Ein Deutschland-Buch Deutschland lobt sich immerzu selber, was für die Herren Lober zu allem andern auch noch ein gutes Geschäft bedeutet. Seit dem vorzüglichen, viel zu wenig gekannten Buch ›Deutschland heute‹ von Alfons Goldschmidt ist viel Druckerschwärze über die Seiten gelaufen – und der Deutsche läßt sich immer noch gern fotografieren. Nicht, wie er ist, sondern wie er sich sieht und wie er gern sein möchte: waffenstarrend und martialisch vor einem Hintergrund von Lafetten, brennenden Kathedralen und kartothekstarrenden Etappenschauplätzen – oder bierig-friedlich, der Rhein säuselt sanft dahin, das Bier wallet und ein Gesangverein singt: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten – mir ist so sinnig zu Sinn . . . « Jetzt aber ist etwas erschienen, das mit diesen lächerlichen Familienfotos nichts zu tun hat. Beinah nichts zu tun hat. Eugen Diesel ›Die deutsche Wandlung. Das Bild eines Volks‹ (erschienen bei der J. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart und Berlin, die leider in der Firma einen falschen Apostroph führt). Dieses Buch ist der beste Baedeker durch die deutsche Seele. Hervorzuheben ist zunächst der saubere Stil der ersten drei Viertel des Buches. Was heute in Deutschland Essays schreibt, hat sich eine Sprache beigebogen, die schnattert und stelzt, die plappert und schnalzt, und ganze Fachterminologien werden aufgeboten, um den Herrn Autor als einen in allen Fakultäten bewanderten Mann dastehen zu lassen, immer im Magnesium-Blitzlicht einer falschen Bildung. Sie können nicht mehr sagen: »Der Tisch ist rund«, das wäre zu einfach; sie haben nichts zu Ende gedacht, alles ertrinkt in einer tranigen Majonäse, aus der man nur das ranzige Öl herausschmecken kann. Nichts davon ist bei Diesel – fast nichts. Jeder Leser kennt das Gefühl, mit dem man ein neues Buch in die Hand nimmt: man beriecht es erst einmal. Ich habe dieses hier aufgeschlagen, und entgegen sprang mir ein Kapitel über die deutsche Sprache: so klar, so humorvoll, so sicher in seinen Vergleichen, voll so feinen Gefühls für die Sprachmelodie, die an der Muttersprache zu hören besonders schwierig ist, daß ich das Buch mit größter Aufmerksamkeit zu lesen begann. Man wird nicht so bald damit fertig. Das beste an diesem ›Bild eines Volks‹ ist sein Foto von gestern. Das ist unübertroffen. Wie das Land geworden ist und wie es noch ist; was an diesen Zuständen ewig und was zeitbedingt ist, das hat Diesel mit großem Wissen und in kristallner Klarheit herausgearbeitet. Er weiß, daß man erst dann pathetisch werden darf, wenn der Unterbau genügend gesichert ist, und er gibt die Basis. Er sieht das ›Deutsche‹ noch in Kleinigkeiten und grade in Kleinigkeiten, und da er viel gereist ist und Europa, soweit ich das beurteilen kann, gut kennt, so ergeben sich nun eben nicht jene Vergleiche, die zu gar nichts führen, sondern fruchtbare, belehrende, belichtende Vergleiche. Seine Schilderung ist gelassen. Nirgends erregt er sich; er behält einen kühlen und klaren Kopf, und so entstehen Schilderungen der deutschen Stämme, deren erbarmungslose Klarheit noch durch den gutmütigen Spott hindurchleuchtet, mit dem sich etwa Mitglieder einer Familie, die sich und ihre schwachen Stellen sehr genau kennen, zu necken pflegen. Aber es bleibt keinem etwas erspart. Auch Berlin nicht. Diese Insel wird in der ›Provinz‹, welches Wort man nicht mehr anwenden sollte, wild bekämpft. Meist so dumm, daß es jedem gewitzten Berliner mit Leichtigkeit möglich wäre, das selber viel besser zu machen. Wir wissen doch wenigstens Bescheid. Die Figur, auf die in München und Bremen geschossen wird, wenn Berlin gemeint ist, hat mit Berlin wenig zu tun: es ist eine Schießbudenfigur. Wie aber Diesel seine Bedenken gegen Berlin äußert, das läßt man sich gern gefallen. Er hat nämlich mit seiner kritischen Beschreibung recht. »So ist Berlin seine eigne Provinz, nicht die eigenwillige und führende Zusammenfassung der gesamtdeutschen Triebe.