Die Anstalt Betritt Revision die Zellen (Aufsichtsbehörde Vorsteher, Inspektoren, Geistliche, der Anstaltsarzt und so weiter), so erhebt sich der Gefangene, bleibt vor seinem Arbeitsplatz stehen und erwartet, das Gesicht nach der Tür zugekehrt, den Besuch. Bei nächtlicher Revision unterbleibt dies. Aus der Hausordnung einer preußischen Strafanstalt Die Soziologie definiert seit ihrem Bestehen ununterbrochen sich selbst. Man sollte denken, es gebe nichts Interessanteres als soziologische Bücher und Zeitschriften: es gibt nichts Langweiligeres. Da ist zu lesen: was Soziologie ist; was sie nicht ist; was sie sein soll; was sie sein sollte; inwiefern sie überhaupt sein muß; ihr Verhältnis zur Religionsphilosophie . . . es ist ein müßiges Gesellschaftsspiel von solchen, die unter Gesetze fallen, die sie leider nicht aufgestellt haben: unter Gruppengesetze. Wenn sie noch Material anhäuften! Aber selbst mit dem ist es hier nicht getan. Die Herren vergessen, daß eine Wissenschaft noch niemals ohne Intuition weitergekommen ist. Sie publizieren: ›Die Massenbewegungen seit den Alexandrinern‹ und lassen außer acht, sich selber einzubeziehen – denn ›Masse‹ ist für sie etwas Verächtliches, etwas von der Straße . . . Die soll hier nicht untersucht werden. Hingegen ist die Gruppe etwas, dem wir alle in wechselnden Formen angehören. Ansätze zur Psychologie der Massen sind da. Es gibt keine brauchbare Untersuchung über Gruppengesetze. Ich unternehme hier den Versuch, eine ganz bestimmte Gruppe in ihren Funktionen bloßzulegen: die Anstalt. Ich verstehe darunter öffentliche oder private örtliche Komplexe, in denen Menschen zwangsweise oder freiwillig zu einem bestimmten Zweck unter Aufsicht zusammenleben. (Beispiele: Strafanstalten, Fürsorgeanstalten, Arbeitshäuser, Waisenhäuser, Altersheime undsofort.) Jede dieser Anstalten hat ihre eigne Prägung, abhängig vom Landstrich, von der sozialen Stufe der Insassen, von der wirtschaftlichen Lage der Unterhalter und der Unterhaltenen. Doch lassen sich Gesetze aufstellen, denen alle Anstalten unterliegen, und eben dies scheint mir Soziologie zu sein. Diese Darlegungen sind nun nicht etwa von einem Einzelfall abgezogen; sie sind keineswegs induktiv sondern fast ausnahmslos intuitiv. Für die induktive Methode müßte man eine Erfahrung haben, die ein einzelner Mensch wohl niemals aufweisen kann: ein solcher Forscher müßte jahrelang abwechselnd als Leitender und als Insasse solcher Anstalten gelebt und gearbeitet haben, ein Fall, der kaum denkbar ist. Hier versagen auch Statistiken, Theoreme, die faden Leitsätze, deren Resultat vorher im Gefühl feststeht (Spiele, von denen es in der Soziologie wimmelt – sie ist fast immer zweckhaft: sie will etwas . . . ), hier sind wir nur auf die Eingebung angewiesen. So gewiß es ein schwerer Denkfehler vieler Kommunisten ist, anzunehmen, nur sie fielen nicht unter Gruppengesetze, so gewiß hat die bürgerliche Soziologie einen ebenso schweren Fehler: diese soziologischen Untersuchungen werden von Vertretern der herrschenden Klasse angestellt, es fehlt also das Gegengewicht. Die heute in Europa so moderne Freude an den ›neuen Bindungen‹ wird stets von den Bindenden, niemals von den Gebundenen gepredigt. Die Anstalt dient einem Zweck: Menschen sollen in ihr