Vergebens »Damit ist die Vorstellung zu Ende, Liddy,« sagte in der vordersten Reihe ein hochgewachsener, bleicher Herr von studentischem Aussehen. In die Gruppe der Nächststehenden kam eine plötzliche Bewegung ungenierter Neugier, die wissen wollte, wer Liddy sei. Man sah ein junges, unscheinbares Mädchen mit einem Mausgesicht und harten Händen, sah eine blauwollene, großmaschige Jacke und über verkümmertem Haar einen billigen Modehut. Dann – das Interesse verlierend – schloß man sich dem dichten Zuge jählings auflebender Menschen an, die zum Ausgange strömten. Diesen sichtlich Unzufriedenen – aus deren durcheinandersummenden Reden die allgemeine Meinung herausklang, man habe für fünfzig Pfennige doch wildere Wilde, andere Samoaner erhofft – folgten, als letztes Paar, Liddy und Walter Senath. Nur das vertrauliche »Arm in Arm«, sonst nichts, deutete darauf, daß die Kleine innig zu dem Großen gehörte. Denn sie schritten schweigend hin. Keines wandte einmal den Kopf, um nach der Stimmung des anderen zu forschen, wie Liebende tun. So ward er nicht gewahr, daß die Fröhlichkeit von ihrem Gesichte verschwunden war, um derentwillen er einen ganzen Nachmittag voll trügerischen Jahrmarktwirrwarr erduldet hatte, und so war es möglich, daß der Ausdruck seines fein und scharf geschnittenen Antlitzes ihr nicht entdeckte, wie unerträglich die aufdringliche Karussellmusik, der stickige Bratwurstdunst und besonders die aufregende Lichtfülle dieser tollen Zweiwochenstadt ihm erschienen. Später, draußen auf der stillen Laternenallee, entging es ihr auch, daß der junge Student einmal leise das Wort »Tautau« vor sich hin sprach, wobei er die Lider sekundenlang senkte. Walter sann, tief und rein, aus einer berauschten Seele. Seine Gedanken reihten sich bunt aneinander und türmten sich hoch, wie zu einer Mauer, die ein weites Stück Welt umfaßte und Liddy ausschloß. Es sprach ihm Lob, daß er bei einem dieser Gedanken errötete: Als er das oft bewunderte Weib in ungeübten englischen Schulsätzen angeredet hatte, war sie mit einem wilden stolzen Blick der Verachtung davongegangen, hatten fremde Menschen in Gegenwart Liddys seine zaghafte Stimme belächelt. – – Liddys? Liddy durchbrach die Mauer. – Sie fiel ihm ein, und wieder verschönte ein flüchtiges Rot sein ernstes Gesicht. Sie konnte nicht schadenfroh sein. Sie war zu harmlos, viel zu langweilig. Ärgerlich langweilig war sie oft. Überdies: welche Faulheit im Sprechen und Denken! Welche Scheu vor allem, was ungreifbar! – Nie einen Wunsch. In den sechs, den sieben Monaten kaum ein Lachen, kaum ein Weinen! Wie wunderlich, daß solch ein Geschöpf ihm vertraut geworden! Doch nun, wie wohltuende Wärme durchdrang ihn das Bewußtsein, in redlicher Ausdauer Zeit und Besitz mit diesem treuen Kinde zu teilen, das von einer barbarischen Mutter lieblos vernachlässigt worden war. Kein Zweifel: er liebte die Kleine, – weil sie unaufgefordert ihm Hosen bügelte, das von der Waschfrau gebrachte Leinenzeug in die richtigen Schubfächer barg und alle Ungerechtigkeiten seiner nervösen Stimmungen mit sanfter Einfalt wortlos hinnahm. Sie tat noch mehr; sie kochte, sie nähte – und hatte früher in einer Fabrik um karges Geld mühselige, häßliche Arbeit verrichten müssen. »Liddy, warum nun so trüb? Du warst doch anfangs so lustig.« Aus trockenen Lippen quälte sich die kaum vernehmbare Antwort: »Mm – müde!