3. Das töchterreiche Pfarrhaus In einer freundlichen Gegend Schwabens hatte ein neuberufener Pfarrer seine junge Frau noch nicht lange in sein Pfarrhaus eingeführt. Da träumte ihm in einer Nacht, er finde in seiner Stube einen verdeckten Korb; als er dessen Deckel lüftete, da flogen zwölf Täubchen heraus, die setzten sich auf den Boden und verwandelten sich alsbald in zwölf zierliche Mädchen. Mit Lachen erzählte er seiner Frau diesen Traum; die meinte aber, das wäre der Ehre doch gar zu viel. Als nach Jahresfrist ein rundes Mägdlein in der Wiege lag, da hätten Vater und Mutter lieber einen Knaben gesehen, weil ihnen die zwölf Täublein wieder zu Sinn kamen. Aber das Töchterlein war das erste, und darum doch wichtig und hoch willkommen. Es wurde ein großartiges Tauffest veranstaltet; es wurden Gäste geladen, so viel das Pfarrhaus faßte, und Torten, Kuchen und Schinken in Hülle und Fülle gebacken und gesotten. Der jungen Mutter schien gar kein Name interessant und schön genug, bis sie sich endlich für Alwina entschied. »Es ist gut, daß du mit A anfängst,« sagte lächelnd der Pfarrer, »so reicht's eben das halbe Alphabet, bis alle die zwölf Täublein da sind.« Zu Paten wußte man so viel Onkel und Tanten, Freunde und Freundinnen, die auf diese Ehre Anspruch machten, daß die kleine Alwina am Ende ein ganzes Dutzend Paten und Patinnen und einen langen Nachschweif von Namen zu deren Ehren erhielt und ihr kleines Bettchen ganz bedeckt war mit silbernen Löffeln. Als nun im nächsten Jahre die kleine Alwina die Wiege einem Schwesterlein räumen mußte, da wurde die Taufe schon stiller begangen; die Mutter aber wollte nicht vorrücken im Alphabet und nannte das zarte Wesen mit den himmelblauen Äuglein Angelika. Bei dem A mochte man doch nicht stehen bleiben; auf die Angelika folgte zwar eine Amalie, Agnes, Anna und Adelheid; dann aber kam's ins B mit einer Beate und Berta. Die ganze Familie lamentierte über den großen Mädchensegen im Pfarrhaus; immer stiller und einfacher wurde das Tauffest begangen, immer weniger Paten gebeten, da man die Onkel und Tanten doch nicht alle Jahre um einen Löffel bringen wollte. Bei den zwei Töchterlein, die nach der Berta kamen, bat man nur noch einen alten ledigen Großonkel zu Gevatter, der zugleich bestimmte, daß man sie Lotte und Luise heißen solle, da die Mutter müde war, sich auf romantische Namen zu besinnen. Als nun endlich am Konfirmationstage der Alwina das elfte Töchterlein getauft werden sollte, da lebte auch der ledige Großonkel nicht mehr, und Alwina, stolz und glücklich über ihre neue Würde, wurde die einzige Patin des Schwesterleins. Vom Namen war noch gar nicht die Rede gewesen; erst als nach langem Streit um die Ehre, das Kindlein zu tragen, Berta unter Amaliens Aufsicht mit dem Täufling den ansehnlichen Kirchenzug anführte, erst da fragte der Vater die Mutter: »Nun, wie soll das Kindlein heißen?« – »Friederike, wie meine Mutter,« sagte nach kurzem Besinnen die Pfarrerin. – »Eine Friedenreiche!« sprach der Vater, als er Berta mit dem Kindlein noch an der Mutter Bett führte. »Das wird gut sein,« meinte die Mutter mit wehmütigem Lächeln, indem sie auf den großen Mädchenzug blickte, »ein andrer Reichtum wird ihr doch nicht zuteil!« »Einen andern braucht sie nicht,« sagte der Vater freudig, küßte die verzagende Mutter, ehe er mit dem weißgeschmückten Herdlein zur Kirche schritt, und legte ihr die Bibel aufs Bett. War es nun Zufall, war es Absicht des Vaters, sie schlug die schönen Worte der Bergpredigt auf: Ihr sollt nicht sorgen und sagen, was werden wir essen, was werden wir trinken usw. Die Worte drangen ihr bis ins innerste Herz, es war, als ob sie sie heute zum erstenmal läse; auch ihre Seele wurde friedereich, lächelnd sah sie den zwei Kleinsten zu, die noch nicht zur Kirche gelassen werden konnten und am Boden spielten; und als ihre acht weißen Täubchen, die blühende Alwina an der Spitze, mit der kleinen Friederike aus der Kirche zurückkamen, da küßte sie das Kindlein viel inniger als zuvor, reichte ihrem Manne getrost die Hand und sagte leise: »Der Herr wird's versehen!« Und keiner Fürstin Wochenbett kann sorgsamer behütet, liebevoller bedient sein als das der Mutter, wo die vier größeren Mädchen, deren junge Kräfte früh geübt worden waren, sich in die Pflege teilten. Das Tauffest der kleinen Friederike blieb nun wirklich das letzte; ein zwölftes Täubchen kam nimmer auf den Pfarrhof geflogen. Der Familienjammer verstummte allmählich, und man ließ Pfarrers selbst zusehen, wie sie mit ihren elf Mädchen zurechtkommen werden; hie und da fiel es doch einer freigebigen Frau Patin ein, ein abgelegtes Kleid ins Pfarrhaus zu schicken; namentlich galt das mädchenreiche Haus als ein vortrefflicher Ableiter für alte Hüte, woran es der guten Mama fast zu viel werden wollte. Nun müßt ihr aber nicht glauben, der Pfarrer und seine Frau haben ihre Kinder geradezu für Lilien auf dem Felde angesehen, die da nicht arbeiten und nicht spinnen, und der himmlische Vater ernähret sie doch. Sie wußten wohl, daß gerade darin die Menschenkinder reicher als die Blumen vom himmlischen Vater begabt worden sind, daß er ihnen zwei Arme und zwei Füße gab, mit denen sie sich ordentlich regen und rühren können um ihr täglich Brot. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was für ein lebendiges Wesen und Treiben und Gewimmel in dem Pfarrhause war. Der Mädchensegen des Pfarrers war weit und breit bekannt worden; sein Landesherr selbst hatte ein Einsehen gehabt und ihm eine einträgliche Pfarre mit einem recht geräumigen Hause gegeben, so daß die elf Täublein doch Brot und Dach und Fach darin fanden. Ich denke, wenn ihr sie alle ein wenig kennenlernen wollt, so ist's am besten, ihr bringt einmal einen ganzen Tag mit mir im Pfarrhause zu und seht selbst, wie die elf Pfarrtöchter erzogen wurden. Es ist ein schöner, sonnenklarer Septembermorgen; um halb sechs Uhr läutet der Vater das Morgenglöcklein zum erstenmal, um sechs erscheinen fix und fertig in reinlichem Morgenanzug Amalie und Anna. Die erste ist für diese Woche Kuchimuz, die zweite Aschenbrödel – so heißen bei den Schwestern allemal die zwei, die für Küche und Hausreinigung zu sorgen haben. Während nun Amalie Feuer macht und das einfache Frühstück bereitet und Anna das große Zimmer lüftet und reinigt, geht's oben in den Stüblein der Mädchen schon recht lebendig her. In jedem der vier Zimmerchen, welche die zehn Älteren zusammen bewohnen, – die Kleinste schläft noch in der Eltern Zim mer – ist immer den Großen eine Kleine beigegeben, die sie zu besorgen und anzukleiden haben. Alwina, der Mutter geheime Rätin, jetzt neunzehn Jahre alt, hat sich schon zu dieser begeben, um Haushaltungsangelegenheiten mit ihr zu besprechen; denn die gute Mutter ist nun, wie's die Mädchen nennen, pensioniert, sie selbst darf sich nimmer mit mühsamer Arbeit anstrengen, was ihre zarte Gesundheit auch nicht ertrüge; sie hat aber genug zu tun, bis sie denkt und sorgt für alle. Die kleine sanfte Beate, die in aller Stille zuerst aufgestanden ist, hat sich schon zu Angelika geschlichen, die wegen ihres besonders zarten und feinen Aussehens und ihres etwas vornehmen Wesens die Prinzessin im Hause genannt wurde. Angelika war keine Freundin vom Frühaufstehen, und wenn Alwina, ihre Schlafgenossin, sie zweimal geweckt hatte, so legte sie erst noch zum drittenmal das Köpfchen hin. So kam sie oft zu spät, was ihr vom Vater, der wollte, daß die älteren Schwestern mit gutem Beispiel vorangehen sollten, schon manchen Verweis zugezogen hatte. Drum schlüpfte die freundliche Beate, wenn sie konnte, in ihr Zimmer, half ihr beim Anzug und Aufräumen, daß sie doch noch mit den andern zum Frühstück kam. Dafür war aber auch Beate der schönen, begabten Angelika besonders lieb und erhielt manch liebliches Bildchen von ihrer kunstfertigen Hand, denn Angelika war eine geschickte Zeichnerin. Um halb sieben tönte des Vaters Glocke zum zweitenmal, und nun eilte groß und klein die Treppe hinab. Gefehlt aber war's, wenn oben nicht alles in Ordnung verlassen wurde. Kuchimuz und Aschenbrödel hatten auch das Amt, die oberen Stüblein zu untersuchen, und waren Betten und Zimmer nicht im reinen, so traf die Schuldige zwei Tage lang das höchst unbeliebte Geschäft, die Schuhe zu putzen, das sonst nach Tagen abwechselte. Nun versammelte sich alles in der großen, hellen Wohnstube. Da saß schon die Mutter mit dem Nesthäkchen Friederike; und es gab einen Jubel und Trubel, bis »das Kind, das Kleinsele, das Goldkäferlein«, und wie alle seine Beinamen hießen, jeder Schwester den Morgengruß und -kuß gegeben hatte. Jetzt rief der Vater: »Still!« und nahm die Bibel aus Beatens Händen, um daraus eine schöne, kraftvolle Stelle zu lesen und mit einem kurzen, herzlichen Gebete den Tag zu beginnen. Da war's so still und feierlich im Zimmer, selbst die Kleinste stand mäuschenstill neben der Mutter, die großen Augen unverwandt auf den Vater gerichtet. Nach geendetem Gebet geht Amalie mit ihrer Gehilfin Anna ab; sie kommen zurück, jede mit einer dampfenden Schüssel Milchsuppe, die mit bestem Appetit von der Gesellschaft verzehrt wird, obgleich Berta und die Prinzessin Angelika mit einiger Sehn sucht an den Kaffee denken, der an Sonntagen und Geburtsfesten aufgetischt wird. Vater und Mutter essen aber die Milchsuppe, obgleich sie nicht wie die Kinder von jung auf daran gewöhnt waren, zufrieden mit; darum findet es groß und klein natürlich. Der Vikar, seit drei Jahren der treue Gehilfe des Vaters im Amt und Unterricht der Kinder, der bekam freilich Kaffee, er wurde ihm aber aufs Zimmer gebracht. Während die Gesellschaft frühstückt, wollen wir sie etwas näher ins Auge fassen. Oben, neben der rüstigen, kräftigen Gestalt des Vaters sitzt die Mutter, ein wenig bleich, ein wenig müde, aber mit liebevollem Lächeln den blühenden Kreis überschauend; ihr zur Seite das Nesthäkchen, drum müssen wir mit diesem anfangen. Das ist eben, wie alle zehn Schwestern versichern: das Kleinste, das Schönste, das Liebste, das Kind, das Allernettste, und es ist wahr, es ist ein herziges Dinglein und hat sich wunderbarerweise nicht verwöhnen lassen durch all die viele Liebe, mit der es überströmt wird. Neben ihr sitzt Alwina, die Älteste, ein recht blühendes, stattliches Mädchen mit hellen schwarzen Augen; sie