aufbewahrt, gebessert, geheilt, erzogen, zur Arbeit angeleitet werden. Jedes Anstaltsleben dient neben diesem plakatierten Zweck einem Selbstzweck: es hat sich selbständig gemacht, denn stets wachsen dem Menschen seine Zwecke über den Kopf. Daß die Anstalt durch ihr Wirken einen Zweck erfüllen soll, vergessen sämtliche Beteiligten leicht – bei der Gründung sowie bei Festsetzung der Hausordnung wird auf diesen Zweck der Anstalt noch Bezug genommen. Die Menschen, die ständig in einer Anstalt leben und arbeiten, sind in zwei Gruppen zu teilen: in die Leidenden und in die Leitenden. Die Leitenden kommen, abgesehen von der Neugründung, in die sie ihre Routine mitbringen können, einzeln in die bestehende Anstalt, werden ihr zugeteilt, hineingewählt, an sie versetzt . . . sie finden also ein fertiges Gebilde vor. Dieses Ganze läßt sich beeinflussen, aber schwer. Dazu gehört ein Unmaß von Energie und Zeit: der Reibungswiderstand eines den Anstalten immanenten Trägheitsgesetzes läßt gewöhnlich alle Änderungsversuche zunächst einmal zu Schanden werden: sie müssen oft wiederholt werden. Verschlechterungen lassen sich sofort durchführen; Reformen, mit denen ein Plus an Erdulden der Leidenden verbunden ist, immer; solche, mit denen mehr Arbeit der Tätigen verknüpft ist, schon schwieriger. Die Tätigen zerfallen in das Ober- und das Unterpersonal. Eine Anstaltsleitung ist ohne echte Verantwortung. Sieht man von schweren kriminellen Taten ab, die auch ein einzelnes Individuum belasten würden, so kann gesagt werden, daß Gesetzgebung und Volksanschauung in einer solchen ›Leitung‹ etwas Überlegenes schlechthin sehen, dem nur sehr schwer beizukommen ist. Der Leiter kann fallen: über die Mißgunst der Verhältnisse; über seine Unbeliebtheit bei der Zentrale; über Kunstfehler im Betrieb, dies aber nur dann, wenn seine Feinde sie sich zunutze machen. Man fällt nicht über Fehler – man fällt über ausgenutzte Fehler. Eine Zentralstelle, der mehrere solcher Anstalten unterstehen, kann unmöglich in jede hineinkriechen und ist gezwungen, sich mit oft vorher angekündigten Besichtigungen oder den Berichten zu begnügen, die die Anstaltsleitung ihr zuführt. Sie weiß demnach meist nicht genau, was im einzelnen wirklich in der Anstalt geschieht, und sie wird bei Unglücksfällen, bei Beschwerden und andern ärgerlichen Vorkommnissen, die von ihr zunächst als Störung des Dienstbetriebs aufgefaßt werden, nur sehr selten eingreifen. Denn: In der Zentrale sitzen in der Regel, wenn man von den anscheinend für alle Positionen tauglichen Juristen absieht, frühere Anstaltsdirektoren, die mit ihren Kollegen auf Grund jenes innern Verwandtschaftsgesetzes sympathisieren, das jede Gruppe aus einer Zweck-Einheit zu einer Seelen-Einheit zusammenschmelzen läßt. Die Überlegenheit eines in die Zentrale versetzten ehemaligen Anstaltsleiters wird sich wohl im Dienstverkehr zwischen Zentrale und Anstalten auswirken – niemals aber, wenn Dritte im Spiel sind. Jede Beschwerde ›nach oben‹ hat zunächst die sehr große Widerstandsschwelle zu überwinden, die aus Kollegialität, Faulheit und einem Gefühl zusammengesetzt ist, das die einzelnen Anstaltsleiter noch mehr beseelt als die Zentrale: dem Gefühl für die Aufrechterhaltung der Autorität. Ist die Beschwerde so stark, daß sie das alles überwindet, dann dringt sie