Ida Boy-Ed Vor der Ehe Die Tagesarbeit war abgeschlossen. Nun saß Frau Sophie an ihrem Teetisch und zögerte noch, sich mit der Post zu beschäftigen. Es tat so wohl, den Nerven eine kurze Schonung zu gönnen. Es war so notwendig, sich diesem Zustand hinzugeben, der Erschöpfung nach großer geistiger Anstrengung zu sein schien. Sophie kannte das aber wohl, wie sich gerade in dieser Ruhe die noch undeutlichen Anregungen aus den letzten Arbeitsstunden zu klaren Erkenntnissen für das Schaffen des nächsten Tages gestalten konnten. Gerade über ihrem Kopf, im vierten Stockwerk, wußte sie ihr Atelier. Es lag nun verlassen, vom Abend des früh geendeten Novembertages erfüllt, auskältend und kahl. Es war streng eingerichtet, nur für den Arbeitszweck. Und in ihrer Phantasie sah Sophie von der Staffelei her das altersbleiche Gesicht und die klugen, milden Augen der fürstlichen Greisin, deren Bildnis sie eben malte, gleich einem blassen, schwach erkennbaren helleren Fleck im Dunkel des Raumes. Sie malte in ihren Gedanken immer noch daran weiter. Nichts störte sie in dieser rückblickenden Vertiefung. Um sie war eine so behütete Stille, daß sich die Nerven davon geliebkost fühlten. Und wie angenehm war die sanfte Beleuchtung für die Augen, die den ganzen Tag ihren Beruf, zu schauen, mit der größten Anspannung erfüllt hatten. Sophie seufzte tief auf, in einer ganz einfachen, unbeschreiblichen Zufriedenheit. Aus allen Ecken und Winkeln des Zimmers schien die Ruhe auf sie zuzukommen und sie in ihre Arme zu nehmen. Und sie dachte: das ist nun auch einer von den Genüssen, die die Jungen und die Berufslosen nicht kennen, diese Hingegebenheit an den Augenblick, der einmal nichts von einem fordert! Freilich, da lag ein Brief von ihrem Aeltesten. Und sie wußte vorweg: er schrieb nicht einfach. Seine Worte hatten Gehalt, oft schwerer Art. Aber erst kam der Tee. Der duftete ihr fein entgegen. Er war ihr Lebenstrank, ihr Anreger, ihr Erretter aus jeder Abspannung, ihr »Laster«, wie sie scherzend zu sagen pflegte. Und der Eine, dem ihr Dasein kostbar war, der schalt wohl gelegentlich über die vielen Tassen Tee, die sie sich nach arbeitshartem Tag gern gönnte. Wie beglückend war der Gedanke an diese Strafpredigten. Mit einem seligen Lächeln genoß sie diese Erinnerung an seine Fürsorge; und das Lächeln wurde beinahe zum deutlichen Lachen, als sie nach Frauenart den Vermahnungen zuwiderhandelte und sich die dritte Tasse eingoß. Um mich für Allerts Brief zu rüsten, dachte sie entschuldigend. Und fühlte sich nun auch so frisch, um die schwierigsten Debatten gegen den Brief des Sohnes auszufechten. Denn seine Briefe waren wie ein wichtiger Mensch, mit dem man sich sehr genau über alle Fragen auseinandersetzen will und muß, koste es noch so viele Mühe des Herzens und Verstandes. Er kämpfte ja einen prachtvollen, harten Arbeitskampf, von dem man noch nicht wußte, wie er ausgehen würde. Aber Sophie glaubte: gut! Sie dachte: eiserner Wille, starkes Können! Das gibt Sieg. Freilich mit Kapital war er beengt. Das machte es so schwer. Könnte ich ihm geben – könnte ich doch! wünschte sie. Aber wo sollte sie es hernehmen? Solche Summen? Kleine taten es ja nicht. Allert schrieb: »Liebe Mutter! Es freut mich außerordentlich, daß Du die alte Durchlaucht malen darfst. Das fünfte Porträt dieses Jahr. Und immer feine Köpfe, angesehene, ja erste Persönlichkeiten. Du kannst also, so nahe dem Abschluß des Jahres, wieder einmal auf künstlerisch und finanziell lohnende Resultate zurücksehen. Die ersteren sind freilich wohl wieder stärker als die letzteren. Es erbittert mich immer neu, wenn ich erfahre, daß Deine männlichen Kollegen, mögen sie Dir auch künstlerisch nachstehen, doch höhere Honorare erhalten. Aber Du behauptest Dich in der Front der Schaffenden. Und das ist die Hauptsache. Raspe und ich sind stolz auf Dich. Wenn ich bedenke, wie spät erst Du Dir Deines Talentes recht bewußt wurdest, wie Du in der Sorgenzeit nach Vaters Tod den Mut hattest, Deine Begabung auszubilden und zum Beruf zu wählen, so kann dies meine Bewunderung für Deine Erfolge nur steigern. Damit hast Du uns viel gegeben, gibst uns jeden Tag. Wir sehen Dich von der eigenen Kraft jeden Tag, unabhängig von Stimmungen und körperlichen Beeinträchtigungen, das Aeußerste fordern! Wie mir das hilft – wenn mir unmutige Augenblicke kommen wollen! Ja, Mutter, dann hilft es mir, an Dich zu denken. Und darum muß es Dich nicht bedrücken, daß Du mir nicht mit Kapital beistehen kannst und sollst. Denn das bißchen, was Du Maßvolle von Deinen Einkünften nicht brauchst und zurücklegst, muß zur Sicherung Deines Alters dienen. In die Industrie darfst Du es nicht hineingeben. Sorge Dich, bitte, nicht. Ich hege die Hoffnung, einen Kommanditisten zu finden. Die Einblicke, die ich einem Geldgeber – sei es ein Privatmann oder eine Bank – gewähren kann, sind ff. Wer die Dinge zu beurteilen vermag, muß erkennen, daß mein Unternehmen blühen will – blühen wird, falls man es nur mit etwas mehr Kapital beweglicher macht. Es wird sich finden. Sei ruhig. An Onkel Just will ich nicht herantreten. Er gab mir vor vier Jahren das erste Geld. Das war schön von ihm, wenn er's auch mit borstigem Wesen gab. War ja voll Aergernis und Gegenmeinung, weil ein Hellbingsdorf Fabrikant und Kaufmann geworden war und bleiben wollte. Komisch: daß durch ganz Danzig seine hellblauen Milchwagen fahren mit der Aufschrift: Hellbingsdorfer Meierei, Vollmilch, Magermilch, Fettkäse usw., findet er ganz selbstverständlich. Das vereinbart sich mit dem feudalen Charakter eines landwirtschaftlichen Betriebes. Aber Blechbüchsen mit dem Aufdruck: Farbwerke Allert von Hellbingsdorf, sind ihm ein greulicher Anblick, und die Lackfarben dieses Werkes könnten noch so vorzüglich sein – er möchte nicht, daß in seiner Remise ein Leder damit gelackt würde! Er gibt nicht zu, daß zwischen den Produkten der Scholle und denen der Industrie nur ein Art-, kein Rangunterschied sei. Jawohl, solche Anschauungen kommen immer noch vor. Und es ist um so putziger, als doch die Maschine auch in der Landwirtschaft triumphiert. Er begreift immer noch nicht, daß der Adel, teils durch eigene Schuld, teils gedrängt, heute in eine Stellung gekommen ist, wo er sich verteidigen muß, um sich zu behaupten. Das einzige, modernste und erfolgreichste Verteidigungsmittel ist aber doch Arbeit! Ich bin ein Edelmann und denke es zu bleiben und finde es zeitgemäß, daß auch ein solcher sich am industriellen und kaufmännischen Kampf beteiligt und sich dann durchzufechten versucht. Früher focht man mit Lanze und Schwert. Die Waffen haben gewechselt. Das ist alles. Also um nicht ganz von Onkel Just abzukommen: Deiner leise vorbeugenden Anspielung hätte es nicht bedurft; ich klopfe nicht bei ihm an. Daß er mir überhaupt zur Etablierung verhalf, habe ich ja nur Dir zu verdanken. Sein ungeheurer Respekt vor Deiner Haltung hat da gesprochen. Er mag damals, nach unseres Vaters Tod, Angst genug gehabt haben, daß nun ihm alle Lasten zufallen würden. Und er sah: Du nahmst es allein auf Dich. Und er hört, wenn er mal nach Berlin kommt, gerade in den Kreisen, die er allein als ›Welt‹ kennt und anerkennt, so rühmlich von Dir sprechen. Da konnte, da wollte er sich nicht lumpen lassen, als wir das erstemal kamen. Und er mag auch gedacht haben: schließlich ist mir die Mutter gut dafür, wenn der Sohn Pech hat. Soll ich noch auf Deine andere Anspielung eingehen? Haben wir das Thema nicht schon manchmal erörtert? Ich soll wohlhabend heiraten, hoffst Du. Seltsam, daß bei solcher Frage die zartestempfindenden Frauen ihren Zartsinn vergessen können. Oder habt Ihr Mütter die naiv-fanatische Ueberzeugung, daß Eure Jungens über die Maßen liebens- und begehrenswert seien? Daß die reichen Erbinnen nur so in den Ballsälen an der Wand sitzen und sehnlichst warten, wir sollen sie