Das Haus Reichegg Das allgemeine Krankenhaus der Stadt G .... ist wie die meisten älteren Anstalten dieser Art ein düsteres, schwerfälliges Gebäude, das sich auf einem öden, entlegenen Platze befindet, wo eine Kirche, eine Kaserne und eine altertümliche Fronfeste seine nächste Umgebung bilden. An dem kahlen Mauergeviert ziehen sich lange Reihen halb erblindeter Fenster hin, und wenn man durch das wuchtige, gelb angestrichene Tor tritt, so gelangt man in einen mäßig großen, mit Bäumen und spärlichem Rasen bepflanzten Hof, wo bei günstiger Jahreszeit Kranke und Genesende, in lange Spittelröcke gehüllt, an der Luft sitzen oder gruppenweise mit kaum hörbaren Schritten und leisen Gesprächen auf und nieder wandeln. Der Anblick der hinfälligen, bresthaften Gestalten, das dämmerige Halbdunkel der Treppen und Korridore, die eigentümlich bewegte Stille, die aus den Krankensälen dringt – dies alles fällt dem Besucher mit ergreifender Wehmut aufs Herz und läßt ihn, ernster als sonst, über die Gebrechlichkeit des menschlichen Daseins nachsinnen, der auch er unterworfen ist. – Diesen traurigen, die Seele beklemmenden Ort hatte ich im Sommer des Jahres 187* häufig aufgesucht, um eine schmerzliche Pflicht zu erfüllen. Einer meiner ältesten und vertrautesten Freunde, welcher, angezogen von den landschaftlichen Reizen der Umgegend, in G ... seinen wissenschaftlichen Bestrebungen lebte, war nämlich von einem körperlichen Leiden befallen worden, das, anfänglich nicht beachtet, immer heftiger und gefahrdrohender hervortrat. Häuslicher Pflege und Fürsorge entbehrend, sah er sich endlich gezwungen, in der öffentlichen Heilanstalt Aufnahme zu suchen, wo man ihm ein abgesondertes, für ähnliche Fälle bereitgehaltenes Zimmer zur Verfügung stellte. Auf die Nachricht hiervon war ich also herbeigeeilt, um dem Einsamen tröstend, vielleicht auch hilfreich in diesen schweren Tagen zur Seite zu stehen, die bei seinen eigentümlichen Lebensschicksalen um so ernster und bedeutungsvoller erschienen. In seiner Jugend zu einem anderen Berufe bestimmt, hatte er später auf seiner Laufbahn, eine lange Reihe von Jahren hindurch, unzählige Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden gehabt. Und nun, da er endlich das Ziel seiner Bestrebungen erreicht, die langersehnte Anerkennung und Geltung gefunden: nun sollte der Vielgeprüfte an sich selbst erfahren, wie grausam oft das Geschick mit denjenigen spielt, die sich durch eigene Kraft emporgerungen. Denn schon während einer Reise durch Italien, die er, gehoben und begeistert von seinen ersten Erfolgen, mit mir gemeinsam unternommen hatte, waren ihm die ersten Anzeichen jener tückischen Krankheit fühlbar geworden, welche seine Kraft lähmen – und vielleicht für immer vernichten sollte. – So brachte ich denn jetzt den größten Teil des Tages bei ihm in der düstern Krankenstube zu, in die nur selten ein freundlicher Sonnenstrahl fiel, und deren einziges Fenster auf einen kleinen, von hohen Mauern umschlossenen Nebenhof hinausging, wo ein bemooster Steinbrunnen melancholisch plätscherte. Außer mir kamen nur wenige Besuche. Desto häufiger aber fand sich der Arzt ein, der meinen Freund mit großer Sorgfalt behandelte. Es war ein älterer, behaglicher Junggeselle. Seine vollen Wangen zeigten das Rot der Gesundheit, und um die Lippen spielte ein feinsinnlicher Zug; aber seine Stirn war frei und hoch, und seine Augen strahlten von Geist und Erkenntnis. Auf der Höhe des heutigen Wissens stehend und in seinem Fache ein leidenschaftlicher Forscher, hatte er sich doch jene tieferen Gemütslaute bewahrt, die auf den Patienten so wohltuend wirken und der neueren ärztlichen Schule mehr und mehr abhanden kommen. Vor allem aber war es sein köstlicher Humor, der ein Gespräch mit ihm als wahren Genuß empfinden ließ; wie denn auch mein armer Freund in seiner Gegenwart fast ganz des quälenden Leidens vergaß und gleichsam neubelebt aufatmete. Eines Morgens hatte ich wieder Himmel und Sonnenschein draußen zurückgelassen und die Anstalt betreten. Vor dem Tore war mir eine schwerfällige Kutsche samt einem alten, schwarzgekleideten Diener, der am Schlag lehnte, ins Auge gefallen, und als ich die Treppe hinanstieg, konnte ich im Hause ein außergewöhnliches feierliches Treiben wahrnehmen. In dem bekannten Zimmer angelangt, fand ich den Doktor am Bette, aber eben im Begriffe, sich zu verabschieden. »So eilig, Bester?« fragte mein Freund. »Bleiben Sie doch noch ein wenig bei uns!« »Geht nicht. Wir haben heute große Visite. Die Oberin der Schwestern, die hier den Dienst der Krankenpflege versehen. Aber erschrecken Sie nur nicht! Hierher wird sie sich wohl schwerlich verirren, obgleich ich Ihnen beiden wünschen möchte, sie kennen zu lernen. Eine ganz merkwürdige Persönlichkeit. Die Tochter des ehemaligen Staatsrates Reichegg. Auf sie ist jedoch das Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme fällt. Keine Spur von jener finsteren Bigotterie und starren Unduldsamkeit, durch welche sich ihr Vater einst eine so traurige Berühmtheit erworben. Sie ist vielmehr eine echte Frauenseele, voll Nachsicht und Menschenliebe – und jener Frömmigkeit, die einen bedauern läßt, daß man sie selbst nicht mehr besitzen kann. Und auch da oben« – er deutete mit dem Finger nach der Stirn – »sieht es ganz respektabel aus; es ist mir jedesmal ein Vergnügen, sie durch die Krankensäle geleiten zu können. Schade, ewig schade, daß sie Nonne geworden. Es ließe sich zwar annehmen, daß sie der Alte bei seiner demütigen Hinneigung zur Kirche von Kind auf dazu erzogen – aber ich glaub's nicht. Wenn die Weiber ins Kloster gehen, steckt immer eine unglückliche Herzensgeschichte dahinter. Falls es Sie interessiert, sie zu sehen« – wandte er sich an mich – »so finden Sie sich in etwa einer Stunde unten im großen Hofe ein. Dort muß sie, wenn sie die Anstalt verläßt, an Ihnen vorüberkommen. Es wird Sie nicht reuen; solche Erscheinungen werden in unserer Zeit immer seltener.