
lachen als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“


Das Lustspiel im engeren Sinne führt von solcher philosophischen
Höhe ein mächtiges Stück hinab auf die Ebene harmlosen oder auch
bissigen Spotts über die Schwächen, Beschränkungen und Verkehrtheiten
der Gesellschaft oder einzelner Individuen (Lessing: „Minna von Barnhelm“,

1)
Das Tragische wie das Komische sind Denkformen (Weisen der Weltschau), nicht
Dichtungsformen (überhaupt nicht ästhetische, sondern noetische Begriffe); sie
können daher in jeder Gattung aufscheinen, die menschliche Schicksale gestaltet:
in der Ballade, im Versepos, in Roman und Novelle.
2)
griech. etwa „Kneipgesang“; sie ist hervorgegangen aus den Lustbarkeiten der
Dionysosfeste.
|#f0055 : 51|

Freytag: „Die Journalisten“; G. Hauptmann: „Der Biberpelz“;
C. Sternheim: „Die Hose“).


Wird der Spott zum Spaß, der nicht ironische oder satirische Weltbetrachtung
bieten, sondern nur lächerliche Personen und Situationen
vorführen will, so ergibt sich der Schwank, und bei Übertreibung und
karikierender Verzerrung des Lächerlichen die Posse.


Auch nach den Stoffen und Gehalten lassen sich Unterarten des
Dramas scheiden: das Sagen- und Märchendrama, das historische und
das Zeitdrama, das bürgerliche und das soziale Drama; das Familien-
und das Volksstück; das Zustands-, Milieu- und das Schicksalsdrama.


Sprachformal bieten sich dem Drama alle Möglichkeiten; es kann in
schlichter oder rhythmischer Prosa abgefaßt sein, in freien oder strengen
Versen, in Versen jeden Metrums vom knappen Knittelvers bis zu
weitbauschigen Trimetern und Tetrametern; Bodmer wollte sogar den
Hexameter verwenden, Tieck und Kotzebue haben das zuweilen wirklich
getan; deutsche Romantiker gebrauchten die schwierigsten romanischen
Strophengebäude (Sonette und Stanzen), und am Beginne des
20. Jahrhunderts schrieb der Neuromantiker Eduard Stucken einen
ganzen Dramenzyklus in kunstvoll mit Mittel- und Endreim verzierten
Viertaktern.


Verbindet sich das Wort-Drama mit der Tonkunst und überläßt
dieser die Führung, so entsteht das Musik-Drama:

Trauer- und Schauspiel
werden zur ernsten, Komödie und Lustspiel zur komischen Oper1),
Schwank und Posse zur Operette2); behält der Dichter die Oberhand
über den Komponisten, der nur einzelne lyrische Einlagen vertont, so
ergibt sich das Singspiel.


Verzichtet der Bühnenvorgang auf jegliche begleitende Rede, so wandelt
sich das Drama zur Pantomime3), dem völligen Widerpart des nur
in Wortschällen wesenden Hörspiels; sie überschreitet den Umkreis der
Sprachkunst (denn das Textbuch der Pantomime ist ja nur bühnentechnischer
Behelf, nicht ästhetischer Selbstzweck) und hiermit auch den
Umkreis der Poetik.

1)
ital. ópera (sc. in musica) „(Musik-)Werk“.
2)
ital. operétta „kleine Oper“.
3)
griech. pantómimos „alles nachahmend“.
|#f0056 : 52|

BÜCHERKUNDLICHER ANHANG.


Die Absicht, Grundtatsachen und Hauptbegriffe der Poetik nach heute
gültigem Wissen oder Meinen in knappster Form darzulegen, entsprang
der Rücksicht auf den erschütterten Bildungsstand wie auf die
dürftige Wirtschaftslage des deutschen Lesers, insbesondere der studierenden
Jugend. Weiterstrebenden, Höherzielenden mag nachfolgende
Liste1) dichtungswissenschaftlicher Hauptschriften den Weg in breitere
und tiefere Bereiche weisen.


