7. Clarawunde. Vor vielen, vielen Jahren ritt einmal ein Königssohn in Begleitung eines treuen Dieners in die Welt hinaus, um Land und Leute kennen zu lernen. Bald kam er in einen ungeheuren Wald und sah hier viele hundert junge Raben, welche gierig nach Futter schrien. Als der Prinz die Ursache ihres Geschreis erkannte, sprach er zu seinem Diener ›Schlachte dein Pferd und gib sein Fleisch den Raben, daß sie ihren Hunger stillen und kehre in Frieden zurück in die Heimat.‹ Der Diener that, wie ihm befohlen war und sein Herr zog allein seine Straße weiter. Aber noch ehe er das Ende des Waldes erreichte, gewahrte er auf einem Baume einen Vogel, dessen Gefieder mit wunderbarer Farbenpracht bedeckt war. ›Den Vogel muß ich haben,‹ sprach der Prinz laut vor sich hin; doch sein edles Roß warnte ihn und sprach ›Herr, laß Vogel Vogel sein, Vogel ist betrüglich, es kostet dir dein Leben.‹ Allein der Prinz bestand auf seinen Kopf; schnell sprang er vom Pferde und kletterte den Baum hinan. Noch saß der Vogel auf seinem Platze, schon streckte der junge König die Hand darnach aus, und – o weh! der Vogel flog von dannen, und anstatt seiner hielt der Prinz eine Feder seines Schwanzes in der Hand. Aber wie erstaunte er, als er plötzlich auf der Feder das Bild Clarawundens, der schönsten Dame der Welt, erblickte. Voll Vergnügen stieg er vom Baume herab, schwang sich auf sein Roß und ritt weiter. Lange ritt er dahin, ohne daß er es wußte, wohin er kam; denn er konnte sich nicht satt sehen an dem wunderbaren Bilde. Da hörte er auf einmal ein leises Geräusch und als er um sich blickte, sah er einen Fisch, den die hochgehenden Wellen eines nahen Sees weit aufs trockne Land geschleudert hatten. Eilends stieg der Prinz vom Pferde, setzte den Fisch ins Wasser und zog von dannen. Nicht lange darauf hörte er eine Stimme, die fast wie der Angstruf eines Menschen klang. Schnell eilte er dem Orte zu, wo die Stimme herkam und er fand einen Riesen, der bis an den Hals im Sumpfe steckte, so daß er sich nicht helfen konnte. Der Prinz besann sich nicht lange, warf dem Riesen ein Seil zu, zog ihn mit großer Anstrengung aus dem Schlamm und ritt seines Weges weiter. So kam er eines Tages in die Stadt eines mächtigen Königs. Er ließ sich sogleich anmelden. Der König nahm ihn sehr freundlich auf und bat ihn schon nach einigen Tagen, in seinem Dienst zu bleiben. Der Prinz nahm das Anerbieten an und verlebte frohe Tage. Er hatte noch immer jene kostbare Feder als ein werthes Kleinod bei sich, und es verging wohl kein Tag, daß er nicht das schöne Bild Clarawundens betrachtete. So hielt er auch eines Tages, als er auf seinem Zim mer allein war, die Feder in der Hand, als unerwartet der Prinz des Hauses bei ihm eintrat. Voll Erstaunen betrachtete dieser die schönen Farben der Feder; als er aber das wunderbare Bild erblickte, zitterte er vor Verwunderung. Unwillkürlich griff seine Hand nach der Feder und mit den Worten ›Sie muß mein eigen werden!‹ stürzte er damit zur Thür hiuaus. Traurig saß der Prinz da und weinte Thränen über das schöne Bildniß, das ihm für immer verloren schien. Aber nicht lange sollte er in seiner Traurigkeit bleiben; denn der alte König trat eilends in sein Zimmer und sprach ›Du bist ein tapfrer Held, schaffe meinem Sohn Clarawunden herbei und ich werde dir einen hohen Lohn geben.