« Damit ging er und ließ mich allein bei dem Kranken zurück, der eine üble Nacht gehabt zu haben schien und müde die Augen schloß. Ich aber setzte mich ans Fenster und blickte vor mich hin. Die Worte des Doktors hatten in mir Erinnerungen geweckt – nähere und entferntere, und wie sie sich jetzt wechselseitig belebten und ergänzten, zog folgendes im Geist an mir vorüber. 1. I. Es war um die Mitte der fünfziger Jahre, im Hochsommer, als ich, damals noch in Militärdiensten stehend, mit einer Abteilung meines Regiments in ein kleines mährisches Landstädtchen einrückte. Wir waren schon vor Tag aufgebrochen, hatten, während die Sonne immer heißer niederbrannte, über vier Meilen auf der staubigen Heerstraße zurückgelegt, und so begrüßten wir den freundlichen Ort, wo uns nach mehrtägigen Eilmärschen ein Ruhetag gestattet war, aufs freudigste. Ein Teil der Einwohnerschaft war uns ein gutes Stück entgegengekommen und schritt uns jetzt bei den lustigen Klängen unserer Musik voran. Reinlich und einladend lagen die Gassen da, viele Häuser von Bäumen beschattet oder mit netten Vorgärtchen versehen. Hier und dort lugte, halb versteckt, ein rosiges Mädchenantlitz hinter weißen Fenstergardinen hervor, und auf dem Marktplatze, wo wir hielten, zeigten sich stattliche Gastwirtschaften, unseren ermatteten Leibern und verlechzten Kehlen Stärkung und Erquickung verheißend. Ich fühlte mich daher nicht sehr angenehm überrascht, als ich bedeutet wurde, daß mir und meiner Mannschaft zur Unterkunft ein Dorf angewiesen sei, welches noch eine Wegstunde entfernt lag. Selbst der Beisatz, der verheißend klingen sollte: daß ich für meine Person in einem gräflichen Schlosse Aufnahme finden würde, hatte eben nichts Tröstliches. War ich doch gewohnt, die Marschtage als ein willkommenes Aufatmen aus der Zwangsjacke des Garnisonsdienstes zu betrachten, um mich in fröhlicher Ungebundenheit meinen Neigungen überlassen zu können – und nun drohte mir eine vornehme Gastfreundschaft, die mich vielleicht zu einem steifen gesellschaftlichen Verkehr mit unbekannten, mir gänzlich ferne stehenden Menschen verpflichtete. Indessen galt es, sich in das Unvermeidliche zu fügen, und so befahl ich meine Leute, die gleich mir verdrossen vor sich hinsahen, zum Abmarsch, indem ich die Trommel rühren ließ. Eine ziemlich breite Seitenstraße führte uns anfänglich in einen scharf abgegrenzten Fichtenbestand, und nachdem wir diesen bald durchschritten hatten, zog sie sich in mehrfachen Krümmungen zwischen weit ausgebreiteten Kornfeldern hin. Still brütete die Mittagshitze über der schnittreifen Frucht, und am Ende der sonnigen Fläche ragte aus verfallenen Strohdächern der Kirchturm des Dorfes empor, während uns das Schloß, auf einer mäßigen, dicht bewaldeten Höhe gelegen, hell und glänzend entgegenschimmerte. Endlich hatten wir das Dorf erreicht, und ich war eben daran, einige letzte Befehle zu erteilen und die Mannschaft in ihre Quartiere zu entlassen, als ein wohlgekleideter, behäbig aussehender Mann auf mich zukam. Er gab sich, höflich grüßend, als Verwalter des Schlosses zu erkennen und hatte ein leichtes, mit kräftigen Braunen bespanntes Gefährt mitgebracht, das ich auf seine Einladung mit ihm und meinem Diener bestieg. Während er nun, an meiner Seite sitzend, den Pferden die Zügel schießen ließ, und wir auf einem bequemen Parkwege die Höhe hinanrollten, fragte ich ihn, wer denn eigentlich der Eigentümer des Schlosses sei. »Seine Exzellenz, der Herr Graf von Reichegg«, antwortete er mit einer gewissen bescheidenen Wichtigkeit. »Wie? Der Staatsrat Reichegg?« fuhr ich überrascht und betroffen fort. »Allerdings. Seine Exzellenz sind auch gegenwärtig mit Gemahlin und Tochter hier anwesend.« Nun versank ich in ein nachdenkliches Schweigen; auf eine solche Begegnung war ich nicht vorbereitet gewesen. Der Graf gehörte zu den hervorragendsten Persönlichkeiten jener Zeit. Im Staatsdienste und in der Schule Metternichs ergraut, stand er an der Spitze aller rückläufigen Bewegungen, die in Österreich nach dem Jahre Achtundvierzig wieder Platz gegriffen hatten. Seine feudalen und klerikalen Gesinnungen waren sprichwörtlich geworden, und man bezeichnete ihn allgemein als einen der Haupturheber des Konkordats, das man soeben mit dem päpstlichen Stuhle abgeschlossen hatte. So konnte mir, obgleich ich mich damals um derlei Dinge nur sehr wenig kümmerte, weder sein Name, noch die hohe Stellung, die er im Staate einnahm, fremd sein. Überdies hatte ich ihn selbst bereits mehrmals in Wien gesehen, zumeist bei gewissen öffentlichen Feierlichkeiten, wo mir sein stolzes, finsteres Wesen, das er wie absichtlich zur Schau trug, stets sehr unangenehm aufgefallen war. Auch seine Gemahlin war mir nicht unbekannt; denn sie zählte zu den glänzendsten Frauengestalten der Residenz. Einem alten Fürstengeschlecht entstammend und von einer Schönheit, die infolge höchst eigentümlicher Verschmelzung des Hoheitsvollen mit dem Reizenden geradezu einzig genannt werden konnte, stand sie in dem Ruf, eine Art Messalina zu sein. Das Tagesgespräch wurde nicht müde, von ihren Abenteuern das Unglaublichste in Umlauf zu bringen; ja man bezeichnete