»Eins – zwei – drei – hopp!« Der dicke Mann erzählt: »Der Wille, so habe ich gelernt, regiert die Ratio. Der Trieb herrscht, er ist primär – erst nachher wird er rationalisiert; man ›macht sich etwas vor‹ – erst sich, dann den andern, dann wieder sich. Und dann habe ich gelernt, es solle das mit dem Ablauf der Gedanken und mit den Träumen gar so rasch gehen . . . Sie kennen das Experiment mit der Pistole, die man am Ohr eines Schlafenden abfeuerte – er träumte einen ganzen Wallace-Roman mit Falltüren, mit Syndetikon gefolterte Heldinnen schrien auf, falsche Detektive, die eigentlich richtig, also falsch, daher richtig waren . . . und zum Schluß nahte der Retter und schoß durch die Tür. Das war jener Pistolenschuß gewesen. Dann wachte der Mann auf. Das habe ich alles gelernt. Und jetzt habe ich die Probe aufs Exempel gemacht. Der Doktor Hartenstein, ein Bayer, aber ein netter Mann – – (›Oho!‹ – ›Zur Geschäftsordnung!‹ – ›Saupreiß!‹ – Glocke des Präsidenten) – der Doktor Hartenstein hat mir verordnet, etwas gegen meinen dicken Bauch zu tun. Wissen Sie, mein Bauch – folgt eine halbseitige Abhandlung über Bäuche in der Liebe; von der Redaktion gestrichen – . . . also jeden Morgen zu turnen. Wird gemacht. Was der Mensch so braucht: 50 (in Worten: fünfzig) Kniebeugen, Seilspringen, Dauerlauf durch den Garten, Keulenschwingen und ›Kerze‹ und dergleichen. Gut. Nun, damit die Sache leichter wird, habe ich mir angewöhnt, bei jeder Übung eine bestimmte Zahl Griffe zu kloppen – fünfundzwanzig hiervon und dreißig davon, und im stillen zähle ich dann immer mit. Und dabei hat sich etwas Seltsames ereignet. Manchmal laufen während des Zählens die Gedanken über das Spalier der Assoziationen – wie die Affen. 17 . . . 18 . . . 19 . . . Grete nicht geschrieben, weil sie anscheinend böse ist, was lächerlich ist . . . denn Alfred hat ihr gar nichts von Elly gesagt . . . 20 . . . 21 . . . Pute, alberne . . . 22 . . . 23 . . . 24 . . . Pute . . . 25 . . . – und plötzlich höre ich auf. Was – was um alles in der Welt – habe ich zwischen 17 und 25 alles gedacht! Es war viel mehr, als ich hier aufgeschrieben habe – denn man denkt ja oft wie polyphon, die Hintergründe mit, eine ganz kleine Geschichte habe ich da zusammengedacht. In höchstens sechs Sekunden – länger kann das nicht gewesen sein . . . Und am nächsten Morgen wieder . . . und wieder . . . und immer wieder. Und liefen die Gedanken während den Übungen davon, dann geschah noch etwas andres. Ich mogelte, 49 . . . 50 – – na? Das kann doch noch nicht zu Ende sein? Sonst immer außer Atem und heute so quick? Es war gar nicht 50. Ich hatte an Rudolfchen gedacht, über den ich mich ärgern mußte, weil er geschrieben hat, alle Religionen seien Ammenmärchen . . . und bei dieser Gelegenheit hat das Zählwerk zehn Griffe übersprungen. Zufall? Ich begann darauf zu achten. Und ertappte den Mechanismus vielleicht an acht verschiedenen Tagen immer bei demselben Kunstgriff: während ich kniebeugte oder durch das Seilchen sprang, setzte das Zahnrad an der falschen Stelle aus, und ich ließ fünf, acht, zwölf, zwanzig Übungen aus – immer irrte sich der Apparat zugunsten des dicken Leibes – niemals zu seinen Ungunsten. Es gibt einen alten Volksschwank aus dem Braunschweigischen, in dem ein Mann, der Torf verkauft, mit den Frauen morgens ein Schwätzchen vor der Tür macht. Und während er die Torfstücke in den Korb zählt, steht sein Mund keinen Augenblick still. Das geht so – ich gebe es hochdeutsch: ›Ja, ein schöner Herbst, dieses Jahr . . . 2 . . . 3 . . . 4 . . . wie gehts denn Ihrem kleinen Willichen? . . . 5 . . . 6 . . . wie alt ist er jetzt? Elf Jahre? . . . 11 . . . 12 . . . 13 . . . und Ihre Älteste? Zwanzig. Sehn Sie mal an . . . 20 . . . 21 . . . 22 . . . Ja, die Butter ist auch wieder teurer geworden . . . Eins fünfundzwanzig . . . 25 . . . 26 . . . 27 . . . ‹ und so fort. Genau so machte es das Turnzählwerk, um die Faulheit zu stärken und zu retten, was zu retten war. Es raste und es mogelte. Ob es das wohl bei allen Leuten tut –? Und da sind sie so stolz auf ihre Vernunft und tun sich so viel darauf zugute, und das allermerkwürdigste ist: sie werden so furchtbar böse, wenn man aufzeigt, wie es bei ihnen innen funktioniert. Das mögen sie aber gar nicht. Als ein Schüler Freuds einmal in Amerika einen Vortrag hielt und darin sagte, alle Menschen seien im Traum egoistisch und monoman, da stand in der Diskussion eine feine Dame – vielleicht aus Boston – auf und sprach: ›Das mag ja vielleicht für Österreich zutreffen. Bei uns in Amerika lieben wir auch im Traum unsern Nächsten!‹ Was etwa auf den Satz hinausläuft: ›Was fällt Ihnen ein! Mein Fräulein Braut hat keine Milz!‹ Wir lächeln über die kleine Eitelkeit der Kranken, die im Wartezimmer einander zutuscheln: ›Der Doktor hat gesagt, so einen Plattfuß wie meinen Plattfuß hat er überhaupt noch nie gesehen –‹, denn der Mensch ist ein stolzes Wesen. Aber wenn es ins Seelische geht, dann wollen sie alle zusammen nicht wahr haben, daß es etwas gibt, das da durch alle Seelen geht, ohne sie nun gleich zu Serienartikeln zu machen; etwas Grundlegendes, etwas allen Gemeinsames, etwas dem Menschen Anhaftendes. Sie möchten so gern Individuen sein. Zur Masse gehört immer einer mehr, als jeder glaubt.« – So erzählte der dicke Mann. · Peter Panter Vossische Zeitung, 06.10.1929, Nr. 234.