ist, wie schon gesagt, der Mutter rechte Hand und steht sehr in Respekt bei den Geschwistern. Sie ist überall gewandt, die Küche aber ist nicht ihre Liebhaberei; darum vertauscht sie gern die Rolle des Kuchimuz mit Amalie, der das Kochen ihr Leben ist, und präsidiert dafür in der Nähstube. Auch Angelika wird von der Küche häufig dispensiert, seit unter der Leitung des Vikars ihr Zeichentalent sich so ausgebildet, daß ihre Arbeiten von Kennern bewundert werden. Angelika ist wohl die schönste der Schwestern, obgleich fast etwas zu zart; der Glanz ihrer himmelblauen Augen, das durchleuchtende Rot ihrer Wangen flößen Sorge für ihre Gesundheit ein; sie ist so bewundert und geliebt von den jüngeren Schwestern, daß keine eifersüchtig wird, wenn bei Angelika die Mutter oft ein Auge zudrückt und von der strengen Geschäftsordnung etwas nachläßt. Nun folgt der Kuchimuz Amalie, die Wangen stark gerötet vom Kochfeuer, eine etwas gedrungene Gestalt und ganz und gar keine Schönheit, aber so flink und rührig, daß es eine Freude ist, sie anzusehen. Amalie ist ein Küchengenie ersten Ranges, so jung sie ist, und von der Wassersuppe bis zur Mandeltorte gerät alles unter ihrer Hand. Mehr als einmal schon ist des Herrn Doktors Equipage aus der Stadt vorgefahren, in der Amalie im Triumph abfuhr, umringt von Tortenmödeln und Bratpfannen, um bei einer Taufe oder sonstigem Familienfest die Leitung der Küche zu übernehmen. Dabei ist sie entschlossenen Charakters, und obgleich das Studieren nicht ihre Sache ist, führt sie doch eine gute Feder zu Familien-und Geschäftskorrespondenzen. Auf Amalie folgt Agnes, groß und schlank, mit ziemlich dunkler Haut; von ihr wäre nicht viel zu sagen, da sie selbst nicht viel sagte, wenn sie nicht eine Stimme hätte wie eine Nachtigall. Niemand würde diesem etwas unbeholfenen Wesen, diesem schüchternen Mund ansehen, welche Fülle herrlicher Töne ihm entquellen kann. Die Agnes ist sehr ruhigen Gemütes. »Zufriedenheit ist mein Vergnügen!« singt ihr die lustige Alwina zu; sie kommt nur aus der Fassung, wenn Lottchen und Luise Privatstudien auf dem ohnehin geringen Piano treiben, oder wenn Anna, die eine äußerst unverdrossene Sängerin ist, gar zu falsch singt. Ihr höchster Wunsch, ihre liebste Hoffnung geht dahin, daß der Vater ein neues Klavier anschaffe, eine Tat, die aber noch aufs große Los ausgesetzt ist. Bis jetzt hat sie ihre Studien nur beim Vater und Dorfschulmeister gemacht; nächsten Frühling aber darf sie zur Tante in die Residenz, um dort Stunden zu nehmen. Die Anna, gegenwärtig Aschenbrödel, sieht gar nicht wie ein solches aus; sie ist ein äußerst appetitlich kleines Persönchen; ihre Schürze, die sie zu Ehren ihres Amtes trägt, ist wie frisch gefallener Schnee, und einen staubigen Fleck auf einer Kommode sieht sie auf vierzig Schritte. Den Schwestern allen ist bang, wenn an Anna die Reihe der Zimmervisitation ist. Daneben ist sie Garteninspektorin, und ob gleich jedem der größeren Mädchen ihr Teil Arbeit im Garten angewiesen ist, so ist sie es doch vor allen, die lebt und webt unter den Blumen, Stauden und Gemüsen; beim ersten Sonnenblick im Februar zieht sie's schon hinaus in den Garten, ob noch nichts zu machen sei; die junge Anna verkehrt fast mit allen Pfarrfrauen der Nachbarschaft und ist in einem beständigen Austausch von Rosenablegern und Nelkenstöckchen begriffen. Die vierzehnjährige Adelheid, »Fräulein Allwissend«, auch »Büchergeier« genannt, verspräche ein nettes Gesichtchen zu werden, wenn sie nicht ihr aufgeworfenes Näschen gar zu keck in die Welt hinausstreckte. Adelheid hat nur eine Leidenschaft auf der Welt: lesen und immer lesen. Sie liest sitzend, stehend und gehend; ins Bett, zur Arbeit und auf Spaziergänge versucht sie Bücher zu schmuggeln, sie liest Kinderbücher, Romane und Weltgeschichte, Gutes und Schlechtes; nur an einer Abhandlung über das Pfandrecht, die ihr einmal in die Hände gefallen war, ist sie schnell erlegen. Der Mutter macht diese blinde Lesewut viel Kummer; der Vater aber und der Vikar, deren talentvollste Schülerin sie ist, hoffen mit Gottes Hilfe diese Lesegier in Lernbegier umzuwandeln, und dann könnte noch etwas Rechtes aus der Adelheid werden. Die stille, unscheinbare Beate wird wohl ganz übersehen im Kreis der Schwestern, und doch vermißt man das Kind überall, wo es nicht ist. Nicht talentvoll, nicht in Geschäften gewandt wie die Schwestern, ist dies stille Kind doch der Segen des Hauses; sie hat ihr Herz früh zu der ewigen Heimat wenden lernen, darum ist sie auch ein guter Engel für ihre Heimat auf Erden. Adelheid und Beate sind die Lieblinge der kleinen Geschwister, wohl vor allem, weil sie so schön zu erzählen wissen; aber wenn Adelheid alle Wunder der »Tausendundeine Nacht« vor ihrem staunenden Ohr vorübergeführt hat, so lauschen sie doch noch lieber den schönen, einfachen Bibelgeschichten, die Beate so lieblich, so ansprechend, so lebendig wiedergibt, als ob sie selbst sie miterlebt hätte. Die zwölfjährige Berta ist ein zierliches, gewandtes Mädchen und hat schon eine fleißige, geschickte Hand; nur putzt sie sich gar zu gern und sieht so sehr oft in den Spiegel, daß zu