sogar die Männer, welche sich, allen Schichten der Gesellschaft angehörend, ihrer Gunst sollten erfreut haben. Trotzdem war sie nicht etwa der Gegenstand sittlicher Entrüstung; sie wurde vielmehr allgemein bewundert. Wenn sie, und zwar in der Regel allein, oder doch nur an der Seite ihres Gatten, der sich mit seinen weißen Haaren und den harten, unfreundlichen Zügen seltsam genug neben ihr ausnahm, im offenen Wagen durch die Alleen des Praters fuhr: da bildeten die Fußgänger, wie gebannt, nur eine dichtgedrängte Reihe, um sich an dem unvergleichlichen Adel und Liebreiz ihrer Erscheinung, an ihrer ebenso geschmackvollen als kostbaren Kleiderpracht, die auf das hohe Modetribunal des zweiten Kaiserreiches hinwies, zu entzücken, und vorwiegend war es gerade das weibliche Geschlecht, das mit ihr einen fast schwärmerischen Kultus trieb. Auch in der Oper und im Schauspiel waren aller Augen auf sie gerichtet, und ein deutlich vernehmbares Ah! befriedigter Erwartung ging durch das Haus, wenn sie, nachdem ihre Loge länger als sonst leer geblieben war, plötzlich an der Brüstung erschien. – Und dieser Frau, diesem Manne sollte ich nun als junger, kaum flügge gewordener Offizier, der sich niemals in der großen Welt bewegt hatte, entgegentreten! Es war ein in jeder Hinsicht beklemmender Gedanke, und ich schöpfte noch einigen Trost aus der naheliegenden Annahme, daß man mich vielleicht bloß der Sorge des Schloßverwalters überantworten und gar nicht an sich heranziehen würde. – Inzwischen hatten wir die Avenue erreicht, wo ein mächtiger Springbrunnen im Sonnenschein stäubte und glitzerte. Der Verwalter lenkte den Wagen rückwärts um das Schloß herum, hielt vor einem niederen Seitentore und geleitete mich über eine vereinsamte Treppe in den Halbstock empor. Dort schloß er ein kühles, weitläufiges Gemach auf, wo ich schon alles zu meinem Empfange vorgerichtet fand. »Ich bitte, es sich hier bequem zu machen«, sagte er. »Wenn etwas fehlen sollte – diese Klingelschnur geht nach meiner Wohnung. Um fünf Uhr wird gespeist. Die Herrschaften erwarten Sie zu Tische. Dürfte ich einstweilen um Ihre Karte bitten, um dieselbe Seiner Exzellenz überbringen zu lassen.« Ich war also dem Geschicke verfallen. Widerstandslos übergab ich dem Manne die Karte und schritt, nachdem er sich entfernt hatte, im Zimmer auf und nieder, wobei ich gedankenlos die Landschafts- und Schlachtenbilder in der Art Salvator Rosas betrachtete, die an den Wänden hingen. Dann trat ich ans nächste Fenster. Es ging auf das wohlgepflegte Parterre des Schloßparkes hinaus, in dessen Mitte ein hochstämmiger Rosenflor seine duftige Pracht entfaltete. Nachdem ich eine Zeitlang in das funkelnde Farbengemisch von Blumen und Rasen, von Himmel und Baumwipfeln hineingeblickt hatte, nahm ich etwas von den bereitstehenden Erfrischungen und streckte mich endlich auf ein bequemes Sofa hin, zuvor noch meinem Diener auftragend, sich in einer Stunde wieder bei mir einzufinden. Ich gedachte, ein wenig zu schlummern; aber war es nun Übermüdung oder innere Erregung – es wollte mir nicht gelingen. Während ich mich so eine Weile unruhig hin und her bewegte, vernahm ich, wie über mir ein Flügel angeschlagen wurde. Nach einem kurzen, ernsten Präludium begann eine klangvolle Altstimme ein Lied zu singen, in dem ich alsbald, der Melodie und dem deutlich vernehmbaren lateinischen Texte nach, ein geistliches erkannte. Mit jener tiefen, leidenschaftlichen Inbrunst, welche die katholische Kirchenmusik kennzeichnet, drangen die Töne in den Park hinaus und verzitterten mit leisem Widerhall in der lautlosen Luft des Nachmittags. Das Lied war zu Ende; noch einige Akkorde auf dem Klavier, dann wie ein nachzuckendes Gefühl die Wiederholung des Schlusses – und es herrschte wieder die frühere Ruhe. Seltsam ergriffen lag ich da und lauschte noch immer. Endlich sah ich nach der Uhr; die Stunde war fast abgelaufen. Ich sprang auf, und als ich einen Blick durch das Fenster tat, gewahrte ich, wie unten eine hochgewachsene, schlanke Mädchengestalt langsam den kleinen Rosenwald umschritt. Sie trug ein weißes Kleid, dem ein dunkles Band als Gürtel diente; ihre Gesichtszüge konnte ich nicht ausnehmen; aber ihr blondes Haar schimmerte mir wie helles Gold entgegen. Jetzt blieb sie vor einem Bäumchen mit weißen Rosen stehen, und nachdem sie eine davon gepflückt hatte, schlug sie langsam, das Haupt zur Blume in ihrer Hand niederneigend, einen Seitenpfad ein, der sie bald meinen Blicken entzog. Während sie verschwand, war es mir, als hätte sie die Rose an die Lippen gedrückt. – Mittlerweile hatte sich mein Diener eingefunden, und da bereits die vierte Stunde heranrückte, so galt es, mit raschem Entschlusse den Dingen entgegenzugehen, die da kommen sollten. Ich kleidete mich um und ließ anfragen, ob mich Seine Exzellenz empfangen wolle. Eine bejahende Antwort erfolgte bald durch einen Diener des Hauses, der mich in das obere Stockwerk und über einen langen, mit Jagdtrophäen gezierten Gang nach dem Zimmer des Grafen geleitete. Dieser erhob sich bei meinem Eintritt am Schreibtische, wo er eben gearbeitet zu haben schien, und trat mir in aufrechter Haltung einen Schritt, aber nicht mehr, entgegen. »Es freut mich stets,« sagte er mit fester, etwas bedeckter Stimme, nachdem ich einige passende Worte gesprochen und mich auf einen Wink von ihm niedergelassen hatte, »wenn ich einen kaiserlichen Offizier in meinem Schlosse beherbergen kann. Um so mehr aber heute, als mir« – er warf einen Blick auf meine Karte, die neben zerstreuten Papieren auf dem Tische lag – »der Name, den Sie führen, seit langem bekannt ist. Ich entsinne mich nämlich«, fuhr er fort, indem er mich aufmerksam und forschend ansah, »aus der Zeit, da ich als junger Mann unter der Regierung des Kaisers Franz in Staatsdienste trat, mit Vergnügen eines höheren Vorgesetzten gleichen Namens.