Jehuda Ben Halevy 1. »Lechzend klebe mir die Zunge An dem Gaumen, und es welke Meine rechte Hand, vergäß ich Jemals dein, Jerusalem –« Wort und Weise, unaufhörlich Schwirren sie mir heut im Kopfe, Und mir ist, als hört ich Stimmen, Psalmodierend, Männerstimmen – Manchmal kommen auch zum Vorschein Bärte, schattig lange Bärte – Traumgestalten, wer von euch Ist Jehuda ben Halevy? Doch sie huschen rasch vorüber; Die Gespenster scheuen furchtsam Der Lebend'gen plumpen Zuspruch – Aber ihn hab ich erkannt – Ich erkannt ihn an der bleichen Und gedankenstolzen Stirne, An der Augen süßer Starrheit – Sahn mich an so schmerzlich forschend – Doch zumeist erkannt ich ihn An dem rätselhaften Lächeln Jener schön gereimten Lippen, Die man nur bei Dichtern findet. Jahre kommen und verfließen. Seit Jehuda ben Halevy Ward geboren, sind verflossen Siebenhundertfunfzig Jahre – Hat zuerst das Licht erblickt Zu Toledo in Kastilien, Und es hat der goldne Tajo Ihm sein Wiegenlied gelullet. Für Entwicklung seines Geistes Sorgte früh der strenge Vater, Der den Unterricht begann Mit dem Gottesbuch, der Thora. Diese las er mit dem Sohne In dem Urtext, dessen schöne, Hieroglyphisch pittoreske, Altchaldäische Quadratschrift Herstammt aus dem Kindesalter Unsrer Welt, und auch deswegen Jedem kindlichen Gemüte So vertraut entgegenlacht. Diesen echten alten Text Rezitierte auch der Knabe In der uralt hergebrachten Singsangweise, Tropp geheißen – Und er gurgelte gar lieblich Jene fetten Gutturalen, Und er schlug dabei den Triller, Den Schalscheleth, wie ein Vogel. Auch den Targum Onkelos, Der geschrieben ist in jenem Plattjudäischen Idiom, Das wir Aramäisch nennen Und zur Sprache der Propheten Sich verhalten mag etwa Wie das Schwäbische zum Deutschen – Dieses Gelbveiglein-Hebräisch Lernte gleichfalls früh der Knabe, Und es kam ihm solche Kenntnis Bald darauf sehr gut zustatten Bei dem Studium des Talmuds. Ja, frühzeitig hat der Vater ihn geleitet zu dem Talmud, Und da hat er ihm erschlossen Die Halacha, diese große Fechterschule, wo die besten Dialektischen Athleten Babylons und Pumpedithas Ihre Kämpferspiele trieben. Lernen konnte hier der Knabe Alle Künste der Polemik; Seine Meisterschaft bezeugte Späterhin das Buch Cosari. Doch der Himmel gießt herunter Zwei verschiedne Sorten Lichtes: Grelles Tageslicht der Sonne Und das mildre Mondlicht – Also, Also leuchtet auch der Talmud Zwiefach, und man teilt ihn ein In Halacha und Hagada. Erstre nannt ich eine Fechtschul' – Letztre aber, die Hagada, Will ich einen Garten nennen, Einen Garten, hochphantastisch Und vergleichbar jenem andern, Welcher ebenfalls dem Boden Babylons entsprossen weiland – Garten der Semiramis, Achtes Wunderwerk der Welt. Königin Semiramis, Die als Kind erzogen worden Von den Vögeln, und gar manche Vögeltümlichkeit bewahrte, Wollte nicht auf platter Erde Promenieren wie wir andern Säugetiere, und sie pflanzte Einen Garten in der Luft – Hoch auf kolossalen Säulen Prangten Palmen und Zypressen, Goldorangen, Blumenbeete, Marmorbilder, auch Springbrunnen, Alles klug und fest verbunden Durch unzähl'ge Hängebrücken, Die wie Schlingepflanzen aussahn Und worauf sich Vögel wiegten – Große, bunte, ernste Vögel, Tiefe Denker, die nicht singen, Während sie umflattert kleines Zeisigvolk, das lustig trillert – Alle atmen ein, beseligt, Einen reinen Balsamduft, Welcher unvermischt mit schnödem Erdendunst und Mißgeruche. Die Hagada ist ein Garten Solcher Luftkindgrillenart, Und der junge Talmudschüler, Wenn sein Herze war bestäubet Und betäubet vom Gezänke Der Halacha, vom Dispute Über das fatale Ei, Das ein Huhn gelegt am Festtag, Oder über eine Frage Gleicher Importanz – der Knabe Floh alsdann, sich zu erfrischen, In die blühende Hagada, Wo die schönen alten Sagen, Engelmärchen und Legenden, Stille Märtyrerhistorien, Festgesänge, Weisheitsprüche, Auch Hyperbeln, gar possierlich, Alles aber glaubenskräftig, Glaubensglühend – Oh, das glänzte, Quoll und sproß so überschwenglich – Und des Knaben edles Herze Ward ergriffen von der wilden, Abenteuerlichen Süße, Von der wundersamen Schmerzlust Und den fabelhaften Schauern Jener seligen Geheimwelt, Jener großen Offenbarung, Die wir nennen Poesie. Auch die Kunst der Poesie, Heitres Wissen, holdes Können, Welches wir die Dichtkunst heißen, Tat sich auf dem Sinn des Knaben. Und Jehuda ben Halevy Ward nicht bloß ein Schriftgelehrter, Sondern auch der Dichtkunst Meister, Sondern auch ein großer Dichter. Ja, er ward ein großer Dichter, Stern und Fackel seiner Zeit, Seines Volkes Licht und Leuchte, Eine wunderbare, große Feuersäule des Gesanges, Die der Schmerzenskarawane Israels vorangezogen In der Wüste des Exils. Rein und wahrhaft, sonder Makel War sein Lied, wie seine Seele – Als der Schöpfer sie erschaffen, Diese Seele, selbstzufrieden Küßte er die schöne Seele, Und des Kusses holder Nachklang Bebt in jedem Lied des Dichters, Das geweiht durch diese Gnade. Wie im Leben, so im Dichten Ist das höchste Gut die Gnade – Wer sie hat, der kann nicht sünd'gen, Nicht in Versen, noch in Prosa. Solchen Dichter von der Gnade Gottes nennen wir Genie: Unverantwortlicher König Des Gedankenreiches ist er. Nur dem Gotte steht er Rede, Nicht dem Volke – In der Kunst, Wie im Leben, kann das Volk Töten uns, doch niemals richten. –