durch. Auf nichts ist der Anstaltsleiter so erpicht wie auf die Ausdehnung seines Betriebes. Er verträgt alles: Kritik, die ihm ja meist nicht viel anhaben kann. Kontrollen, Revisionen, Besichtigungen – nur eines verträgt er nicht, daß man ihm die Anzahl der von ihm beherrschten Menschen oder Sachen mindert. Hier ist sein schwacher Punkt. Sei es, daß man ihm eine Kompanie Soldaten fortnimmt, ein Außendienst-Kommando Strafgefangener, einen Krankenhausflügel – das ist wie ein kleiner Tod. Schlimmer: wie eine Niederlage bei der Liebeswerbung. Noch schlimmer: wie ein Geldverlust. Minderung sozialer Macht und somit sozialen Machtgefühls verwindet kaum einer. Der Leiter, der neu in eine Anstalt eintritt, will den Leidenden zunächst wohl. Auf seine Weise: auch der Strenge will den ihm Unterworfenen wohl, der sogar ganz besonders; fast immer glaubt er es. Der erste Gedanke eines neuen Leiters, sein Grundgefühl für alles, was er in bezug auf die Anstalt denkt und anordnet, ist: Die Schweinerei hört jetzt auf. Jeder neueintretende Leiter ist davon überzeugt, einen Saustall zu übernehmen, in dem er Ordnung machen müsse; auch braucht er diese Vorstellung zur Hebung seines Ichs sowie als Antrieb für seine nicht immer gut bezahlte Arbeit. Jede Arbeit, die ein Mensch tut, schafft sich ihre kleine Religion: auch der Henker hat die seine. Die Reformen eines neuen Leiters bewegen sich gewöhnlich in zwei Richtungen: Er legt den Leidenden neue Lasten auf – Beispiel: Neueinführung einer Revision morgens und abends um sieben Uhr – und er verschafft den Unterworfenen neue Scheinrechte, die die meist gar nicht haben wollen. Denn diese neuen Vergünstigungen sind fast ausnahmslos mit neuer Arbeit verbunden. Daran denkt der Leiter nicht. Er denkt überhaupt fast niemals daran, daß er hier lebende Menschen vor sich hat, wie er einer ist. Alle Herrscher halten ihre Beherrschten für eine andere Rasse. Der Leiter ist selten das, was man einen ›Unmenschen‹ nennt; nur sieht er in den Leidenden lediglich ›Material‹, Nummern, Baukastensteine einer Ordnung, die zunächst visionär in seinem Kopf vorhanden oder schon im Anstaltsleben mehr oder minder ausgebaut ist. Die Steine sind für ihn nur dazu da, die Ansprüche dieser Ordnung zu erfüllen. Mit welchen Opfern das geschieht, mit welchem Aufwand an Zeit, Mühe, Ärger, Unterwerfung: das bewegt ihn deshalb nicht, weil er das gar nicht spürt. Niemals überlegt sich ein Leitender, wie denn nun zum Schluß, nach Festsetzung aller Reglements, das Leben der von ihm Beherrschten aussieht, die alle seine Anordnungen wirklich ausführen. Der Leiter hält strikt auf die Pflicht der Leidenden, die sie der Anstalt schulden: zu arbeiten, gesund zu werden, krank zu bleiben . . . Der Leiter will für alle. Geht er durch die Anstalt, so fühlt er sich, besonders anfangs, wie vor einem Coitus: die innere Sekretion ist vermehrt, er ist doppelt Mann denn zuvor, er schwillt auf – (die Sprache sagt hier sehr gut: »er kommt sich vor«) – und das alles auch dann, wenn er gar nicht zum Hochmut neigt. Dies ist auch kein Hochmut – es ist ein soziologischer Vorgang, dem alle Menschen unterliegen. Hinzukommt das, was Nietzsche, besonders für dieses Jahrhundert, »der Mensch als Schauspieler« genannt hat – der ehemalige deutsche Kaiser ist dafür ein gutes