Die Menschenseele 1774. Wie nenn' ich es, das über Menschenseelen Ein Siegel Gottes schwebt Und ihre Tiefen (Niemand kann sie zählen) Zu einem Bilde webt! Zum Gottgebilde, das, itzt zarte Pflanze, Sich sauget Blut aus Thau, Wird, was nur sie soll sein, aus Sonnenglanze Und feuchter, wilder Au; Allmählig Baum, fühlt Baumäonenleben, So schlank und fest und grün, Und strebt mit Wurzeln, Zweigen, fortzuweben Und neue Kraft zu ziehn. Ich fühle Pflanz' und Baum in Frucht, in Samen, In Düften, Laub und Blatt, Blick' in sie tief, und doch – wer leiht mir Namen, Was Jedes ist und hat? Ich schweig' und staune nur, blick' auf und nenne Die Sonnen jener Nacht, Die Welten! – und blicke tiefer noch und kenne Den Abgrund seiner Macht, Die Seelen! mehr als Welten! Der ins Leben Sie rief, der Gottheit Schein, Unnennbar, unersetzbar fortzuweben, Licht in die Nacht zu streun: Ihm sangen schon die Himmel hohe Fülle Des Einklangs der Natur, Und ungesättigt stand er, sann, und stille Haucht' er – in Dich sich nur! In Dich, o Seele! Feire, Menschenseele, Dem tiefen Gotteswink, Und wenn Dein Wesen, wenn aus Grabeshöhle Mit Schauer Dich umfing Ein heil'ger Schatte, sahest Bild, wie Züge Von Geistesangesicht, Das ging vorüber, und des Bildes Züge, Sein Antlitz sahst Du nicht. Und eine Stimme sprach, und tiefes Beben Ergriff Dich: »Wer bist Du, Den Brunn zu öffnen, wo mit ew'gem Streben Die Gottheit quillet? Du? Erzittre dem Gebot! Des Ew'gen Schleier Umwebt mit Dunkelheit Der Schöpfung Allerheiligstes, wo Feuer Der Gottheit Flammen streut, Die Menschenseele! Fühl's und sinke nieder Mit frohem Ungestüm, Dem alle Stern' und Seelen singen Lieder, Der Seelen Vater, ihm! Dem ihre Tief' und Höhe singt, ihr Werden Und Sein von Licht zu Licht, Von dumpfer Dämmrung hier auf dunkler Erden Bis einst zu Angesicht.« Ich zittre! – Wag' ich's? Seine Schatten winken, Der Seelen Abglanz winkt Mir Schau'r auf Schauer schon – und ich? – soll trinken, Wie Seel' aus Seele trinkt, Wie Bruder hangt am Bruder, trinken Liebe Aus ihm, der sich für mich Zur Seele haucht auf dieser Erdentrübe Zu meinem Bilde? – Ich? – O, nenn es nicht, was über Menschenseelen Ein Siegel Gottes hängt Und ihre Tiefen (Niemand kann sie zählen) Wohin? zum Ursprung drängt.