« »Das dürfte mein Großvater gewesen sein.« »Gewiß; und ich gebe mich wohl keiner Täuschung hin, wenn ich in Ihren Zügen eine gewisse Ähnlichkeit mit den seinen zu erblicken glaube. Der lebhafte alte Herr steht mir noch ganz deutlich vor Augen. Ein wahres Muster eines loyalen, pflichtgetreuen Staatsdieners, wenn auch sein Wirken über ein bloß bureaukratisches nicht weit hinausging. Es war damals«, setzte er nach kurzem Schweigen nachdenklich hinzu, »eine Zeit voll unerhörter, erschütternder Bewegungen. Die französische Revolution hatte die ganze Weltordnung umzukehren gedroht, und nun machte der Korse Europa zittern. Vor allem war es Österreich, auf dessen Erniedrigung, auf dessen Untergang er es abgesehen hatte. Aber im Rate der Vorsehung war es anders beschlossen. Dynastie und Staat sind aus all diesen äußeren Gefahren nicht minder siegreich und glänzend hervorgegangen, als aus den fluchwürdigen Umsturzbestrebungen, die man jüngster Zeit in allen Teilen der Monarchie zu bekämpfen und – zu vernichten hatte. Und so wird sich der Spruch bewahrheiten: Austria erit in orbe ultima – durch den Schutz des Allmächtigen, seiner heiligen Kirche – und kraft unserer ruhmvollen Armee.« Mir wurde ganz unheimlich zumute. In das eherne Antlitz des Grafen war bei diesen Worten ein erschreckend finsterer und grausamer Zug getreten, und es schien, als wollte er jetzt und jetzt seine hagere, aber kräftig gebaute Gestalt, wie einem unsichtbaren Feinde gegenüber, zum Angriffe emporrichten. Unwillkürlich kehrte sich mein Blick von ihm ab und der zwar schlichten, aber bezeichnenden Ausstattung des Gemaches zu. Zwischen zahlreichen Bücherschränken stand ein einfacher Betschemel mit einem kleinen Kruzifix aus Ebenholz. An den Wänden sah man, sorgfältig gruppiert, in Lithographien die Bildnisse des Herrscherpaares, der Marschälle Windisch-Grätz und Radetzky, dann der Fürsten Metternich und Schwarzenberg, sowie anderer hervorragender weltlicher und geistlicher Würdenträger. Auf dem Schreibtische jedoch, seltsam genug, hatte der Graf neben einem Miniaturporträt seiner Gemahlin und dem etwas verblaßten eines hellockigen Kindes den Büsten Schillers und Goethes einen Platz eingeräumt. Er bemerkte, daß ich jetzt nach meiner flüchtigen Rundschau das Auge auf ihnen haften ließ, und sagte etwas milder: »Das waren zwei große, gewaltige Geister, und ich bin stets in Gesellschaft ihrer Werke.« Dabei wies er auf einen der Bücherschränke, die ihm zunächst standen. »Aber man darf sich von ihren Ideen nicht fortreißen lassen; denn Phantasie und Wirklichkeit sind zweierlei.« Er hatte seine Rede noch nicht beendet, als sich leise eine Seitentür öffnete und jene hohe Mädchengestalt, die ich früher vom Fenster aus gesehen, auf der Schwelle erschien. Sie blieb, als sie meiner ansichtig ward, einen Augenblick betroffen stehen, faßte sich jedoch allsogleich und schritt mit würdiger Haltung auf den Grafen zu, dessen Antlitz sich plötzlich wundersam erhellte und den Ausdruck tiefster Zärtlichkeit annahm. Ich hatte mich erhoben. »Meine Tochter Raphaela«, sagte der Graf, indem er mit seiner vertrockneten Hand kosend über das Haar der Eingetretenen strich, das jetzt in seiner reichen, blendenden Fülle fremdartig von den ernsten, fast schroffen Gesichtszügen abstach. Sie sah ganz ihrem Vater ähnlich. Das war dieselbe eckige Stirn, dieselbe weit und scharf geschwungene Nase; auch ihr Kinn war stark vorgeschoben. Nur der Mund erschien voller und weicher, und die Augen strahlten im reinsten Blau des Himmels. »Wo ist Mama, mein Kind?« fuhr der Graf schmeichelnd fort. »Ich glaube, sie ist mit Egon im Salon«, antwortete sie mit tiefer wohlklingender Stimme, die mich überzeugte, daß ich auch die Sängerin des Liedes vor mir hatte. Die Brauen des Grafen zogen sich leicht zusammen. Dann wandte er sich an mich und sagte förmlich: »Wenn es Ihnen gefällig ist, will ich Sie jetzt meiner Gemahlin vorstellen.« Er öffnete eine zweite Seitentür, und während seine Tochter voranging, durchschritten wir eine Flucht von reichausgestatteten Gemächern, bis wir endlich in den Salon gelangten. Mein Atem stockte ein wenig, als ich den weiten, dämmerigen Raum betrat, hinter dessen herabgelassenen Portieren der Altan des Schlosses lag. Auf einer niederen Ottomane, weit zurückgelehnt, sah die Dame des Hauses in leichten, schimmernden Gewändern; neben ihr, in einem Fauteuil, ein junger Mann, der eine bequeme Halbuniform trug und, da er sich bei unserem Eintritt erhob, durch seinen auffallend hohen Wuchs überraschte. Die Gräfin empfing mich, ohne ihre Lage zu verändern, freundlich vornehm und half mir sogleich mit einigen aufmunternden Worten über die erste Befangenheit hinweg. Dann wies sie flüchtig auf den jungen Mann und sagte: »Unser Vetter, Baron Rödern.« »Rittmeister außer Dienst – und Attaché ohne Attachement«, setzte der Graf, während der Erwähnte und ich uns gegenseitig verneigten, wie scherzend hinzu; aber seine Stimme klang scharf. »Desto besser!« lachte der Baron, indem er einen prächtigen Reitstock, den er in der Hand hielt, nachlässig hin und her schwenkte. »Man kommt noch immer früh genug ins Joch – und ich liebe die Ungebundenheit.