Märchen Ihr habt gehört die Kunde Vom Fräulein, welches tief In eines Waldes Grunde Manch hundert Jahre schlief. Den Namen der Wunderbaren Vernahmt ihr aber nie, Ich hab ihn jüngst erfahren: Die deutsche Poesie. Zwo mächt'ge Feen nahten Dem schönen Fürstenkind, An seine Wiege traten Sie mit dem Angebind. Die erste sprach behende: »Ja, lächle nur auf mich! Ich gebe dir frühes Ende Von einer Spindel Stich.« Die andre sprach dagegen: »Ja, lächle nur auf mich! Ich gebe dir meinen Segen, Der heilt den Todesstich; Der wird dich so bewahren, Daß süßer Schlaf dich deckt, Bis nach vierhundert Jahren Ein Königssohn dich weckt.« Da ward ins Reich erlassen Ein feierlich Gebot, Verkündet in allen Straßen, Der Tod darauf gedroht: Wo jemand Spindeln hätte, Die sollte man liefern ein Und sie an offner Stätte Verbrennen insgemein. Nicht nach gewohnter Sitte Erzog man dieses Kind In dumpfer Kammern Mitte Noch sonst, wo Spindeln sind; Nein! in den Rosengärten, In Wäldern, frisch und kühl, Mit lustigen Gefährten Bei freiem, kühnem Spiel. Und als es kam zu Jahren, Ward es die schönste Frau, Mit langen, goldnen Haaren, Mit Augen dunkelblau, In Gang, Gebärde züchtig, In Reden treu und schlicht, In aller Arbeit tüchtig, Nur mit der Spindel nicht. Viel stolze Ritter gingen Der Holden Dienste nach, Heinrich von Ofterdingen, Wolfram von Eschenbach. Sie gingen in Stahl und Eisen, Goldharfen in der Hand; Die Fürstin war zu preisen, Die solche Diener fand. Mit Degen und mit Speere Waren sie stets bereit, Den Frauen gaben sie Ehre Und sangen widerstreit. Sie sangen von Gottesminne, Von kühner Helden Mut, Von lindem Liebessinne, Von süßer Maienblut. Von alter Städte Mauern Der Widerhall erklang, Die Bürger und die Bauern Erhuben frischen Sang. Der Senne hat gesungen, Der über den Wolken wacht, Ein Lied ist aufgeklungen Tief aus des Bergmanns Schacht. In einer Mainacht blinkten Die Sterne wunderschön, Der Fürstin war, als winkten Sie ihr zu Turmes Höhn; Sie stieg hinauf zum Dache, Die Zarte ganz allein, Da fiel aus einem Gemache Ein trüber Lampenschein. Ein Weiblein, grau von Haaren, Dort an dem Rocken spann, Sie hatte wohl nichts erfahren Vom strengen Spindelbann. Die Fürstin, die noch nimmer Gesehen solche Kunst, Sie trat in Weibleins Zimmer: »Wer bist du, mit Vergunst?« »Man nennt mich, schönes Liebchen! Die Stubenpoesie ; Denn aus dem trauten Stübchen Verirrt ich mich noch nie. Ich sitz am lieben Platze Beim Rocken, wandellos, Meine alte, blinde Katze Die spinnt auf meinem Schoß. Lange, lange Lehrgedichte, Die spinn ich recht mit Fleiß, Flächsene Heldengedichte, Die haspl ich schnellerweis. Mein Kater maut Tragödie, Mein Rad hat lyrischen Schwung, Meine Spindel spielt Komödie Mit Tanzbelustigung.