601. Der kalte Baum. Von Ed. v. Schenk. – Der Baum steht auf einer Anhöhe zwischen Wernberg und Waidhaus. Schloß Leuchtenberg genüber Da steht ein alter Baum Auf einem hohen Berge, Der heißt der kalte Baum. Ich ging am Baum vorüber, Ein Hirt im Schatten saß, Indeß die Heerde suchte Nach spärlich dürrem Gras, Die Sonne glüht im Scheitel, Die Luft war still und klar, Doch weht es in den Zweigen Und in des Hirten Haar. Und als ich in den Schatten Des alten Baumes trat, Da packt's mich kalt und schaurig, Wie wenn der Winter naht. Es rauscht in seinen Aesten Wie rauher Nordwinds Sturm, Und unter ihm war's frostig Dumpf, wie im Kerkerthurm. Es heulet durch die Blätter Wie wilder Wahnsinnslaut, Und unten scheint die Erde Von Thränen feucht bethaut. »Warum« – frug ich den Hirten, – »Tobt hier des Sturmes Wuth, Da rings auf Wald und Hügeln Die tiefste Stille ruht?« – »Seht Ihr das Schloß, das drüben Auf steilem Felsen hangt? Jetzt steh'n nur öde Trümmer, Wo Leben einst geprangt. Es haben dort die Grafen Von Leuchtenberg gehaust, Von dort aus oft wie Adler Die Gauen rings durchsaust. Und eines Grafen Tochter Liebt' einen Edelknecht, Der Liebe folgte Sünde, Die Sünde ward gerächt. Der Vater riß den Knappen Aus süßem Liebestraum, Ließ tödten ihn, begraben Hier unter diesem Baum. Der Vater warf die Tochter In jenen finstern Thurm Allein mit ihrem Jammer, Bei kalter Nacht und Sturm. Und als der nächste Morgen Roth angebrochen kaum, Schwang sie sich auf zum Fenster Und sah nach diesem Baum, Und rief: Verflucht auf ewig Sei, Baum, dein Blätterdach, Weil unter dir mein Vater Den Liebsten mir erstach; Wenn all' die andern Bäume In Sonnenwärme ruhn, Kalt sollst du ewig bleiben, Wie mein Geliebter nun! In dir soll immer schauern Das Grauen einer Gruft, Kalt sollst du ewig bleiben, Wie meines Kerkers Luft! In dir soll's immer sausen So stürmisch, wie mein Schmerz, Kalt sollst du ewig bleiben, Wie meines Vaters Herz! So fluchte diesem Baume Das Fräulein Tag für Tag, Bis endlich sie des Kerkers, Des Herzens Qual erlag. Und seitdem weht's hier frostig, Wenn heiß das ganze Land, Und wird der Baum für immer Der kalte Baum genannt.« – Als nun der Hirt geendet, Rauscht's auf mit neuem Sturm, Ich aber blickt hinüber Zum Leuchtenberger Thurm. Mir war's, als säh' am Fenster Das Fräulein ich noch steh'n, Als hört' ich ihre Flüche, Als säh' ich sie vergeh'n. Schnell trat ich weg vom Baume In warmen Sonnenstrahl, Und stieg, das Herz entlastet, Hinab in's stille Thal.