Am Galgenberge Ein sandiger Hügel ist es, nackt und kahl, Ein kranker Lindenbaum ist seine Krone, Sein schiefer Wuchs, sein Laub, vom Staube fahl, Gereicht der edlen Abkunft fast zum Hohne; Am Hügelgrunde wuchert Heidekraut, Dort schwenkt der Ginster seine schlanken Loden, Und hier und da aus ockergelbem Boden Ein kümmerliches Glockenblümchen schaut. Und gibt es hier viel mehr auch nicht zu sehn, Ich lieb' es, sinnend in dem Sand zu träumen, Wenn leise Winde durch die Heide wehn Und Abendstrahlen ihre Grenzen säumen; Den Geist beschäftigt dann so mancherlei, Auch die vergangne Zeit und ihre Schrecken, Die kein vermorschter Flitter kann bedecken, Ich freue mich, daß diese Zeit vorbei. Man lobt so gern die gute, alte Zeit, Und ruft zurück die längstvergangenen Tage, Wo unberührt von satter Nüchternheit Die Zeit verfloß, verklärt von Sang und Sage, Wo frommen Schauder jedes Herz empfand – Nach Idealen noch die Menschheit strebte, Nicht ganz allein dem Geldgewinne lebte, Und unentweiht der Gottheit Bildnis stand. Stets muß ich lächeln, hör' ich solch Geschwätz Von Leuten, die noch alte Tugend heucheln Und mit der Biederkeit entlehntem Netz Notdürftig ihrem Tugenddünkel schmeicheln – Ruft sie zurück, die gute, alte Zeit, Schaut her, ich will die goldne Zeit euch zeigen, Natürlich werde ich euch nichts verschweigen Von ihrer blutigroten Biederkeit! Wenn ich hier an dem siechen Lindenbaum Die Glieder in der Abendsonne recke, Dann scheint's mir oft, als ob wie düstrer Traum Vergrauter Tage Bild sich neu erwecke; Wie Menschenhaufen wälzt es sich heran, Ein Sünderglöckchen hör' ich weinend läuten, Den Karren keuchen, die Soldaten schreiten – Und auf dem Wagen kniet ein bleicher Mann. Nicht wahr, das war doch eine schöne Zeit, Als statt der Linde hier drei Balken standen, Als Seilers Töchterlein hier ward gefreit, Die ihre Liebsten schlang in feste Banden, Wie schön, wenn ein fideles Sünderpaar Im Abendwinde gravitätisch schaukelt Und in den Lüften heiser krächzend gaukelt Die unbezahlte Totengräberschar. O innigfromme, pflichtgetreue Zeit Voll Unnatur und aberwitz'gem Tande, Wo man mit tugendkalter Grausamkeit Das Unglück stempelte zu Schmach und Schande, Wo man den Wahnsinn ein Verbrechen hieß Und dem gefallnen Mädchen ohn Erbarmen Das Kleid vom Leibe riß mit frechen Armen Und sie im Hemd am Kirchtor stehen ließ. Ja, Rad und Galgen und ein Kreuz davor, Das setzt ins Wappen dieser Periode, Wo man als Schandmal richtete empor Des Sünders Leib nach grauenvollem Tode, Wo Bosheit ging der Dummheit treu zur Hand Und Angeklagtsein galt für schon gerichtet, Wo Leib und Seele wenigstens vernichtet, Wenn man den Folterbänken sich entwand. Sieh dort, wo unter dem Wacholderstrauch Kaninchen ihre engen Röhren haben, Da ist von ihnen mit dem Kiese auch Ein abgebleichtes Knöchlein ausgeraben, Die Elster schleppt ihn ins Versteck und plagt Sich ab damit, ihr wird wohl nimmer schwanen, Daß einstmals ihre Ururelterahnen Dies Knöchlein hier so sauber abgenagt. Es liegen solcher Knochen wohl noch viel Hier zwischen Heidekraut und dürrem Rasen, Die Elster treibt damit ihr müßig Spiel Und in dem hohlen Bein die Winde blasen. Wer sonst nicht denkt, denkt hier auch nichts dabei, Doch ich vermochte oft genug zu lauschen, Wie's leise raunte in der Linde Rauschen: »Freu, Menschheit, dich, daß diese Zeit vorbei!« Münster 1886