Wieso soll ich eigentlich Zeitungen lesen? Um zu erfahren, was auf der Welt vorgeht? Aber ich erfahre ja höchstens, wie man das Vorgegangene darzustellen beliebt. Objektivität gibt es nicht. Was hingegen die modernen großen Zeitungen treiben, das ist doch wohl grotesk. Wenn man mit Redakteuren spricht, welcher Nationalität sie auch immer seien, so hört man, wie sie alle nur eine Sorge bewegt: Wie mach ichs, daß die Schreiberei nun mit Bedeutung auch gefällig sei? Wem . . . ? Das kommt ganz darauf an. Man muß einmal einer Unterhaltung von Nachrichtenmännern beigewohnt haben, die darüber beraten, ob man dieses oder jenes ›geben‹ könne. Sie denken an alles: an die Wirkung der Nachricht auf die Börse, auf die Rechte, die Linke, auf das Inland und das Ausland – und sie pflegen gern die Größe dieser Wirkung zu überschätzen –; nur auf einen einzigen Gedanken kommen sie überhaupt nicht: daß man etwa die Dinge so schreiben könnte, wie sie sich zugetragen haben, also: wie man sie sieht. Von den Redaktionen, die die Berichte ihrer Korrespondenten nach Belieben zurechtstutzen, zu schweigen. Aber das ist überall so. In Frankreich noch viel stärker als bei uns. Die französischen Journalisten sind Meister in der ›Aufmachung‹ einer Nachricht. Sie geben dem Ding erst die richtige Farbe, nicht, indem sie es lang und breit kommentieren, nicht durch den Leitartikel, der im ›Matin‹ , im ›]ournal‹ , im ›Petit Journal‹ und im ›Petit Parisien‹ einen viel kleinern Raum einnimmt als in den deutschen Zeitungen gleichen Kalibers, nein: indem sie die Nachricht richtig zurechtmachen. Stilisierung, Placierung, Längenabmessung – und, das Wichtigste: die typographischen Mittel. Der ›Temps‹ und das ›Journal des Débats‹ beschreiben die Ereignisse, die andern drucken sie. Und da können die modernen französischen Soziologen, die hier sehr in Blüte stehen, das alles aussprechen, wie es wirklich ist – Lucien Romier tuts in seiner ›Explication de notre Temps‹ und der verstorbene Jouvenel, der Bruder des ehemaligen Ministers und ›Matin‹ – Politikers, tats in seinen ›Vingt Leçons de Journalisme‹ –: es nützt alles nichts. Hundertmal kann man von Franzosen hören:»Peuh! Bourrage de crâne!« (was etwa heißt: tendenziöse Stimmungsmache) – es nützt nichts. Denn während Hunderte es einsehen, glauben Millionen daran. Die Zeitung ist ein Geschäft? Aber sie ist schlimmer: ein von tausend Interessenten beeinflußtes Geschäft. Und äfft unter der Maske einer Zeitung eine Zeitung: bieder und noch atemlos von der Radiographie kommt die Nachricht angelaufen und berichtet, berichtet . . . Sie hat vorher die engsten Siebe passiert, und was etwa Gefährliches, Unerwünschtes, Revoltierendes an ihr war, liegt zurückgeblieben oder gar nicht erst aufgeschrieben. Kommt dazu, daß die meisten Leute nur ein Blatt lesen, ihr Blatt . . . Selbst die Nachrichten, die nicht in der Zeitung stehen, sind erlogen. · Ignaz Wrobel Die Weltbühne, 08.12.1925, Nr. 49, S. 880.