fürchten ist, die leidige Eitelkeit werde ihre sonstigen guten Eigenschaften ersticken. Lottchen und Luise, neun und acht Jahre alt, »die Unmüße« genannt, sind ein paar wilde Dinger, etwas träg zum Lernen und zur Arbeit, stets bereit, wo es gilt, einen Unfug anzustellen, so daß die älteren Schwestern genug zu tadeln und zu klagen haben; gutmütige Kinder übrigens, noch höchlich vergnügt mit den dreimal gewendeten alten Kleidern, welche die ganze Skala der Schwestern durchlaufen haben und die ihnen Alwina noch mit roten Litzen aufputzt. Und nun wir die Schwestern kennen, so laßt uns vollends zusehen, wie sie ihr Tagewerk vollbringen. Wenn gefrühstückt ist, geht der Vater mit ein paar freundlich ermunternden Worten in sein Zimmer; Anna nimmt das Frühstücksgerät zum Reinigen fort, Alwina und die Mutter gehen in die Arbeitsstube, wo große Schneiderei begonnen ist, um Arbeit für alle zuzurüsten; Amalie sorgt für die Küche und hilft Anna später im Garten, für die andern aber beginnen die Lehrstunden beim Vater und Vikar. Der Vikar, ein sehr geschickter, talentvoller junger Mann, war der sehr verehrte Lehrer der Mädchen, und Lob und Tadel vom Herrn Vikar wogen noch schwerer als selbst vom Vater. Die Mädchen durften und sollten alles lernen, was den Kopf aufhellt und was fürs Leben tauglich macht, wenn sie irgendwie Lust und Fähigkeit dazu hatten. Den Religionsunterricht, dem die Mutter und alle Mädchen beiwohnten, hatte sich der Vater allein vorbehalten; sonst teilten sich die Lehrstunden je nach den übrigen häuslichen Geschäften der Mädchen. Die drei ältesten, von den jüngeren die »heiligen drei Könige« genannt (Agnes war der Mohrenkönig), hatten nur noch Französisch, Englisch und Geschichtsstunde. Anna war stets vergnügt, wenn sie durch Geschäfte von den Lehrstunden abgehalten war, sie blamierte sich gar zu oft vor den Kleinen; sie hatte einmal in der Geographiestunde den Rigi für den höchsten Berg in Europa erklärt und Galizien als die Hauptstadt von Ungarn angegeben. (Die Schwestern gaben ihr schuld, daß sie drei Stunden buchstabieren müsse, bis sie einen Brief zustande bringe; in ihrem Hausrechenbuch stehe Michl statt Milch, auch habe sie auf ein Geburtstagsgeschenk für den Vater einmal geschrieben: »Von mir gans allein gemacht«; – so schlimm war's aber doch nicht.) Angelika hat ihren Zeichenlehrer schon weit überholt, und während die Mutter oft darüber seufzt, daß sie stundenlang in ihrem verschlossenen Stübchen sitzt und zeichnet, statt zu nähen, malt sie ganz im stillen die niedlichsten Sachen auf Holz, die sie durch des Vikars Vermittlung sehr gut in die Stadt verkauft. Wie herzlich freut sie sich auf alle die Weihnachtsüberraschungen, die sie mit ihrem gesammelten Sümmchen den Eltern und Schwestern wird bereiten können! Alle aber, groß und klein, gelehrt und ungelehrt, freuen sich, wenn um zwölf Uhr das Tischglöcklein tönt, besonders heute, wo Amalie die Kochwoche hat. Da ist's eine Herzenslust, das muntere Völkchen sich um die lange Tafel scharen zu sehen; und wenn der Mutter Auge oft etwas bänglich die endlose Mädchenreihe überläuft, so begegnet es wohl dem getrosten Blick des Vaters, der mit inniger Freude auf seinen munteren Töchterlein ruht und der ihr zuversichtlich zu sagen scheint: »Was unser Gott erschaffen hat, das wird er auch erhalten.« Wenn die einfache Tafel aufgehoben ist, geht's dem schönen Sonnenschein zulieb in den Garten; da ist ein halb Stündchen der Erholung gegönnt, und jedes unterhält sich, wie es ihm am besten dünkt. Vater und Mutter sitzen behaglich in der Laube; der Herr Vikar hat seine Lehrerwürde abgelegt und bemüht sich, ein Sträußchen zu pflücken, das er aber, wie Adelheid meint, ganz gegen Recht und Gerechtigkeit der Alwina überreicht, während sie doch das erste Recht auf eine Belohnung hätte; Angelika sitzt an ihrem Lieblingsplätzchen, einer Rasenbank im Gesträuch, und ist »verzückt«, wie es die Schwestern nennen, wenn sie so in sich versunken dasitzt und in die Wolken sieht. Anna und Amalie erscheinen erst, nachdem Zimmer und Küche in Ordnung sind und sehen zu ihrem Schrecken, wie Lottchen und Luise eben im höchsten Diensteifer eine Katze aus den Gemüseländern jagen und diese ärger zusammentreten, als zehn Katzen hätten tun können; Anna, außer aller Fassung gebracht, greift nach dem Rechen, um das ungebetene Hilfskorps in die Flucht zu schlagen. Berta hat sich eine Efeugirlande um den Kopf gewunden und bemüht sich sehr, das einzige Fenster des alten Gartenhauses als Spiegel zu benützen, um zu sehen, wie ihr der Schmuck steht. Agnes hat sich zwischen die grünen Äste eines leicht ersteigbaren Nußbaums zurückgezogen und singt mit heller Stimme, während sie Nachlese hält, Ingeborgs Klage nach eigener Komposition: »Aus ist des Sommers Lust, Stürme durchwehen des Meeres Brust, Ach und wie gerne da draußen Hört' ich es brausen!