Eine Gesamtgeschichte der Poetik fehlt; Ersatz leisten die bezüglichen
Abschnitte in den historischen Darstellungen der allgemeinen Kunstwissenschaft:
R. Zimmermann, Geschichte der Ästhetik (1858), B. Bosanquet,
History of aesthetics (1892, 21905), Katherine E. Gilbert & H.
Kuhn, A history of esthetics (1939). ─ G. Saintsbury, Loci critici:
passages illustratives of critical theory and practice from Aristotle
downwards (1903). J. A. Hartung, Die Lehren der Alten über die
Dichtkunst (1845), J. F. D. Alton, Roman literary theory and criticism
(1931), G. Murray, The classical tradition in poetry (1927), K.
Borinski, Die Antike in Poesie und Kunsttheorie vom Ausgang des klassischen
Altertums bis auf Goethe und W. v. Humboldt (1914/24 II),
E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948),
G. Saintsbury, A history of criticism and literary taste in Europe
(1900/4, 31908 III). B. Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik
(1937; vorläufig nur I, Barockzeit und Frühaufklärung erfassend; dazu
M. s Abriß der gesamten Geschichte deutscher Poetik in RL II, S. 683/
710). R. Bosch, Die Problemstellung der Poetik (1928).


R. Gottschall, Poetik (1858, 61893 II), W. Wackernagel, Poetik, Rhetorik,
Stilistik (1873, 31906), H. Baumgart, Handbuch der Poetik (1887),
W. Scherer, Poetik (1888), K. Borinski, Deutsche Poetik (1894, 61916;
mit reichen Literaturangaben), R. Lehmann, Poetik (1908, 21919),
R. Müller-Freienfels, Poetik (1914, 21921), G. Storz, Gedanken über
die Dichtung (1942), E. Staiger, Grundbegriffe der Poetik (1946);
Th. A. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie (1901), E. Ermatinger, Das

1)
Diese bedient sich der Siglen
RL = Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte hg. von P. Merker
& W. Stammler (1925/31 IV);

DV = Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte
hg. von P. Kluckhohn & E. Rothacker (1923/44
XXII).
|#f0057 : 53|

dichterische Kunstwerk (1921, umgearbeitet 31939), H. Hefele, Das
Wesen der Dichtung (1923), O. Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk
des Dichters (1925), R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk
(1931), B. Croce, Poesia (1937), E. G. Wolff, Ästhetik der Dichtkunst
(1944); J. Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung (1939, 21944).
L. Beriger, Die literarische Wertung (1938) und Poesie und Prosa (DV
XXI, 1943, S. 132/60); O. Walzel, Grenzen von Poesie und Unpoesie
(1937).


O. Jesperson, Die Sprache (englisch 1922, deutsch 1925), F. Kainz,
Psychologie der Sprache (1941/3 II), G. Schmidt-Rohr, Die Sprache als
Bildnerin der Völker (1932, 21933), L. Weisgerber, Muttersprache und
Geistesbildung (1929) und Die Stellung der Sprache im Aufbau der
Gesamtkultur (Wörter und Sachen XV, 1933, S. 134/224; XVI, S.
97/236; auch Sonderabdruck). G. Gerber, Die Sprache als Kunst
(1871/2, verbessert und vermehrt 21885 II); E. Elster, Prinzipien der
Literaturwissenschaft 2: Stilistik (1911), R. M. Meyer, Deutsche
Stilistik (1906, 31930), E. Engel, Deutsche Stilkunst (1911, 311931),
W. Schneider, Ehrfurcht vor dem deutschen Wort (1939) und Ausdruckswerte
der deutschen Sprache (1931); K. Schultze-Jahde, Ausdruckswert
und Stilbegriff (1930). H. Pongs, Das Bild in der Dichtung
(1927/39 II; eine der bedeutendsten Leistungen angewandter
Poetik), C. F. P. Stutterheim, Het begrip Metapher (1941). F. H.
Mautner, Das Wortspiel und seine Bedeutung (DV IX, 1931,
S. 679/710; skizziert eine Geschichte des deutschen W. s), J. Klanfer,
Das Wortspiel und die komische Rede (Zeitschrift für Ästhetik XXX,
S. 209/34; sieh auch J. Körners u. S. 55 angeführte Studie über den
Witz). F. Sommer, Lautnachahmung (Indogermanische Forschungen
LI, S. 229/68), W. Schneider, Über die Lautbedeutsamkeit
(Zeitschrift für deutsche Philologie LXIII, S. 138/78).


