Gebet für die Gefangenen Herrgott! Wenn du zufällig Zeit hast, dich zwischen zwei Börsenbaissen und einer dämlichen Feldschlacht in Marokko auch einmal um die Armen zu kümmern: Hörst du siebentausend Kommunisten in deutschen Gefängnissen wimmern? Kyrie eleison –! Da sind arme Jungen darunter, die sind so mitgelaufen, und nun sind sie den Richtern in die Finger gefallen; auf sie ist der Polizeiknüppel niedergesaust, der da ewiglich hängt über uns allen . . . Kyrie eleison –! Da sind aber auch alte Kerls dabei, die hatten Überzeugung, Herz und Mut – das ist aber vor diesen Richtern nicht beliebt, und das bekam ihnen nicht gut . . . Kyrie eleison –! Da haben auch manche geglaubt, eine Republik zu schützen – aber die hat das gar nicht gewollt. Fritz Ebert hatte vor seinen Freunden viel mehr Angst als vor seinen Feinden – in diesem Sinne: Schwarz-Rot-Gold! Kyrie eleison –! Herrgott! Sie sitzen seit Jahren in kleinen Stuben und sind krank, blaß und ohne Fraun; sie werden von Herrn Aufseher Maschke schikaniert und angebrüllt, in den Keller geschickt und mitunter verhaun . . . Kyrie eleison –! Manche haben eine Spinne, die ist ihr Freund; viele sind verzankt, alle verzweifelt und sehnsuchtskrank – Ein Tag, du Gütiger, ist mitunter tausend Jahr lang! Kyrie . . . Vielleicht hast du die Freundlichkeit und guckst einmal ins Neue Testament? Bei uns lesen das die Pastoren, aber nur sonntags –, in der Woche regiert das Strafgesetzbuch und der Landgerichts- präsident. . . . . eleison –! Weißt du vielleicht, lieber Gott, warum diese Siebentausend in deutsche Gefängnisse kamen? Ich weiß es. Aber ich sags nicht. Du kannst dirs ja denken. Amen. · Theobald Tiger Die Weltbühne, 23.12.1924, Nr. 52, S. 950, wieder in: Deutschland, Deutschland.