« Adelheid sitzt auf dem Boden hinter der Laube mit dem »Lichtenstein«, den ihr des Försters Tochter geliehen, allzeit in stiller Sorge, die Mutter möchte sie urplötzlich aus dieser neuen Welt aufjagen; Beate aber spielt mit dem Kleinsele, das vor Lust aufjubelt, daß es die große Schwester haschen kann. So belustigt sich jedes in seiner Weise bis halb zwei Uhr, wo der Rückzug ins Haus beginnt, und nun geht's mit Ernst an die Arbeit. Die Schneiderei ist kein Spaß; aus sieben alten Kleidern müssen sechs neue gemacht werden, nur die vier Großen und Kleinsele bekommen ganz neue. Alwina schneidet zu und probiert an; die andern nähen um die Wette, sogar die »Unmüße« werden angehalten, zu zertrennen und Fäden auszuzupfen, und das Nesthäkchen will auch ein Puppenkleidchen machen, wobei es Nadeln verliert und sich ins Fingerchen sticht. Dazwischen stimmt Agnes ein Lied an, in das all die Stimmchen zart und grob, falsch und richtig einfallen, oder erzählt Adelheid, wobei sie die Kleinen als aufmerksame Zuhörer hat. So geht es recht fleißig zu bis zum Schlag vier Uhr, für den die Kleinen ein äußerst scharfes Ohr haben; dann verschwindet Alwina und kommt zurück mit dem Brotlaib und Obstkorb; das Vesper wird verteilt und mit allgemeiner Zufriedenheit verzehrt. Nach dem Vesper werden die »Unmüße« entlassen, sie dürfen die Kleine mitnehmen und sich in Garten und Hof umtreiben, bis sie unter Adelheids Aufsicht ihre Lektion lernen müssen. Die andern aber bleiben fleißig beisammen bis zur Dämmerung, wo noch ein kurzer Spaziergang gemacht wird. An schönen Sonntagen werden immer weite Gänge unternommen, Werktags reicht die Zeit nicht dazu. Mit einbrechendem Dunkel sammelt sich alles in der Wohnstube, Beate bringt die Kleine zu Bett, der Vater nimmt seinen Ehrenplatz am Ovaltisch ein, Amalie und Anna bringen das Teegerät und den duftenden Tee mit neugebackenem Brot. Da geht's nun heiter und lebendig her; die »heiligen drei Könige« haben genug zu tun, bis sie die Gesellschaft versorgen und den »Unmüßen« betrüglicherweise lau Wasser statt des erhitzenden Tees unter die Milch mischen (erst die konfirmierten Töchter sind zum Tee aufgestiegen); der galante Vikar nimmt aber der Alwina für eine Weile das Geschäft ab. Nun der Tee getrunken ist, marschieren die »Unmüße« in ihre Betten ab; das Gerät wird auf dem Seitentisch flink und in aller Stille gereinigt, die große Lampe wird angezündet, die Schwestern sitzen mit dem Strickzeug um den Tisch, und nun wird's recht still und recht behaglich, der gute Engel der friedlichen Häuslichkeit zieht durchs Zimmer. Adelheid, der die Abendstunde ihr Höchstes ist, bringt jetzt das Buch, und der Vikar beginnt die allabendliche Vorlesung. Der Vater ist sehr sorgsam in Auswahl der Bücher für seinen gemischten Zuhörerkreis; bald sind es Reiseschilderungen, die den kleinen Kreis in ferne fremde Welten tragen; bald sind es geschichtliche Bilder, die sie in vergangene Zeiten zurückversetzen; bald merkwürdige Erlebnisse und wunderbare Führungen aus dem Leben frommer Menschen oder eine schöne herzerhebende Dichtung. Fragen und Bemerkungen dazwischen sind erlaubt, und würden all die Zwischengespräche mit den Büchern wieder abgedruckt, so würden sie noch viel dicker als Campes Robinson. In der Regel ist das Publikum äußerst aufmerksam; wer aber schläft und doch noch nicht zu Bette gehen will, der wird verurteilt, ohne Licht etwas aus des Vaters oberem Zimmer zu holen. So wäre nun demnächst ein Tag zu Ende, und ihr meint wohl, er gehe wie alle andern Tage damit aus, daß die Leute zu Bett gehen und schlafen? Ja, nur Geduld, heute geschieht noch etwas ganz Besonderes. Man las in Mungo Parks Reisen, und während dieser unermüdliche Forscher nach der Nilquelle spürte, war Alwina sanft eingeschlafen. Der Vater, der gerade las, sah auf, weil er an ein unaufgeschnittenes Blatt kam, und bemerkte die Schlafende. »Alwina,« rief er, »geh einmal auf mein Zimmer und hol mir mein beinernes Papiermesser von meinem Pult!« Hocherrötend fuhr Alwina auf: »Ich habe nicht geschlafen, gar nicht,« und wurde fast böse über dem herzlichen Gelächter der andern. Doch machte sie sich sogleich auf, um das Messer zu holen, schon hört man sie draußen im Gang nach dem Weg krabbeln; noch ehe sie aber ganz oben sein kann, fällt's plötzlich dem Vikar ein: »Ach, Herr Pfarrer, ich habe mir heute erlaubt, Ihr Papiermesser zu nehmen; Fräulein Alwina kann es im Dunkeln nicht finden, erlauben Sie, daß ich ihr leuchte!« Und rasch hatte der galante Vikar ein Licht angezündet und flog die Treppe hinauf; aber es dauerte unendliche Zeit, der Mungo Park stand immer am Nilufer, kein Vikar, keine Alwina, kein Papiermesser kam. »Angelika, nimm den Wachsstock und siehe, wo sie bleiben!« sagte die Mutter. Angelika ging, aber sie kam auch nicht mehr; da wurde der Vater ganz ungeduldig: »Anna, geh du! Du findest im Dunkeln den Weg.« So ging auch noch die Anna, und schon glaubten die Kinder, es gehe wie in dem Märchen von der klugen Else, und sie alle, nebst Vater und Mutter, werden noch nach müssen. Siehe, da geht die Türe auf! Angelika und Anna schreiten voran mit Kerze und Wachsstock und mit dem Jubelruf: »Vater, Mutter, ein Brautpaar!«, hinter ihnen führt der Vikar Alwina an der Hand, die glüht wie eine Purpurrose, und er fragt schüchtern: »Lieber Herr Pfarrer, wollen Sie mir nicht Ihre Tochter Alwina anvertrauen?