« Und: »Denn sein Wesen und Stolz besteht immer nur wieder darin, daß hier, um des Losseins willen, etwas los sei, gar nicht eigentlich im sensationellen Sinn, sondern im Sinn einer Beweglichkeit.« Man sollte diese richtige Bemerkung, die tief zielt, nicht mit dem albernen Hinweis: »Es wird doch aber in Berlin so viel gearbeitet«, abtun; diese Arbeit ist sehr häufig Flucht und Schwäche. »Auch die nicht abzuleugnende berliner ›Freiheit‹ ist eher eine Freibeweglichkeit, eine Freiheit des nicht ganz Ernstnehmens. Die bekannte berliner Selbstsicherheit hat also auch eine negative Abstammung.« Und: »An dem, was ihm mangelt, erkennt man, was andre Städte haben.« So ja. Diesel nimmt sich die einzelnen Stämme vor, und jeder wird kurz und erschöpfend und wohl immer richtig charakterisiert. »Die sächsische Sprache hat die fränkische Neigung, die Konsonanten zu erweichen, bis zur Eigenschaft dicken Schmieröles durchgeführt, aber auch die Vokale bubbeln darin umher, wie Luftblasen, die aus dem Öl langsam aufplatzen. Diese glitschende, gleitende, gemütelnde Lautmasse ist von sentimental-zudringlicher Melodie kitschig getragen. Das Charakterlose ist durch Übertreibung der Empfindelei verborgen. Gebaren, Bewegung, Haltung der Sachsen ist deutsche Formlosigkeit in der Vollendung, ist eine sonderbare Art von wohlmeinender Taktlosigkeit, als Folge von Chaotik, nicht von schnoddriger Seelenkühle, wie beim Berliner. Ein sächsischer Diktatorwürde im Reiche wegen seiner Mundart nicht ernst genommen werden können.« Man sieht: die Beschreibung ist kühl wie die in einem botanischen Lehrbuch; hier ist die Forderung Goethes rein erfüllt, daß der Forscher nicht sagen solle: »Das Eisen hat den Fehler, zu rosten«, sondern: »Das Eisen hat die Eigenschaft, zu rosten.« Dabei ist Diesel durchaus nicht ohne Temperament; er bleibt nur, wo er schildert, gelassen, und er macht sich die Wirkung niemals durch Geschrei kaputt. (Expertus scio.) An Schärfe läßt das Buch nichts zu wünschen übrig. »In Deutschland hat sich die Überzeugung von einer besonderen ernsten Manneswürde herausgebildet, die zuweilen auch der Frau gegenüber ausgespielt wird und sich auf Kosten der Ritterlichkeit nährt. Wenn der Deutsche sich große Vollbärte stehen läßt, so bedeuten sie etwas andres als die englisch-behaglichen, russisch-bärenhaften, französisch-eiteln Vollbärte. Sie sollen oft die Vorstellung von einer öffentlich getragenen Manneswürde erregen.« Man darf hinzusetzen: und sie sollen die Lippen verdecken. Man darf hinzusetzen: es gibt glattrasierte Leute mit Vollbärten. »Der Begriff der Ordnung ist hier ein Heiligtum, aber nicht der einer organischen Ordnung, sondern einer sachlichen Überordnung der Verhältnisse über den Menschen.« Den Satz sollten sich jene Herren hinter die Ohren schreiben, die den jeweiligen Kalender für die Bibel halten. »Ihr kennt nur das Deutschland von gestern«, sagen sie. »Das Deutschland von heute . . . « Ein Land ändert sich nicht. Es wandelt sich, es nimmt andre Formen an – Grundformen bleiben. Und diese Grundformen scheint mir Diesel gut erkannt zu haben. Das geht bis in die kleinsten Einzelheiten. Zum Beispiel in jene, die sich aus dieser schrecklichen und sakramentalen ›Ordnung‹ ergeben. Vom ›Krach‹: »Sehr dicht bei dieser Neigung zu Auseinandersetzungen steht die deutsche Belehrungssucht, das Beibringen von Meinungen. Es kommt vor, daß ein Oberstudienrat Ortsansässige darüber belehrt, daß an ihrer Gegend etwas nicht in Ordnung zu sein scheine, denn sie sei im Reisehandbuch anders geschildert. Zumal in Norddeutschland wird man auf Schritt und Tritt durch solche Belehrungssucht verletzt: ›Können Sie denn nicht lesen? Rechts gehen! Hinten antreten! Können Sie denn nicht aufpassen?