P. Habermann, Rhythmus (RL III, S. 49/57; mit reichen Literaturangaben),
D. Seckel, Hölderlins Sprachrhythmus (1937; S. 334/48
Verzeichnis des Schrifttums zur R.-Forschung); R. Blümel, Der neuhochdeutsche
Rhythmus in Dichtung und Prosa (1930), A. Closs, Die
freien Rhythmen in der deutschen Lyrik (1947); über Numerus (Prosarhythmus)
vgl. O. Walzel, Gehalt und Gestalt S. 207/20. A. Heusler,
Deutsche Versgeschichte [mit Einschluß des altgermanischen Alliterationsverses]
(1925/9 III), O. Paul, Deutsche Metrik (1930, 21939),
F. Saran, Deutsche Verslehre (1934), W. Kayser, Kleine deutsche Verslehre |#f0058 : 54|

(1946); J. Minor, Neuhochdeutsche Metrik (1893, 21902).
E. Sievers, Ziele und Wege der Schallanalyse (1924), R. Blümel,
Die deutsche Schallform der letzten Blütezeit (1923), G. Ipsen & F.
Karg, Schallanalytische Versuche (1928); Vilma Mönckeberg, Der Klangleib
der Dichtung (1946). ─ A. Aall, Zur Psychologie des Stabreims
(Zeitschrift für Psychologie CXXII, 1931, S. 98/108), Margarete
Franke, Der Stabreim in der neudeutschen Literatur (Dissertation
Rostock 1932). P. Habermann, Reim (RL III, S. 25/44; mit reichen
Literaturangaben); N. Törnquist, Geschichte des Wortes Reim (1935),
U. Pretzel, Frühgeschichte des deutschen Reims (1941; bisher nur I).
L. Strauß, Zur Struktur des deutschen Distichons (Trivium VI, 1948,
S. 52/83).


R. Hartl, Versuch einer psychologischen Grundlegung der Dichtungsgattungen
(1924), E. Hirt, Das Formgesetz der epischen,
dramatischen und lyrischen Dichtung (1923), J. Petersen, Zur Lehre von
den Dichtungsgattungen (Festschrift für August Sauer [1926] S. 72/116),
K. Svoboda, O literárních druzích [über die literarischen Gattungen]
(Praha 1947); Irene Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst
(1940; Begriffsgeschichte), J. J. Donohue, The theory of literary
kinds (1943); vgl. auch die (übrigens ertragarmen) Vorträge des Lyoner
Literarhistoriker-Kongresses über das Thema „Les genres littéraires“
(Helicon II, 1940, S. 117/221). ─ A. Jolles, Die einfachen Formen
(1930; über die vorliterarischen Gattungen). ─ H. Werner, Ursprünge
der Lyrik (1923); R. M. Werner, Lyrik und Lyriker (1890), R. Petsch,
Die lyrische Dichtung (1939; banal), M. Kommerell, Gedanken über
Gedichte (1943); E. Voege, Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit in der
Lyrik (1932), H. Jaeger, Subjektivität und Objektivität der Lyrik
(Publications of the Modern Language Association of America XLVIII,
1933, S. 245/80), F. Sieburg, Die Grade der lyrischen Formung (Zeitschrift
für Ästhetik XIV, S. 356/404), J. Pfeiffer, Das lyrische Gedicht
als ästhetisches Gebilde (1931). ─ H. Steckner, Theorie des Epos (RL
IV, S. 28/38); R. Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst (1934,
21942), Käte Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik (1910);
G. Lukács, Die Theorie des Romans (1920, 21946), R. Koskimies, Theorie
des Romans (1935), A. Hirsch, Der Gattungsbegriff der Novelle
(1928), W. Vark, Die Form der Novelle (Dissertation Jena 1930), B. Bruch,
Novelle und Tragödie (Zeitschrift für Ästhetik XXII, S. 292/330), H.
Pongs, Möglichkeiten des Tragischen in der Novelle (Jahrbuch der |#f0059 : 55|