« Die Gräfin warf einen raschen Blick auf ihn; dann zog sie mich angelegentlich in ein Gespräch, dieses und jenes, das eben nahelag, ergreifend und eine Zeitlang festhaltend. Dabei hatte ich nun Gelegenheit, mich mehr und mehr in den Zauber ihrer Schönheit zu versenken. Was ich schon einst aus der Ferne an ihr hatte bewundern können: der volle und doch geschmeidige Wuchs, das lichte, von dunklen Haaren, wie von einer nächtigen Wolke umflossene Antlitz, die großen, langbewimperten Samtaugen – das alles trat mir jetzt in seiner ganzen Pracht entgegen, während zugleich die feinsten und individuellsten Reize sichtbar wurden. Um den zarten, rosigen Mund spielte, während sie sprach, ein entzückendes Lächeln, und dabei zitterten und zuckten ihre weiten Nasenflügel manchmal ganz eigentümlich, was ihren Zügen bei aller Weichheit einen höchst energischen Ausdruck verlieh. Wie sie so in nachlässiger Haltung vor mir saß und mit der perlmutterartig schimmernden Hand den Fächer gegen den wogenden Schnee ihrer Brust bewegte, da fühlte ich, welche bestrickende, verführerische Macht in dem Wesen dieser Frau lag, die über die eigentliche Jugend längst hinaus war und, wie ich bemerken konnte, schon zu allerlei kleinen Verschönerungskünsten griff. Im Vergleich mit ihrer von farbigster Lebensfülle gesättigten und durchleuchteten Erscheinung, wie sie nur Rubens und Murillo vereint hätten darstellen können, erschien die aufgeschossene, schmalschultrige Raphaela mit ihrem herben, eintönigen Antlitz wie eine Gestalt von Lukas Cranach. Diese aber war inzwischen an ihren Vetter herangetreten und stand jetzt mit ihm in leiser Unterhaltung begriffen, wobei sich jedoch der junge Mann sehr zerstreut und innerlich abwesend zeigte. Endlich überreichte sie ihm mit einem vollen, innigen Blick die Rose, die sie im Parke gepflückt und später im Gürtel getragen hatte. Er nahm die weiße Blume gleichgültig in Empfang, beroch sie flüchtig und befestigte sie dann an der Brustseite seines Rockes. Ein Kammerdiener trat leisen Schrittes ein und meldete, daß das Diner serviert sei. Ich bot der Gräfin den Arm; Rödern führte Raphaela, und wir gingen zu Tische, wo auch eine französische Gouvernante mit blutlosen Zügen und gesenkten Augen erschien. Das Mahl ging rasch vonstatten. Rödern war sehr heiter und gesprächig, fast ausgelassen. Er neigte sich oft und höchst vertraulich zur Gräfin, scherzte in ungezwungener, gleichsam überlegener Weise mit ihrem Gatten, der dabei auffallend an sich hielt und nur manchmal die Brauen runzelte, wenn der junge Mann mit leichtfertiger Ironie öffentliche Persönlichkeiten oder politische Ereignisse besprach. Selbst an die Gouvernante richtete Egon in nicht allzu reinem Französisch einige Stichelreden, die mit leicht abwehrendem Schweigen hingenommen wurden. Nur Raphaela beachtete er wenig, obgleich ihm diese ihre volle Aufmerksamkeit zuwandte und sogar zweimal sein Glas mit Bordeaux füllte, davon er reichlich und mit Behagen trank, so zwar, daß sich sein hübsches, fast mädchenhaftes Gesicht höher und höher färbte. Die Tafel war aufgehoben; die Französin hatte sich lautlos entfernt, und man nahm nun den Kaffee auf dem Altane, wo sich eine prachtvolle Fernsicht über die weite Ebene bis zu den duftverschwommenen Höhen der Sudeten auftat. Nach einer Weile sagte Rödern, man solle doch jetzt einen Gang durch den Park unternehmen. Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall; wir schritten also die breite Freitreppe hinunter und immer tiefer in die stillen, wechselvollen Anlagen hinein. Die Sonne war bereits im Sinken. Goldig lagen ihre letzten Streiflichter über den Wipfeln; große Amseln flogen vor uns auf, und durch die Luft quoll der süße Geruch des Jasmins. Nach und nach wurden die Pfade steiler, und endlich standen wir vor einem großen Teiche, hinter dem schweigend und dunkel der Wald aufragte. Zahllose Wasserpflanzen schwammen auf der blaugrünen Fläche; zwei Schwäne zogen dazwischen ihre stillen Kreise; am Ufer war ein wohlgebauter Kahn befestigt. »Wer hat Lust, mit mir auf dem Teiche zu fahren?« rief Rödern, der mit der Gräfin Arm in Arm vorausgegangen war. »Ich nicht«, sagte diese, indem sie sich von ihm losmachte. »Sie treiben es zu toll, mein Lieber. Es hat das letztenmal wenig gefehlt, so wären wir beide ins Wasser gefallen.« »Kann ich nicht schwimmen?« erwiderte er übermütig. »Ich hätte Sie auf meinen Armen ans Land getragen.« »Schön; aber ich pflege um diese Zeit nicht zu baden.« Inzwischen hatte sich ihm Raphaela leise genähert. »Wenn es dir recht ist, Egon,« sagte sie, »so will ich mit dir fahren; ich werde dir zeigen, wie ich rudern kann.« »Was? Du?« rief er halb erstaunt, halb spöttisch, während die Gräfin ihre Tochter mit eigentümlichen Blicken ansah. »Ja«, entgegnete Raphaela ernst. »Du hast letzthin gesagt, daß wir Frauen es niemals würden erlernen können, und so übe ich mich seit einer Woche jeden Morgen darin – wenn ihr noch alle zu Bett seid.« »So!« lachte er. »Ich dachte, du säßest da über dem Thomas a Kempis. Nun, wir wollen sehen; zeige deine Kunst!« »Wenn Raphaela rudert,« warf die Gräfin hastig ein, »dann bin ich auch dabei. Aber Sie müssen vernünftig sein, Egon.« So begaben sich die drei in das zierliche Fahrzeug, und wirklich stieß Raphaela, nachdem sie die Ruder mit fester Hand ergriffen hatte, leicht und sicher vom Ufer. »Bravo! Sehr gut«, rief Rödern. »An dir ist ja ein Gondolier verloren.« »Da sehen Sie unsere ländlichen Vergnügungen«, sagte der Graf, mit dem ich jetzt langsam am Rande hinging. »Wir führen hier ein sehr zurückgezogenes, gleichförmiges Dasein; Baron Rödern allein bringt etwas Leben und Bewegung in unseren kleinen Kreis. Denn meine Tochter ist trotz ihrer Jugend sehr ernst und still und sitzt am liebsten bei ihren Büchern oder am Klavier.