wählen? Ja und wenn! Ich zum Beispiel, liebe Mutter, will nicht nur ersehnt und geliebt werden, ich will selbst wünschen und lieben und aus eigener innerster Notwendigkeit mir meine Gefährtin wählen. Und ich denke mir, so fühlen alle gesunden Kerls meines Schlags. Aus vollem Herzen will ich mal glücklich werden. Nicht nur aus vollem Verstand. Aber das ist ein weites Feld. Da spielen auch noch zahllose andere Fragen hinein, außer denen des Gefühls. Kulturströmungen. Gegenwartsnöte. Und Unklarheiten über das Weib von heute. Ihre Umrisse schwanken. Es gibt jetzt zu viele Spielarten. Und sie sind nicht sicher bestimmbar. Lassen wir diese Frage um so völliger auf sich beruhen, als ich zurzeit ja ungefähr vor lauter Arbeit und Kampf in der Lage jener Männer bin, die annoncieren: Wegen Mangels an Gelegenheit von Damenbekanntschaft usw. usw. Soll ich? Nein, das wäre mir doch zu bunt: sauer ums Vorankommen kämpfen und mich nebstbei schon behängen und behemmen mit einem Eheproblem! Laß Dich nicht verstimmen. Vielleicht hat Raspe mehr Bereitwilligkeit. Und in seiner Umwelt findet er auch eher – falls er suchen mag. Nun schließe ich. Immer nehme ich ungern Abschied von Dir. Wenn es auch nur im Brief ist. Ich scheine bei Dir zu sein, wenn ich schreibe. Und dann bist Du nicht so allein. Der Gedanke ist mir immer so schwer, daß Du Dich, mühsam arbeitend, einsam dem Herbst näherst. Darüber darf ich aber nicht nachdenken. Dann komme ich in eine Stimmung, daß ich, um Dich sorglos lächeln zu sehen, eine Gould oder Vanderbilt heiraten könnte, falls sie mich nähme. Ich küsse Deine lieben Hände. Dein Allert.« Ueber den Brief war sie ein wenig böse, ein wenig enttäuscht, sehr davon unterhalten und im ganzen doch sehr glücklich. Und dann wunderte sie sich, daß Allert von »einsam« sprach. Er wußte doch ... Nein, Kinder wissen nie und verstehen nie ganz. Sie schätzen die Stellung der Mutter zu ihren Mitmenschen nie ganz richtig ein. Besonders nicht, wenn der hauptsächlichste Mitmensch der Mutter ein treuer Freund ist. Die Mutter kann vor den Söhnen nicht ihr Innerstes beleuchten und durchsprechen, als sei das ein wissenschaftlich und genau zu erörterndes Objekt. Und außerdem: Kinder sind auch immer eifersüchtige Egoisten und gönnen der Mutter alles, wenn sie selbst einbeschlossen sind, und nichts, wenn es sie ausschließt. Sophie dachte an ihr Glück. Ein leises, feines, karges war es – aber Glück genug für ein bescheidenes Herz. Leidgewohnte, deren Haar bereift ist, sind bescheiden. Junge Menschen wissen gar nicht, daß auch Alternde lieben und glücklich sein können, in Empfindungen von einer keuschen Zartheit, geheimnisvoll verwandt den Träumen der ersten, noch begierdelosen Jugend. So läßt die Natur auf dem Feld im Spätherbst noch einmal die eine und andere Frühlingsblume wieder zur Blüte kommen ... Welch tiefes Sinnbild ... Sophie schreckte auf. Die wundervolle Stille sollte ihr gestört werden? Ihre treue alte Tyrannin Therese verstand doch sonst so bestimmt die Tür zu verteidigen. »Nein,« sagte sie schon ganz ärgerlich zu dem Geräusch draußen, »nein, ich habe zu denken, habe Verlangen nach Schweigen, will Briefe schreiben – – daß mich keiner mit seinem Besuch belästigt!« Da öffnete sich ein wenig die Tür, und Therese lächelte in der Spalte. »Herr Geheimrat!« sagte sie und machte gleichsam Tür und Tore weit, mit jener froh-feierlichen Geste, die sie immer hatte, wenn sie diesen Mann hereinließ. Denn sie wußte es aus ihres ergebenen Herzens Ahnungsgefühl heraus: sein Kommen war ein Fest für ihre Herrin und heute ganz gewiß ein unerwartetes. Sophie kam in die Höhe – förmlich ein wenig zitternd und in ihrer Hast durch den Tisch gehemmt, hinter welchem sie auf ihrem kleinen Ecksofa gesessen hatte. »O!« sagte sie nur, in einem stillen und dankbaren Glücksgefühl. Sie streckte ihm beide Hände hin. Aber mit diesen ihren beiden Händen mußte sie begnügsam seine Rechte umfassen. In der Linken trug er eine große Aktenmappe. Leise, mit einer scheuen Hingebung lehnte Sophie ihre Stirn einen Augenblick gegen seine Schulter. Dann sah sie zu ihm empor. Der stattliche, grauhaarige Mann lächelte sie gütig an. Sein kluges Gesicht, von einer gewissen stolzen Regelmäßigkeit der Züge, schien sehr bleich. Eine Falte, wie von Mattigkeit oder Leiden, ging scharf von seinen Mundwinkeln herab. In seinen dunklen Augen war nicht das strahlende Feuer, das sonst dies ganze Angesicht wie ins Licht stellte. »Was ist Dir?« fragte sie, aufmerkend. Denn sie kannte sein Gesicht in jedem Ausdruck und sah es nur zu oft verfinstert von Aergernissen und hatte so oft die Beglückung, daß es hell wurde in ihrer Nähe. »Unbehaglich ist mir – und darum komme ich. Gib mir eine Tasse Tee – ja – hier ist es warm und still und milde ...« Er sah sich um. Dieses Zimmer war ja seine Zuflucht. Die sanfte Helle über dem Ecksofa, das so bequem war – und der gut abgemessene Tisch mit dem zierlichen Teegerät davor – alles andere lag im Halbdämmer: Bilder und ruhige Möbel. Er dachte an grell bestrahlte Räume voll Prunk und an eine Frau, die nur von Vergnügungen und Eitelkeiten wußte. Es schien, als fröre ihn. »Ja, was hast Du denn?« fragte sie wieder. Sie wußte, wieviel er zu tragen hatte in einer Ehe, die zu lösen seine Frau sich, halb aus Gehässigkeit, halb aus Instinkt der Selbsterhaltung, seit Jahren weigerte. Denn sie war eine schlechte Wirtschafterin, und seine Umsicht mußte immer die Angelegenheiten ordnen, die ihre Luxusbegierden verwirrten. Und sie fühlte vielleicht, daß sie, aus seiner lenkenden Hand entlassen, in Ruin kommen könne. Wie oft kam er, ermüdet von Szenen, um in diesem friedlichen kleinen Eckchen seine Nerven zu beruhigen. Heute hatte Sophie den Freund nicht erwartet. Er kam zumeist am Donnerstag. In seltenen Fällen trafen sie sich auch in der Gesellschaft, der Sophie sich aus Klugheitsgründen nicht entziehen konnte. Ihr alter Name hatte ihr doch geholfen, gleich in Kreise zu kommen, in denen sie Aufträge fand. Sie wußte genau: der erste war ihr vor zwölf Jahren geworden, wie ein verstecktes Almosen. Ihre Cousine Lucie, die Gattin des Ministers von Eggebeck, hatte sich bei ihr malen lassen. Lucie war gutmütig, eitel und mäßig bemittelt. Sie sah die Gelegenheit, sich für eine geringe Ausgabe in ihrer schönsten Hoftoilette malen zu lassen. Das Porträt gelang, wurde ausgestellt und hatte Erfolg. Erfolg hatte auch die Malerin, die man von da an im Salon der Exzellenz zuweilen traf. Mit jedem neuen Auftrag erweiterte sich dann Sophiens geselliger Kreis. Im Eggebeckschen Hause hatte Sophie auch den Mann kennen gelernt, dessen Freundschaft ihr arbeitsames Leben hob und mit freudigem Mut füllte. Ihre Verbindung war der Welt ein vollkommenes Geheimnis. Was sie einander gaben, war auch nicht von der Art, das Interesse der Welt zu erregen. Frieden wollten sie und das bißchen stille Glück, sich Hand in Hand von dem lauten Leben draußen auszuruhen und sich darüber auszusprechen. Es bedurfte, zumal von Sophiens Seite, gar keiner besonderen Vorsicht oder Vorsätze, ihre Neigung zu verstecken. Kein Mensch in der Weltstadt kümmerte sich darum, daß der Geheimrat Rositz Donnerstag nachmittags Frau von Hellbingsdorf besuchte. Rositz freilich war mit Bedacht behutsam. Seine Frau hätte ihm diese Erquickung mißgönnt und gestört, wäre auf den Gedanken gekommen, daß er sich Sophiens wegen scheiden lassen wollte, während er in der Tat schon lange, bevor er die Freundin kannte, um seine Freiheit rang. Sophie schenkte ihm Tee ein und bediente ihn pflegsam und beobachtete dabei mit immer wachsen der Sorge sein schlechtes Aussehen. »Wie komme ich heute zu der Freude?« fragte sie. »Ich hatte Geschäfte in der Nähe. Geldsachen. Und bin auf dem Wege zu meinem Bankier. Sollte ich an Deiner Wohnung vorbeifahren? Als Egoist kam ich herauf. Mir ist irgendwie nicht wohl – kann sein, daß gestern die Austern – na, das ist vorübergehend – sprechen wir nicht davon! Ein Mann, der lamentiert!