449. Adelgis Adelgis (Algis, Adelger), Desiderius' Sohn, war von Jugend auf stark und heldenmütig. In Kriegszeiten pflegte er mit einer Eisenstange zu reiten und viele Feinde zu erschlagen; so tötete er auch viele der Franken, die in Lombarden gezogen kamen. Dennoch mußte er der Übermacht weichen, und Karl hatte selbst Ticinum unterworfen. In dieser Stadt aber beschloß ihn der kühne Jüngling auszukundschaften. Er fuhr auf einem Schiff dahin, nicht wie ein Königssohn, sondern umgeben von wenigen Leuten, wie einer aus geringem Stande. Keiner der Krieger erkannte ihn, außer einem der ehemaligen treusten Diener seines Vaters; diesen bat er flehentlich, daß er ihn nicht verraten möchte. »Bei meiner Treue«, antwortete jener, »ich will dich niemanden offenbaren, solange ich dich verhehlen kann.« – »Ich bitte dich«, sagte Adelgis, »heute, wann du beim König zu Mittag speisest, so setze mich ans Ende eines der Tische und schaffe, daß alle Knochen, die man von der Tafel aufhebt, vor mich gelegt werden.« Der andere versprach es, denn er war's, der die königlichen Speisen auftragen mußte. Als nun das Mahl gehalten wurde, so tat er allerdings so und legte die Knochen vor Adelgis, der sie zerbrach und gleich einem hungrigen Löwen das Mark daraus aß. Die Splitter warf er unter den Tisch und machte einen tüchtigen Haufen zusammen. Dann stand er früher als die andern auf und ging fort. Der König, wie er die Tafel aufgehoben hatte und die Menge Knochen unter dem Tisch erblickte, fragte: »Welcher Gast hat so viele Knochen zerbrochen?« Alle antworteten, sie wüßten es nicht; einer aber fügte hinzu: »Es saß hier ein starker Degen, der brach alle Hirsch-, Bären- und Ochsenknochen auf, als wären es Hanfstengel.« Der König ließ den Speisaufträger rufen und sprach: »Wer oder woher war der Mann, der hier die vielen Knochen zerbrach?« Er antwortete: »Ich weiß es nicht, Herr.« Karl erwiderte: »Bei meines Hauptes Krone, du weißt es.« Da er sich betreten sah, fürchtete er und schwieg. Der König aber merkte leicht, daß es Adelgis gewesen, und es tat ihm leid, daß man ihn ungestraft von dannen gehen lassen; er sagte: »Wohinaus ist er gegangen?« Einer versetzte: »Er kam zu Schiff und wird vermutlich so weggehen.« – »Willst du«, sprach ein andrer, »daß ich ihm nachsetze und ihn töte?« – »Auf welche Weise?« antwortete Karl. »Gib mir deine goldenen Armspangen, und ich will ihn berücken.« Der König gab sie ihm alsbald, und jener eilte ihm schnell zu Lande nach, bis er ihn einholte. Und aus der Ferne rief er zu Adelgis, der im Schiffe fuhr: »Halt an! Der König sendet dir seine Goldspangen zur Gabe; warum bist du so heimlich fortgegangen?« Adelgis wandte sein Schiff ans Ufer, und als er näher kam und die Gabe auf der Speerspitze ihm dargereicht erblickte, ahndete er Verrat, warf seinen Panzer über die Schulter und rief: »Was du mir mit dem Speere reichst, will ich mit dem Speere empfangen 1 ; sendet dein Herr betrüglich diese Gabe, damit du mich töten sollest, so werde ich nicht nachstehen und ihm meine Gabe senden.« Darauf nahm er seine Armspangen und reichte sie jenem auf dem Speer, der in seiner Erwartung getäuscht heimkehrte und dem König Karl Adelgis' Spangen brachte. Karl legte sie sogleich an, da fielen sie ihm bis auf die Schultern nieder. Karl aber rief aus: »Es ist nicht zu wundern, daß dieser Mann Riesenstärke hat.« König Karl fürchtete diesen Adelgis allzeit, weil er ihn und seinen Vater des Reiches beraubt hatte. Adelgis floh zu seiner Mutter, der Königin Ansa, nach Brixen, wo sie ein reiches Münster gestiftet hatte. Fußnoten 1 Vergl. Hildebrandslied, Z. 36.