Einer, manche, viele Mitunter laufen einem Romanfiguren über den Weg, die Figur ist da, der Roman muß erst noch geschrieben werden. Hier ist ein Knopf, lassen Sie sich einen Anzug dazu machen. Unter dem deutschen Adel aller Gothas gibt es mancherlei Arten: den braven Vertreter seiner Kaste, ein Kerl, der von Köckritz ist, und weiter nichts; es gibt Leuteschinder und feine, alte Damen, dumme Puten und sehr dünngliedrige, gebildete Herren, unter deren schmalen Schädeln ein Gehirn liegt und still arbeitet . . . da gibt es allerhand. Aber eine Nummer kommt vor, die ist so bunt und so seidig-glänzend, daß die Schmetterlingskenner, die das Exemplar bei mir aufgespießt sehen, fragen: »Donner! Woher haben Sie denn den?« Dann lächle ich, wie der Sammler lächelt, der seine kleinen Geheimnisse nicht verrät. Bitte kommen Sie nicht zu nah an den Kasten, ich habe das Ding so sorgsam aufgepiekt. Da ist er: Er sieht gut aus. Er ist ziemlich blond, groß, lässig, locker . . . sein Monokel sitzt nicht wie bei Bronnen, sondern es sitzt richtig; er braucht gar nicht erst so viel herzumachen, er strengt sich nicht an wie Edschmid, er liest nicht die ›Elegante Welt‹ , er gehört ihr an. Seine Anzüge sind gut gemacht, er hat tagsüber etwas betont dicke und flauschige Sachen; seht! sagen die Sachen, wie wir an ihm herumhängen, er läßt sie hängen, er hat sie einmal bezahlt, und nun weiß er, daß er sich auf sie verlassen kann. Abends sitzen Smoking, Hemd, Krawatte und seidene Socken, als seien sie ihm angeflogen. Das alles ohne jede Aufdringlichkeit. Er ist sehr frech, aber er ist leise-frech. Er ist nicht in den väterlichen Ställen geblieben. Seine Entwicklung kennen wir nicht, aber die Intellektuellen, mit denen er umgeht, fühlen: Er gehört doch zu uns. Er hat Rilke gelesen, was: gelesen! er hat ihn gekannt, er besitzt auch Briefe von Rilke; er versteht allerhand von Nationalökonomie, sehr viel von Musik, außerordentlich viel von bildender Kunst und gar nichts von Politik. Seine Kenntnisse und seine Bildung sind guter Durchschnitt; sie werden aufgehöht durch die uralten, eingeprügelten Instinkte seiner bürgerlichen Gegenspieler. Die sind schon dritte Generation, aber manchmal kommt bei ihnen Großpapa durch: ein Adliger . . . ! Der Enkel sagt: »Hören Sie mal, Platen!«, das ›von‹ läßt er weg, er sagt es nur mit der Seele, aber mit der dreimal. Herr von Platen kommt, legt ganz leise das Monokel und das Adelsprädikat ab, weil er beide nicht mehr braucht, die Umgebung hat sie gesehen, und die Umgebung fühlt sich frisch geadelt. Er siegt schnell, der junge Platen. Er macht nämlich Geschäfte. Aber er macht sie nun nicht etwa so wie ein jüdischer Pferdehändler, gradezu, und immer etwas atemlos hinter dem Geld herlaufend – er macht sie anders. Das heißt: eigentlich macht er sie genau so wie ein jüdischer Pferdehändler, er ist nur etwas unzuverlässiger als jener. Er ist außerordentlich betriebsam; er hat Beziehungen, vermehrt sie, benutzt sie, nutzt sie aus, die Beziehungen fühlen sich geehrt, ziemlich geehrt. Er scheint sich zu den Geschäften nur herbeizulassen, das verleiht ihm eine große Stärke. Manchmal ist es der Kunsthandel, manchmal die Bank, manchmal irgend etwas andres. Er geht mächtig ran, er läßt nicht locker, aber er bleibt locker. Die Basis für seine Geschäfte ist ein unwiderstehlicher gutsherrlicher, naiver, fast tierischer Egoismus. Wir andern sind ja auch egoistisch, aber wir schämen uns ein wenig dieser Regung. Eigentlich müßte man . . . Der müßte eigentlich gar nicht. Er ist von oben bis unten, von hinten bis vorn egoistisch. Der kühle Blick der grau-blauen Augen gleitet am Vertragspartner entlang: Natürlich bist du, Schulze, dazu da, mir ein Leben in einem sehr anständigen Viertel zu verschaffen, die stille, alte, renovierte Wohnung, das Auto, die guten Restaurants, wo ich bei Rotwein amüsante Geschichten erzähle, wie einer, der es nicht nötig hat. In dem Blick ist die kurze Reitpeitsche, mit der sein Urahn über den Gutshof ging. »Krischan!