Kleist-Gesellschaft 1931/2, S. 38/104). A. Wesselski, Versuch einer
Theorie des Märchens (1931), F. v. d. Leyen, Das Märchen (1911,
31925), W. Spanner, Das Märchen als Gattung (1939), R. Petsch, Die
Kunstform des Märchens (Zeitschrift für Volkskunde N. F. VII, 1937,
S. 1/30). H. A. Ebing, Die deutsche Kurzgeschichte (1936); H.
Lorenzen, Typen deutscher Anekdoten-Erzählung (Dissertation
Hamburg 1935). W. Flemming, Epik und Dramatik (1925). ─ A.
Pfeiffer, Ursprung und Gestalt des Dramas (1943), R. Petsch, Wesen
und Formen des Dramas (1945), J. Körner, Tragik und Tragödie
(Preußische Jahrbücher CCXXV, 1931, S. 59/75, 157/86, 260/84; auch
Sonderabdruck), J. Volkelt, Ästhetik des Tragischen (1897, 41927); Hanna
Corbach, Tragikomödie (RL IV, S. 93/102), Ch. Janentzky, Über
Tragik, Komik und Humor (Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts
1936/40, S. 3/50), R. Roetschi, Der ästhetische Wert des Komischen
und das Wesen des Humors (Dissertation Bern 1915), H. Höffding,
Humor als Lebensgefühl (deutsch 1918, 21930); J. Körner, Der
Witz (Preußische Jahrbücher CCXXXIX, 1935, S. 128/49); O.
Rommel, Die wissenschaftlichen Bemühungen um die Analyse des Komischen
(DV XXI, 1943, S. 161/95) und Komik und Lustspiel (ebd.
S. 252/86). W. Steidel, Oper und Drama (1923); A. Neisser, Vom
Wesen und Wert der Operette (1923). H. Pongs, Das Hörspiel
(1931), F. Faßbind, Dramaturgie des Hörspiels 1943). C. Aubert, The
art of pantomime (1927).


Alles die Literaturgeschichte der poetischen Phänomene
Betreffende findet man bei J. Körner, Bibliographisches Handbuch des
deutschen Schrifttums (1921, 21928, völlig umgearbeitet und wesentlich
vermehrt 31949).

|#f0060 : E56|
|#f0061 : 57|

Sachweiser

[Beginn Spaltensatz]
Seite
Abbruch der Rede18 f.
Abgesang32
Abstandszeiten25
Achttakter, trochäischer29
akatalektisch26
akzentuierend24
Alexandriner28 f.
Allegorie14
Alliteration35 f.
Alltagssprache (s. Verkehrssprache ─
alternierend
24
Anakoluth19
Anapäst27 f.
Anaphora17
Anekdote47
Anruf18
Anthropologie45
Antithese19 f.
Aposiopese18 f.
Apostrophe18
Archaismus8
Assonanz35, 36
Aufgesang32
Ausdruck:
eigentlicher10, 11
nachdrücklicher16
sprachlicher8
Ausruf16 ff.
Ballade40
Beiwort:
individualisierendes9
schmückendes9
typisierendes9
unerwartetes9
Betonung, schwebende27
Bilder, sprachliche8/14
Bildersprung12 f.
Binnenreim37
Blankvers28
[Spaltenumbruch]
Seite
Daktylus (daktylische Versarten)27, 30f.
Dezime33
Diärese27, 30
Dichtung (s. Poesie)
Dichtungsgattungen (s. Gernik)
Didaktik (s. Lehrdichtung)
Distichon31
Dithyrambe40
Drama48 f.
Dramatik39, 48/51
Ellipse18
Emphase16/9
Enjambement26
Epik39, 41/7
Epiphora17
epithète rare9
Epitheton ornans9
Epos (Epopöe)42 f.
idyllisches44
komisches43 f.
Erlebnis6 f.
Erlebnisausdruck39
Erzählung:
im weitesten Sinn42/7
im engeren Sinn46
poetische44
Ethos (s. Versethos)
Etymologie9
Exposition49
Figuren, stilistische14/20
Frage, rhetorische17 f.
Fremdwort8
Fügungsbruch19
Fünftakter:
jambischer28
trochäischer29
daktylischer30 f.
Fuß (s. Versfuß)
[Ende Spaltensatz] |#f0062 : 58|