‹ In Berlin, dessen Mundart den Frageton am Ende des Satzes anmaßend in die Höhe zieht, wirken diese Belehrungen beleidigend. Wer nach langer Zeit als Deutscher vom Ausland nach Deutschland zurückkehrt, wird mir nichts, dir nichts auf Bahnsteig und Behörde in die längst vergessene Neigung, Krach zu machen, mithineingezogen.« Aus dieser Stelle geht der Standpunkt Diesels klar hervor, der einzige, von dem aus ein Kulturkritiker ein Land überhaupt richtig zu sehen vermag: der von außen. Der Beobachter mag so tief im Lande stecken, so tief in dessen Leben verstrickt sein, wie er will: er muß so tun, als sei er ein Fremder. Das ist die Technik der ›Lettres Persanes‹ aller Zeiten. Und so ein Buch ist das von Diesel. Wer denn anders als einer, der draußen gewesen ist und von draußen kommt, könnte dieses sagen: »Der Urkitt der Deutschen ist das Hocken, ein gestalt- oder formloses Beieinandersitzen, gestaltlos trotz der höflichen Sitte, zu fragen, ob ein Stuhl frei sei. Die Stimmung hat etwas Brütendes.« Oder eine Bemerkung, die ins Herz trifft, eine über die Überschätzung der Bildung und der abgelegten Examina: »Grade die einfachsten Leute sind am allerempfindlichsten, wenn man solches Vorgehen kritisiert, und sie sparen sich das Nötigste vom Mund ab, um die Kinder in das Paradies des Wissens und des Faches zu schicken.« Und so hundertmal. Was an Charakteristiken fremder Nationen abfällt, ist meist so gut, daß man dem Wanderer durch viele Welten Urteilskraft auch über das eigne Volk zutraut. »In den deutschen Büros liegen die Papiere und Akten im Korb und auf dem Gestell wirklich als kleine anerkannte Welten für sich da und laden zur sitzenden Pflicht ein, während in New York einer mir nichts, dir nichts vom Schreibtisch die Beine herabbaumeln läßt, und in Italien sich alles leicht und flatternd gern wieder ins Freie ablöst. Der Deutsche bläst, außer in Österreich, nie leichtfertig den Dampf aus seinem Kessel ab, er läßt ihn immer durch die Maschine laufen . . . In der Gesamtbuchhaltung des Landes geht nichts verloren.« So scharfe und gute Erkenntnisse verdichten sich dann bei Diesel zu Fundamentalwahrheiten. »Es besteht ein Mißverhältnis zwischen dem Zustand der Dinge und dem Zustand der Menschen, zwischen dem Arbeitsaufwand und dem Arbeitsergebnis. Man sollte mehr Wohlstand und heitere Menschlichkeit erwarten dürfen.« Und, auf einen Wandteller zu malen –: »Nachdem sehr viele Deutsche neunzehn oder fünfundzwanzig oder dreißig Jahre alt geworden sind, ehe sie die Schule oder Vorbereitung in irgend einer Form abgetan haben, beginnen sie ins ›Leben‹ hinauszutreten, das aber zum großen Teile inzwischen, fast unvermerkt, abgelaufen ist.« Und, auf viele Wandteller zu malen: »Indessen sind doch die Deutschen und die Juden durch Geist, Begabung, Schicksal merkwürdig verwandt, ja, sie stehen in einem ähnlichen Sinne unter der kritischen Beobachtung der Welt.« Und wissen meist beide nicht, warum es so ist. Das sollte unsereiner mal sagen! Nichts ist so bezeichnend für die völlige Instinktlosigkeit der Deutschland-Lober als die Art, wie die Kritik dieses Buch aufgenommen hat. Diesel ist kein Satiriker; seine erbarmungslosen Wahrheiten werden geruhig vorgetragen, und Kerle, die das Wort ›deutsch‹ gar nicht mehr aussprechen können, ohne die Bälge einer unsichtbaren Orgel zu treten, fallen brav auf den Ton des Buches herein; sie hören nur den Ton. Diesel wird nun besonders im zweiten Teil des Werkes mitunter leicht feierlich – das genügt den Hohepriestern des Fahnentuches, den Mann als einen Patrioten willkommen zu heißen. Der darf kritisieren. Nun, er hat