Hauspoesie 1896/1897 Ein Schatten Die letzten sind gegangen, das Geschwirr Der Stimmen drauß' im Vorplatz ist verhallt, Die Haustür fiel ins Schloß, und Wagenrollen Tönt von der Gass' herauf. Die Hausfrau geht Umher und öffnet alle Fenster weit Der balsamreichen Nachtluft. Dann zum Gatten, Der stumm im Sessel ruht, zurückgekehrt, Streicht sie ihm leise mit der weichen Hand Die Stirne: Dir ist heiß. Es war ein wenig Zu viel des Zigarettendampfs. Doch sonst War's, wie mir scheint, recht hübsch. Sie waren alle Sehr munter und gesprächig, unsre kleine Hausnachtigall besonders gut bei Stimme, Das Essen gut, und meine Bowle – Hm! Die schien mir nur zu süß. Meinst du? Ei nun, Doch fand sie Beifall und ward ausgetrunken Bis auf den kleinen Rest. Dir aber, Liebster, Hab ich's wohl angesehn, daß etwas Bittres Dir auf der Zunge lag, und grade bei Dem Lied des Orpheus, das du sonst so liebst, Fiel dir ein düstrer Schatten auf die Stirn. Wie wandelte so plötzlich diese Schwermut Dich an? Er blickt versonnen vor sich hin, Nur drei Sekunden. Dann erhebt er sich, Und seinen Arm um ihren Nacken legend, Komm! sagt er. Laß uns auf und nieder gehn. Jawohl, es war recht hübsch, und eben darum – Du hast ganz recht gesehn: mich überfiel's Unheimlich, just da Orpheus Furien Beschwor und Larven, in die Unterwelt Ihn einzulassen. Da zufällig blieb Mein Blick am Bilde meines Vaters hängen, Das von der Wand mich ansah. Und da war's Verwundersam: ich glaubt' ihn selbst zu sehn, Die sinnend edlen Augen fest auf mich Gerichtet – oh! du hast ihn nicht gekannt! Er war der Liebenswerteste der Menschen, Von jugendlicher Zartheit des Gefühls Und hohem Freiheitssinn, ein ganzer Mann, Ein tapfrer Dulder, seiner Pflichten Joch Klaglos durchs Leben schleppend. Und zu allem Das frühe Kranken, das ihn uns entriß, Eh' er sich ausgelebt, da er so viel Des Freudigsten noch zu erleben hatte. Wie oft, wenn mir ein Glück beschieden ward, Ein fröhlicher Erfolg – den er mir immer Geweissagt – trübte mir's die frische Freude, Daß ich mit ihm sie nicht mehr teilen sollte! Und Reue fühlt' ich, wie so oft, auch heut, Daß ich ihm alle Lieb' und allen Dank Nicht wärmer noch und inniger ausgesprochen, Ihm nicht gesagt, wie alles Beste, was Ich in mir trug, nur sein Vermächtnis sei, Aus seinem Blut entsproßt – und da begann Des Orpheus Lied, das den geliebten Schatten Heraufbeschwört, und in mir sprach's: So wird Kein Zaubersang, mein Vater, von den Schatten Dich auferwecken, daß du deines Sohns Gesegnet Leben teilst, von allen Seinen Geliebt, geehrt, daß du das Beste, was Ihm sein Geschick gegönnt hat, diese Frau Mit Augen sähest, die, wie ich dich kannte, Auch dir das ganze Herz gewonnen hätte. Denn dich unwiederbringlich hält die Nacht Der Unterwelt und keines Eros Gunst Kann dich zurück uns bringen. Findest du's Noch wundersam, Geliebte, daß ein Schatten Auf meine Stirne fiel und daß der Trank, Den du uns botest, mir zu süß erschien?