« Und er lächelte über sein schlechtes Befinden. »Ein Brief von Allert?« fragte er dann, und sein Blick deutete auf die vielen Blätter, die noch nicht wieder zusammengefaltet worden waren. »Ja. Und wie immer: bunt durcheinander, voll Freude und Aerger für mich. Er will nichts davon wissen, daß ich ihm meine Ersparnisse ins Geschäft gebe.« »Das ist sehr richtig von ihm.« »Aber«, begann sie sehr eifrig, »wozu mache ich sie denn? Du weißt es doch, Lieber: Ich begann nach meines Mannes Tod so verzweifelt zu studieren und zu arbeiten, um mein Haus nicht sinken zu lassen! Die künstlerische Freude kam ja erst hinterdrein und wuchs von Jahr zu Jahr. Wie ein Lohn war das. Aber anfangen tat ich doch nur um des Geldes willen. Ich hatte zufällig das Talent, mit ein paar Bleistiftstrichen die Menschen sprechend ähnlich abkonterfeien zu können. Und ich dachte: daraus kann ich Broterwerb machen. Wieviel darin steckte in dem Talent, wußt' ich doch damals selbst nicht; das hat sich doch im Lernen und Arbeiten erst entwickelt. Ich für meine eigene Person hätte mich mit dem bißchen Geld, das nachblieb, als wir Muschenfelde verkaufen mußten, schon durchgehungert. Aber ich sah ein: ich wollte und mußte kämpfen, um unsere Familie zu behaupten. Mein Ziel war ja erst, so viel zu erwerben, daß wir unser Gut zurückkaufen könnten. Das wünschten sich damals auch die Jungens so glühend. Na – in zwölf Jahren ändert sich mancherlei – und das Kapitalisieren durch Sparen geht nicht mit Motorgeschwindigkeit, sondern geduldig schrittweise. Allert wurde Kaufmann – erst auch nur mit dem Ziel: rasch verdienen. Und dann sah er doch – das geht nicht so flink. Und er sah, daß es sich da noch um viel wichtigere Dinge handelt als bloß ums Verdienen – um Kulturaufgaben! Nun, das kann ja keiner besser beurteilen als Du in Deiner Stellung. – Ich seh' nun nicht ein: weil doch nicht mehr für Muschenfelde gespart wird – warum Allert mein bißchen nicht in sein Geschäft nehmen will. Er muß es freier und leichter haben. Wenn einem so die Ellbogen festgehalten werden vom Schicksal – das ist doch empörend.« »Sie werden den meisten Menschen festgehalten. Dem einen so, dem andern so.« Tröstend streichelte sie ihm die Hand. Sie wußte doch, woran er dachte. »Wenn man sieht, daß alle Vorbedingungen zum Erfolg da sind – und nur Geld fehlt – das ist doch ein noch plumperes Festgehaltenwerden als so in anderen Lebensverhältnissen, wo auch Seelisches hineinspielt.« Er hatte nachgedacht. »Wieviel braucht Allert?« »Brauchen? Am liebsten zwei, drei Hunderttausend. Aber mit hundert bis hundertfünfzig könnte er schon viel machen.« »Annähernd in der Höhe könnte ich ihm dienen.« Sophie wurde rot vor Schreck. »Nein. O nein – nie. Wenn Deine Frau das erführe – unmöglich.« »Sie würde das nicht. Sie ahnt gar nicht, daß ich ein kleines Vermögen für mich allein habe. Ihre großen Einkünfte kommen ja aus fideikommissarischen Besitzen. Sie sind oft genug für ein halbes Jahr und mehr voraus verbraucht, und meine aufreibende Arbeit ist, in nächtlichen Stunden immer ausgleichende Berechnungen aufzustellen, mit Lieferanten Abzahlungen zu vereinbaren, Gelder aufzunehmen, Ordnung zu schaffen. Wenn ich meine Frau friedlich und rücksichtsvoll gestimmt finde, weiß ich im voraus: sie ist in einer Klemme, und ich soll alles einrenken.« Er machte eine Pause. Sophie schien es, als atme er mühsam. Und wie elend er aussah! Doch fuhr er fort: »Wenn nun Lyda wüßte, daß ich Kapital habe! Vor zehn Jahren Tante Rositz beerbte! Da sündigte sie noch toller darauf los und dächte und sagte immer: Du hast ja Geld – Du machst es wohl in Ordnung. Jeder Begriff von Zahlen und Grenzen fehlt ihr. Und Du weißt, Sophie – ich ringe um meine Freiheit ... Dafür hüte ich dies Geld ... Ich denke dabei auch an meine Tochter ... Wenn sie sich bei einer Scheidung für den Vater entschiede ... dann soll sie es doch bei ihm etwas reichlicher finden, als sein Beamtengehalt allein gestattete ... Und ich denke auch an eine teure Frau ...« Er drückte der neben ihm Sitzenden fest die Hand. Sie schwiegen bewegt. Sie fühlten es beide mit einer schmerzlichen Gewißheit voraus, daß es ihnen niemals beschieden sein werde, ein Bündnis des Abendfriedens zu schließen. »Wenn ich nur einmal Deine Tochter sehen könnte,« sprach Sophie leise. »Du würdest Freude haben – auch Sorge. – Sie wird nicht erzogen. – Und ich – ich kann mich wenig um sie kümmern, – wie viel Zeit hab' ich denn für mein Leben – mein Dasein ist des Staates. – Ja, Du sollst sie kennen lernen – den Winter, denke ich, macht es sich. Sie fängt an auszugehen. Die Mutter hat sie übermäßig lange zurückgehalten, wollte immer jung bleiben – erwachsene Söhne, die auswärts sind, scheinen für das Alter einer Frau offenbar kein solcher Gradmesser wie 'ne Tochter. Ja – sobald Du das Bild der Fürstin Siegstein ausstellst – ja, dann muß man Lyda suggerieren, daß es Mode und schick sei, sich von Dir malen zu lassen. Und vielleicht, wenn Tulla Dir sitzt ... Du wirst mit ihr sprechen – sie könnte Dich lieb gewinnen. Du könntest ihr zur Wohltäterin werden, wie Du es dem Vater geworden bist ...« »Viktor,« sagte sie ergriffen. Er nahm sich zusammen. »Nun – also vermittle das mit Allert – Du wirst es ihm schon plausibel machen, woher gerade ich das Vertrauen zu ihm habe ...« »Nein,« unterbrach sie ihn mit fester Stimme. »Kein Geld von Dir. Ich weiß, ich bin Dir die Nächste auf der Welt. Aber unseres Lebens wirtschaftliche Formen teilen wir ja nicht – seelische Anrechte soll man nicht verquicken mit diesen brutalen Dingen. Allert wird Auswege finden – er schreibt von Banken – gewiß, alles wird gut werden ...« »Sei keine unpraktische Idealistin,« schalt er. »Ich bin es nie. Meine Existenz, bescheiden zwar, doch wohlgegründet, zeigt es. Aber in dieser Frage laß mich's sein.« »Ueberlege! Wenn wir uns wiedersehen, komme ich darauf zurück ... Das heißt, ich meine Donnerstag – übermorgen bei den Daisters kann man dergleichen nicht behandeln.« »Welche kindliche Freude ich habe, in eine Gesellschaft zu gehen, wenn ich weiß: Du bist da – man spricht und sieht sich doch – ist's auch manchmal nur ein kurzer Augenblick. Weißt Du wohl noch, es war auch bei den Daisters, wo ich die Freude hatte, bei einem Diner Dich als Tischherrn zu bekommen ... Denke Dir, wahrscheinlich hängt da ein Auftrag in der Luft. Eine Verwandte von Frau Daister ist bei ihr zum Besuch – die will sich malen lassen – oder hat eine Tochter, die gemalt werden soll – ich verstand nicht ganz am Telefon die dringliche Mahnung von Thea Daister, jedenfalls zu kommen ...« Sophie lachte in sich hinein. »Als ob man mich mahnen müßte! Wo ich Aussicht habe, Dich zu treffen. Wir haben ohnehin so wenig Häuser zusammen. Und ich weiß wohl, Du bringst mir Opfer, wenn Du ausgehst ...« »Wenn ich nur mehr Zeit hätte! Das Amt frißt einen auf. Ja – übermorgen – ich denke – das kleine Unwohlsein wird dann überwunden sein – – Liebe, darf Therese mir nicht ein Auto von der Ecke heranrufen – mir ist, als könnte ich nicht mal die paar Schritte gehen. Sophie erschrak von neuem. Ihr schien, daß der Ausdruck von Elend sich auf seinem Gesicht verschärft habe. Aber doch – er sprach ja von übermorgen – dachte in Gesellschaft zu gehen. »Heute solltest Du Dir Ruhe gönnen,« bat sie dringend, »gleich einen Arzt fragen – wenn Du Verdacht hast, daß eine Auster« – – »Du hast recht,« sagte er, »ich will nach Hause fahren – Geschäfte Geschäfte sein lassen. Hier, bewahr' mir das ... Ein paar Tage – morgen komm' ich keinesfalls – vormittags Konferenz, nachmittags Vortrag bei Majestät – abends habe ich die Herren meines Ressorts zu Tisch – übermorgen die Deputation rheinländischer Textilindustrieller – wegen der neuen Zölle auf Kunstseidenfäden – nachmittags treffen die Vettern meiner Frau ein – Rücksprache über die Finanzverwaltung des Familienbesitzes – abends bei den Daisters ... Ja, so wird's gerade der Donnerstag, bis ich das abhole ...