92. Die Geschichte auf der Aar »Was machst du hier, lieb Mägdelein, Am Wasser tief und schnelle? Und sitzest da am Bach allein Mit nassen rothen Bäckelein Und gukst auf eine Stelle? Hat dich die Mutter was bedroht? Bekamst du heut kein Morgenbrod? Hat Bruder dich geschlagen? Du kanst mir alles sagen.« Das Mägdlein schaut ihm ins Gesicht Sieht, kehrt sich weg und redet nicht. »Sag, wo bist du zu Hause?« »Herr! dort in jener Klause.« – Er kriecht zur kleinen Thür herein Und find't ein hagres Mütterlein Auf schlechten Binsen liegen. »Sagt, liebe Frau, was fehlt dem Kind? Es sitzt da draussen in dem Wind Und ist nicht still zu kriegen.« »Ach, lieber Herr,« das Mütterlein Mit schwerem Husten saget, »Es geht den ganzen Tag allein Und leid't nicht, daß mans fraget. Es hat von seiner Kindheit an Nichts als beständig weinen 'than.« »So wahr ein Gott im Himmel ist: Euch muß was heimlich quälen, Ihr sagt nicht alles, was ihr wißt; Ihr sollt mir nichts verheelen.« »Nun lieber Herr« – und faßt den Mann Mit beiden welken Händen an: »Geht an den Strom, fallt auf die Knie Und dann kommt wieder morgen früh; Wird sich mein Husten kehren, So sollt ihr alles hören.« Der Blick, der Ton, der Händedruck Dem Fremden an die Seele schlug, Er geht zum Bach, fällt auf die Knie; Kommt zu dem Weiblein morgens früh, Find't sie in bittren Zähren. »Ach, Herr! was uns verlohren ging Kann dieses Blatt und dieser Ring Euch baß, denn ich erklären.« Mit diesem Wort zieht sie ein Tuch Aus ihrer Brust, darinn ein Buch Und in dem Buch ein Blättlein war, Bemalt mit plumpen Farben zwar, Und an dem Farben-Blättlein hing Als Siegel ihr Verlöbnis-Ring. Auf diesem Blättlein schwamm ein Weib Im höchsten Strom mit halbem Leib. Ihr Kahn war umgeschlagen, Und an des Weibes Zipfel faßt Ihr Ehmann sich, doch diese Last Schien's Wasser nicht zu tragen. Je mehr der Fremd' aufs Blättlein sieht, Je mehr ihm Aug' und Stirne glüht, Und darf sie nichts mehr fragen, Biß sie die Brust thät schlagen, Und weint' und heulte ausser sich: »Seht, lieber Herr, das Weib bin ich! Um mich mußt' er ertrinken! Ich in dem Schrecken rief ihm: Mann! Ach warum faß'st du mich denn an?« Und gleich sah ich ihn sinken. Er rief – bey dieser Stelle quoll Ihr starrend Auge minder – Er rief im Sinken: »Weib! Leb wol! Und sorg für unsre Kinder.«