Ernst Stadler Verstreute Gedichte aus den Jahren 1902 bis 1904 Eine Nacht Wie sie rings mich umflattern, Die platten Kobolde des Alltags! Wie sie sich an mich hängen, Glatt und klein, Am Rock mich zerren, Mich nieder zu stürzen von meiner sonnigen Felsenhöhe Hinab in's Thal, Bis ich auch so bin, So klug und fromm und matt und kalt Wie die Andern ... O du brausende Sturmnacht, Die du über der erbebenden Herbsthaide Dein jauchzendes Lied geigst, Kraft will ich mir trinken an deinen strömenden Quellen, Jungfrische Kraft zu nimmer verlodernder Leidenschaft! Wie das gellt und flammt und rauscht! ... Und jetzt – War's nicht mein Name, der aus Nacht und Sturm Wildlockend zu mir drang? Du rufst ... Ich komme ... Hinaus! Lachend preßt mich der Sturm in die feuchten Arme, Doch ich reiße mich los und stürme weiter, Die Höhe empor, bis die Lichter der Stadt untertauchen In den Fluten der Nacht ... Hei! Hexentanz auf sturmgepeitschter Haide! Blaue Flammen zucken über windzerriss'ne weiße Mäntel, Die im Tanze flattern zum Liede des Sturms! Und dazwischen Johlen und Jauchzen, Grell und tausendstimmig ... Da – plötzlich wird's still: Schweigen verzittert In atemloses Lauschen. Und dann: Flammender Lichtschein vom Walde her, Hufschlag dröhnt, Raben rauschen, ER naht: Still und ernst kommt er geritten, Das eine Auge vom Hut beschattet. Das er hin gab heiliger Weisheit zum Pfande, Er, der Gott einst war, als noch ein Volk Trotzigen, sonnigen Jugendmutes voll durch Wälder jagte, Er, der Allwisser, der wissend kämpfte Und hinsank aus Walhalls rauchender Flammenflut, Er, der Treue Hüter, dem sein Volk die Treue brach Um eines fremden Gottes willen ... Jetzt trifft mich sein Auge, Dies Auge voll flammend-ungemess'ner Kraft, Das doch so mild-gütig blicken kann Wie tauender Mondschein, Und ich stürze hin und umklammere sein Knie, Und meine Stimme bebt: »Der du selber ungezügelt trotzige Kraft bist, Wahr' mich vor Unkraft! Sieh'! Ich kann ja nicht sprechen, Meine Gedanken schäumen auf Wie des Wildbachs braune Flut – Kann nicht sprechen; aber du, der du einst Gleichen Kampf kämpftest, Mußt mich verstehen und mußt mich schützen Vor denen dort unten ...« Eine Hand auf meinem Haupt. Und eine milde Stimme: »Komm' mit!« Und plötzlich bäumt sich ein Roß mir unter den Schenkeln, Peitschen gellen, Lichter wirbeln auf und schrille Rufe, Und durch die zitternde Nacht prasselt das Heer Wie lodernde Glut in verdorrte Zweige, Stämme splitternd und wilde Chöre hinströmend In Wind und Regen ... Hei, Leben! Nun erst spür' ich, nun halt' ich dich erst: Jauchzend umklamm'r ich deine schwellenden Brüste In ewig unlöslicher Umarmung, Brausendes Leben, wildschöne Braut! Ein Taumel faßt mich, meine Sinne schwinden, Und ich fühle nur Eins noch: Entzücken ... Seligkeit ... »Nun ist vergangen die schlimme Nacht, Gespensterspuk verflogen, Die liebe Frau Sonn' ist aufgewacht Und kommt in morgenschöner Pracht Am Himmel hergezogen. Gelobt sei Gott der Herr!« Was ist's? Die Augen reib' ich mir, Hans Träumer, Der ich auf freiem Feld verwundert liege. Glocken umklingen mich, Hähne kräh'n, Thüren knarren in morschen Angeln, Bauern ziehen singend zur Arbeit: Morgengrauen. »Heut' Nacht in meiner Kammer lag In Ängsten ich und Bangen: Nun führen Licht und Lerchenschlag Von Osten her den jungen Tag, All Sorgen ist vergangen. Gelobt sei Gott der Herr!« Plötzlich kommt mir die Erinnerung wieder, Und ich fahre empor: So war's umsonst, daß ich vor dir auf den Knieen lag, Grausamer Gott? Umsonst, daß an deiner Seite ich durch die Sturmnacht fuhr, Umsonst, daß dein Feueratem mich durchdrang? Ein Zeichen fleh' ich, gieb mir ein Zeichen, Gottheit! Hin gesunken bin ich in's morgenjunge Gras, Und die Hände falten sich zu wildem Beten ... Da – plötzlich rauscht's über mir: Zwei Raben flattern auf, Kreisen langsam mir über dem Haupt und verschwinden Weit in's Blau. Da sink' ich in die Kniee, und all mein Trotz Schmilzt hin in heißen Dankesthränen. Dann richt' ich mich auf und leuchtenden Auges Steig' ich hinab zu den Menschen, meinen Brüdern ...