« – »Herr Graf!« Na, das wäre ja gelacht . . . Reizend zu Frauen. Ein bißchen Junge, scheinbar harmlos, so ganz anders als die schwarzen Geschäftsleute, mit denen Madame es sonst zu tun hat. Tanzt bezaubernd, macht etwas Sport, aber nicht den unbequemen, und immer hübsche Frauen um sich herum. Mit denen hat er eine Freude am Klatsch, die nicht alltäglich ist. Weiß reizende Médisancen zu sagen, sehr bösartige Sachen, aber immer mit dem frischen, offenen Gesicht eines großen Jungen, der nichts dafür kann. Ist verheiratet. Seiner Frau treu –? Auch. Fast immer. Man weiß nicht. Kann furchtbar lügen. Er will sich zu niemand herablassen, er tuts auch nicht. Daß es immer so aussieht, liegt daran, daß die andern sich den Rücken krummer machen, als er von Natur schon ist. Er handelt wie drei Getreidehändler – man nimmts ihm nicht übel. Er raucht so nett dabei. Er fordert, verlangt, paßt auf wie ein Luchs, wo sich etwas drehen läßt – wenn ihm die Forderungen der andern einmal über den Buckel wachsen, fährt er weg. Die Adligen haben im allgemeinen keinen Sinn für den Kommerz. Wenn sie ihn aber haben, dann gnade Gott. Weiße Juden. Mit seinen Freunden in den schönen Künsten steht er gut, sehr gut. Nähert er sich der bildenden Kunst, so wandeln sich die Bilder unter seinen Händen nicht, wie bei den Generaldirektoren, in bunte Aktien, die sie sich – Sachwerte plus Kultur – an die Wand hängen; er macht seine Geschäfte mit den Bildchen spielend, er kennt immer irgend eine Frau, die grade dieses Bild . . . wie? Schläft vielleicht mit ihr. Das Bild wird dadurch nicht billiger. Wenn er Musik macht, sagt er: »Mein Kollege Richard Strauß«, todernst, man denkt erst, er macht Spaß. Nein, wirklich: Kollege. Ich kann doch nichts dafür, daß ich adlig bin. N'en parlons pas. Ist sehr viel gereist. Immer so, wie wenn er inkognito wäre. Bitte, bitte, keine Umstände – wir wollen doch hier nicht . . . Aber dann nimmt er doch an. Kann sich gar nicht denken, daß er jemals unten liegt. Liegt auch fast nie unten. Die Not der Zeit . . . gewiß, ja doch. Aber das: sein Leben, Reisen, gute Behausung, Essen, die Weine – das muß so sein. Darüber spricht er nicht. Auch nicht über die kurze Spanne der Inflationszeit, über die er mit viel Tee nur sehr miekrig hinweggekommen ist. Nur: wenn es ihm dreckig geht, dann geht es ihm eben stilvoll dreckig. Es sieht netter aus als bei den andern. Gute Rasse bleibt gute Rasse. Und dann, wenn er wieder hochkommt, dieses kaum glaubhafte Geschick, aus seiner Tätigkeit die ihm zukommenden Prozente in Naturalien herauszuholen. Man weiß nie so genau . . . Hat der eigentlich Geld? Nein. Aber er hat die Adressen derer, die es haben. Früher, heißt ein altes Wort, hielten sich die Grafen Hausjuden, heute halten sich die Juden Hausgrafen. Es müssen nicht grade Juden sein – aber er sitzt gewissermaßen immer als Diener neben irgend einem Chauffeur, als Reisebegleiter, Kunsthändler, Bibliothekar und Ornament in einem. Er schmückt sehr. Einen Salon am meisten dann, wenn die Gruppen, Sandwichs essend, gelöst sind – bei Tisch ist es dann nicht mehr so sehr viel mit ihm. Liebt alles Leben hinter allen Kulissen; will zu den Intimen gehören und gehört ja auch dazu: passiert Absperrungen, weil er den Präsidenten kennt und die Diener ihn nicht aufzuhalten wagen, wartet niemals vor Schaltern sondern geht immer hintenherum. Er macht alles, was die Juden so unbeliebt macht – aber er macht es nett. Man kann ihm nicht böse sein. Seine Familie läßt ihn übrigens grade noch gelten; er ist ihr zu stark verjudet. Aber er verlangt nichts von ihr, er macht auch seinem Namen keine Schande. Mojn, Platen. Balzac hätte Sie längst eingefangen. · Kaspar Hauser Die Weltbühne, 04.02.1930, Nr. 6, S. 211.