einen Teil Deutschlands gut erkannt und noch besser beschrieben. Merkwürdig berührt seine Blindheit in dem, was die wirtschaftlichen Gründe des deutschen Wesens angeht – nicht alle Motive des deutschen Verhaltens liegen in der Rasse und ihrer Geschichte, nicht alle sind durch die Landschaft bedingt. An dieser Stelle ist immer wieder davor gewarnt worden, jene marxistische Mode mitzumachen, die alles, aber auch alles, was da zwischen Himmel und Erde vor sich geht, als die natürliche und klare Folge wirtschaftlicher Umstände erklärt. So sieht die Welt nicht aus. Aber so, wie Diesel das macht, gehts nun auch nicht. Es ist ja gut und schön, die Seele eines Volkes aufzuzeigen – denn jedes hat eine. Aber immerhin darf man nun nicht so tun, als sei die grade bestehende Gesellschaftsordnung das A und das O und die einzig mögliche; manchmal ist man bei der Lektüre des Dieselschen Buches versucht, dazwischenzurufen: »Hundert Mark Gehalt mehr, und die Sache sähe ganz anders aus.« Von den Löhnen ist nun leider sehr wenig in diesem Buch zu lesen. Das ist sicherlich keine böse Absicht; Diesel hat entweder zu schwerem Schaden seiner Arbeit in diesem Zusammenhang die wirtschaftlichen Verknüpfungen nicht zeigen wollen, oder er ist, was schlimmer wäre, so in der Welt der Unternehmer gefangen, aus der er ja wohl stammt, daß er nicht anders denken kann als sie. Das wäre fatal. Der Wahnsinn gewisser, meist von Arbeitgebern aufgemalter Protz-Prospekte wird an einer nebensächlichen Stelle recht deutlich. »Die siebenhunderttausend Güterwagen, auf neunzig Deutsche einer . . . « Ach, Herr Diesel! Ich kenne viele, viele hundert Menschen, aber Sie glauben nicht, wie wenig darunter sind, die einen Güterwagen, die den Wert eines Güterwagens besitzen. Ich weiß schon, was Sie haben sagen wollen – aber ich weiß auch, was ich sagen will: daß es nämlich mitnichten, wie die Herren Industriellen glauben und für viel Geld predigen lassen, darauf ankommt, daß auf neunzig Deutsche ein Güterwagen komme und daß wir statt neunzig Deutsche hundertundzehn werden – sondern daß es darauf ankommt, die vorhandenen Gütermengen vernünftig und den erzeugten Arbeitswerten gemäß zu verteilen. Der größte Teil des londoner Immobilienbesitzes gehört einigen Familien. Und wie sieht die Güterverteilung in der übrigen kapitalistischen Wirtschaft aus? Hier ist das eine Manko des Buches. Das andre liegt darin, daß es oft in denselben Fehler verfällt, den es am Deutschen so scharf rügt: es stellt das Land und seine Bewohner in eine Ausnahme-Position. »Nur in Deutschland gibt es Weidwerk, gibt es das, was der Deutsche als Jägerei ansieht.« Der Nachsatz hebt den Vordersatz und damit diese ganze Anschauung auf: natürlich können die Mexikaner nicht so jagen, wie es der Deutsche zu tun gewohnt ist. Mit solchen Lyrismen ist überhaupt nichts ausgesagt. Nur in England gibt es eine Teestunde, das, was der Engländer unter ›eine Teestunde‹ versteht . . . nur in Frankreich.. – nur in Rußland . . . Und aus solchem die Anschauung verengenden Nationalismus entspringen dann Stellen wie diese: »Jetzt ist Deutschland, je nachdem, die Sprengmine oder auch die Rettung Europas.« Und: »Der geschichtliche Augenblick, in dem wir uns befinden, dies seltsame Abenteuer, womit eine ganz neue Zeit beginnt, das alles schließt aus, daß wir in einem Entwicklungszustande stehen bleiben, wie Frankreich und England ihn darstellen. Wir greifen also über die Erstarrung der alten Gebilde hinaus in etwas unbehaglich Neues . . . « Und, ganz konsequent in diesem Irrtum: »Deutschland hat die Aufgabe, aus menschlicher und europäischer Gesinnung heraus den Bann zu lösen, der Europa lähmt, den zu lösen die andern aus ihrer Lage heraus unfähig zu sein scheinen.