611. Der alte Weidenbaum bei Münchberg. Von Ludwig Zapf. Grau ragt die alte Weide – es ist ein einz'ger Baum, Und doch, wer sie beschauet, der will es glauben kaum. Zwei hohle Stämme heben sich altersmüd empor, Noch schallt aus ihren Zweigen der lust'gen Vögel Chor. Der eine hat gen Norden das kahle Haupt geneigt, Der andre, nicht viel weiter, gebeugt nach Süden zeigt. Lockt auch noch grüne Blätter der junge Lenz heraus, Dürr schaut durchs frische Leben des Alters Noth und Graus. Und trügt uns nicht die Sage, und war's ein einz'ger Baum – Wer trieb ihn auseinander, wer schuf den Zwischenraum Nicht durfte es versuchen des Menschen schwache Hand, Es thats ein Keil vom Himmel, durch Gottes Macht gesandt, Es schied vor langen Jahren den Baum ein Wetterstreich, Vom Haupte bis zur Wurzel war er zerspällt zugleich. Die beiden Hälften sanken, getrennt auf immerdar, Doch hielten sie im Wanken die Wurzeln wunderbar. Und sieh' – von neuem lebten und strebten sie empor, Zwei Brüder nun geworden, die eins noch kurz zuvor! Die argen Wunden heilten, die schlug der Feuerstrahl Doch heut, als tiefe Furchen, erkennt man noch das Mal. Noch grünen ihre Häupter, noch leben beide fort, Wenn auch schon halb verwittert, wenn auch schon halb verdorrt. Grau ragt die alte Weide – es ist ein einz'ger Baum, Und doch, wer sie beschauet, der will es glauben kaum.