[Beginn Spaltensatz]
Seite
Gattungen der Dichtung
(s. Generik)
Generik7, 39/51
Gesätz32
Ghasel33, 34
Gleichnis12
Glosse33
Gradation17
Hebung25, 26
Heldenepos42 f.
Hexameter30
Hymne40 f.
Hyperbel13
hyperkatalektisch26
Ironie13 f.
Jambus (jambische Versarten)27, 28 f.
Kanzone33
Katachrese12 f.
katalektisch26
Katastrophe49
Kehrreim35
Klangart25
Klimax17
Knittelvers28
Kolon22
Komik50
komischer Roman46
komisches Epos43 f.
Komödie50
Körner37
Kunst5
Kunstepos43
Kurzgeschichte47
Lautbedeutsamkeit16
Lautmalerei15
Lautsymbolik37 f.
Legende47
Lehrdichtung39
[Spaltenumbruch]
Seite
Litotes13
Lustspiel50 f.
Lyrik39/41
Makame33
Märchen46 f.
Märchennovelle47
Meistergesang32
Metapher11, 15
Metaphorik10
Metonymie10
Metrik24/38
Metrum24, 26, 28, 31
Minnesang32
Moment, erregendes49
Musikdrama51
Neologismus8
Nibelungenstrophe32 f.
Nibelungenvers28 f.
Nichtpoesie6
Novelle46
(s. auch Märchen- u. Versnovelle)
Numerus22 ff.
Ode40 f.
Oktonar29
Onomatopöie15
Oper51
Operette51
Ottaverime (s. Stanze)
Oxymoron20
Pantomime51
Parabel12
Paradoxon19 f.
Parodie43
Pausen25
Pentameter30 f.
Peripetie49
Personifikation14
Poesie5 ff.
Poesie und Nichtpoesie6
[Ende Spaltensatz] |#f0063 : 59|

[Beginn Spaltensatz]
Seite
Poesie und Prosa6
Poetik5
Posse51
Prosa6
─, rhythmische22 f.
Prosaepik44/7
Prosarhythmus22 ff.
Prosodik7, 21/38
quantitierend24
Quinar28
Rahmenerzählung46
Rede:
gebundene6, 21, 23, 24
ungebundene6, 21, 23, 24
Refrain (s. Kehrreim)
Reim15, 35/7
Reimpaar32, 37
Rhetorik7
rhetorische Frage17 f.
Rhythmen, freie23, 24
Rhythmus21/5, bes. 24 f., 31
Roman45 f.
Romanze40
Schallform24 f.
Schallnachahmung16
Schauspiel50
Schimpfwort13
Schlagreim37
Schwank51
Schwereabstufung24
Sechstakter:
jambischer28 f.
daktylischer30
Senar28 f.
Senkung25, 26
Sestine33
silbenmessend24
silbenwägend24
silbenzählend24
Singspiel51
[Spaltenumbruch]
Seite
Sinnbild14
Sonett33 f.
Sonettenkranz34
Spondeus30
Sprache (vgl. Verkehrssprache)5, 10
─, poetische8
Sprachkunst (s. Wortkunst)
Sprachmelos25
Sprechmelodie25
Sprechweise25
Stabreim32, 35 f.
Stabreimvers27, 32
Stanze33, 34
Steigerung17
stichisch32
Stilistik7, 8/20
Stollen32
Strophe31/5
─, alkäische33
─, asklepiadeische33
─, sapphische33
Symbol14
Synekdoche10
Takt26
Taktarten27
Taktreihen28
tertium comparationis11
Terzine33, 34
Tetrameter29
Tierepos44
Tierroman46
Tonbewegung27
Tonlage25
tonwägend24
Tragik50
Tragödie49 f.
Trauerspiel49 f.
Travestie43 f.
Trimeter28 f.
Triolett33
Trochäus (trochäische Versarten)27, 29
Tropen10 f.
[Ende Spaltensatz] |#f0064 : 60|