« Sie legte die Hand auf die Mappe, im schweigenden Versprechen, sorgsam das Anvertraute zu bewahren. »Und – nicht wahr? – Du läßt sofort Czermack rufen!« beschwor sie ihn. Da mußte er doch lächeln. »Was Czermack wohl dazu sagte, wenn man ihn wegen eines verstimmten Magens belästigte! Ich denke, mein guter, alter Kummerfeld reicht mit sei nem Wissen für den Fall.« »Und ich bekomme morgen ein Wort. Eine Depesche ... Eine Zeile ...« »Ganz bestimmt, wenn sich ein Unwohlsein entwickelt, das mich etwa gar übermorgen von Daisters fernhält – aber sei unbesorgt – ein kleines drastisches Mittel, und alles ist morgen vergessen.« »Ich hoffe!« sagte sie zuversichtlich. »Adieu, Liebe!« Er küßte ihr die Stirn. Später bildete sie sich immer ein, er habe es in einer seltsam wehmütigen, feierlichen Art getan. Jetzt stand sie und dachte voll Angst nach. Aber ihre mutige Natur kämpfte gegen die Angst. Sie dachte: wir Frauen sind gleich so erschrocken, wenn großen, stattlichen Männern etwas fehlt. Es scheint wider des Mannes Wesen zu sein, daß er brüchig aussieht. Man liebt so die Ganzheit der Kraft am Manne. Und er selbst, der Mann, hat den naiven Anspruch, daß ihm nichts fehlen dürfe, daß die kleinen Leiden des Körpers unser weibliches Teil seien; das macht ihn zum unleidlichen Patienten ... Und aus diesen Gedanken erwuchs ihr dann der Kummer, daß sie ihn nicht hegen und pflegen dürfe – ach, alle Unleidlichkeiten und alle seine Ungeduld würde sie mit Entzücken ertragen haben, um ihm wohltun zu dürfen. Es ging ihm vielleicht schlecht. Und dann hatte er niemand um sich als diese Dienerschaft, die zahlreich, aber schlecht war, weil sie alle paar Wochen wechselte ... Ob seine Tochter wohl die Geschicklichkeit besaß, einen Leidenden zu pflegen? Den Wunsch gewiß. Denn er sprach oft davon, daß seine Tochter ihn liebe und nur von der Mutter förmlich mit Gewalt von ihm fortgeleitet werde ... Aber wahrscheinlich bedurfte er gar keiner Pflege – morgen war das kleine Unwohlsein vergessen. Austern? Hm – von Austernvergiftungen hörte man ja zuweilen. Aber wo er Austern genoß – in seinem Hause – in der Gesellschaft – da kam doch nur das Kostbarste und Frischeste auf die Tafel. Sie hatte auch wohl bemerkt – die fast gierig verlangte Tasse Tee setzte er gleich vom Mund ab, mit einer mühsam verborgenen, unwillkürlichen Miene des Widerwillens. Wie jemand, dem übel ist. Was half das Denken und Grübeln? Es hieß, sich in das Schwerste hineinzwingen, das es für einen temperamentvollen Tätigen gibt: in geduldiges Warten. Das gelang ihr nur für kleine Zeitspannen, die von Sorge und trüben Vorstellungen unterbrochen wurden. Dies Auf und Ab der zuversichtlichen und beunruhigten Stimmungen machte, daß sie sich selbst schließlich ganz unleidlich vorkam. Erst als am andern Morgen die Fürstin Siegstein zur Sitzung kam, fand Sophie mehr innere Haltung. Die ungemeine Menschenkenntnis und das gütige Wesen der greisen Durchlaucht machten die Stunden der Sitzung für Sophie zu reichem Gewinn. »Ob ich jemals zu der Abgeklärtheit und Harmonie komme, die alle an Eurer Durchlaucht bewundern?« fragte sie klagend. »Um Gottes willen! Nur ja nicht. Abgeklärtheit ist Alter. Gärung ist Jugend. Und Sie sind Künstlerin und müssen jung bleiben. Sie wissen wohl, ich meine nicht im Gebaren, sondern im Herzen. Denken Sie daran, wie jung unsere drei Giganten blieben! Goethe, Bismarck, Wagner. Bis zum Tod noch, dicht neben senilen Zügen: göttliche Jugend. – Aber – liebste Hellbingsdorf – ein bißchen was davon spukt auch noch in mir herum! Daß Sie nicht etwa einen steifleinenen Bonzen aus mir machen!« »Ich hoff', Durchlaucht werden zufrieden sein,« sagte Sophie lächelnd. Als sie nach der Sitzung in ihre Wohnung hinunterlief, fand sie keinen Brief und keine Depesche. Das war beruhigend. Auch am Nachmittag nichts. Immer leichter wurde ihr ums Herz. Und sie stellte ihn sich vor, wie er, vielleicht ein wenig angegriffen, doch in gewohnter Beherrschung von Menschen und Dingen, sein übermäßig beladenes Arbeitsprogramm abwickelte. Sie fing an, sich der Vorfreude hinzugeben auf morgen! Wie leicht ließen sich die Stunden ertragen bis dahin. Und am Mittwoch Nachmittag kamen und gingen, wie immer, eine Menge Menschen bei ihr aus und ein. Zwischen Teeanbieten und Plaudern und all der Unruhe solcher Empfangsstunden hörte sie doch Tröstliches: zwei Damen sprachen von dem großen Ballfest, das Frau Geheimrat Rositz gäbe – die Tochter sollte offiziell eingeführt werden. Es schien aus dem Gespräch hervorzugehen, daß die Einladungen gestern erst versandt worden seien. Jemand sagte: »Na endlich – die Tochter muß mindestens achtzehn Jahre alt sein.« – Und eine Dame fragte: »Rositz wird wohl nächstens Exzellenz?« – »Ja,« hieß es, »sie kann es kaum noch erwarten, sie hat gelitten – Frau Rositz – das war ihr gräßlich – sie, eine geborene Freiin von Buschke.« – »Ach Gott,« sagte da die Gräfin Bretten mit einem impertinenten Lächeln, »so sehr kann die gute Lyda ja noch gar nicht an die sieben Zacken gewöhnt gewesen sein. Sie war ja schon beinahe erwachsen, als die Buschkes aufhörten, selber Kohlen zu schaufeln – ja, so Kohlenbergwerke – und dann mal 'ne großartige Stiftung – das ist heut der Weg ...« Sonst war es Sophie schrecklich, wenn des teuren Mannes Frau durchgehechelt wurde. Jetzt aber horchte sie mit ganzer Seele. – Wenn man aus dem Hause Rositz gestern Balleinladungen versandt hatte, mußte es ihm gut gehen ... Und Freude im Herzen schmückte sie sich für den Abend. Sie wählte ein Kleid, von dem er einmal flüchtig bemerkt hatte, es sei sehr schön und so vornehm einfach. Nichts putzte den weichen Stoff als eine alte Spitze. Sophie ging zu Fuß. Von ihrer stillen Nebenstraße war der Weg nicht weit bis zum Kurfürstendamm, wo die Daisters in einem palastartigen Haus ein Stockwerk bewohnten. Der Novemberabend war trocken und nicht kalt. Immer neu drang das Phänomen der Weltstadtstraße auf Sophie ein. Nur im Bewußtsein hatte man es: Abend und Winter. Eigentlich verschlang das stark flutende Leben auf diesen Bürgersteigen, Fahrdämmen und Mittelwegen alle Erscheinungen des Wechsels. Aus breiten Ladenfenstern brach Tageshelle; sie zitterte bläulichweiß herab aus großen Bogenlampen, sie huschte blitzend vorüber, wie jagende große Sterne, an den Autos und Wagen. Sie tötete die Nacht, die hoch droben, nicht gefühlt und nicht beachtet, als schwarzer Himmel über der durchflimmerten Unruhe stand. Und Wärmeströme hauchten aus den Türen der Restaurants und der Läden. Zwischen dem Gewühl der aneinander vorbeidrängenden Menschen konnte sich keine Kälte, still um sich wirkend, ausbreiten. Der stetig gleiche Lärm der Straße, dieser Zusammenklang von hundert kleinen, harten, hellen und hundert starken, dunklen Tönen, wurde wie ein Strom – alles floß in ihm zu einem Geräusch durcheinander, das die Luft aufnahm, sich ganz damit anfüllend. Man fühlte sich einem Etwas dahingegeben, das stärker war als man selbst. Man verlor gleichsam sein Eigendasein und wurde zum Atom – ein Pünktchen wurde man, in einem Riesenbilde. Das tat den Nerven manchmal wohl. Das trug einen. Alles sprach: die Welt steht ja noch – geht weiter – schiebt auch dein Teilchen Leben auf dem Wege voran. Manchmal aber tat es weh, verschlang zu sehr, wollte nicht gestatten, daß man sich behaupte. Schrie einem so mitleidslos zu, daß man allein stehe unter den Millionen. Sophie ging sehr langsam. Sie wünschte nach ihm anzukommen, genoß vorweg das Glück, ihn gleich beim Eintreten unter den andern Gästen zu bemerken. Seine Frau würde natürlich nicht da sein; es war ihre Gewohnheit, immer in letzter Stunde abzusagen, wo