22. Reisestudie (Aus einem größern Cyklus.) 1. Milliarden kommen und verschwinden wieder Im großen All nach kurzer Lebensreise; Giganten, Zwerge, Kinder oder Greise, Wir sind nur einer Kette morsche Glieder. Die Erde mäßigt nie den immergleichen, Den steten Lauf. Wir gehen rasch zu Grunde; Gleichgültig sieht mit jeglicher Sekunde Die Sonne neue Wesen, neue Leichen. Nur was bewußtlos der Natur entsprossen, Hält an der Scholle fest mit starken Ranken; Der Menschheit wurden tötliche Gedanken Als frühe Mahnung ins Gehirn gegossen. Es möchte, wen zu edeln Seelenleiden Die große Pflegemutter auserkoren, Einst leuchtend, gleich des Himmels Meteoren, Doch unvergänglich von der Erde scheiden. Hier aber will er herrschen und besitzen, Der Kunst, des Wissens letztes Wort ergründen, Der starren Mitwelt seine Macht verkünden Mit kühnen Thaten oder Geistesblitzen. Mag auch sein Blut aus tiefen Wunden fließen, Den Sieger grüßen schmetternde Fanfaren, Wenn endlich seinem Blick, dem festen, klaren, Der Erde letzte Wunder sich erschließen. Den Pflegling, der sich stolz emporgerungen, Sie läßt ihn an den fernsten Küsten landen; Schon ist sein Dampfroß bis zum Fuß der Anden Und bis zum Himalaja vorgedrungen, Daß dort die Adler in die Lüfte rauschen, Versprengte Herden durch die Steppen jagen, Und Indianer, weit ins Land verschlagen, Entsetzt dem neuen Schrei des Fortschritts lauschen; Daß hier die Löwen durch die Schluchten brüllen, Die Elefanten durch die Wälder traben, Die Tiger sich im Bambusrohr begraben Und so der Zeiten Machtgebot erfüllen; Daß, wenn das Ungetüm auf sicherm Damme Schnaubend dahinfährt, tausend Krokodille Auf einmal in der heil'gen Ströme Stille Sich pfeilschnell retten aus dem Uferschlamme, Und wenn es über die granitnen Brücken Und durch die Tunnels donnert, und der Boden Ringsum erzittert, sich in den Pagoden Die Götzenbilder bis zur Erde bücken. Bewegung, Fortschritt predigt das Jahrhundert; Wir lachen derer, die zurückgeblieben, Und fühlen uns gewaltsam fortgetrieben Und sind darob zuweilen selbst verwundert. Wir wissen kaum, warum wir vorwärts schauen; Erschüttert ist der schöne Christenglaube; Doch mächtig bleibt der Drang, mit unserm Staube Der Nachwelt neue Tempel aufzubauen. Sie aber wird zu andern Göttern beten Und unsern Werken wenig Achtung zollen Und dem Verhängnis selber trotzen wollen Mit neuen Helden, Denkern und Propheten. Auch ihre Spuren wird der Wind verwehen, Und keiner kann des Lichtes Quelle finden; Wir alle, die wir denken und empfinden, Wir müssen unbefriedigt untergehen. O, trotz der Dunkelheit des Todespfades Fortdauern? – Wort des Zweifels und des Truges! Für dort – ein Schemen des Gedankenfluges, Für hier – ein mattrer Schlag des Zeitenrades. Was sind der Kampf, die Wissenschaft, die Dichtung, Wenn uns die Frist so kärglich zugemessen? – Nichts als ein zorniges Sichselbstvergessen, Ein Fliehen vor dem einen Wort: Vernichtung.