Tragödie der Liebe Weil wir sonst keine Sorgen haben. Ich geriet als halbwegs vernünftiger Mensch von der Straße in Joe Mays Film-Atelier zu Weißensee – von der Straße, wo die Elektrische klingelte und ernsthafte Leute ernsthaft dahintrotteten. Dann kam ein Zaun, ein kleines Haus, und das erste, was ich auf dem Filmhöflein sah und hörte, war Joe der Große, der durch die Gegend tobte, eine mit zwei Rössern bespannte Kutsche anschnaubte und schrie: »Sind die Pferde angestrichen?« Sie waren angestrichen. Die Pferde waren nämlich mitten im Film verkauft worden, versehentlich, irgendwer hatte nicht aufgepaßt, und nun fehlten sie für die Kontinuation. So und so waren sie gezeichnet – das konnte der Zuschauer noch wissen. Und May nahm zwei Schimmel und schuf sie nach dem alten Ebenbilde und sahe, daß es gut war – und ich werde nie den Ausdruck in den kugeligen Augen der Tiere vergessen, die seltsam hinterwärts sahen, wo man sie anpinselte . . . Dies aber waren Vorbereitungen zu dem großen Film; ›Tragödie der Liebe‹ . Man kann das Genre ablehnen. Lehnt man es aber nicht ab, dann ist zu sagen, daß hier der beste deutsche naturalistische Detektivfilm geschaffen worden ist. Drei Männer haben den Erfolg gemacht: Emil Jannings, Joe May und Paul Leni. Das Manuskript ist gut. Es ist geschickt erdacht, sicher gebaut und nicht schwachsinniger als unbedingt notwendig. (Manchmal ist es auch rührend – und dann ist es rührend.) Die Küste dieses Manuskripteilandes ist kein öder Strich – da gibt es kleine Halbinseln, einladende Seechen, stille Buchten und manches stolze Kap, kurz: eine Menge Dinge, die gar nicht zur Sache gehören. Spaß macht ja immer nur das Überflüssige. Dazu haben die ersten beiden Akte ein Tempo, wie man es bei uns nur ganz selten zu sehen bekommt. Aber Tempo, Wirkung und Wärme wären nicht da ohne die drei da oben. Paul Leni: Er hat nicht nur mit Kenntnis des Films gebaut – die haben viele. Er hat auch nicht nur mit Geschmack gebaut – den haben manche. Er hat mit Liebe gebaut. Es hat ihm Spaß gemacht, einen verschneiten Hauseingang hinzusetzen, verwinkelte Dachstuben, einen wundervoll runden Gerichtssaal, ein unvergeßlich melancholisches Wartezimmerchen einer kleinen Station – es ist ›die‹ kleine Station, und jede Novelle von Maupassant könnte hier ihren Anfang nehmen. Das alles ist mit den feinsten Fingerspitzen und mit dem größten Wissen um Einzelheiten gearbeitet – und es ist gearbeitet und nicht hingeschludert. Eine Meisterleistung. Joe May: Nach den Kolossal-Monstre-Gala-Filmen dieses Regisseurs ist nicht ganz klar, ob er eigentlich weiß, wie gut dieser Film hier ist. Diesem Besessenen, der keine Augen, sondern offenbar zwei Objektive im Kopf hat, und der Zelluloid ausschwitzt, diesem Fanatiker des Films ist da eine derartige Fülle an lustigen, witzigen, bunten und belangreichen Einzelheiten eingefallen, daß man denken könnte, er habe sie alle nur so aus dem Kasten geschleudert. Die Gräfin fährt weg, läßt ihren Mann allein, die Dienerschaft poussiert in der Kneipe, der Diener empfängt oben ein Flittchen, der Freund dieses Flittchens steigt nach, Athlet, der er ist, die Gräfin bekommt unterwegs Angst, kehrt zurück, unterdessen ist eine wilde Jagd durchs Haus getobt, der Athlet hat den Diener in die Seine geworfen, der Graf hat ein Messer in den Leib bekommen . . . kurz: Familienleben bei Grafens. Aber wie ist das gemacht! Vor allem: alles immer nur einmal. Diesem May ist derart viel eingefallen, daß er sich niemals wiederholt – jeder Zug ganz kurz, zehn, zwanzig Meter – husch, weg, der nächste. Und fast alles kann man sehen, da gibt es einen ganzen Akt mit ohne Text, alles ist mit den Augen zu verstehen – alles ist: Film. (Und alles, auch der dampfende D-Zug, aus Holz und Pappe auf einem kleinen Hof aufgenommen.) Das wäre aber alles nicht möglich ohne Emil Jannings. Seine Figur hat nur einen Fehler: daß sie nicht seinen Namen trägt. Was heißt hier Ombrade! Der Mann heißt Emil. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken: ich persönlich kann nun schon keinen dämonischen Zuhälter mehr im Film sehen. Dieser hier ist fett, freundlich und durchaus gemütlich. Zwischen all den Schandtaten hat er immer noch ein gutmütiges Lachen, ein Zwinkern, eine kleine Bewegung nach den Hosen, daß die auch nicht rutschen . . . es ist alles nicht so schlimm, und man sieht das Pathos und die Kehrseite des Pathos: den Humor. Tausend Züge: »Siehst du«, sagt das Flittchen (von Erika Glässner himmlisch frech gespielt) zu Emil – »Siehst du, so sorgen andre für ihre Freundinnen!