« Das war ein Erstaunen! Die Schwestern hielten vor Verwunderung den Atem an; jetzt ging erst der Adelheid ein Licht auf, warum Alwina ein Sträußchen bekommen und nicht sie, obgleich diese das französische Gedicht heute viel schlechter vorgetragen hatte. Die Mutter hatte wohl schon so etwas geahnt, der Vater aber nicht; der Vikar war der einzige Sohn reicher Eltern und hatte die Zusicherung, eine gute Pfarre zu bekommen; dem stand die Wahl unter den Töchtern des Landes offen, – wie würde er wohl eine von seinen armen elf Mädchen wählen? Den Vikar aber dünkte die frische, fleißige und frohherzige Alwina reicher als alle Prinzessinnen der Welt. Nun, zu bedenken war da wenig; mit Freudentränen nahm die Mutter, mit Lächeln der Vater die Hände der beiden. »Gott segne euch, meine Kinder,« sprach der Vater, »mit Frieden und Freude, wie er uns gesegnet hat!« – »Und mit weniger Mädchen,« flüsterte ihm doch die Mutter ins Ohr. »Aber werden auch Ihre Eltern einverstanden sein?« fragte besorgt die Mutter; der Vikar versicherte, er habe längst die freudige Zustimmung der Seinen, da er diesen Entschluß schon lange im Herzen trage, aber bis jetzt noch nicht Gelegenheit gefunden, sein Wort anzubringen. Wie es gekommen, daß über des Vaters Falzbein die beiden sich so schnell gefunden, das blieb noch ein Rätsel. Jetzt aber war der Damm des Schweigens bei den Mädchen gebrochen; lächelnd, jubelnd, errötend grüßten sie den neuen Schwager. Anna und Adelheid schlichen sich beiseite, um zu sehen, ob es nicht möglich wäre, noch einen Punsch zu brauen; der Vater aber schlug endlich, um den fröhlichen Lärm zu bewältigen, einen Choralgesang vor; der neue Bräutigam mußte sich aus Klavier setzen, Agnes, die heute mit einer wahren Engelstimme sang, stimmte den schönen Choral an: »So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen.« Und so schloß dieser wichtige Tag im Pfarrhaus mit Dank und Freude. Nicht alle Tage hatte bisher solch ein Jubel geschlossen, das sagt das verbleichte Gesicht und die matte Gestalt der Mutter, die etwas gefurchte Stirn des Vaters. Viel mühevolle Tage, viel schlaflose Nächte hatte es gekostet, bis diese blühende Töchterschar auf eigenen Füßen stehen, mit eigenen Händen sich regen konnte; bis sie fröhlich und frisch wie Ölzweige den Tisch umgaben. Aber auch diese Tage und Nächte waren vorübergegangen; Geduld, Gottvertrauen und Liebe waren als köstliche Saaten unter Sturm, Frost und Regen aufgekeimt. Nicht jeder Tag war so wie dieser in vollkommenem Frieden verlebt worden. In den elf Köpfchen und Köpfen wohnten elf Sinne, von denen oft jeder recht haben wollte; in den elf Herzen keimte neben der guten Saat auch viel Unkraut. Daher war der Friede gar vielfach gefährdet, so daß die sanfte Mutter nicht immer imstande war, zu schlichten, und der Vater ein kräftiges Schiedsrichteramt üben mußte. Aber jeder Morgen war begonnen worden mit herzlichem Gebet, und der Nachklang davon ließ nicht so bald schlimme Geister aufkommen. Jeder Abend war mit Gebet und Gesang beschlossen worden, und eines der Kinder hatte am Schluß das Gebet des Herrn gesprochen, und wer von Herzen gebetet: »Vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben«, über dessen Groll wird keine Sonne untergehen. Und wißt ihr, welcher Segen für eine ganze Herde ein einziges Schäflein werden kann, das ganz dem Hirten eigen ist? Ein solches war Beate, die stillste, die schwächste, die unscheinbarste, die unbegabteste der Schwestern. Sie war der Friedensengel, sie die süße Quelle, die nichts Trübes und Bitteres in sich aufkommen ließ; die es leise wegspülte, wo es bei andern sich angesetzt. Wenn es unter den Kleinen einen Streit gab um Spielzeug oder Obst und dergleichen, da war es Beate, die mit lächelndem Gesicht ihren Anteil zum Opfer brachte oder das von allen Verschmähte für sich nahm; wo die Mädchen sich zankten um das Recht, mitzudürfen, da war sie stets bereit, dazubleiben, und hatte immer einen Grund, warum sie besonders gern daheim war; bei den gemeinsamen Spielen hatte sie nie einen Willen als den, der zum Frieden führte; das abgetragenste Kleid fand sie noch recht nett, den angebrannten Brei allzeit noch gut; nichts war für sie gleichgültig, was andern unangenehm war; nichts vergaß sie, was andern Freude machte. Sie selbst wußte es nicht, und die andern ahnten es nicht, welches Kleinod dies stille Kind für sie alle war. Die Mutter aber wußte es und dankte Gott mit Freudentränen für diese Perle. Was aus den elf Schwestern geworden, ist nun freilich die wichtigste Frage, und da wir nicht dem Lebensgang jeder einzelnen folgen können, so erfahren wir es wohl am sichersten aus einem Briefe, den zehn Jahre nach jenem Verlobungstag Alwinas Amalie den Schwestern aus – Amerika schrieb. Vier Jahre waren schon vergangen, seit die elf Schwestern als Waisen das geliebte Vaterhaus verlassen hatten, ohne andern Reichtum als der Eltern Segen, Gottes Schutz, genügsame Herzen und fleißige Hände. Vater und Mutter ruhten im Grabe. Den kräftigen Vater hatte ein Nervenfieber weggerafft, das ihn an einem Sterbebette ergriffen; dieselbe Krankheit riß der Mutter zarten Lebensfaden ab, ehe sie das Weh fassen konnte, das ihr mit dem Tode des geliebten Gatten geschehen war. Sie starb mit Bewußtsein, aber ein trostreicher Engel schien ihr sonst so verzagtes Herz gestärkt zu haben. Denn als ihr brechendes Auge auf die weinende Töchterschar um ihr Lager fiel, da schaute es mit zuversichtlichem, strahlendem Blicke nach oben; segnend breitete sie die Hände über ihre Kinder, und von den erblaßten Lippen klangen die trostvollen Worte: »Gott wird euch nicht verlassen.