Geschichte und Gegenwart Du, die im Wirrsal dieser Tage Sich zur Prophetin Gott ersah, Wie hoch und ernst mit deiner Wage, Geschichte, stehst du vor mir da! Sibylle, der vom keuschen Munde Das Zeugenwort der Dinge tönt, Die mit jahrtausendalter Kunde Des jüngsten Morgens Leid versöhnt. Wohl hast du ewig unbestochen, Von Zorn und Liebe nie entflammt, Den Sterblichen ihr Recht gesprochen, Doch schmückt dich heut ein höher Amt. Mit kühner Hand im Zeitenbuche Aufblätternd, was von Anfang war, Machst du mit priesterlichem Spruche Das Weltgeheimnis offenbar. Denn tief im Schutt bis an die Brüste, Das Haupt von Flugsand überschneit, Lag schweigend, wie die Sphinx der Wüste, Dein Rätselbild, Vergangenheit. Das Auge, das an Stirn und Falten Nur hier und dort ein Zeichen las, Verlor, vom Nächsten festgehalten, Des Ganzen ungeheures Maß. Doch nun allmählich aus den Tiefen, Die nimmermüder Fleiß durchgräbt, Sich überdeckt mit Hieroglyphen Des Riesenleibes Umriß hebt; Nun in untrüglicher Gestaltung Der Sprache Fußspur vielverzweigt Uns der Geschlechter frühe Spaltung Und ihren frühsten Bund uns zeigt: Nun rollt vor dem betroffnen Blicke In festgegliedertem Verlauf Die Kette sich der Weltgeschicke Wie ein vollendet Kunstwerk auf; Nun sehn wir reifend durch die Zeiten, Das Antlitz wandelnd Zug um Zug, Des Gottes Offenbarung schreiten, Die jeder gab, was sie ertrug. Wohl lastet über weiten Räumen Unsichrer Dämmrung trüber Flor, Doch wächst in Bildern dort und Träumen Die Sehnsucht nach dem Licht empor; Wohl stürzt, was Macht und Kunst erschufen, Wie für die Ewigkeit bestimmt; Doch alle Trümmer werden Stufen, Darauf die Menschheit weiter klimmt. Und wie wir so aus Nacht zum Glanze Den Wandel der Geschlechter sehn, Erkennen wir – den Blick aufs Ganze – Die Stätte da wir selber stehn; Wir spüren, froh des hohen Waltens, Das jeder Zeit ihr Ziel verliehn, Den heil'gen Fortgang des Entfaltens Im Tag auch, der uns heut erschien. Und ob sich rings Gewitter türmen In West und Ost um unsern Pfad, Uns schwant, daß auch in diesen Stürmen Ein gottgesandter Frühling naht; Und aus der Kräfte dunklem Gären Umwittert uns geheimnisvoll Der Hauch, der, was erstarb, verzehren, Und, was da lebt, verjüngen soll. Da schwillt, was immer uns betroffen, Das Herz von mut'ger Werdelust, Da füllt ein unvergänglich Hoffen Zukünft'gen Heiles uns die Brust. Zum Kern des Lebens wird der Glaube, Von dem das Kleid der Formel fällt, Und wir verehren tief im Staube Den Gott im Tempelbau der Welt.