[Beginn Spaltensatz]
Seite
Vergleich11/3
Verkehrssprache
8, 11, 12 f., 13 f., 14, 16, 18, 19, 36
Vers26/31
Versbrechung26
Versepik42/4
Versethos31
Versfuß26, 28
Versgruppen (s. Strophe)
Verslehre (s. Metrik)
vers libre23, 26
Versnovelle44
Vers-Psychologie25
[Spaltenumbruch]
Seite
Versschmuck25, 35/8
Vers-Stilistik25
Viertakter, jambischer28
─, trochäischer29
Volksepos42
Waisen37
Wiederholung17
Witzelei15
Wortkunst5 f.
Wortspiel15
Zäsur26 f., 30
zeitmessend24
[Ende Spaltensatz]
|#f0065 : E61|

INHALT

Seite
ALLGEMEINER TEIL5
BESONDERER TEIL8
I. STILISTIK8
Bilder und Figuren8
A. Bilder8
1. Das schmückende Beiwort9
2. Tropen (Metaphorik)10
α) Metonymie10
β) Metapher11
3. Vergleich und Gleichnis11
4. Hyperbel13
5. Personifikation14
B. Figuren14
1. Wortspiel15
2. Lautmalerei15
3. Emphase16
4. Antithese19
II. PROSODIK21
A. Prosarhythmus (Numerus)22
B. Verslehre (Metrik)24
1. Verse26
2. Versgruppen31
3. Versschmuck35
A. Reim35
1. Alliteration35
2. Endreim36
B. Lautsymbolik37
|#f0066 : E62|

III. GENERIK39
A. Lyrik39
a) unmittelbare40
b) mittelbare40
B. Epik41
a) Versepik42
b) Prosaepik44
C. Dramatik48
a) Trauerspiel (Tragödie)49 f.
b) Schauspiel50
c) Lustspiel (Komödie)50 f.
d) Musikdrama51
BÜCHERKUNDLICHER ANHANG52
SACHWEISER56
INHALT61
|#f0067 : E63|

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309 Seiten. kart. DM. 9.50.


Prof. Dr. Hans Mayer: Frankreich zwischen den beiden Weltkriegen.
(1919─1939). 8°. 1948. 34 Seiten. kart. DM. 1.50.


VERLAG G. SCHULTE-BULMKE · FRANKFURT/MAIN

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JOSEF KÖRNER,

geb. 15. 4. 1888 in Rohatetz bei Göding (Südmähren),
1910 Dr. phil. der Universität Wien, 1912 bis 1930 Gymnasialprofessor
in Prag, seither an der dortigen deutschen Universität
wirkend, nach deren Nazisierung aus dem Lehramt entfernt,
lebt in Roztoky bei Prag; neben umfangreichen Quellenschriften
zur Geschichte der deutschen Romantik (Briefwechsel der Brüder
Schlegel mit Schiller und Goethe 1926, Briefe von und an Friedrich
und Dorothea Schlegel 1926, Briefe von und an August Wilhelm
Schlegel 1930 II, Neue philosophische Schriften von Friedrich
Schlegel 1935, Krisenjahre der Frühromantik 1936/37 II) veröffentlichte
er Bücher über das Nibelungenlied (1911, 1920, 1921),
Romantiker und Klassiker (1924), Goethes Mondlied (1936), Kleist
(1926), Schnitzler (1921), eine Bibliographie des deutschen Schrifttums
(1921, 3 1949) und das Textbuch „Wortkunst ohne Namen“
(1937).

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