« Ich bemerkte hierauf, daß ich, allem Anscheine nach, die Komtesse kurz nach meinem Eintreffen habe singen gehört. »Haben Sie?« erwiderte er mit väterlichem Stolz. »Nicht wahr, eine prachtvolle Stimme, wenn auch noch nicht völlig entwickelt. – Sie ist überhaupt ein einziges Kind!« fuhr er fort, indem er mit jenem Ausdruck tiefster Zärtlichkeit, der mich früher so überrascht hatte, nach dem Kahn blickte. »Der Himmel hat mir einen Sohn versagt, aber mit dieser Tochter reichen Ersatz gewährt. Sie war bis jetzt«, wandte er sich mit herablassender Vertraulichkeit an mich, »in dem Erziehungsinstitute für adelige Fräulein in L .... Eine ausgezeichnete Anstalt, die sie als vorzüglichste Schülerin verlassen hat. Es ist erstaunlich, welche ausgebreiteten Kenntnisse sie besitzt; offen gestanden, ich fühle mich ihr gegenüber oft unwissend. Freilich verdankt sie vieles, ja das meiste nur sich selbst und ihrem unermüdlichen Fleiße. Und dabei – welch ein Gemüt! Die Hingebung und Zärtlichkeit, die Güte und Frömmigkeit selbst! Wie gesagt, ein einziges Kind! Möge sie glücklich werden!« fügte er, vor sich hinblickend, mit einem leisen Seufzer bei. Doch so als hätte er mich zu tief in sein Herz blicken lassen, rückte er sich plötzlich in seiner stolzen Haltung zurecht, und der gewöhnliche harte, finstere Zug trat allmählich wieder in sein Antlitz. Inzwischen aber hatte es Rödern nicht über sich gebracht, »vernünftig« zu bleiben. Nachdem er sich eine Zeitlang ruhig verhalten, pflückte er eine Wasserlilie, steckte sie der Gräfin ins dunkle Haar und nahm dann den Platz Raphaelas ein, worauf er sogleich anfing, allerlei gewagte Ruderkünste zu versuchen. Dabei geriet das Schifflein in ein höchst bedenkliches Schwanken, und als er endlich, seine Ausgelassenheit mehr und mehr entfesselnd, trotz der Bitten und Abmahnungen Raphaelas, trotz der Angstrufe ihrer Mutter, in raschen, immer engeren Wendungen einen Schwan verfolgte, der mit zornigen Flügelschlägen fauchend vor dem Kiele herschoß, da war es in der Tat Zeit, daß sich der Graf ins Mittel legte und mit herrischem Tone befahl, ans Land zu stoßen. So erreichte man zuletzt doch wohlbehalten das Ufer und trat nun vereint, jedoch ziemlich einsilbig, beim rötlichen Scheine des Abends den Rückweg an. Vor dem Schlosse kehrte sich der Graf zu mir und sagte gemessen: »Sie dürften sich ermüdet fühlen und es vielleicht vorziehen, den Tee auf Ihrem Zimmer zu nehmen. Wir wollen Sie nicht länger halten.« Ich verneigte mich schweigend. Dann nahm ich von den übrigen Abschied und zog mich zurück. Obgleich ich in der Tat der Ruhe bedürftig war und auch alsbald zu Bette ging, hielten mich doch, indem ich unwillkürlich den Eindrücken des Tages nachhing, fragende Gedanken und leise Schauer der Seele noch lange wach. Endlich schlief ich ein. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich erwachte. Frisch und würzig drang der Duft des Morgens mit dem Gezwitscher der Vögel durch die geöffneten Fenster herein, und ich machte mich fertig, meinen dienstlichen Verpflichtungen im Dorfe nachzukommen. Über diesen ging ein Teil des Vormittags hin; nunmehr aber sollte ich mich nach dem Städtchen begeben, wo ich weitere Befehle und Anordnungen für morgen entgegenzunehmen hatte. Da ich voraussah, daß man mich dort an den Offizierstisch ziehen und so bald nicht wieder loslassen würde, so erschien es mir geraten, mich schon jetzt bei dem Herrn des Schlosses zu verabschieden. Ich fand ihn diesmal sichtlich zerstreut und verstimmt; vielleicht durch den Inhalt mehrerer Briefe, die eben mit der Post gekommen zu sein schienen und erbrochen auf dem Schreibtische lagen. »Ich bedauere,« sagte er obenhin, »daß Sie heute nicht mehr unser Gast sein können. Setzen Sie Ihren Marsch glücklich und wohlbehalten fort! – Es wird auch den andern leid tun, Sie nicht mehr zu sehen. Meine Frau ist ausgeritten – und meine Tochter weilt jetzt bei ihren Studien.« Dabei machte er eine leichte Bewegung, als wollte er sagen: Sie sind entlassen. Aber nach kurzem Bedenken blickte er mich freundlicher an und fuhr mit einer gewissen Wärme fort: »Es war mir in der Tat eine Freude, Sie kennen gelernt zu haben. Leben Sie wohl!« Und er reichte mir die Hand, die ich, unwillkürlich zögernd, mit der meinen berührte. Ich empfand es wie eine Erleichterung, als ich die Tür hinter mir hatte, und wohlgemut wanderte ich dem Städtchen zu, wo ich alles in fröhlicher Bewegung fand. Denn man hatte uns zu Ehren die Anstalten zu einem Feste getroffen, das schon früh am Nachmittage mit einem lärmenden Preisschießen begann und später in einen ländlichen Ball überging. Auch ich hatte daran teilgenommen, hatte mich länger, als ich beabsichtigte, verweilt, und so war bereits die Nacht schwül und dunkel auf die Gefilde herabgesunken, als ich den Saal der Schießstätte verließ und mit pochenden Schläfen den Rückweg antrat. Kein Laut regte sich in den Fichten; schwer und betäubend schlug mir der Duft des Kornes entgegen, das jetzt die aufgesogene Glut des Tages ausstrahlte; am Horizont zuckte von Zeit zu Zeit ein fahles Wetterleuchten. Schweigend, in nächtlicher Ruhe lag endlich das Schloß vor mir; nur einige wenige Fenster waren noch erleuchtet. Ich fand das kleine Tor unverschlossen und begab mich in mein Zimmer. Da der Abmarsch um drei Uhr morgens stattfinden sollte, so warf ich mich nur halb entkleidet auf das Sofa, wo ich