« Wieder schweigend wanderten sie weiter, in einer schwarzen Gasse, durch einen Torgang, über einen unheimlichen Hof in ein Hinterhaus, wo sie müde tappend vier Treppen erklommen. Oben erleuchteten sie die stillos, aber behaglich möblierte Wohnung, legten Hut und Überzeug ab, und Liddy verriegelte lärmend die Fenster. In der Schlafkammer fand sie die Betten in einem Zustande, der vom Zeitvertreib einer Katze erzählte, die beim Öffnen der Türe ahnend entwichen war. Bald darauf lehnte Walter im Nebenraum am kalten Ofen und beobachtete mit beherrschtem Vergnügen, wie seine Geliebte ein steifes weißes Linnen über den schnörkelfüßigen Ahnentisch glättete. An diesem Tisch saß sie nach dem Abendessen, rücksichtslos bequem, mit aufgestemmten Ellenbogen, die Finger überm Nacken verflochten, und las einen Dutzend-Roman. Hinter ihr, auf einem verblaßten Diwan ausgestreckt, lag Walter. Seine weitgeöffneten Augen waren auf ein verräuchertes Stück der Decke gerichtet, wo über der Lampe matte Schattenringe spielten ... und er sah tanzende Samoaner. Und längst erstarrte Gedanken tauchten in seiner Seele zu brausenden Träumen, ihn fernhin zu tragen. Manchmal bewegten sich seine Lippen zu lautlosen Worten. Schwere, schleppende Atemzüge verloren sich in der Ruhe des Zimmers. – Allmählich begann Walter seine Gedanken in hörbare Worte zu fassen, die, je länger er sprach, um so leidenschaftlicher klangen. »Ach, die von Samoa! Liddy, wir sind erbärmliche Krüppel, suchende Blinde, verlogene Prahler, du, ich, wir Weißen alle gegen die von Samoa! Sie sind Gestalten aus heller Bronze, weitblickend und furchtlos; Krieger mit kalten Messern in schweren Fäusten, Jäger, die sich mit rauhen Knieen durch knackendes Buschwerk kühne Wege bahnen. Sie stehen in der Sonne im Sand, und Seewind kühlt ihre bloße Brust. Sie setzen sich in engen Zelten zu trotzigen Frauen mit reifen Brüsten; Frauen, wie Tautau, mit breiten Schenkeln und lässigen Hüften. Diese Frauen stecken sich feuchte, sterbende Blüten ins dunkle, unbändige Haar. Frauen mit lüstern wiegendem Gang reichen die Kawa in Kokosnußschalen.« – Liddy las. »Stelle dir vor, wir wandelten nackt über lichtgrüne Matten. Du trägst um den Hals eine kühlende Kette aus roten Korallen und Zähnen des Pottwals. Papageien schaukeln sich in säuselnden Palmen, und vor uns ragen die starren Berge. Wir lauschen am Strand, wie die ewigen Wogen kommen und scheitern, bis die Nacht uns ihr Weh in die Herzen gießt, und singende Mädchen in schmalen Kanus gleiten vorüber, große, scheue, traurige Mädchen, die von den Müttern Grazie, Kraft und Anmut erbten. Nicht wahr, Liddy, diese Frauen sind herrlich?« »Mm – dicke Beine«, klang es unwirsch vom Tisch her. »Ach, du bist eine – – du verstehst das nicht. Du denkst nicht daran, daß sie uns betrachten, wie wir sie betrachten. Glaube mir: Die Mutter Tautau sorgt für Metita wie unsere Mütter für ihre Kinder. Du kannst nicht verstehen, warum solche Weiber uns fremd übersehen, und du sahst es nicht, wie heiß sie blickten während der Kämpfe der Häuptlingssöhne. Du vernahmst ein Geschrei und die Schläge auf Kalbfell bei dem Gesange ›Gruß an die Heimat‹. Ich aber hörte nur schwellende Sehnsucht nach einem Eiland im Stillen Ozean. Wie groß muß ihr Heimweh sein! Denn ihre Heimat ist schön, ist unbeschreiblich schön.« Der Sprecher hielt inne, schloß für Minuten die Augen und glich einem sanft und glücklich Gestorbenen. Aber seine ruhelosen Ideen schwebten weiter und schwangen sich höher, wie rastlose Möven, und nun er aufs neue zu sprechen begann, mit weichen, getragenen Worten, da bebte in seiner Stimme eine schwer verhaltene Inbrunst. »Liddy, wie das klingt: Tanz der Mädchen im Sitzen! Schmetterlingstanz! und: Der hohe Häupling Tamasese! – Liddy: Stiller Ozean! Indischer Ozean! – Eiland! oder Irland! Stockt einem da nicht für Sekunden der Herzschlag!« Die Angeredete schlug das Buch zu, schreckend heftig, und verließ mit auffallend harten Schritten die Stube. Ärgerlich oder verwundert richtete Walter sich zum Sitzen empor, stützte die Ellbogen auf die Knie, das Kinn auf die Handballen und schaute verdrossen, mit seitwärts geneigtem Haupt, nach der Tür. Er er wartete, einem Wunsche nahe, von seiner Geliebten irgendeinen stärkeren Anlaß, um über mürrisches Wesen und Mangel an Zartgefühl gründlich zu schimpfen. Liddy kam mit Jacke und Hut und zwei Paketen aus Zeitungspapier. »Wo willst du denn hin?« »Zu meiner Mutter.« »Zu deiner Mutter?« »Ja.« »Jetzt?« »Für immer.« »Bist du des Teufels? Habe ich dich irgendwie gekränkt?