Betrachtung über das Urtheilen der Menschen von andern/ nach Anleitung des Kempis in seiner Nachfolge Christi Dein Auge wend' auf dich/ ich mein' auf deine Sünden/ Auf deine Schwachheit selbst/ und was an dir zu finden. Erklär' in bösen nicht diß was dein Nechster thut/ Schau nicht/ ob andre schlimm/ nein ob du selber gut. Die Mühe bleibt umsonst/ in solchen Urtheil fällen/ Man irrt und kan sich offt/ was falsch/ vor Augen stellen. Und deßen Zunge stets ein kühnes Urtheil spricht/ Den stellt sein böses Hertz vor Gottes Zorn-Gericht. Erbaulich aber ist/ sich selber anzusehen/ In Demuht in sein Hertz/ sein eigen Hertz zugehen. Zuschauen was uns fehlt/ welch Laster uns gemein. Sein eigner Kenner erst/ denn Richter auch zu seyn. Woher mag aber doch ein schlimmes Urtheil rühren? Aus Liebe/ denn ich möcht ihn gern zum guten führen/ So spricht des Tadlers Mund; doch fühlt sein Hertz hierbey/ Wie kalt die Lieb' in ihm/ wie heiß die Feindschafft sey. Wie/ daß man andere unordentlich will nennen/ Da Sinnen und Gemüht die Ordnung selbst nicht kennen? Mit einem Krancken komt ein Neider überein/ Dort ist der Leib zuschwach/ hier der Verstand zu klein. Wenn unsre Meinung gut/ und nur auf Gott gerichtet/ Wenn man so himmlisch ist/ daß man sich selbst zernichtet/ Die weil man Erd und Staub/ so wird man nicht so leicht/ Bey fremder Tadelsucht vom Brand des Zorns erreicht. Allein so sind wir nicht/ und andere desgleichen. Die Neigung/ die sich muß in unsre Hertzen schleichen/ Ein Gegenstand/ so uns von außen an sich zieht/ Das ist der Grund/ aus dem man jedes Urtheil sieht. Die meisten meinen zwar/ sie kennten ihr Gewißen/ Daß sie kein eintzigmahl zu prüfen sich beflißen. Sie dencken: sind wir nur in allem wohl beglückt/ So sey der Seelen Fried in ihre Brust gerückt Allein/ wenn Sturm entsteht/ wenn die Verdrießlichkeiten/ Die ein Gerücht erweckt/ zu ihren Ohren schreiten/ So dringt ein jedes Wort/ das ihren Ruhm verletzt/ Ins Hertz als wär es da in Marmor eingeätzt. Inzwischen aber wird nur andern bey gemeßen/ Daß sie unruhig sind/ daß sie der Haß beseßen. Ihr Seelen-Friede spricht nicht eher wieder ein/ Biß/ welch Gewißen doch/ sie vorgerochen seyn. Ach Herr/ wer hat die Schuld/ wenn uns die Unruh plaget? Nur der Begierden Macht/ die unsre Hertzen naget. Glückseelig/ welcher nicht nach seinem Willen thut; Und deßen wohl in Gott/ und keinem Menschen ruht. Wer lange Zeit gewohnt nach seinem Sinn zu leben; Der findet viele Müh/ ihm recht zu wiederstreben; Wer wieder Willen soll auf andern Wegen gehn/ Der läßet viel Verdruß bey seiner Leitung sehn. Ein Himmlisch Feuer soll die kalten Hertzen nehren. Herr deine Flamme muß die Eigen-Lust verzehren. Es hebt uns deine Hand/ sind wir dir unterthan/ Weit über die Vernunfft/ weit über allen Wahn.