Die wächserne Anatomie Ich sahe jüngst, mit fast erstauntem Blick, Ein von Natur und Kunst vereintes Meisterstück, Ein nie gebohren Fleisch, ein todtes Leben, Dem die Zergliedrungs-Kunst so Farb' als Form gegeben. Ein Wunder-Werck vom Wachs; wodurch der kleinen Welt, Des Menschen Cörper, Fleisch, Blut, Adern, Muskeln, Sehnen, Gehirn und Eingeweid' so künstlich vorgestellt, So wunderbar formirt; daß es unfehlbar denen, Die es, als Menschen, schauen, Ein' holde Furcht erweckt, ein angenehmes Grauen. Es leitete dieß Werck, voll Ehrfurcht, meinen Sinn Auf dieses Kunst-Stücks Urblid hin: Ich dacht' auf die Vollkommenheiten, Womit Gott unsern Leib, in so vollkomm'nem Grad, So wunderbarlich zu bereiten, So wunderbar gewürdigt hat. Viel hundert tausend Kleinigkeiten, Woraus der Leib besteht, die ungezählte Menge Der gantz mit Blut gefüllt-fast unsichtbaren Gänge Verwirrten meinen Geist, erfüllten meine Brust Mit einer frohen Angst, mit einer bangen Lust. Ich sprach mit recht gerührter Seelen: Der Lungen luftigs Fleisch, des Magens scharfe Kraft, Des Hertzens Feur und Druck, der Leber Eigenschaft, Haut, Nägel, Fleisch, und Bein, Der Nerven unsichtbare Hölen, Die voller Geistigkeit, und nicht zu zählen, Nicht zu begreifen seyn, Beweisen ein allmächtigs Wunder-Wesen. Doch wenn man recht erweg't; was Menschen insgemein Für eitle Dinge thun, nach welchem Tand sie sterben; So scheint der gantze Mensch, in seinem gantzen Leben, So vieler Kunst nicht werth zu seyn. Ja, sprach zu mir hierauf ein grosser Geist, Der wohl mit allem Recht der Stadt Orackel heisst: Dieß scheinet wahr, doch mir fällt dieses ein: Wie liebreich muß doch unser Schöpfer seyn, Der, wenn wir aller Glieder Gaben Zur Thorheit angewendet haben, Ja gar an Ihm höchst-gröblich uns verschuldet, Uns dennoch duldet!