« Auf einmal zuckte das Mausgesicht in rührend komischen Grimassen. Walter nahm etwas Schimmerndes wahr, und er fragte mit einer Stimme, deren fremdartige Rauheit ihn in Verlegenheit brachte: »Ist es dir ernst? Du willst davon?« »Du kannst dir ja eine Samoanerin nehmen!« »Liddy, du bist doch ein albernes Ding!« Er sprang auf, trat zum Fenster und beschäftigte sich eifrig damit, einer mageren Palme die Blätter auszureißen, so, wie man Hühner rupft. Von jeher litt er an ausgesprochener Angst vor Auseinandersetzungen, auch wenn er sich keiner Schuld bewußt war. Diesmal aber fühlte er deutlich, daß mit dem naiven, vernunftlosen Trotz dieses Mädchens nicht zu streiten sei. Er stand ihren Tränen und ihrem tauben »Nein« gegenüber wie das Kaninchen der Riesenschlange. Sein Verhalten ehrlich prüfend, vermochte er nichts zu entdecken, was Liddys Verstimmung gerechtfertigt hätte. Diese Verstimmung war Eifersucht. Der steigende Ärger, mit dem er das erkannte, ging unter in der Befürchtung, er könne seine Geliebte verlieren. »War ich wirklich böse zu dir?« rief er in einem liebenswürdigen Tone versöhnlicher Lustigkeit und drehte sich langsam um. Aber Liddy war fort. Sie war gegangen, nicht wiederzukehren. Und Walter kramte ein Bildnis hervor, das er in ähnlicher Weise wie zuvor die Palme behandelte, vernichtete in gewisser Pose eine gehäkelte Bürstentasche und schlief außergewöhnlich spät ein. Im Laufe des folgenden Tages unternahm er mit aufwachender Heiterkeit mancherlei, was junge Witwer und Strohwitwer tun, und als er gen Abend seine Schritte wiederum nach dem anziehenden Samoanerdorf lenkte, trug er die Miene eines Menschen zur Schau, der nach langem Zwang wieder Freiheit genießt. Er drängte sich, ein wenig brutal, durch das Publikum nach einem Platze, wo er Tautau im Gespräche mit einem älteren Herrn gewahrte. Dieser, dem ein energisches Kinn, Reitstiefel und andere Merkmale das Äußere eines weitgereisten, vornehmen Mannes gaben, unterhielt sich lebhaft über die Barriere hinweg mit der üppigen Insulanerin in der Sprache ihres Landes. Walter war dicht herangetreten. Seine Mundwinkel zogen sich in einer Bewegung des Spottes herab, während er sich den Anschein gab, als ob er den beiden verständnisvoll zuhörte. Er zog die Uhr aus der Tasche und wünschte sich ungeduldig den Anfang der Vorstellung herbei. Nicht ohne Absicht stieß er den andern unsanft an und entschuldigte sich gleichzeitig mit einem auffälligen »Pardon!« »O bitte!« beschwichtigte dieser höflich mit einer leichten Verneigung zur Seite und sprach darauf weiter. Er sprach sehr lange, vielleicht eine Stunde oder zehn Stunden. »Es scheint, man gibt hier eine sprachenkundliche Nebenvorstellung«, bemerkte Walter und zog die Uhr aus der Tasche. Niemand beachtete seine Worte. »Reitstiefel trägt man«, fuhr er nach einiger Zeit lauter fort, »warum bringt man nicht gleich den Gaul mit?« In diesem Augenblicke wurde Tautau durch dumpfe Trommelschläge abgerufen. Der Weitgereiste richtete sich langsam auf und sagte mit überlegener Ruhe, bemessen leise zu seinem Nachbar: »Junger Herr, Sie sind grundlos unartig oder eifersüchtig.« »Ich eifersüchtig?« – Walter senkte unvermutet den Kopf, biß sich auf die Lippen und flüsterte dann seltsam kleinlaut: »Ich schäme mich doch.« Diese vorzügliche Erziehung verratende Äußerung der Zerknirschung mochte wohl das Mitgefühl des älteren Herrn erweckt haben, denn er reichte, wie kameradschaftlich, seine Rechte hin und entgegnete herzlich, als wollte er ein zu schroffes Wort wieder gutmachen: »Nun, wenn Sie so sprechen, dann wollen wir alles vergessen und uns vertragen.« Walter ergriff aber nicht die dargebotene Hand. Er entfernte sich stumm ohne Gruß, bahnte sich hastig einen Weg durch die Zuschauermenge und lief heimwärts, durch die stille Laternenallee, lief in etwas gebeugter Haltung und mit schlürfenden Schritten durch die schwarze Gasse nach Hause. Wer würde ihm künftig aus Liebe Hosen bügeln?