Geduld Die großen, sanften Augen der Bauernpferde, die still trottend ziehn; auf den Augenrändern und in den Augenwinkeln sitzt es schwarz vor Fliegen . . . Geduld – Der wie ein Paket geschnürte Hund, dem der Professor Curare eingespritzt hat, nun kann er sich nicht bewegen, nur noch fühlen; sie haben ihm die Harnleiter durchgeschnitten, da liegt er. Studenten umgeben das prächtige Bild . . . Geduld – Der verheiratete Angestellte, der vor dem brummigen Chef steht, zitternd, die Kündigung an den Kopf geworfen zu bekommen; der Mann hinter dem Schreibtisch fühlt sich: er hat auf einmal zwei Leben: das eigne und das des andern . . . Geduld – Der Proletarier im Holzschrein vor Gericht, wo unaufhörlich die dreisten Ermahnungen des Richters kalt-spöttisch auf ihn heruntersausen . . . Geduld – Das Fürsorgekind, das einer verwitweten Megäre in die Anstaltsfinger gefallen ist; die braucht bei Männern keine Lust zu suchen, sie hat die Kinder . . . Geduld – Läutert Leiden? Welchen Sinn hat es? Was haben sie getan, mein Gott: das Pferd, der Hund, der Angestellte, der Proletarier, das Fürsorgekind –? Sind sie schuld? Woran sind sie schuld? Nimm ihnen die Geduld! Nimm ihnen die Geduld! Nimm ihnen die Geduld –! · Theobald Tiger Die Weltbühne, 17.09.1929, Nr. 38, S. 448, wieder in: Lerne Lachen.