ihr Mann zugesagt hatte. Seit vielen Jahren hatte das Ehepaar sich nicht zusammen in Gesellschaft gezeigt; den Geheimrat traf man überhaupt nur selten. Aber als sie die Räume betrat, sah sie ihn nicht. In den beiden sehr großen Zimmern, die strahlend von Licht und prangend von Blumen waren, befanden sich nur etwa dreißig Menschen. Sophie kannte fast alle. Und alle Welt, die Hausfrau zumeist, begrüßte sie mit einer besonderen Art von Freudigkeit. Sie empfand wohl, daß man ihr herzliche Gesinnungen schenkte, aber über den Grad ihrer Beliebtheit hatte sie noch nie nachgedacht. Sie war sich der graziösen Würde ihres Auftretens nicht bewußt und noch viel weniger des naiven Zaubers, den ihr die lebhaft gezeigte Anteilnahme an Leid und Freud' der Mitmenschen gab. Sie war wirklich etwas in der Mode, und man fand sie »entzückend«. Man sprach auf sie ein, und sie sprach zu andern. Und hatte dabei doch immer die Tür im Auge. Sie spürte wohl: es wurde gewartet. Man ging noch nicht zu Tisch. Vielleicht wartete man auf ihn. Sie wagte nicht zu fragen. Während sie mit dem Neffen der Fürstin Siegstein von der mütterlichen Güte seiner Verwandten sprach, hörte sie deutlich, daß neben ihr eine Dame zur andern sagte: »... dann noch Einladungen zu verschicken!« »Sieht ihr ähnlich. Czermack soll es sehr ernst ansehen ... man sagt ...« Das versetzte Sophie den Atem. Von wem sprachen diese beiden? Großer Gott, von wem? Sie ließ den jungen Siegstein stehen. Da war die Hausfrau – ihrer Gewohnheit nach immer ein wenig eilig und unruhig unter ihren Gästen und jetzt von dem ärgerlichen Zweifel hingenommen: sollte man warten oder nicht? Der Geheimrat Rositz fehlte, und es fehlte noch ihre Tante, die Senatorin Amster mit Pflegetochter – eben die junge Dame, die Sophie malen sollte. Sie schalt vor Sophiens Ohren auf die unpünktliche Senatorin; Sophie aber hatte nur dies eine gehört: man erwartete »ihn« also doch! Jene Worte der beiden Damen konnten sich nicht auf ihn beziehen! Jetzt öffnete sich die Tür. Eine stattliche Frau kam herein, in stolzer, sicherer Haltung, blond, elegant, mit klugen, etwas scharfen Zügen. Gewissermaßen in ihrem Gefolge erschien auch eine junge Dame in Weiß, die man aber wegen des bedeutenden Auftretens der älteren Dame kaum beachtete. »Na endlich!« sagte Thea Daister. Ja, die Senatorin hatte keine Schuld. Man wußte doch, wie sie Unpünktlichkeit haßte, wo jede Minute des Tags kostbar und eingeteilt war. Aber eine Panne – es war ärgerlich gewesen und aufregend dazu. Und zugleich, während sie dies erklärte, ging ihr lebhafter Blick über die Gesellschaft hin, eigentlich mehr gleichgültig als neugierig. Ganz sachlich sich auch des ihr hier einzig Wichtigen erinnernd, sagte sie dann: »Ich sollte Sophie von Hellbingsdorf kennen lernen.« Thea Daister machte die Damen miteinander bekannt. »Theas Bild hat meinen Schwager und meine Schwägerin entzückt,« teilte die Senatorin mit, »es ist sprechend. Die ganze muntere, etwas unruhige und zärtliche Art Theas ist darin. Aehnlichkeit zu geben und zugleich das Individuelle, ist ja schwer – wie vielen Malern entschlüpft beim Bestreben, das letztere zu offenbaren, die genauere Linie der ersteren.« Sophie merkte gleich: die Senatorin mochte gern sprechen und war sich bewußt, auch etwas zu sagen. »Ich möchte Sie nun bitten, meine Tochter zu malen – hier ist Marieluis – wissen Sie, gerade im gegenwärtigen Stadium ihrer Entwicklung möchte ich sie festgehalten sehen – wie interessant kann das später werden – wenn sie geistig weiter geht – wenn das Bild und das Modell sich voneinander entfernen. Sie müssen wissen, ich hatte keine Kinder. Als leidenschaftliche Erzieherin mußte ich mir eins annehmen.« Sophie sagte einiges darüber, daß Wahl oft fester binde und tiefere Liebe erwachsen lasse als natürliche Bande. Und dabei sah sie immer nach der Tür und fühlte die Minuten bleiern werden. Das junge Mädchen stand dabei und hörte zu. Sie war offenbar gewohnt, daß unbefangen vor ihr das Praktische und Seelische ihres Verhältnisses zur Pflegemutter erörtert wurde. Jetzt hatte Sophie keinen Blick für ihr demnächstiges Modell. Marieluis war ein wohlgewachsenes Mädchen, beinahe groß von Gestalt, mit gekraustem Blondhaar, das Stirn und Schläfe wellig umgab. In dem schönen Gesicht fiel der intelligente Ausdruck auf und eine gewisse entschlossene Klarheit des Blicks. Nein, das sah Sophie nicht. Sie sah nur die Tür, die sich nicht mehr öffnete ... »Meine Tochter«, erzählte die Senatorin, »soll kein leeres Luxusleben führen, wie Thea das tat. Marieluis soll und will lernen. Sie arbeitet! Thea durfte so blind drauf los ihren Wandsbeker Husaren heiraten – unfertig wie sie war – ungeprüft – denn wie wenig kannte man sich eigentlich! Man war bloß verliebt. So was ist nicht in unserm Programm – nicht, Kind? Nun, es ist ja gut abgelaufen mit Thea und Kurt. Es steckte mehr in ihm, als man ahnen konnte. Sein Uebertritt in die Diplomatie hat mich auch recht gefreut. Ich bezweifle auch nicht, daß er sein diplomatisches Examen gut besteht. Nur wundert es mich, daß Daisters dabei so gesellig leben können – wenn man im Auswärtigen Amt arbeitet und sich vorbereitet – auf ein Examen!« Welche Mühe mußte Sophie sich geben zuzuhören. Um sie herum war frohes Stimmendurcheinander; beglänzte Seidenfalten schimmerten warm und prunkvoll, edle Steine strahlten wie Tautropfen im Sonnenlicht. Aber das Zimmer war für Sophie leer und dunkel, weil der eine noch nicht da war, auf den sie wartete. Nun kam aber aus dem Munde der Senatorin die Bitte, die Sophie aufhorchen machte. »Ich möchte keinen längeren Aufenthalt in Berlin nehmen. Sie haben wohl manchmal davon gehört – Art der Städte – Art der Menschen zu verschieden – ich fühl' mich hier nicht behaglich. Zu wenig Tradition. – Also kurz: ich muß Sie schon einladen, nach Hamburg zu kommen. Versprechen kann ich's natürlich nicht, aber ich zweifle nicht daran: Marieluis wird nicht das einzige Porträt bleiben.« Nach Hamburg – wo zwischen ragenden Schornsteinen, häßlichen, bestaubten und verräucherten Mauern und Dächern, an Wasserläufen, die Lastkähne trugen, irgendwo in einer Vorstadt ihr Allert sein junges Unternehmen zum Erfolg zu führen sich mühte ... Oh ja, wie gern nach Hamburg ... Fort von hier, wo der Freund lebte, dem sie, der ihr nötig war. Alternde Menschen sollen einander nicht berauben – um keine Stunde darf das Schicksal sie betrügen, die hell und tröstlich und voll sanfter Freude sein könnte – denn zu nahe ist jene eine Stunde, wo alles in Dunkelheit mündet ... Oh nein – nicht nach Hamburg ... Sie konnte nicht antworten. Nicht einmal zögernde, hinausschiebende Worte suchen. Denn Thea Daister kam wieder heran, eilig und noch unruhiger. »Das begreife, wer kann! Rositz hat nicht abgesagt und kommt nicht und telephoniert nicht. – Ich denke, man geht zu Tisch – es ist nur – er sollte Dich führen ...« Die Senatorin machte ein ärgerliches Gesicht. Sie unterhielt sich gern mit bedeutenden Männern. Der Vortragende Rat im Handelsministerium Rositz, von dem es hieß, er werde selbst mal Minister – der wäre ihr gerade als Tischherr recht gewesen. Sein Amt hatte ihn hie und da in Berührung mit Hamburger Handelsherren und Schiffsreedern gebracht. Es fehlte also nicht an Beziehungen. Jetzt trat der kleine elegante Herr von Daister zu seiner ihn überragenden Gattin, mit einem ernsten Ausdruck, der wie eine durchsichtige Maske über seinem flotten, siegessicheren Husarengesicht lag. »Wir können zu Tisch gehen. Rositz kommt nicht. Gräfin Bretten sagt mir eben, er sei sehr krank. Blinddarm. Nun, die Art Sachen kuriert Czermack ja glänzend. – Also ich meine doch ...