69. Henning Wulf. (1472.) In der Kirche zu Wewelsfleth in der Wilstermarsch befindet sich ein altes Gemälde auf einer langen Tafel, das schon im Kirchenbuche der 1593 neuerbauten Kirche erwähnt wird, 1741 aber renoviert ward. Dies Gemälde zeigt auf einem großen grünen Platze einen Schützen mit abgespanntem Bogen; in einiger Entfernung vor ihm steht ein Knabe mit einem von einem Pfeil durchbohrten Apfel auf dem Kopfe. Einen andern Pfeil hat der Schütze noch quer im Munde. Ein Wolf oder Hund steht zwischen dem Knaben und dem Schützen und richtet auf diesen seinen Blick. Dies ist eine Erinnerung an folgende Begebenheit. In den Zeiten König Christierns des Ersten wohnte ein reicher Mann Henning Wulf im Kirchspiel Wewelsfleth und hatte seinen Hof mit vielen Ländereien in der Dammbucht. Als die Leute in der Marsch sich gegen den König empörten und ihn nicht anerkennen wollten, ward er ihr Hauptmann und Anführer. Weil der König aber mit großer Macht heranzog und die Hamburger ihm halfen, wurden die Marschleute geschlagen und Henning Wulf mußte fliehen. Da verbarg er sich in einem Rethschallen, und niemand wußte ihn zu finden. Aber sein treuer Hund, der auf dem Gemälde mit abgebildet ist, war ihm nachgelaufen, und da er ihm nicht in den Sumpf folgen konnte, ward er sein Verräter. Man holte den Henning Wulf heraus und brachte ihn zum König, und da dieser wußte, daß er von allen der vortrefflichste Schütze sei, befahl er ihm höhnisch, seinem einzigen jungen Sohne einen Apfel vom Kopfe zu schießen; gelänge es ihm, solle er frei sein. Henning Wulf mußte gehorchen, holte seinen Bogen und seinen Knaben und tat glücklich den Schuß; hatte aber vorher einen zweiten Pfeil in den Mund genommen. Da fragte ihn der König, für wen denn dieser bestimmt sei, und Henning antwortete, wenn er seinen Sohn getroffen hätte, sei der Pfeil für den König selber gewesen. Da erklärte ihn dieser in die Acht, und Henning mußte fliehen; sein Land aber ward eingezogen und muß bis auf diesen Tag noch schwere Abgaben tragen und heißt das Königsland. Man zeigt auch noch das Haus, wo Henning Wulf gewohnt hat. Provinzialberichte 1798 II, 39. Kirchen- und Schulblatt für Schleswig-Holstein und Lauenburg 1844 Nr. 11. Vgl. Falks Abhandlungen aus den Schlesw.-Holst. Anzeigen I, 410 vom Jahre 1753. – Wahrscheinlich ist das Gemälde alt und beruht auf der Sage, die schon im 13. Jahrh. in Norddeutschland vom alten mythischen Helden Eigil erzählt ward, dann am Rhein von einem andern Meister schützen im 15. Jahrh., dann vom Tell in der Schweiz, von William of Cloudesle in England; im Norden auch im 12. Jahrh. schon von Palnatoke, dann vom Eindrivi und heiligen Olaf und endlich vom König Harald Sigurdarson und dem Schützen Hemming. Die Sage ward später an den historisch bedeutenden Henning Wulf geknüpft und das alte Bild auf ihn gedeutet. An eine Entlehnung aus dem Norden zu denken, ist albern. Unsre Sage hat Züge, die den andern Relationen fehlen. Grimm, Mythologie I, 353 ff.; II, 1214. Molbech, Histor. Tidskrift I, 45.