« Das ist Ressentiment, damit kann man nichts anfangen. Es ist wohl kein Zufall, daß in diesem zweiten Teil des Buches, dessen Verblasenheit seltsam an den schlechten Schriftsteller Rathenau gemahnt, oft das Modewort ›menschlich‹ verwandt wird, das ja überhaupt nichts mehr bedeutet und das nur das Loch im Denken des Autors anzeigt. Sind die Deutschen dazu berufen, die Welt zu erretten? »Während des Krieges hörte man öfters den Ausspruch: ›Na, in dem oder jenem Lande werden wir schon Ordnung schaffen!‹ Der Deutsche begreift nicht, daß man nicht in der ganzen Welt seine Art von Ordnung wünscht, die er für die Ordnung an sich hält.« Und dieser Ausspruch stammt von Diesel. Er befolgt ihn nicht. Diesel ist ein anständiger Mann: er will zwar helfen, doch verspricht er nicht auf allgemeinen Wunsch der Leserschaft fix und fertige Lösungen, er preist keine Patentrezepte an, eine Versuchung, der so viele Autoren unterliegen, weil sie die suchenden, die sehnenden, die ratlosen und die fragenden Blicke, die auf sie gerichtet sind, nicht ertragen können . . . Diesel bleibt standhaft und bleibt sauber. Aber er denkt nicht sauber. Mit den Schlußkapiteln seiner Arbeit kann niemand etwas beginnen; das ist Deutschland, wo es am dunkelsten ist – nein, wo es immer finsterer wird; das ist da, wo jener uralte, nun neudeutsche Idealismus beginnt; wo ›Proppleme‹ auftauchen, die man nie anders schreiben sollte als so; wo entweder gewitzte Unternehmer so lange meditieren und meditieren lassen, bis – Gott ist groß! – als Resultat just die Notwendigkeit der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft herauskommt, oder wo verschwommene, gefühlsmäßige, unziselierte, nicht durch das Feuer des Denkprozesses gegangene Philosopheme erscheinen: wie hier bei Diesel. Das Buch gibt gute Diagnosen. Es gibt gar keine Therapie. Es irrt nicht nur manchmal im einzelnen, wie bei dem völlig unzulänglichen Kapitel über die Reichswehr, wo von der seltsamen Verteilung der verstreuten Kompanien über das Land wohl gehandelt, kein Wort aber davon gesagt wird, warum das so ist und daß dieser Verteilung ein Plan zugrunde liegt. Das Buch läßt einen trotz der vorzüglichen Naturgeschichte des Deutschen ratlos zurück. Und was nun? Und was nun? Not tut Klarheit. Not tut Selbsterkenntnis –: Selbsterkenntnis der Berufe, die auf dem besten Wege sind, sich heilig zu sprechen, und Selbsterkenntnis des einzelnen, der, durch Kino, Sport, weltanschauliche Klubs in der Jugendbewegung der Bünde und in der Greisenbewegung des Parlamentarismus, aus diesem Leben flüchtet. Die deutsche Philosophie ist fast immer Flucht. Die Leute wollen die harte, die unbequeme Wahrheit nicht hören – sie nehmen sie dem Sager übel. Die Unternehmer nehmen sie übel, weil sie eine Sicherheit schwinden fühlen, die längst nicht mehr vorhanden ist – so gewaltsam trumpft nur auf, wer den Boden unter sich wanken fühlt wie diese verkleideten Faschisten; die Angestellten, weil sie, Herr für Herr und Fräulein für Fräulein, ihr Schicksal wenigstens für ihre Person zu lösen glauben, wenn sie sich mit dem Chef gut stellen, wenn sie abends einen Smoking anziehen und wenn sie Sonnenblumen am Siedlungshäuschen ziehen. So gehts nicht. Es fehlt uns die Röntgen-Fotografie des Volkes, wie es heute ist. Die deutsche Wandlung? Flaubert notierte im ›Bouvard und Pécuchet‹ als Prototyp eines Gemeinplatzes: »Unsere Zeit ist eine Übergangszeit.« Alle Zeiten sind das. Wenn der Deutsche sich selber einmal klar erkennt: seine wirtschaftliche und seine seelische Lage, wenn er die innere und die äußere Revolution wirklich will und damit etwa die Hälfte von dem, was er ist, zu überwinden trachtet: dann und nur dann kann er, dem von außen nicht geholfen werden kann, sich selber helfen. · Ignaz Wrobel Die Weltbühne, 23.09.1930, Nr. 39, S. 481.