6. Der Spaziergang Eine Erzählung. 1785. Es war im Mai, die Luft war rein; Doch konnt' ich mich nicht freuen. Ich nahm den Stab und ging allein, Die Sorgen zu zerstreuen, Auf einen Hügel, um zu sehn Die liebe Sonne untergehn. Da schlingt ein schmaler Pfad sich hin Durch Haselbüsch' und Schlehen; Rechts Rebenberge, frisch und grün, Links goldne Saaten stehen; Auch trifft man manchen Nußbaum an, An dessen Fuß man ruhen kann. Ein Tannenwald, mit süßem Duft, Empfängt dich, kömmst du weiter; Durch grüne Zweige glänzt die Luft So himmelblau und heiter! Scheint sonst die Sonne heiß und schwül, So ist's doch schattig hier und kühl. Sieh da! vor dir das alte Schloß, Einst wohnten Ritter drinnen; Jetzt wachsen Fichten schlank und groß Hoch auf der Mauer Zinnen. Im Turme, sonst so stark und fest, Schwebt itzt die Eule um ihr Nest. Ihr glaubt vielleicht: ich sollt euch hier Von Geistern was erzählen; Allein für diesmal möchtet ihr In eurer Rechnung fehlen – Trotz meiner Amme Unterricht Sah ich doch keine Geister nicht! Von Hexen weiß ich auch nicht viel, Das muß ich frei bekennen; Nie sah ich sie auf Besenstiel Und Ofengabel rennen. Manch' runzlicht triefendes Gesicht Kannt ich – doch keine Hexe nicht. Was ich selbst sah, erzähl' ich nur; Kein Märchen will ich machen; Ich liebe Wahrheit und Natur: Mit ihren Alltagssachen Sind sie mir immer neu und schön, Daß ich sie nie genug kann sehn. Schön, rot und golden war der Strahl Der Sonn' im Untergehen; Die Aussicht von der Burg ins Thal War herrlich anzusehen. Ich setzte mich auf einen Stein Und blieb da stundenlang allein. Immer dunkler rings um mich Schien die Natur zu schweigen; Am blauen Himmel fingen sich Die Sterne an zu zeigen; Vom nächsten Dörfchen schallte schon Der Abendglocke Feierton. Im Epheu säuselte der Wind Längst an des Schlosses Mauer. Ich mußte weinen wie ein Kind; Versenkt in tiefe Trauer Dacht' ich nur Trennung, Tod und Grab – Und starrt' ins enge Thal hinab. Still lag es da im Mondenlicht; De Fluß glänzt' wie ein Spiegel. Die Thränen wischt' ich vom Gesicht Und stieg hinab vom Hügel: Mir war itzt wohl; mein Busen schwoll, Von Freud' und süßer Wehmut voll. Getröstet dacht' ich so im Gehn: Der diesen Mond hieß scheinen, Der diese Sterne schuf so schön, Will nicht, daß wir hier weinen. Dort oben find' ich einst gewiß Die, die das Schicksal mir entriß. Und endlich kam ich froh nach Haus, Ging in mein stilles Zimmer; Sah lang zum Fenster noch hinaus Die Flur im Silberschimmer. Ich freute mich der Erde Pracht Und schlief erst ein um Mitternacht. – Nun hiemit endet sich mein Sang, Doch ahndet mir die Klage: Solch' Zeug macht uns die Zeit nur lang, Geschieht auch alle Tage! – Ihr lieben Leute, es ist wahr: Hier ist nichts neu, nichts sonderbar. Doch zieht die Lehre euch daraus: Wenn euch die Sorgen drücken, Geht in das weite Feld hinaus; Trost wird euch da erquicken. Im Leiden Mut und Labung nur Gewährt die heilige Natur!