« und steht vor einem Schaufenster und muckscht, weil sie keinen Pelz bekommt. Emil tritt an das Schaufenster heran, drückt die Nase am Glas platt und probiert dann ganz leise, ganz vorsichtig, ob die Einfassungsstangen sehr fest sind . . . Fachlich, sachlich. Am nächsten Abend hat sie den Pelz. Und spielt mit ihm und mit Emil die größte Szene, die ich je in einem deutschen Film gesehen habe. Sie hat ihn betrogen, er hat sie erwischt, und sie ist ihm davongelaufen. Nun wird er in der Zwischenzeit seinen Nebenbuhler totschlagen. Das weiß sie nicht – sie ist nach Hause geflitzt. Und findet da – o treue Liebe! – den geklauten Pelz. Und tanzt herum und will ihn gleich, auf der Stelle, anprobieren und hopst auf den Tisch, auf dem die Petroleumlampe steht, vor den kleinen Spiegel und hebt die Röcke hoch (eine Masche am Strumpf ist gefallen) und spiegelt sich. Da schiebt er sich zur Tür herein. Herunter vom Tisch kann sie nicht mehr. Sie erstarrt. Wird er sie schlagen? Oder töten? Vielleicht. Er schnauft heran – wie ein Bär – dumpf und wütend. Und will schon zupacken – da fliegt irgendetwas von ihr zu ihm herüber, er setzt sich an den kleinen Tisch, sieht herauf zu ihr, mit einem Blick unter ihre Röcke, sie hat eine irrsinnige Angst, außerdem kippelt der Tisch, in ihm wogen merkwürdige Sachen durcheinander, und dann kann er nicht mehr und bricht an dem Tisch zusammen und umklammert ihre Beine und schmilzt weg und verzeiht gar nicht – denn es ist nichts mehr zu verzeihen – und gehört ihr. Und oben steht sie, die Siegerin, die Frau, das Stück Fleisch und lächelt und lacht und feixt – ave victrix femina! Je suis la femme – on me connaît! Was Jannings da gemacht hat, ist allerersten Ranges. Wie er einmal von einem ganz kleinen Polizisten verhaftet wird, und wie er mit einer winzigen Bewegung den ganzen Staat auslacht, dessen Repräsentanten er mit einem Hauch umblasen könnte – »Ah, lohnt nicht!« –; wie er als feiner Mann auf den Ball kommt und beinahe die Hosen verliert, aber ein feiner Mann bleibt; wie er auf die Anklagebank geht und zunächst einmal seine Sachen – Halstuch und Hut – fein säuberlich vor sich hinpackt: das ist alles so fein, so haargenau abgepaßt, so humorvoll und so saftig, daß man diese Figur liebgewinnt. Er sollte sie nicht zum letzten Mal gespielt haben. Das ist kein einmaliger Einfall – das könnte eine Figur für viele Abenteuer sein. Denn das ist ein Typus: der gutmütige, kräftige, bärenhaft starke und bärenhaft tapsige Ludewig. Die Glässner ist ihm eine gute Gefährtin. Sie ist frech wie Potz – und wenn er im Gefängniskäfig vor ihr wütet, wie ein wildes Tier, und sie die Röcke hochhebt, ganz hoch – da! da! sieh doch! das gehört jetzt nicht mehr dir! –, wie sie den geilen Gefängnisdiener angähnt, wie sie lacht und züngelt, aufregt und selber aufgeregt ist: das ist seltenen Grades. Fast alle Nebenrollen sind ausgezeichnet besetzt. Jede kleine Leistung ist wundervoll dosiert. Gewiß: Herr Korff hat aristokratische Nasenlöcher und ist so vornehm, daß man Beklemmungen bekommt – und weil man mit Frauen höflich umgehen soll, wollen wir von Herrn Gaidarow gar nichts sagen. Aber da ist die entzückende Wüst und Hermann Vallentin und Guido Herzfeld und Eugen Rex und Paul Biensfeldt – und jeder ist genau an das gestellt, was er kann. Und geschnitten ist dieser Film! Dieser Joe May ist wohl der größte Schneidermeister, den die Branche hat. Entschließt er sich, die Rührunseligkeiten des Films zu kürzen, das herauszunehmen, was der Kenner so schön die ›Spielastik‹ nennt und den süßlichen Schluß fortzutun, der sicherlich bei allen Dienstmädchen in Guben die größte Wirkung hervorbringt (kleine Kinder im Bettchen, der Mutter Fluch, Muttertränen und Abschied fürs Leben) – dann wäre zu sagen, daß die Arbeit einwandfrei ist. Der Film hört da auf, wo Emil abgeführt wird: mit einer letzten wilden Kopfbewegung sieht er Musette an, das Luder: »Na warte – laß mich rauskommen!« Bis dahin ist statt schlechter Psychologie: Handlung, statt falschem Kokain: Humor und statt gestärktem Frackoberhemd: buntes bewegtes Leben. Dazu eine außerordentlich einprägsame Musik von Löwitt, mit zwei famosen Themen für Jannings und die Glässner. Ich verstehe von der Filmbranche nichts, und sie interessiert mich auch nicht. Aber diesem Film wünsche ich – schon der Leistung Emils wegen – das, was er meiner Meinung nach verdient: den Welterfolg. · Peter Panter Die Weltbühne, 25.10.1923, Nr. 43, S. 406.