Beispiel gewesen. Der Leiter tut seine Arbeit geschminkt. Er tritt vor dem Untergebenen und dem Leidenden auf, er bewegt sich wie auf einer Bühne, er fühlt aller Augen auf sich gerichtet; so spricht er sonst nicht, wie er hier spricht, so geht er sonst nicht – es sind winzige Nuancen, aber immer deutlich erkennbar. Auch Mißfallen, das sich ja nicht laut äußern kann, ist ihm Beifall, weil Wirkung. Der Leiter will am liebsten, um mit Jung zu sprechen, »eine einsame Insel, wo sich nur das bewegt, dem man sich zu bewegen erlaubt«. Er ruft: »Was liegt da für ein Papier!«, und es ist nicht so sehr die Unordnung, die ihn bewegt, wie die Undiszipliniertheit des Papiers, das schon ganz leicht revoltiert. Es ist ein Fremdes, und das Fremde ist hier Revolution. Daher die Neigung aller Anstaltsleiter, ihre Anstalt möglichst scharf gegen die Außenwelt abzuschließen. Der Leiter stößt in seiner Arbeit auf zwei große Widerstände. Der eine ist die Indolenz seines Unterpersonals. Kein Leiter kann mit seinem Personal ganz zufrieden sein, weil es niemals so viel Machttrieb für das Ganze mitbringt wie er. Also läßt es oft in der Arbeit nach, was ihn aufbringt und ihn, ist er nicht sehr energisch, niederdrückt. Im Grunde ist für ihn der Unterschied zwischen den Leidenden und jenen Leitenden, die er beherrscht, nicht sehr groß; beide sind seiner Macht unterworfen, nur nach verschiednen Graden – und so behandelt er sie auch beide. Der zweite Widerstand ist der der Leidenden selbst – den kann er brechen. Im Augenblick, wo die Leidenden sich gegen seine Helfer auflehnen, nimmt er Partei für das Personal, auch dann, wenn es unrecht hat. Er tut das, wie er glaubt, ›aus Gründen der Disziplin‹ in Wahrheit tut er es, weil er seinen eigenen Machtwillen im kleinen Machtwillen der Helfer durch die Leidenden beleidigt sieht. In den meisten Fällen wird der Anstaltsleiter nicht imstande sein, die kleine Alltagsarbeit allein zu leisten. Für diese untergeordneten Dinge (Listenführung und so fort) hält er sich eine besondere, mit ihm auch örtlich zusammenarbeitende Hilfe. Diese Hilfe wächst in ihrem Ressort fast jedem Leiter über den Kopf, selten über den Willen, immer über den Betrieb. Ob das ein Feldwebel, ein Sekretär oder eine sogenannte Oberschwester ist –: stets hängt von diesem Unterwillen die Färbung der Ausführung des Oberwillens ab, hängen ab die winzigen oder auch starken Nuancen, die dem Leidenden seinen ganzen Tag vergällen oder versüßen können. Auf diese Dinge ist der Herr fast ohne Einfluß: trägt man ihm solches vor, so schüttelt er ungläubig und verächtlich den Kopf: Jupiter, den eine Laus mit ihren Sorgen behelligt. Dieser Helfer hat gewöhnlich alle Eigenschaften eines guten Wachhundes: treu, bissig, verfressen und laut um jeden Quark. Die Autorität des Herrn ist die seine, er selbst die Karikatur des Alten, dem er sich auch in Äußerlichkeiten im Lauf der Jahre langsam assimiliert. Selten mit Geld bestechlich, obgleich auch das natürlich überall da vorkommt, wo sein Gehalt unzureichend ist und die Leidenden im Besitz größerer Geldmittel sind; fast immer bestechlich durch kriechende Servilität (der der Herr nicht immer erliegt), sieht der Helfer in demütiger Unterordnung der Leidenden die anbetende Anerkennung des Systems. Herr und Helfer kumulieren