Nachher »Warum haben Sie gelacht –?« fragte ich ihn. Er hatte dagesessen, seine Hand hatte mit den verrosteten Knöpfen einer nicht mehr benutzten Blitzkammer gespielt – und plötzlich hatte er gelacht. Es war ein recht eigentümliches Lachen gewesen, so ein Schluchzer, Station auf der Reise zwischen Lachen und Weinen . . . »Warum haben Sie gelacht –?« fragte ich ihn. »Ich habe gelacht«, sagte er, »weil ich an da unten denken mußte. An etwas ganz Bestimmtes; es ist sehr dumm. Wissen Sie, heute ist mein Todestag – nein, gratulieren Sie mir nicht . . . nicht der Rede wert. Zum fünfzigsten, bester Herr, zum fünfzigsten . . . Und heute vor acht Jahren – wissen Sie, warum Lebende keine Angst vor den Toten haben, die gerade gestorben sind?« »Ich kann es mir denken«, sagte ich. »Weil – weil wir ja die erste Zeit gebunden sind, noch nicht hier oben . . . nun, Sie kennen das. Es ist, als ob sie es ahnten.« »Ganz richtig!« sagte er und ließ die Hand über die Klaviatur spielen; hätte das Werk funktioniert, so wären die Erde, der Mond und einige andere Etablissements in Rauch aufgegangen, »Ja, das ist so. Wir sind nicht sofort disponibel – sie sind vor uns sicher, kurz nachher. Nun gut, und Sie wissen doch auch, was mit unsern Sachen geschieht – – nachher?« »Natürlich«, sagte ich. »Da wird ein Inventar aufgenommen, da kommen die Erben gelaufen, die Kinder, die unbezahlten Rechnungen . . . « »An das Inventar dachte ich eben«, sagte er. »Das heißt: nicht gerade an das Inventar. Sondern daran, wie sie in unsern Sachen herumstochern. Es ist komisch und rührend zugleich. Kennen Sie das?« »Nun . . . « sagte ich. »Es ist nämlich so«, sagte er. »Sie kramen die Schubladen aus, kratzen an den Schrankschlössern herum, packen alles aus und packen es wieder ein . . . Und jeder Hosenknopf hat auf einmal eine Bedeutung, jedes Federmesser ist mit Sentimentalität geladen, alte Briefmarken machen ein Kummergesicht und trauern mit . . . « Wieder ließ er diesen mittlern Schluchzer hören. »Sie finden alte Kuverts mit Rezepten und Tabakasche; Chininpillen und fein säuberlich aufbewahrte Theaterprogramme, mit denen wir einmal irgend etwas anfangen wollten, natürlich haben wir es vergessen, und nun liegt dieser ganze Kram in den Fächern – ein Viertel aller menschlichen Habe pflegt ja aus solchem Unfug zu bestehen. Und sie fassen das alles mit zitternden Fingern an, ihre Tränen lassen sie darauf fallen, und während sie Kontenbücher auf- und wieder zuschlagen und an Glasstöpseln riechen, sagen sie: ›Das hat er sich noch aufbewahrt!‹ und: ›Achatsteine hat er immer so gern gehabt!‹ – und auf einmal ist unser Wesen auf tausend Dinge verteilt, es sieht sie an – wir sehen sie an, mit tausend Augen . . . Alles kommt ihnen wieder zur Erinnerung, wird lebendig . . . so haben sie uns nie geliebt.« »Nein«, sagte ich. »So haben sie uns nie geliebt.« »Woran liegt das?« fragte er vorsichtig. »Man muß wohl nicht mehr da sein, um geliebt zu werden«, sagte ich. »Noch nicht oder nicht mehr: man muß wünschen, um zu lieben. Zu unsern Lebzeiten kümmert sich keiner um unsern Nachlaß.« »Aber da ist es ja auch kein Nachlaß«, sagte er. Eine Leitung schien versehentlich noch angeschlossen zu sein – denn nun fuhr ein Blitz aus dem Gehäuse, daß es zischte, und wir machten uns eiligst davon, auf daß er es nicht erführe, der Allwissende. · Kaspar Hauser Die Weltbühne, 17.11.1925, Nr. 46, S. 777, wieder in: Mit 5 PS.