mich einem leichten Schlummer überließ. Plötzlich erwachte ich; es war wie taghell im Zimmer. Erschreckt richtete ich mich empor, ich glaubte schon weit in den Morgen hinein geschlafen zu haben. Aber es war nur der Mond, der sich inzwischen am Himmel erhoben hatte und mit seinem milden Lichte das Gemach durchflutete. Ich blickte nach der Uhr; sie wies eine Stunde nach Mitternacht. Was sollte ich nun beginnen? An Schlaf und Ruhe war nicht mehr zu denken; ich beschloß daher, die Zeit bis zum Aufbruche im Parke zu verbringen, dessen mondbeglänzte Wipfel mich wundersam anlockten. Rasch kleidete ich mich völlig an, warf einen leichten Mantel über – und bald knisterte der feine Kies der Wege unter meinen Tritten. Kein Blatt regte sich; in hellem Tau schimmerte der Rasen, und geisterhaft leuchteten die Blumen hinter den Laubgängen auf, die mich immer tiefer in ihre Windungen zogen, bis mir endlich der Teich glitzernd und flimmernd entgegensah. Mit weitgeöffneten Kelchen lagen die Wasserlilien im feuchten Glanze, kaum unterscheidbar von dem Gefieder der Schwäne, die auf einer kleinen Insel schliefen und träumerisch die Flügel regten, während hin und wieder aus der Tiefe kurze geheimnisvolle Laute heraufdrangen. Nachdem ich das schlummernde Wasserreich langsam umschritten hatte, trat ich in ein nahes Boskett, in welchem ich eine Bank vermutete und auch wirklich zwischen zwei hohen Platanen am Sockel einer Najade aus Sandstein antraf. Und als ich jetzt unter den schweigenden Wipfeln saß und dem leisen Weben der Nacht lauschte, da wurden die Bilder der letzten zwei Tage wieder in meinem Geiste lebendig. Ich sah die Gestalten der Schloßbewohner vor mir bis auf den kleinsten, feinsten Zug: den stolzen, finsteren Grafen, das schöne, blühende Weib mit den dunklen Samtaugen, das ernste blonde Mädchen – und den jungen Mann, der so ausgelassen den Kahn auf der stillen Wasserfläche gelenkt hatte .... Da glaubte ich mit einem Mal ferne Tritte zu hören. Ich hatte mich nicht getäuscht; sie kamen näher und näher – und schon klangen bekannte Stimmen an mein Ohr, zwar gedämpft, doch deutlich vernehmbar in der Stille der Nacht. »Ich sage dir nur, daß sie dich liebt!« »Wenn auch. Meine Schuld ist es nicht; du weißt, mit welcher Gleichgültigkeit ich ihr stets begegne.« »Das ist wahr; aber mich dauert das arme Kind. Sie hat viel von ihrem Vater, nimmt alles ernst und schwer, selbst kleine, unbedeutende Dinge. Sie kann nicht vergessen; ich fürchte, dieser Eindruck wird ihr fürs Leben bleiben.« »Ah pah! Mädchenträume! Sie wird sich schon zurechtfinden; ihr Sinn ist ohnedies mehr aufs Überirdische gerichtet. Ich jedoch halte mich an die volle, blühende Wirklichkeit!« »Du liebst mich also?« Und die Stimme der Gräfin klang weich und zärtlich. Es erfolgte keine Antwort; aber eine Stille trat ein, durchweht von den stürmischen Hauchen und Küssen einer langen, leidenschaftlichen Umarmung. Zitternden Herzens preßte ich die Lippen zusammen. Ich hatte den günstigen Augenblick, mich zu entfernen, versäumt – und nun stand die Gräfin mit Rödern in der Nähe des Bosketts; die leiseste Bewegung, ein Odemzug mußte meine Anwesenheit verraten. »Und wie lange wirst du mich lieben, Flattersinn?« klang es endlich. »So lange ich atme!« klang es berauscht entgegen. »Gedenke deiner Worte!« stieß jetzt die Gräfin mit wildem, fast unheimlichen Flüstern hervor. »Ich lasse dich auch nicht mehr: du bist mir verfallen mit Leib und Seele!« Es war zu vernehmen, wie sie ihn umschlang; dann setzten sich die Schritte der beiden wieder in Bewegung. Ich erstarrte. Wenn sie jetzt in das silberberieselte Dunkel traten – die Folgen waren undenkbar! Aber sie lenkten unter zärtlichem Geflüster rechts ab und kehrten in einem Bogen nach dem Schlosse zurück. Je ferner, je schwächer ihre Tritte klangen, desto leichter, desto freier fühlte ich mich; als es jedoch wieder ganz still geworden war, da griff mir ein scharfes, eisiges Weh ans Herz. Ich war damals noch jung und kannte die Untiefen des Lebens bloß vom Hörensagen; sie waren für mich bis jetzt wesen- und bedeutungslos geblieben, wie die Gerüchte, welche ich früher über die Gräfin vernommen. Nun aber, wo das, was ich, ohne es mir selbst einzugestehen, schon halb erraten hatte, plötzlich greifbar enthüllt vor mir lag, da war es mir, als hätt' ich in einen Abgrund geblickt. Die Begriffe von Gatten- und Mutterliebe, von Recht und Pflicht, von Treue und Gewissen – alle diese Stützen, die bisher das Dasein so wohlgefügt und harmonisch vor meinen unbefangenen Blicken aufrecht erhalten hatten, brachen mit einem Male zusammen, und nur ein ekler Sumpf, ein grauenvolles Chaos blieb zurück. – Endlich entriß ich mich der Stelle, suchte meinen schlafenden Diener auf und begab mich in das Dorf hinunter, wo ich noch vor der Zeit Reveille schlagen ließ. Und fort zog ich in den grauenden Tag hinein, das Schloß, seine Menschen und ihre Schicksale hinter mir zurücklassend. 