‹ Der Prinz ging auf die Bitte des Königs ein und machte sich am andern Morgen auf den Weg. Aber wo sollte er die schöne Prinzessin suchen? Welchen Weg mußte er einschlagen? Diese Fragen beschäftigten eben seine Seele, und schon war er nahe daran, wieder umzukehren, als er plötzlich eine Menge Raben über sich erblickte, welche ihn durch ihr Gekrächz einluden, ihnen zu folgen. Es waren die Raben, denen er einst das Leben gefristet. Tag für Tag waren sie seine treuen Begleiter und Wegweiser, bis er an den Ort gelangte, wo das Schloß Clarawundens stand. Es lag mitten in einem See auf einer Insel, zu der eine lange Brücke hinüberführte. Als der Prinz in das Schloß eintrat, fand er Clarawunde allein in einem prächtigen Saal. In aller Bescheidenheit brachte er sein Anliegen vor und bat, daß sie ihm folgen möchte. Mit tiefer Betrübniß vernahm die Prinzessin das Verlangen jenes mächtigen Herrschers. Schweigend folgte sie dem Prinzen, verschloß den Eingang des Schlosses und warf die Schlüssel in den See. Als sie nun ihren Einzug in die Hauptstadt hielt, wurde sie mit großem Jubel empfangen, und man that Alles, was man ihr an den Augen absehen konnte. Doch Clarawunde sprach ›Ich finde an dem Allen kein Vergnügen, wenn man mir nicht mein Schloß nebst den Schlüsseln, welche ich in den See geworfen, herbeischafft.‹ Da forderte der alte König den Prinzen abermals auf, den Wunsch Clarawundens zu erfüllen. Man gab ihm ein großes Heer mit; aber dieses würde ihm nichts genützt haben, wenn nicht andere Hilfe gekommen wäre. Er traf nämlich jenen Riesen, dem er einst das Leben gerettet, und als er diesem sein Vorhaben erzählte, sprach er ›Schicke das Heer dem König zurück, ich werde dir kräftigere Hände herbeischaffen.‹ Darauf nahm der Riese ein mächtiges Horn von seiner Schulter und blies hinein, daß die Erde zitterte. Da kamen von allen Seiten unzählige Riesen herbeigeeilt, und als sie alle beisammen waren, viel Tausend an der Zahl, zogen sie nach dem Schlosse. Mit Leichtigkeit hoben sie dasselbe aus seinen Grundfesten und trugen es davon, als ob sie einen Federsack auf der Schulter hätten. Der Prinz folgte dem Zuge, und als er an die Stelle kam, wo einst die Prinzessin die Schlüssel in den See geworfen, blickte er in die Tiefe hinab, ob er dieselben vielleicht erspähen möchte. So hatte er einen Augenblick dagestanden, als das bekannte Fischlein herbeigeschwommen kam, die Schlüssel im Munde tragend. Schnell eilte der Prinz an das Ufer des Sees und nahm die Schlüssel aus dem Munde des Fischleins. Als nun das Schloß der Prinzessin in der Hauptstadt seinen Platz erhalten, verlangte der alte König von ihr, daß sie die Gemalin seines Sohnes werde. Allein Clarawunde war dem jungen König abgeneigt, und viel lieber hätte sie dem Prinzen, der sie aus der Ferne herbeigeholt, ihre Hand gereicht. Und als der alte König nicht nachließ mit Bitten, sprach sie endlich ›Ich werde nur den zu meinem Gemal nehmen, der es wagt, von der Zinne meines Schlosses auf die Erde herabzuspringen.‹ Dies war eine harte Bedingung, und es meldeten sich zu dem gefährlichen Spiel nur die beiden königlichen Prinzen. Beide sprangen zu gleicher Zeit von dem Schloß auf die Erde herab und lagen betäubt am Boden. Eilends kam Clarawunde herbei. In ihrem Busen hatte sie drei Fläschlein verborgen. Das eine enthielt Wasser des Lebens, das zweite Wasser der Schönheit und das dritte Wasser des Todes. Als sie sich nun über den Prinzen des Landes bückte, scheinbar um zu sehen, ob noch Leben in ihm sei, benetzte sie unvermerkt sein Gesicht mit Wasser des Todes, also daß er nimmer erwachte. Darauf ging sie zu dem andern Prinzen und wusch sein Gesicht mit Wasser des Lebens und Wasser der Schönheit. Da sprang der Prinz auf und seine Gestalt war viel schöner, denn zuvor, und jubelnd rief ihn das Volk zum König aus. Darauf zog er mit seiner schönen Braut in sein Land, und fröhlicher Jubel schallte ihnen aller Orten entgegen. Die Hochzeit ward gehalten und Friede und Freude herrschte in ihrem Reiche bis an ihr Ende. Von einem Seminaristen in Neukloster.