« Und nun zu Amaliens Brief, der an Alwina, als an die Familienälteste, gesandt wurde. »Geliebte Schwestern! ›Gott wird Euch nicht verlassen‹, war das segnende Abschiedswort unsrer lieben Mutter, und es ist bis auf diesen Tag in Erfüllung gegangen. Dich, liebe Alwina, hat er an den eigenen glücklichen Herd geführt und Dein Haus gesegnet, daß es noch Zuflucht und Heimat für die Schwestern werden kann. Friederike, das Nesthäkchen, der Mutter und unser Liebling, ist unter Eurer Obhut geborgen; Luise, der Unmuß, findet bei Deinen Mädchen und Bübchen genug zu tun für ihre flinke Hand und noch flinkere Zunge; und Lottchen, der Unmuß Nummer zwei, kommt nun sogar als glückliche Braut unter Dein Dach, um bei Dir für den Ausbau ihres Nestchens zu sorgen und von Dir einst zum Altar geleitet zu werden. Sage ihr, der lieben Braut, jetzt die Hauptperson, vor allem unsre herzlichsten Glückwünsche. Nach der herben Dienstzeit unter der gestrengen Frau Geheimrätin wird ihr der Aufenthalt bei Dir und dereinst unter dem eigenen Dach besonders wohltun. Wir freuen uns, ihr hier einen Beitrag zur Bestreitung ihrer Ausstattung senden zu können; geben ihr aber den freundschaftlichen Rat, allen Luxus zu vermeiden, da ihr Zukünftiger dem Lehrstande angehört, der ja jederzeit reicher an geistigem als leiblichem Besitz ist. Das glückliche Brautpaar soll sich das Warten nicht verdrießen lassen; Lottchen ist ja noch erstaunlich jung. Gott hat uns nicht verlassen, möchte ich aufs neue beginnen. Er hat Agnes und mich glücklich übers Meer geführt, als wir vor vier Jahren anfingen einzusehen, daß übergenug Mädchen im Vaterland sind, und auszogen, unser Heil in der Neuen Welt zu suchen. Er hat uns guten menschlichen Schutz zugewendet, er hat unsern Fleiß gesegnet, so daß wir noch zweien von Euch ein Asyl bei uns anbieten konnten und die Mittel, es zu erreichen. Anna und Berta sind wohlbehalten hier angekommen; wir wollten Euch nicht schreiben, bis wir unsern vierfachen Lebensplan für die Zukunft festgestellt hatten. Nun aber möchte ich, Ihr könntet unsre neue kleine Residenz sehen! Wir haben ein kleines, sehr freundliches Haus in einer Vorstadt Bostons gemietet; der hübsche Garten daran gestaltet sich bereits prächtig unter Annas Hand, die von Sonnenaufgang bis Abend darin steckt. Mit den Blumen und Gemüsepflanzungen, zu denen sie Samen gebracht, hoffen wir seinerzeit glänzende Geschäfte zu machen; unsre heimatlichen Rosen und Nelken sollen Aufsehen erregen in der Neuen Welt. Berta sitzt bereits in einem Meer von Hüten, Hauben und Bändern; ich hatte sie zuvor schon so gut empfohlen, und ihre Geschicklichkeit macht meiner Empfehlung solche Ehre, daß sie sich ein dienstbares Geistlein zur Hilfe wird beilegen müssen, das schon in dem Töchterlein einer armen eingewanderten Familie gefunden ist. Agnes wird um mehr Musikstunden gebeten, als sie annehmen kann; Ihr würdet staunen, wenn Ihr hören könntet, wie herrlich ihre Stimme sich erhalten und ausgebildet hat! Das letzte Konzert allein hat ihr reichliche Ernte gebracht, mehr als unser vereinter Beitrag für Lottchens Aussteuer beträgt; sie liebt aber das öffentliche Auftreten und die geräuschvollen Demonstrationen des hiesigen Publikums nicht und zieht ihren viel mühsameren, aber stilleren Wirkungskreis vor. Darum hat sie auch mit unsrer vollen Beistimmung einen neuen, sehr glänzenden Antrag auf die Bühne entschieden ein für allemal abgelehnt. Meine Kunstbäckerei, um meine eigene werte Person nicht zu vergessen, geht ganz splendid; unsre vaterländischen Zuckerbrezeln, Gugelhopfen und Fleischpastetchen sind hier meist gerner gesehen als leider unsre lebendigen Landsleute. Hie und da geruhe ich auch noch, wie vorzeiten daheim, mich im Wagen holen zu lassen, um das Arrangement großer Diners zu übernehmen, ziehe aber gleich unsrer Agnes die Tätigkeit daheim vor. Ein jeder treib' es, wie er's kann, Ein kleiner Mann ist auch ein Mann. Wie unaussprechlich wohl es uns ist, seit wir nun ein vierblätteriges Kleeblatt bilden, das könntet Ihr Euch erst recht vorstellen, wenn's Euch möglich wäre, am Abend einen Blick in unser drawing room zu werfen, wo wir nach abgetaner Tagesarbeit uns um unsern Teetisch setzen, der stets mit einem Abfall meiner Kunstprodukte reichlich versorgt ist. Wir haben uns wohl immer liebgehabt, liebe Schwestern; aber ich meine, den ganzen herrlichen Segen der Familienbande lernt man doch erst in der Fremde kennen. Ich muß manchmal an die Tante Kommerzienrätin denken. Als ich sie vor vier Jahren um einen Vorschuß zu unsrer Auswanderung bat, da schob sie ihre Brille hinauf und sah mich verwundert und geringschätzig an: ›Hm, hm, ist meiner Zeit nicht der Brauch gewesen, daß Mädchen auswandern; wer schaffen will, findet im Vaterland sein Fortkommen.