2. II. Jahre waren dahingegangen. Das Leben, immer ernster und vielgestaltiger mit strengen Forderungen an mich herantretend, hatte sich mir in seiner wahren Bedeutung enthüllt, und ich dachte kaum mehr meines kurzen Aufenthaltes im Schlosse Reichegg. Aus den öffentlichen Blättern hatte ich zwar entnommen, daß der Graf mit dem Tode abgegangen sei. Durch die Zeitereignisse gestürzt, den Untergang alles dessen erlebend, was er begründen half, war ihm bei dem großen Wandel der Dinge nichts übriggeblieben, als zu sterben. Auch hatte ich nach dem Feldzuge des Jahres sechsundsechzig in den Verlustlisten einen Major Egon Baron Rödern als tot verzeichnet gefunden. Von der Gräfin und Raphaela jedoch vernahm ich nichts mehr. Neue Verhältnisse hatten neue Erscheinungen in den Vordergrund gestellt; die schöne, einst so gefeierte Frau war vergessen und blieb mit ihrer Tochter verschollen – für diejenigen wenigstens, die mit ihren Kreisen nicht in Berührung kamen. – – Da traf es sich, daß ich bei einem kurzen Aufenthalte in der Lagunenstadt vor einem Kaffeehause des Markusplatzes saß. Es war noch ziemlich früh am Tage, und nur wenige Menschen beschritten die prächtigen Quadern, auf welche die Sonne hell und glänzend niederschien. Plötzlich zeigte sich, von der Stadtseite kommend, unter den Arkaden ein vornehm aussehendes Paar in Reisekleidern; ein Herr und eine Dame, die Arm in Arm einhergingen. In dem ersteren erkannte ich sofort einen aus der Mode gekommenen Wiener Tonkünstler, der einst als Virtuose glänzende Erfolge zu verzeichnen gehabt hatte und von den Frauen sehr gefeiert worden war. Auch die Dame mutete mich nicht völlig fremd an; diesem hohen Wuchse, diesen stolzen und doch geschmeidigen Gliederbewegungen mußte ich schon irgendwo begegnet sein. Als mir die beiden näher gekommen waren, trat ein Blumenmädchen mit erhobenem Korbe auf sie zu. Die Dame blieb stehen, hielt ihren Begleiter, der vorbeischreiten wollte, am Arme fest – und nun zuckte ich zusammen: ich hatte mit einer dem Erschrecken verwandten Empfindung die Gräfin erkannt! Ihr Antlitz konnte zwar, trotz der weißen Schminke, die darüber lag, noch immer schön genannt werden, aber alles Milde und Liebliche, das früher so sehr entzückte, war daraus verschwunden, und ein herrschsüchtiger, rücksichtsloser, durch das herannahende Alter gereizter und erbitterter Wille hatte sich mit verletzender Schärfe in jedem einzelnen Teile ausgeprägt. Einen noch traurigeren Anblick bot der Mann an ihrer Seite dar. Er war auffallend rasch gealtert, seine Haltung erschien nachlässig und gebückt, während in seinen nicht unedlen Zügen ein unsäglich öder, trostloser Ausdruck von stummer Duldung und verbissenen Qualen lag, der zu seinem früheren selbstbewußten Auftreten in peinlichem Widerspruche stand und die traurigsten Vermutungen wachrief. Mit scheuer, verdrossener Lüsternheit blickte er von der Seite nach dem jungen, großäugigen Geschöpfe, das, ein dünnes Korallenschnürchen um den bräunlichen Hals, vor der Gräfin stand. Er schien froh zu sein, als diese endlich eine Anzahl kleiner Sträuße ausgewählt und mit unangenehmen Lächeln mehrere Silbermünzen in den Korb des Mädchens geworfen hatte. – Ich konnte mich nicht enthalten, den beiden in einiger Entfernung bis auf die Riva zu folgen, wo sie eine Gondel heranwinkten. Sie stiegen ein und ließen sich hinausrudern in die blaue, schimmernde Wasserfläche, wie von einem dunklen Sarge umschlossen. Es waren zwei Tote. – – Langsam kehrte ich über die Piazetta wieder zurück. Düster und schweigend lagen die alten Paläste da und wehten mich in ihrer verfallenden Pracht mit den Schauern der Vergänglichkeit an. – Wie lange war es her, da umflatterte noch das schwarzgelbe Banner Österreichs den weitausblickenden Turm, und unter den mächtigen Säulenhallen wogte das bewegte, glänzende Leben verhaßter Fremdherrschaft auf und nieder. Nun war Venedig frei – aber auch stiller, einsamer, öder geworden. Und wie hatte sich dieser Wandel vollzogen! Langsam, schrittweise, doch unaufhaltsam, trotz aller Gegenbestrebungen. Erschien es doch wie tragische Ironie, als man zuletzt ratlos die Erfüllung in die Hand des Mannes legte, der damals an der Seine über das Los der Völker entschied! Unwillkürlich mußte ich des toten Grafen und seiner stolzen Überzeugungen gedenken; es war mir, als ginge sein Schatten neben mir her, scheu und finster. – Und seine Tochter? Wo weilte sie? Hatte sie sich, wie Rödern damals vorausgesetzt, zurechtgefunden , oder war sie ein einsamer Fremdling geblieben in dieser Welt voll Irrtum und Schuld; in dieser Welt, wo nichts Bestand hat, als der Schmerz, und selbst das Höchste, Bedeutsamste allmählich vergeht und verweht, als wäre es nie gewesen? – – – Und nun hatte mir die Zeit , die alles enthüllt und selbst das Getrennteste nach und nach zusammenführt, auch diese Frage beantwortet .... * * * »Du bist heute sehr schweigsam«, sagte der Kranke, der inzwischen wieder die Augen aufgeschlagen hatte. »Was hast du?« »Nichts – ich werde es dir später mitteilen. Jetzt will ich mir die Oberin ansehen, von der uns der Doktor erzählt hat.« Damit verließ ich das Zimmer und begab mich in den Hof hinunter, wo sich bereits eine Schar von Kranken beiderlei Geschlechtes, wohl in gleicher Absicht, eingefunden hatte. Wir mußten uns lange gedulden. Endlich kam sie, von einer jüngeren Ordensschwester, dem Direktor der Anstalt und den Ärzten begleitet, die Treppe herunter. Ruhig und würdevoll, die ernsten blauen Augen vor sich hingerichtet, durchschritt sie die Reihen der Harrenden, mit leisem Senken des Hauptes dargebrachte Grüße erwidernd. Die Flucht der Jahre hatte ihrem Antlitz bis auf einige Fältchen um den Mund keinerlei Spuren eingedrückt, vielmehr erschien sie jetzt in erhabener, vergeistigter Schönheit, mit welcher die weiße Beguine, der dunkle Faltenwurf der Gewänder und das goldene Kreuz vor der Brust in ergreifendem Einklange standen. Draußen wurde der Kutschenschlag geöffnet – und die Oberin fuhr durch das Menschengewühl belebter Gassen ihrem Kloster zu, das, wie ich später sehen konnte, am äußersten Ende der Stadt auf einer sanften, wipfelbeschatteten Anhöhe lag.