alle Ehrerbietung, die die Leidenden, notgedrungen oder ehrlichen Herzens, dem System darbringen, auf ihre eigene Person. Jene opfern einer Sache, die Götter werden fett. Fast niemals quält der Leiter die Seinen bewußt; es kommt vor: es sind krankhafte Fälle, die in der Übertreibung nur zeigen, was im Keim der Gesunden steckt. Der Herr quält: um einer von ihm ausgedachten ›Ordnung‹ willen, die manchmal die wahre Ordnung ist, es aber nicht zu sein braucht; um vor sich selber die nötige Achtung zu haben; aus Langeweile; immer, wenn sein Widerspruch gereizt wird und seine Autorität auf dem Spiel steht. Solche Widerstände bricht er mit einem viel größeren Aufwand an Kraft, als nötig wäre, um sie zu brechen. Das Unterpersonal tut in den meisten Fällen seinen Dienst zunächst indifferent. Sieht man hier von religiösen Hemmungen ab, die merkwürdige Korrelate im weiblichen Sadismus, zum Beispiel bei Krankenschwestern, haben, so bleibt im allgemeinen etwas, was man als ›brummig-gleichgültig‹ bezeichnen kann, wenn persönliches Temperament dem Dienst nicht eine andere Note gibt. Die verschwindet, wenn es oben donnert. Die enge, tägliche Berührung des Personals mit den Leidenden stellt einen gewissen Kontakt her; in Strafanstalten verstehen sich die beiden Schichten wohl nur auf der untersten Stufe menschlichen Verkehrs: in Zoten und in Abortnähe. Es gibt Angehörige des Personals, die in ihrer Person – dem Herrn nacheifernd – das ganze System repräsentiert sehen und geehrt wissen wollen: solche Menschen haben stets Reibereien mit den Leidenden. Sind jene, was mit ihrem Helferstolz durchaus vereinbar ist, gleichzeitig gutmütig, so werden grade diese bei Konflikten nicht immer von der Leitung gedeckt. Es geht demnach durch die Gänge einer Anstalt als treibendes Motiv: versachlichte Eitelkeit. Daß mit diesem Getriebe auch ein Zweck erreicht wird oder erreicht werden soll, ist im Alltag des Anstaltslebens ein völlig nebensächlicher Faktor. Manchmal sagt so ein Lungensanatoriums-Diktator: »Na, da sind Sie nun also gesund geworden!« – aber das hat wenig Färbung: die Heilung ist etatsmäßig, wie der Tod. Das Leben des Unterpersonals gleicht, wenn es sich in der Anstalt abspielt, dem Leben der Leidenden, nur ist es um einige Grade freier – diese Leute sind sozusagen nicht mehr, und sie sind noch nicht . . . Sie empfinden, wenn sie den niederen Schichten angehören, diese Stellung nicht als ambivalent: so ein Mensch ist durchaus imstande, vor dem Leidenden den Leiter und vor dem Leiter den Leidenden – nicht zu markieren; er ist jedesmal wirklich ein andrer. Gewöhnlich sind die Angehörigen des Personals mit dem Anstaltsleben sehr eng verwachsen; sie hüten die Traditionen, besonders die schlechten – (»Das haben wir hier immer so gemacht« ist ein Satz ihres Glaubensbekenntnisses), sie wachen ängstlich über ihre kleinen Vorrechte und Vergünstigungen und hegen im allgemeinen eine ziemlich starke Verachtung für die Leidenden. Sie haben Respekt vor dem Leiter, wenn der sie schlecht genug behandelt – und es ist ein mit Liebe gemischter Respekt: ist doch jener die Quelle ihrer kleinen Autorität, des tiefen Kerns ihres Lebens. Das Leiden der Anstalts-Leidenden besteht hierin: Ihr privates Leben ist zusammengeschrumpft. Sie haben entweder so gut wie gar keines (Strafgefangene) oder ein zu beengtes – und hier und nur hier liegt der tiefe Grund der Verzweiflung dieser Leute. Die Anstalt frißt sie auf. Zunächst ist da die Zeiteinteilung. Der Mensch kann es nur sehr schwer ertragen, stets nach einer fremden Uhr zu leben – und nun noch nach einer, die ihm den Tag zerreißt, seinen Tag. Regelmäßigkeit allein wäre freilich kein Grund zur Verzweiflung, besonders dann nicht, wenn sie sich jemand freiwillig auferlegt hat – der wahre Grund liegt darin, daß kein menschliches Wesen es verträgt, auf die Dauer als Sache behandelt zu werden. Man kann einen Sklaven patriarchalisch prügeln – das ist lange nicht so schlimm wie die stumme und unerbittliche Einordnung in ein vom Eingeordneten nicht oder so nicht gewolltes Nummernsystem. Irgend etwas möchte jeder Mensch irregulär tun: über eine Hecke springen, rauchen, wenn andere nicht rauchen; einmal laut schreien – ich sehe hier von groben Exzessen ab. Macht man ihm das unmöglich, so legt man den Grund zu unendlicher Traurigkeit, Verzweiflung, Ekel am Leben. Solch ein Mensch geht seelisch ein. Verglichen mit dem, was er mit seiner ›Freiheit‹, die er ja in dieser Gesellschaftsordnung gar nicht haben kann, wirklich anfängt, fehlt ihm gar nicht so sehr viel – und alles. Es fehlt ihm das, was wir mit unserer kleinen Freiheit beginnen: umhergehen, wann es uns paßt; telefonieren; pfeifen; nicht sprechen, wenn wir nicht sprechen wollen; früh ins Bett gehen; spät ins Bett gehen – die Anstaltsinsassen können das entweder gar nicht oder nur unvollkommen. Selbst ihr Schlaf ist Dienst. Darunter leiden sie unermeßlich. Das Verhältnis der Leidenden untereinander ist selten gut. Immer ist da ein Stärkerer, ein Oberleidender, der mit der Zeit die höchste Stufe des Kellers erreicht – er kann mit dem Kopf hinaussehen und reicht beinah in das Unterpersonal hinein. Dieses verwehrt ihm natürlich in Ernstfällen den Zutritt; in leichten Fällen wird er ihm gewährt, und das hebt ihn sehr und läßt ihn viel von dem, was er zu erleiden hat, vergessen. Er bezahlt das teuer, vielmehr: seine Mitleidenden bezahlen das teuer. Er ist meist ein Angeber, ein Speichellecker, ein Unterhund – er ist der Helfer von Helfershelfern. Auf seine kleinen Vergünstigungen ist er nicht so stolz wie auf den leichten Schein einer Pseudo-Autorität, die er auf diese Weise genießt. Leidende verachten sich untereinander – das ist das Primäre. Liebe, Freundschaft, gutes Herz, Trieb und Temperamente können diese Verachtung auflösen und überbrücken. Die Leidenden stehen niemals gegen die Leiter zusammen. Täten sie es wirklich, so wären jene ziemlich machtlos. Ein solcher Universalwille kann aber deshalb nicht zustande kommen, weil in jedem Leidenden der Machttrieb schlummert. Er leidet wohl – aber zutiefst bejaht er dieses Leiden; er verneint nur die Rollenverteilung: er ist es, der gern leiden machen möchte. Oft setzt er sich im Tagtraum an die Stelle des Leiters. Daher wird er sich stets nur dazu verstehen, etwas zu tun, was man im Anstaltsjargon und auch sonst ›stänkern‹ nennt – er wird kleine Sticheleien, Lügen, Klatschereien gegen die Leitung und das Personal aufbringen, Schwierigkeiten zu vergrößern suchen, schon, um sich wichtig zu machen und hier wenigstens ein kleines Gebiet zu haben, das ihm allein