‹ Nun, die Tante kann recht haben; doch zweifle ich, ob mein Hausjungferngehalt und der Agnes Musikstunden uns je im Vaterland zu einer so unabhängigen und sorgenfreien Existenz geholfen hätten. Bei allem verhehle ich Euch nicht, liebe Schwestern: Wir haben eine Heimat hier, aber kein Vaterland. Es kommt kein Sonntag, wo nicht eine recht innige Sehnsucht in uns erwacht nach deutschem Glockenklang, nach einem deutschen Kirchenlied und einem deutschen Familienkreis. Und im stillen sei's gesagt: So oft wir uns am Wachsen unsrer Ersparnisse erfreuen, so wächst die Hoffnung, daß wir dereinst früher oder später die Früchte unsres Fleißes in der lieben Heimat mit Euch genießen können. Mehr und mehr überzeuge ich mich, daß Angelikas Talent ihr hier weniger als im Vaterland Früchte tragen würde, selbst wenn ihre zarte Gesundheit die Seereise ertragen könnte. In diesem Land der Bewegung und des Wechsels nimmt man sich kaum Zeit, zu einem Bilde zu sitzen: Daguerrotype, die in drei Minuten fertig sind, das ist amerikanischer Geschmack. So ist es viel besser, sie lebt wie bisher ihrer Kunst und pflegt ihre Gesundheit, was ihr ja umso viel leichter wird, seit sie im Hause der edlen, kunstsinnigen Gräfin eine Heimat gefunden. Ihre lieben seelenvollen Bildchen haben auch hier schon manches Auge und manches Herz erfreut; ihr teures Abschiedsgeschenk: Eure und der Eltern Bilder, sind und bleiben die schönste und liebste Zierde unsres schönsten Zimmers. Aber wird die Welt umgekehrt, daß unsre bescheidene Schwester Beate zu so hohen Ehren kommt? Von Königin und Prinzessinnen umarmt und beschenkt, und zur Vorsteherin weiß nicht wie vieler wohltätigen Anstalten ernannt wird? Ist sie denn nicht vor Demut in die Erde versunken ob solchen Ehren, und wie nimmt sich denn die diamantenbesetzte Uhr auf dem unsterblichen dunklen Merinokleid unsrer lieben soeur grise aus? Wir könnten hier wohl auch solche Engel brauchen, liebe Beate, aber ihrer sind auch in der Heimat nie zu viel. Gehe du fortan als Engel des Trostes durch die Reihen der Leidenden, in die Kämmerlein der Bedrängten! – Ich freue mich von Herzen, daß Du in dem Hause des würdigen Dekans auch die Freuden des Familienlebens nicht vermissen darfst. Adelheid wird, wie ich denke, nicht zögern, den ehrenvollen Ruf an die Erziehungsanstalt der Hauptstadt ihrer Hauslehrerinnenstelle vorzuziehen, die, so einträglich sie war, doch eine freudlose und undankbare geblieben ist. Wir freuen uns herzlich dieser Wendung, die zwei unsrer lieben Schwestern wieder zusammenführt. Auch Adelheid tut besser, im Vaterlande zu bleiben; Erzieherinnen dieser Art werden hier weder gesucht noch geschätzt; die jungen Damen aus höheren Kreisen werden in Pensionen ›schnellgebleicht‹. Noch eins sei Euch im Vertrauen gesagt: Wenn wir dereinst den schönen Plan ausführen, ins Vaterland zurückzukehren, so wäre möglich, daß wir nimmer vollzählig kommen. Ein Sohn des Doktor M., der unser treuer Schutz auf der Überfahrt war, spricht besonders häufig bei uns ein, seit die Schwestern hier sind, und er gibt Anna nicht undeutlich zu verstehen, wie gut eine so rüstige, gewandte Frau für seine Farm passen würde. Was soll aber aus unserm Garten werden, wenn Anna sich dereinst entscheidet, auf die Farm zu ziehen! Auch mit Berta weiß man nicht, wie es werden wird. Ein längst hier angesiedelter Landsmann, der in unsrer Nachbarschaft wohnt, hat immer etwas zu fragen und zu sagen bei uns und unterhält sich überaus gut mit der fleißigen Putzmacherin. Er treibt ein sehr blühendes Gewerbe, welcher Art, schreibe ich aber noch nicht; Eure verwöhnten Näschen könnten sich noch in angeborenem Vorurteil rümpfen; hier denkt man darüber anders. Einstweilen nur so viel, daß er ein sehr gebildeter und sehr frommer Mann ist; er scheint fast zu ernst für unsre heitere, flüchtige Berta, und doch findet er großes Gefallen an ihr und scheint zu glauben, daß oft auch in glatter, zierlicher Schale ein guter Kern stecken kann. So habe ich nun, wie die Mutter pflegte, uns alle an den Fingern zusammengezählt, und wenn ich so unsern Lebensgang bis hierher überdenke, so bleibt mir nichts zu sagen übrig als das freudige Wort: Der Herr hat's wohl mit uns gemacht! Wir haben frühe daheim gelernt, uns zu fügen und uns zu rühren; das Brot, das für sechs verwöhnte Kinder nicht ausgereicht hätte, hat elf genügsame großgezogen. Wir haben, gedankt sei es unsern frommen Eltern, frühe gelernt, ein Bürgerrecht droben zu suchen; so waren wir nie heimatlos, noch ehe wir ein Plätzchen auf Erden gefunden, wo wir unser Haupt niederlegen konnten; wir haben frühe gelernt, mit unserm Pfunde zu wuchern und unsre Kraft zu brauchen, so daß die vielbejammerten elf Mädchen nun besser geborgen sind als manches einzige Töchterlein reicher Eltern. Ob uns allen zusammen noch ein Wiedersehen auf Erden bestimmt ist? – Ich wage es kaum zu hoffen, es liegt in Gottes Hand. Wir alle aber haben die Hoffnung auf ein noch seligeres Wiedersehen, wo unserm treuen Vater das schöne Wort vergönnt sein wird: ›Ich habe der keines verloren, die du mir gegeben hast.‹«