« Sophie begriff sich nicht – sie vermochte es, sich zu halten, unauffällig zu bleiben, zu sprechen, am Tisch zu sitzen, zwischen Menschen, die ihr wie Phantome erschienen, während ihr selbst war, als träume sie. Ihr einzig klarer Gedanke war: die Gräfin Bretten zu fragen, was die wußte. Weit weg von ihr an dem dritten der großen runden Tische im Speisesaal saß die Gräfin. Sophie behielt immer den braunen Haarschopf im Auge, den ein Pfeil mit Brillanten durchstach – auf ganz altmodische, doch höchst kleidsame Art. Aber nach Tisch, als Sophie sich umsah, war die Gräfin verschwunden. Irgend jemand wußte: sie hatte noch auf den Ball der schwedischen Gesandtschaft gewollt ... Gleich darauf schlich Sophie sich davon. Der Diener begleitete sie hinab – da standen Autos – sie sagte ihre Straße und Hausnummer. – Und kaum, daß das Gefährt davonbrauste, so drückte sie an dem Gummiballon, der dem Führer »Halt!« zupfiff. Sie nannte ihm die Wohnung des Freundes ... Sie dachte gar nicht: was will ich da? Sie fühlte nur: es war schon etwas, das Licht hinter seinen Fenstern sehen – Licht ist wie der Strahl des Lebens – wie Sinnbild des Seins – das Unerloschene würde zu ihr sprechen, als sei es Trost. Sie wußte: die beiden Fenster links von der Ecke des ersten Stockwerks – das waren seine Fenster. Zuweilen, wenn sie, von einer Gesellschaft in später Nachtstunde heimkehrend, noch die Tiergartenstraße entlang fuhr, so sah sie in warmem, mildgelblichem Licht diese Fenster hell, und das war ein Zeichen: er arbeitete noch. Nun hielt das Auto – nicht vor der Gitterpforte, sondern, wie Sophie dem Führer befohlen hatte, an der gegenüberliegenden Seite, neben dem Reitweg, am Rande des Tiergartens. »Warten Sie!« Sophie sah das Licht, nach dem sie sich gesehnt hatte ... und noch viel mehr Licht – aus allen Fenstern brach es – schien die Mauerpfeiler wegzudrängen, die ganze Front in Helle aufzulösen – so blendend schrie dies viele Licht in die Nacht, wie ein prunkendes Fest oder – wie die Angst vor der düsteren Nähe des Todes. Sophie stand am hohen Gitter, zwei von den eisernen Stäben umklammernd, die in Reih und Glied aus der gemauerten Basis emporstiegen. Sie starrte zu seinen Fenstern empor. Alles war still. Keine Schatten glitten über die Vorhänge. Sie hörte gleich einer melancholischen Musik den Wind in den Wipfeln des Tiergartens. Kein Brausen und Rascheln und Wühlen in Blätterfülle. Nur jenes feine Sausen und Schwingen, als seien all die kahlen Reiser Peitschen geworden und schlügen die Nachtluft. Sternenlos, von schweren Schneewolken verhangen, stand der Himmel. Wie eine Bettlerin lauerte sie am Gitter, sie, die dem Mann, der droben lag und litt, die Nächste war – und an seinem Lager wachte vielleicht jene, deren Anblick und Wesen ihm noch seine Sterbestunde vergällen würde ... Ein Geräusch ... Fauchen ... Rollen ... Der mißtönige, rasch hintereinander viermal wiederholte Schrei einer Hupe – wie ein Signal. – Das Auto kam heran, bog durch die weitgeöffnete Gitterpforte – stieß seinen Benzinatem aus – fuhr den Weg hinan und hielt unter dem Glasbaldachin seitwärts am Hauseingang. Strahlendes Licht beglänzte die Stelle. Und Sophie sah ... Gerade als das Auto hielt, kam auch schon ein Diener aus dem Portal ... Er riß die Tür auf, und zwei junge Herren stiegen aus. Auf der Stelle wußte Sophie: seine Söhne! Der eine stand als Regierungsreferendar bei der Regierung in Breslau. Der andere war Leutnant in einem Dragonerregiment. Beide bedeuteten dem Vater Sorge ... Sophie konnte auf das deutlichste die Gesichter erkennen. – Die kleinen Bartstreifen auf dem hochmütig-gleichgültigen Gesicht des Referendars – die Aehnlichkeit des Dragoners mit dem Vater ... Sie schienen etwas zu fragen – der Diener, ob er sich zwar schon mit dem Handgepäck der Angekommenen beschäftigte, wußte seiner Haltung doch einen ernsten Ausdruck zu geben – seine Auskunft mußte sehr bedeutungsvoll sein. Sekundenlang blieben die beiden jungen Herren regungslos. Dann fragte der im Militärmantel noch etwas. Und da hörte Sophie deutlich – deutlich durch die Stille der Nacht ... »... vor einer Stunde!« Und sie wußte: Er war tot. Die mit Kränzen gehen und in schwarzen Flören, das sind nicht immer die wirklichen Leidtragenden. Sophie hatte kein Recht, an der mit pomphaften Trauerzeichen ausgestatteten Totenfeier teilzunehmen. Während man den teuren Freund begrub, stand sie im Arbeitskittel und malte. Die letzte Sitzung für das Bildnis der alten Fürstin – gottlob! Es eilte Sophie damit; etwas peitschte sie – sie mußte mit diesem Bilde fertig werden, es war, als gehöre es noch in das Stück Leben, das nun zu Ende war. Und dann fort – fort aus diesem Heim, das der eine niemals mehr betreten würde. – »Liebste Hellbingsdorf – Sie sehen elend aus – das hat Sie angegriffen.« Die Fürstin meinte die »kleine Reise in dringlichen Geschäften«, mit der Sophie sich für drei Tage entschuldigt hatte – drei Tage, in stumpfer Verborgenheit und schwerem Ringen verbracht. Sophie war das Lügen nicht gewohnt – den erfundenen Vorwand hatte sie vergessen. »Es geht wieder gut,« sagte sie, »es war nur ein leichter Influenzaanfall.« Die alten klugen Augen sahen sie durchdringend an. Und als Sophie dem forschenden Blick begegnete, kamen ihr unversehens Tränen – sie selbst überraschend, so daß sie sich nicht gegen ihre Weichheit hatte wappnen können. Nun biß sie die Lippen zusammen ... »Weinen Sie nur – weinen Sie,« sprach die Greisin, »die Tränen, die nach innen fließen, versalzen uns das Wesen ...« Dann fragte sie: »Wie alt sind Sie?« »Neunundvierzig.« »Jung – jung,« meinte die fast Achtzigjährige, »zu jung, um so allein zu stehen. Sie haben Söhne?« »Zwei, Durchlaucht.« »Kinder. Na ja. – Aber wenn wir in unserm tiefsten Weibtum irgendwie leiden – da können Kinder blitzwenig trösten – die wohnen sozusagen in 'ner andern Herzensabteilung – wissen Sie, als mein Mann starb – einst hatt' ich ihn bloß aus Gehorsam, fast mit Abneigung genommen – der liebe Gott hat's aber gut mit uns gemeint – ich gewann meinen Mann über die Maßen lieb – er mich – ja, als der Tod das zerriß – trostlos war ich – das konnten mir die Kinder nicht ersetzen. Na – man findet sich mit der Zeit – weil alles zeitlich ist.« Sophie küßte der Greisin die Hand. Sie fühlte sich wunderbar verstanden. Dies alte Herz erriet: sie litt. Und ohne zu wissen und zu fragen, fand es rechte Worte. Einen Augenblick dachte sie daran, sich der Fürstin zu offenbaren – denn neben dem Gram stand ja noch eine große Sorge ... Der nun Dahingegangene hatte ihr etwas anvertraut – diese Mappe, die er nach zwei Tagen holen wollte. – Er, der niemals mehr kam! Aber sie bezwang sich. Sie wußte: es ist immer klüger, die Güte Hochstehender nicht sogleich mit Geständnissen zu beantworten. Aber sie konnte nun weiterarbeiten. Und von ihrem erhöhten Sitz her, wo sie in einem goldenen Barockstuhl, voll Alterswürde, in den schweren Falten ihres dunklen Samtkleides saß, spann die Fürstin die Unterhaltung fort. »Offiziere, die Söhne?« »Der zweite, Durchlaucht. Mein Aeltester ist Kaufmann.« Der weiße Kopf machte eine lebhafte Bewegung. »Dernburg!« sagte sie bestimmt. »Das hat förmlich fixe Ideen erzeugt. Wenn ein Kaufmann plötzlich Minister werden kann – und ein bürgerlicher Kaufmann – welche Sessel müssen da adeligen Kaufleuten erklimmbar sein!« »Ach nein, Durchlaucht! Nicht Dernburg. Er ist schon vor zwölf Jahren Kaufmann geworden. Mein Allert dachte als Knabe, das Familiengut komme mal an ihn – als er sein Abiturium hatte, war's gerad' so weit, daß alles anders lag – mein Mann starb – Muschenfelde ließ sich nicht halten – es hieß, an Erwerben denken ...« »Da brauchte er doch nicht gleich Zucker und Kaffee zu verkaufen,« meinte die Fürstin mißfällig. »Ein Hellbingsdorf!« Sophie spürte: sie hatte keine Ahnung – sah in ihrer Phantasie vielleicht einen deklassierten Aristokraten, der hinterm Ladentisch Tüten füllte. »Durchlaucht – soll ich all die Standesherren aufzählen, die Brennereien, Brauereien, Sägereien haben? Die Holz, Milch, Vieh, Korn, Wild verkaufen?