« Die Fürstin tät erbleichen, Als man von Spindeln sprach, Sie wollte flugs entweichen, Die Spindel sprang ihr nach; Und an der morschen Schwelle, Da fiel das Fräulein jach, Die Spindel auf der Stelle Sie in die Ferse stach. Was war das für ein Schrecken, Als man sie morgens traf! Sie war nicht mehr zu wecken, Sie schlief den Zauberschlaf. Ein Lager ward bereitet Im hohen Rittersaal, Goldstoffe drauf gebreitet Und Rosen ohne Zahl. So schlief sie in der Halle, Die Fürstin, reich geschmückt. Bald hatte die andern alle Der gleiche Schlaf berückt. Die Sänger, schon in Träumen, Rührten die Saiten bang, Bis in des Schlosses Räumen Der letzte Laut verklang. Die Alte spann noch immer Im stillen Kämmerlein, Es woben in jedem Zimmer Die Spinnen, groß und klein. Die Hecken und Ranken woben Sich um den Fürstenbau, Und um den Himmel oben, Da spann sich Nebelgrau. – Wohl nach vierhundert Jahren, Da ritt des Königs Sohn Mit seinen Jägerscharen Ins Waldgebirg davon: »Was ragen doch da innen Ob all dem hohen Wald Für graue Türm und Zinnen Von seltsamer Gestalt?« Am Wege stund gerade Ein alter Spindelmann: »Erlauchter Prinz, um Gnade! Hört meine Warnung an! Romantische Menschenfresser Hausen auf jenem Schloß, Die mit barbarischem Messer Abschlachten klein und groß.« Der Königssohn verwegen Tät mit drei Jägern ziehn, Sie hieben mit den Degen Sich Bahn zum Schlosse hin. Gesenket war die Brücke, Geöffnet war das Tor, Daraus im Augenblicke Ein Hirschlein sprang hervor. Denn in des Hofes Räumen, Da war es wieder Wald, Da sangen in den Bäumen Die Vögel mannigfalt. Die Jäger ohn Verweilen, Sie drangen mutig hin, Wo eine Tür mit Säulen Aus dem Gebüsch erschien. Zween Riesen schlafend lagen Wohl vor dem Säulentor, Sie hielten, ins Kreuz geschlagen, Die Hellebarden vor, Darüber rüstig schritten Die Jäger allzumal, Sie gingen mit kecken Tritten Zu einem großen Saal. Da lehnten in hohen Nischen Geschmückter Frauen viel, Gewappnete Ritter dazwischen Mit goldnem Saitenspiel. Hohmächtige Gestalten, Geschloßnen Auges, stumm, Grabbildern gleich zu halten Aus grauem Altertum. Und mitten ward erblicket Ein Lager, reich von Gold, Da ruhte, wohlgeschmücket, Eine Jungfrau wunderhold. Die Süße war umfangen Mit frischen Rosen dicht, Und auch von Mund und Wangen Schien zartes Rosenlicht. Der Königssohn, zu wissen, Ob Leben in dem Bild, Tät seine Lippen schließen An ihren Mund so mild. Er hat es bald empfunden Am Odem, süß und warm, Und als sie ihn umwunden, Noch schlummernd, mit dem Arm. Sie streifte die goldnen Locken Aus ihrem Angesicht, Sie hob, so süß erschrocken, Ihr blaues Augenlicht. Und in den Nischen allen Erwachen Ritter und Frau, Die alten Lieder hallen Im weiten Fürstenbau. Ein Morgen, rot und golden, Hat uns den Mai gebracht; Da trat mit seiner Holden Der Prinz aus Waldesnacht. Es schreiten die alten Meister In hehrem, stolzem Gang Wie riesenhafte Geister Mit fremdem Wundersang. Die Täler, schlummertrunken, Weckt der Gesänge Lust; Wer einen Jugendfunken Noch hegt in seiner Brust, Der jubelt, tief gerühret: »Dank dieser goldnen Früh, Die uns zurückgeführet Dich, deutsche Poesie !« Die Alte sitzt noch immer In ihrem Kämmerlein; Das Dach zerfiel in Trümmer, Der Regen drang herein. Sie zieht noch kaum den Faden, Gelähmt hat sie der Schlag; Gott schenk ihr Ruh in Gnaden Bis über den jüngsten Tag!