Figurinen Einmal war ich schon achtzig Jahr. Einmal, in einem frühem Leben, da hat sich dieses mit mir begeben – und ich hatte ganz weißes Haar –: Ich saß im Lehnstuhl, nett und beschaulich, so kurz nach Tisch – mir war so verdaulich. Blumen im Fenster. Im Käfig ein Matz – auf dem Tisch eine Tasse mit Untersatz . . . Und vor mir hielt ich auf meinen Knien ein Album mit alten Fotografien. Und ich machte ein Nickerchen . . . Aus ihren Rahmen stiegen alle vergessenen Damen. Eine war schlank und klug und bescheiden. Die mochte ich immer am liebsten leiden. Sie roch die Menschen. Sie wußte immer, betrat sie nur einmal ein fremdes Zimmer: die hat mit dem da – der ist stolz – und die Frau ist falsch wie Galgenholz. Sie erschien, wie im Nebel. Ich streckte die Hand nach ihr – sie wich zurück und verschwand. Und sie sprach, indes ich, wie verträumt, ein Glück zerschlagen – ein Leben versäumt: »Ich war die Nettste.« Dann kam eine, ein dickes Paket, wie es gar nicht in eine Corsage geht. Wenn sie mir abends entgegenschwoll, war das ganze Schlafzimmer voll. Und sie trank zwischendurch – wie ich das noch seh! – immer Kaffee und Selter und Tee. Und während in weichen Kissen sie kraucht, hat das Schwergewicht mir entgegengehaucht: »Ich war die Fettste.« Dann hört ich im Halbschlaf einen Chor von Stimmen. Und eine tauchte empor, ein ganz junges Mädchen, weiß, ganz weich – sie zögerte, näherte sich nicht gleich . . . Ich streckte nach ihr die Arme aus. Sie stand vor einem Schifferhaus. Und man hörte das Meer . . . Und sie sprach und sah mich dabei an – und da weinte ich alter Mann –: »Ich war die Letzte.« Auf den Tod zu warten, ist so schwer . . . Aber das ist schon lange her. · Theobald Tiger Die Weltbühne, 26.06.1924, Nr. 26, S. 902.