« »Ih – ja – das könnte klingen. Ist aber doch anders! Betrieb auf eigener Scholle – mein Neffe Rudi hat an seinem Waldbach 'ne Sägerei und 'ne Kornmühle. – Liebste – eigene Scholle! Und er klopft und sägt und mahlt nicht selbst,« sagte sie amüsiert. »Mein Sohn steht wohl auch nicht selbst an den Retorten und Oefen der Fabrik.« »Ach Gott ja – die neue Zeit,« sagte die Greisin so ins Unbestimmte hinein, »alles bekommt andere Taxen.« Und dann lenkte sie von diesem Gebiet, auf dem sie sich gänzlich unsicher fühlte, plötzlich auf das ihr bequeme ab. »Wen will denn Ihr Sohn so mal heiraten – wenn er sich in so 'ne andere Welt 'rein begab? Passen Sie auf, was er Ihnen da mal bringt – vielleicht irgend 'ne Börsenprinzeß – hm – vielleicht nicht übel – jedenfalls nicht ungewöhnlich. Wir haben ja manche Familien, die nicht mehr fortgekonnt hätten ohne solche Neuvergoldung ...« »Ja, Durchlaucht, die Frage beschäftigt mich beständig. Aber es ist eben eine ernste Frage. Kopf und Herz sollen bei der Beantwortung übereinstimmen. Das findet sich schwer.« »Unsinn. Unsinn. Kopf und Herz,« eiferte die Fürstin. »Das Herz kommt nach, wenn der Kopf durchaus weiß: so ist's vernünftig, so muß es sein. Es ist viel angeborene Neigung und Bedürfnis in einem, zu lieben, sich anzuschließen. Das hilft nach, sobald der Verstand einen unabänderlichen Lebenszustand etabliert hat. Und dann die Gewohnheit! Beste Hellbingsdorf, die gute Hälfte von dem, was man so für Verständnis und Liebe hält, ist ja bloß Gewohnheit. Das müssen Sie Ihren Söhnen klarmachen.« Jetzt kam die Gesellschaftsdame der Fürstin zurück, eine ältliche Person von strengem Ausdruck und hochmütiger Haltung. Die beiden Damen vertieften sich in ein Gespräch über die Besuche und Besorgungen, die Fräulein v. Rothenkrug inzwischen hatte machen müssen. Sophie hörte der seltsamen Unterhaltung, die fast ein Kampf war, nicht zu. Immer fand die Greisin, daß ihre Rothenkrug zu karg mit den Worten, der Zeit, dem Gelde gewesen war, alles hätte gütiger und freigebiger eingerichtet werden sollen. »Nein,« sagte die Rothenkrug bestimmt, »man darf die Leute in der Not nur stützen; nie so weit gehen, daß sie ihre Hilfsbedürftigkeit als den bequemeren Zustand empfinden. Das wäre keine richtige soziale Politik.« »Oh Gott!« klagte die Greisin unwillig. »Jetzt hört man bei jeder Gelegenheit Worte, die alles ins Allgemeine setzen. Was denn? Die Leute mit ihren vielen kranken Kindern brauchen Hilfe – unsereins hat Pflicht zu helfen – dafür ist mein Wohltätigkeitsbudget da –« Gerade als die Rothenkrug ihrer Herrin den Pelz umlegte, füllte ein grauer Schatten das Atelier. Draußen war die Luft voll Schnee – der erste Schnee. Der fällt schon auf sein Grab, dachte Sophie. Und als sie endlich allein war, stand sie lange an den breiten, hohen Scheiben und sah hinaus. Und am Nachmittag saß sie, wie an allen drei vorangegangenen Tagen, wieder vor der Mappe. Von bräunlichem Leder war sie und vielfach abgegriffen. Sie hatte kein verschließbares Schloß, sondern nur eines, das man auf- und zuschieben konnte. Es war Sophie unter den Fingern aufgegangen. Sie kannte die Mappe, hatte sie schon einmal gehütet – in ihrem eisernen Kasten, der ihr bißchen Schmuck und ihre Versicherungspolicen und dergleichen enthielt, und den sie in ihrem Kleiderschrank verbarg. Damals hatte er am Donnerstag zu lange und so köstlich behaglich bei ihr verweilt und den vorgehabten Weg zu seinem Rechtsanwalt nicht mehr machen können; die Bürostunde war vorüber. Und er wußte ohne Bitte und Wort, die unverschlossene Mappe würde ihr unantastbar sein, als lägen eiserne Bänder wohlvernietet herum. Damals hatte Sophie dasselbe Gefühl gehabt wie vor einigen Tagen: er will die Mappe nicht mit nach Hause nehmen. Vielleicht war er dort nicht ohne Mißtrauen gegen die Sicherheit seiner Schlösser. Schon in den ersten betäubenden Schmerz hinein war ihr schreckhaft die Erinnerung an die Mappe gekommen. Sie fragte sich: »Was ist darin? Wem soll ich sie zustellen?« Und sie fühlte vor allem eines: daß sie es dem Toten schuldig war, sich über den Inhalt zu unterrichten. Dieser Inhalt mußte dann bestimmen, was sie zu tun habe. Vielleicht waren es Papiere, deren Kenntnis nach seinem Tode den Haß vergrößern konnte, der zwischen ihm und seiner Frau bestanden. Sophie wußte: er hatte gewisse Beweise gesammelt. Aus Liebe zu seiner Tochter zögerte er immer noch, mit diesen Beweisen zum Schlage gegen die Frau auszuholen, die ihn so voll Feindschaft und Feigheit zugleich festhielt. Sophie war vorweg entschlossen: sie würde dergleichen verbrennen. Sie fühlte dazu ein heiliges Recht. – Dieser ihr noch unbekannte Inhalt der Mappe war wie ein Vermächtnis! Vor Gott und ihrem Gewissen gestand sie sich das Recht zu, damit zu verfahren, in Andacht vor dem Verstorbenen, nach ihrem Ermessen! Aber als unter ihren zögernden, unsicheren Fingern das Schloß sich wie von selbst öffnete, erlitt Sophie ein Entsetzen, das ihr eine Ohnmachtsanwandlung zuzog. – – Geld sah sie – Geld – Geldwerte! Ein breites, flaches Paket bildeten diese braun und weißen und grün und weißen Bogen, mit den feierlichen Aufdrucken von Zahlen, imposanten Schuldtiteln, faksimilierten Unterschriften – Staatspapiere waren es – Preußische Konsols. – Seither hatte Sophie sie gezählt – es waren einundachtzigtausend Mark, in Stücken von fünf-, zwei- und eintausend Mark. Wahrscheinlich, nein gewiß, ein Teil seines eigenen, vor der Frau verheimlichten Vermögens ... Was hatte Sophie alles gedacht seit dieser Entdeckung! Welche Möglichkeiten erwogen! Die Mappe zu seinem Bankier bringen? Sophie kannte nicht den Namen der Firma, deren er sich in der letzten Zeit bedient hatte. Sie erinnerte sich: er sprach zuweilen davon, daß er seinen Bankier gewechselt habe. Wie nun in dem ungeheuren Berlin die große Bank oder die Bankierfirma herausfinden, die gerade eine Zahlung von 81 000 Mark vom Geheimrat Rositz zu erwarten gehabt hatte? Aber vielleicht hatte niemand eine Zahlung erwartet. Vielleicht hatte er nur irgendwo ein Depot erhoben, um es an irgendeiner anderen Stelle neu verwahren zu lassen. Fällige Zahlungen läßt man doch überweisen. Wie unbegreiflich und rätselvoll erscheinen Handlungen, wenn ihr Ablauf und Fortgang unterbrochen wird. Sophie sah ein, sie würde niemals erfahren, wohin er diese Mappe hatte tragen wollen, und auch nicht, wo er den Inhalt entnommen. In welche Hände sollte Sophie nun den Nachlaß legen? Wie erklären, daß er in ihrer Verwahrung sich befand? Wie überhaupt beweisen, daß diese Papiere des Verstorbenen Eigentum gewesen seien? Und wie weiter, daß der Inhalt der Mappe unberührt sei? Sophie erglühte und zitterte, als habe sie Unredlichkeiten begangen. – – Wie nah sie dem Toten gestanden, so nah, daß er ihr unverschlossen ein Vermögen zum Aufbewahren gab – das mußte sie nun erzählen – einem Anwalt, oder einer Bankierfirma, oder seiner Frau ... Welchen unaussprechlich peinlichen oder vielleicht erniedrigenden Erörterungen setzte sie sich aus! Sie mußte von dem ernsten, weihevollen und adligen Bund sprechen, der ihre Seele mit der seinen verbunden hatte. – All dies der Entweihung, der Mißdeutung preisgeben. Und inmitten dieser furchtsamen und ratlosen Gedanken befiel sie die Erinnerung: er bot ihr Geld für Allert an; ganz gewiß hatte er dabei gerade dieses Geld gemeint – er drang es ihr förmlich auf – er wäre glücklich gewesen, ihren Sohn fördern zu dürfen! Sie brach in Tränen aus. Und ein bitteres Lächeln über die grausamen Ironien des Lebens ging ihr dabei um den Mund. »Hätte ich ja gesagt!