Sündenregister Stets nahm ich dich in Schutz und bliebe Dein Anwalt gegen eine Welt, Du Volk Italiens, das ich liebe, So manches mir an dir mißfällt. Doch unter uns und ohne Zeugen Nehm' ich ein Blatt nicht vor den Mund Und kann als Freund dir nicht verschweigen: Sie tadeln dich nicht ohne Grund. Das süße Nichtstun – deinen Kindern Verwehrt's die liebe Sonne nicht, Und fremde Reisende zu plündern, Scheint jedem Gastwirt Ehrenpflicht. Man schilt auch, daß du ohn' Erröten In schmutz'gen Mauerhöhlen wohnst, Die kleinen Vögel liebst zu töten, Jedoch das Ungeziefer schonst; Und daß man selbst den Angestellten Vergolden mag die hohle Hand – Nun, dies und andres noch, nicht selten Trifft man's wohl auch in anderm Land. Doch Schlimmres noch: Brigantenhorden In deiner Berge wildem Schoß, Vendetta, die, zur Pflicht geworden, Geschlechter mordet gnadelos, Der Wälder gräuliche Verwüstung, Camorra, die das Ärgste wagt, Und wes in sittlicher Entrüstung Dich gutes Volk man sonst verklagt: Das alles dünkt dir sehr verzeihlich, Was Hohn Europens Sitte spricht, Nur eine seltne Tugend freilich Macht Vieles gut: du heuchelst nicht. Auch ich, so sehr ich dir gewogen, Bin nicht für deine Fehler blind. Ich weiß, du wurdest schlecht erzogen, So bliebst du stets ein großes Kind. Unarten, die in deinem Blute Verderblich nisteten bis heut, Sie wurden nicht mit scharfer Rute Von deinen Zwingherrn ausgebläut. Sie knechteten dich manch Jahrhundert, Mit schlauer Priesterschaft im Bund, Daß billig eins nur uns verwundert, Wie unverwüstlich du gesund. Gewiß, dir wäre hoch vonnöten Ein deutscher Unteroffizier, Würd' auch sein Drill so manches töten, Was liebenswürdig ist an dir. Doch da man endlich aus Ruinen Verjährten Wust beiseite räumt, So malerisch er lang erschienen, So wundersam man drin geträumt; Da selbst in Roms verfallne Gassen Dem Licht man einen Weg gebahnt, Ob auch erhabne Trümmermassen An ferne große Zeit gemahnt, So wünsch' ich, daß du, neu erstanden Aus langem Schlummer, dich befreist Von den jahrtausendalten Banden, Die dir umschnürten Seel' und Geist; Daß du, was nie zuvor du lerntest, Dich selber nimmst in strenge Zucht Und vollgereift nun endlich erntest All deiner edlen Gaben Frucht. Dann wirst du deine Rache nehmen Und, die dich höhnten dünkelhaft Als »Land der Toten«, stolz beschämen Durch Taten freud'ger Lebenskraft.