Der Kelch der Weisheit An Philotheon. Drey Brüder schifften nach der Insel Der Weisheit, die der blasse Pinsel Des Erdensohns nicht malen kann. Itzt landen sie nach langem Pflügen Des Oceans am Ufer an. Es war im Frühling. Voll Vergnügen Sehn sie den Felsen vor sich liegen, Auf dessen Scheitel der Altar Der Göttlichen gegründet war, Den Davids Sohn ihr einst erbaute. Er trug den goldenen Pokal, In den ein flüßiger Crystal Aus einer Rosenwolke thaute. Der jüngste Bruder eilt und klimmt Zuerst hinauf, springt hin und nimmt, Um ihn auf einmal auszuleeren, Den Kelch und stürzt ihn gierig ein. Doch schnell gerann der Trank zum Stein. Umsonst war schlürfen, rütteln, kehren; Er setzt den Kelch verdrießlich hin, Entschlossen wieder heimzuziehn. Ich gehe mit, versetzt der zweyte; Allein den Kelch nehm ich als Beute Von meiner Wallfahrt mit nach Haus Und trink auf meinem Ruhebette, Mit Sirup wohl versetzt, ihn aus. Er faßt ihn; doch die Demantkette Des Schicksals hält ihn mauerfest An dem Altar. Daß dich die Pest! Rief er, kommt Brüder, laßt uns eilen: Hier spuckt der Satan und sein Heer. Ich, sprach der dritte, will hier weilen! Vielleicht – Schon hören sie nicht mehr. Der neue Siedler läßt die Gecken Von hinnen ziehn, baut sich ein Haus Von laubichten Wachholderhecken, Sucht Schwämme, gräbt sich Wurzeln aus, Wovon ihm auch die bittern schmecken Und lechzet er im Mittagsstrahl Nach einem Trunk zum kargen Mahl; So fällt er zu des Altars Füßen Und ruft voll Inbrunst: laß, o laß Zum Labsal vom geweihten Naß Mir, Göttin, ein Paar Tropfen fließen! Nie bat der biedre junge Mann Vergebens; mit gestärkter Seele Griff er den Kelch. Der Balsam rann Wie Muttermilch in seine Kehle, Und ehe noch vom Felsenhang Das Lied der himmelblauen Meise Den traubenreichen Herbst besang, War er, was wenig werden – weise. O glaube, glaube mir, mein Sohn; Uns führt kein flacher Sammethügel Zur Weisheit. Mancher ehrne Riegel Versperrt die Bahn zu ihrem Thron; Auch leert man ihre Götterschale Nicht, wie Campanische Pokale, Auf einmal aus; noch kannst du sie Auf weiche Polster zu dir rufen. Wer nicht mit Schweiß die schroffen Stufen Des Bergs ersteigt; der schauet nie Ihr Angesicht. Doch trittst du frühe, Und ungetäuscht von Heldenwahn Und eitler Furcht, die Wallfahrt an; So lohnt die Göttin deine Mühe; Sie flößt dir ihren Nektar ein, Und alles Glück der Welt ist dein.