gehört. Er wird sich aber fast niemals, solange er diesen Machttrieb innerlich nicht überwunden hat, gegen das System auflehnen. Er kann es nicht. Es ist sein System. Die schwere seelische Störung durch die Einengung der Persönlichkeitssphäre zeigt sich bei den Leidenden auch in ihrem rührenden Verhältnis zu allen Gegenständen, die nicht ›Anstaltssachen‹ sind: Vogelbauer, Pantoffeln, Kalender oder eine Zeitung . . . das ist das ihre, in diese Ersatzhandlungen konzentriert sich die ganze Sehnsucht nach verlorenem Glück. Die Leiter neiden es ihnen und verkleinern es, wo sie nur können. So ergänzen sich Leidende und Leitende zu einer schönen Einheit: zur Anstalt. Es ist durchaus nicht immer grobe Gewalt, die dieses Getriebe zusammenhält, auch nicht immer die Not – es ist darüber hinaus eine gewachsene Einheit, eine Zusammengehörigkeit von Menschen, die sich dieser Gesetzmäßigkeit nicht bewußt sind. Beide sehen ineinander den Feind: beide können miteinander nicht anders leben. Und so leben sie –: Düster schwelt unter dem Nummernleben der Leidenden der Rest von Seele, der ihnen geblieben ist. Er entlädt sich in seiner Karikatur: in Fressen, Zoten, Klatsch und Masturbation. Dies sind nicht etwa, wie die Leiter meinen, ›Laster‹ – sondern eben jene letzten, den Leidenden gebliebenen Symbole für das Unregelmäßige, zu dem jeder Mensch spielerisch, als Gegengewicht für seine Bindungen, hinstrebt. Das übliche Anstaltsleben ist sozialschädigend – weil es keinen echten Kollektivismus, der allein auf freiem Willen aufgebaut werden kann, in sich birgt. Kommen solche Menschen aus der Anstalt heraus, so haben sie meistens mehr Schwierigkeiten mit der Umwelt zu überwinden als vorher. Der Leitende aber hat, wie die Sprache so tief sagt: »in der Arbeit seine Befriedigung«. Er hat sie wirklich. Er kann sich in ihr ausleben. Er herrscht. Er macht sich zum Sklaven seiner Arbeit, wenn er ein anständiger Kerl ist – aber er herrscht. Und feuert sich ununterbrochen wieder an und entzündet sich: am Widerstand seiner Helfer, am Widerstreben der Leidenden, an den Schwierigkeiten des Apparats, an den Reibereien mit seiner Zentrale, die ihn von allem am meisten bedrücken, weil hier die Grenzen seiner Freiheit sind. Auch fühlt er sich meist in seiner Arbeit nicht anerkannt – er träumt von Größerem: mehr organisieren! mehr Anstalten! viele! alle! Der Machttrieb spielt auf ihm sein Lied. Leitende Frauen unterliegen dem Machttrieb stärker als Männer, weil die meisten zu tun vermögen, was nur wenige Männer können: eine Arbeit bis in die letzte Falte hinein ernst nehmen. Frauen glauben an das, was sie im Dienst tun, wie an ein Evangelium. Daher sind sie: doppelt so aufopferungsbereit wie Männer, doppelt so machtgierig, doppelt so boshaft wie jene, wenn es diese Macht zu verteidigen und auszubauen gilt. Sehr oft schlägt der Machttrieb bei Frauen in seelischen Sadismus um – dann wohl immer, wenn sie geschlechtlich nicht voll befriedigt sind. So kommen viele Kindermißhandlungen zustande. Die Anstalt dient einem Zweck: Menschen sollen in ihr aufbewahrt, gebessert, gedrillt, erzogen, zur Arbeit angeleitet werden . . . aber in allen regiert über Menschen und Sachen der soziale Geltungsdrang einer herrschenden Klasse. · Ignaz Wrobel Die Weltbühne, 26.11.1929, Nr. 48, S. 798.