Der schöne Glockenton Eine große Stadt mußt' ich durchgehn, Die seit Jahren ich nicht gesehn. Und in dieser auf meinen Wanderungen Bin ich in einen Vorort gedrungen, Wo in Armut hinfristen viel tausend Leute, Und dort wie früher fand ich's heute. Und mitten hier auf meiner Runde Vernahm ich vom nächsten Turm die Stunde. Und wunderbar, wie der reichtönende Klang Mir plötzlich erinnernd die Brust durchdrang: Vor mir stand eine Sommernacht, Die einst in diesem Revier ich durchwacht, Wo mir am Herzen ein Mädel lag, Wo ich hörte den schönen Glockenschlag, Ein Viertel, Halb, drei Viertel, Ganz, Hoch über der Menschen Mummenschanz. Im vierten Stock einer Mietskaserne, Wo unten eine schlechte Taverne Gesindel aufsog, wo die Unruhe wohnte, Wo kein Engel die Tugend belohnte, Da hab' ich einmal eine kurze Nacht In Liebesüberschüttung zugebracht. Sie schlief, und hat mich in Traumeswonnen Mit ihren weißen Armen umsponnen, Hat oft mich im Halbschlaf fest an sich gedrückt, Das hat mich so grenzenlos entzückt. Sanft strich ich ihr braunes welliges Haar, Das schimmernd vom Monde beschienen war. Bis in's späte Morgenrot Lärmt draußen das Leben, schreit noch die Not. Und Zank und Zorn, Geschrei, Gelächter, Einmal Dazwischenkommen der Wächter. Von einem Tanzsaal her wüstes Gestampf, Aus der Hölle stieg auf ein greulicher Dampf Aus Bierbudiken und Schnapsspelunken. – In diesem Dunst schien die Vorstadt ertrunken. Klarweg über die Sünde hindrang Der reine, der hehre Glockenklang. Endlich, nach jeder Weltstadt Weise, Ward' um die dritte Stund' es leise. Und herrlich durch die Stille drang Immer wieder der schöne Glockenklang, Ein Viertel, Halb, drei Viertel, Ganz, Hoch über der Menschen Mummenschanz. Da öffnet das Mädel die Augen dem Tag, Und ich hörte nicht mehr den Glockenschlag. An ihren Brüsten hing ich, In tausend Lüsten verging ich, Glückselig war die Nacht. Otto Julius Bierbaum.