« Dann war dieses Geld fortab einem Zweck zugewandt, der ihn freute und ihrem Sohn Segen brachte. Während jetzt? – – Wie rasch würde die Frau es vertun, in deren Hände es fiel. – – Ob er wohl auf dem Krankenbett an die Mappe und ihren Inhalt dachte? Oder ob das jähe Elend, das ihn rasch befiel und schnell ganz hinwarf, ihm alle Gedanken genommen hatte? Wenn die Sterbenden immer wüßten, daß sie an der letzten Schwelle stehen! Mit aller Kraft würden sie sich noch einmal umwenden, und ihre deutende Hand würde noch zeigen: so soll mein Nachlaß geordnet werden! Und sie wußte es in heiliger Gewißheit: diese Mappe mit dem wertvollen Inhalt würde er für sie bestimmt haben. – – Solange man ihm noch nicht die Ehren der Begräbnisfeier erwiesen, eilte ja nichts, Sophie fühlte, alles durfte ruhen. Aber nun war es vorbei. Die schonende Stille, die Gnadenfrist für das verwundete Gemüt war zu Ende: es hieß, sich wieder dem Leben aussetzen und seinen Rauheiten. Auch in seinem Hause würde neue Lebendigkeit einsetzen – jener grausame Betrieb mußte dort nun beginnen, der selbst dort, wo Liebe wohnt, unvermeidlich ist. – Und bei ihm und den Seinen hatte keine Liebe gewohnt. Mit harten und gleichgültigen Händen würde in seinem persönlichsten Nachlaß gewühlt werden – in seinen Schränken, seinem Schreibtisch. – Und jetzt erst, jetzt fielen Sophie ihre Briefe an ihn ein. Wenn er auf Reisen war, schrieben sie sich; aber auch hier in Berlin flog manchmal ein Blättchen hin und her, wenn sie verhindert waren, sich zu sehen. Sophie dachte nach, bemühte sich, das in Ruhe zu tun. – Draußen fiel der Schnee voll Gelassenheit und sehr dicht vom Himmel – das gab solche wunderbare Lautlosigkeit – spann ein – wies nach innen. Sie konnte ohne Erröten an ihre Briefe denken; nichts war darin als die Würde und Tiefe eines seltenen seelischen Verstehens. Und wahrscheinlich erriet nie ein Mensch, von welcher Frau sie kamen. Ein S. zeichnete sie – vielleicht kam hier und da ein Name vor – aus der großen, so unendlich verzweigten Welt, darin sie gelebt hatten – aber eben weil diese Welt so groß, so konventionell, so unübersehbar und hinter all ihren Formen und Verknüpfungen so undurchdringlich war – eben deshalb würde seine Frau, wenn sie auch die Briefe fand, doch die Schreiberin nie finden. Trotz dieses Gefühls, nur wie ein Wesen ohne Greifbarkeit und Körper zu bleiben, war es ihr doch schrecklich, daß neugierige und verständnislose Augen ihre einst an ihn gerichteten Worte lesen würden. Und in diesem Schmerz erschien ihr der Fall mit der Mappe viel leichter. Eine Erkenntnis kam ihr plötzlich und wurde sogleich in Tat umgesetzt. Sie schrieb ein Telegramm an ihren Sohn Raspe, der in Magdeburg stand. »Komm,« rief sie, »es ist dringend, komm!« Am andern Mittag trat er bei ihr ein. Und die Frau fühlte sich wie ein beschütztes Kind und ganz beruhigt in den Armen dieses Mannes, der ihr Sohn war. Raspe überragte seine Mutter weit. Er trug seine hohe Gestalt mit einer gewissen stolzen Festigkeit, die sehr soldatisch und zuweilen ein wenig steif wirkte. Sein ernstes, offenes Gesicht bekam einen weichen Ausdruck, als er seine Mutter so schutzbedürftig fand. Der Sohn wußte ja: die Freundschaft mit dem bedeutenden Mann hatte seiner Mutter seelisch und geistig viel gegeben. Jetzt, aus dem leidenschaftlichen Vortrag des Erlittenen und der Lage, spürte er, daß diese Beziehung wohl einen noch viel größeren Platz im Leben seiner Mutter eingenommen habe, als er vermutet. Aber dieses Begreifen ließ nun keine Eifersucht mehr aufkommen. Er fand Worte der Verehrung und Dankbarkeit für den Verstorbenen. Und sah auch zugleich, wie man, ohne zu lügen, doch in durchaus begreiflicher Darstellung, der Familie alles erklären könne. Vollends leicht gestaltete sich die Sache, wenn der ältere Sohn des Geheimrats, der Dragoner, noch im Trauerhause weilte. Dann konnte Raspe als Kamerad zum Kameraden gehen. Glücklicherweise war Raspe auch in Uniform gekommen. Nun hieß es sofort handeln. Er schlug die Mappe in ein Papier, siegelte und ließ die Mutter darauf schreiben: Eigentum des Herrn Geheimrat Rositz. Und dann ging er. Sophie drückte ihre Stirn gegen die Fensterscheibe und sah unten, drüben auf dem Bürgersteig, den Sohn, der noch heraufgrüßte. Er ist wundervoll, dachte sie entzückt, ihrer alten Schwäche untertan, immer am begeistertsten von demjenigen Sohn zu sein, der gerade bei ihr war. In der Tat hatten die Söhne auch beständig alles getan, durch ihr Wesen und ihre Leistungen der Mutter das Leben zu erleichtern und zu verschönern; sie durfte mit Achtung und Dankbarkeit an alle beide denken. Jetzt sann sie mit Rührung und Bewunderung über Raspe nach. Sie wußte, das Wort, das ein großer General einmal als Richtschnur für preußische Offiziere ausgesprochen hatte: Groß denken und klein leben ! – das war der Wahlspruch ihres Jungen geworden. Und wenn sie zuweilen über seine Anspruchslosigkeit und die Kleinheit der Zulage – er nahm nur das Nötigste – klagte, so wußte er ihr klarzumachen, daß sein Beruf nun einmal Entsagungen fordere und daß es auf einige mehr nicht ankomme. »Offizier sein«, sagte er, »heißt fortwährend große Opfer bringen. Das ist unser Stolz. Und vielleicht kommt bald einmal die Stunde, wo das Volk das wie der mehr würdigt, als jetzt in der langen Friedenszeit möglich ist.« Unterdessen ging Raspe Hellbingsdorf den Kurfürstendamm entlang, überschritt die Corneliusbrücke und kam durch die Friedrich-Wilhelm-Straße bis zum Tiergarten. Der Schnee, der seit gestern mittag bis heute früh unaufhaltsam gefallen war, machte die Straßenbilder glänzend und lachend. Der Tiergarten war ein weißes Feld, aus dem das dunkle Heer der Bäume starr und hart aufragte. In den Gabelungen der Aeste nisteten kleine Schneemengen. Wenn irgendeine Bewegung durch die Luft ging und die Zweige sacht anblies, rieselte weiße Streu herab. Das war alles so freundlich. Und Raspe ging höchst gelassen seinem Ziele zu. Er sah keinerlei Ursache, nervös zu sein. – Es war ein ungewöhnlicher, in mancher Hinsicht unerklärlicher Fall – nun ja. Aber unter ehrenhaften Menschen findet man sich auf Treu und Glauben auch in das Ungewöhnliche. Das war also das Rositzsche Haus. Vielmehr schon ein kleines Palais. Ein weißer, prunkvoller Barockbau, mit schwarzblauem Dach, auf dem die Nachmittagssonne grell gleißte. Dem Hochparterre war eine Terrasse vorgelagert. Ein wenig stieg der Weg von der Gitterpforte her an bis zum seitlichen Eingang, den ein Glasbaldachin schirmte. Der Bediente gab die Auskunft, daß Herr Leutnant Rositz allerdings noch nicht abgereist seien und sich zu Haus befänden. Raspe ermunterte den leisen, vornehm zögernden und wichtigen Menschen zu strafferer Beflissenheit, indem er etwas befehlshaberisch sagte, es handle sich um eine wichtige und dringliche Sache. Darauf verlor sich der Mann in Trauerlivree im Hintergrunde des breiten, mit dicken Teppichen und alten Truhen und Sitzbänken ausgestatteten Korridors. Es lag nicht in Raspes Gewohnheiten, den Reichtum anderer Leute zu bewundern und einer prächtigen Umgebung, falls sie nicht gerade sehr künstlerisch wirkte, Beachtung zu schenken. Er bemerkte kaum, wie kostbar hier alles war; auch in dem Raum, in den man ihn führte und zwei Minuten zu warten bat, sah er sich nicht genau um. Es schien ein Festsaal. Die Breitseite mit den großen Fenstern an der Front des Hauses. Reiche Stuckwände, hellgrau und gold, vom Plafond eine riesige glitzernde Kristallkrone und gelbseidene Sessel an den Wänden hingereiht. In der Mitte unter der Krone ein Rundsofa, das von einer Marmorgestalt gekrönt war. Raspe spürte nur: dies schien ja eigentlich kein Raum für eine ernste, gemessene Unterhaltung. Er ging auf und ab. Die zwei Minuten waren lang. Aber der Diener hatte murmelnd, noch im Bann von Raspes Befehlshaberton und vielleicht auch der Uniform, angedeutet, daß gerade der Rechtsanwalt der Familie ... und wahrscheinlich Nachlaßsachen ... kurz, vorweg die zwei Minuten dehnbar gemacht. Die Sonne schien, die Kristalle der Krone blitzten, es gleißte die gelbe Seide des Rundsofas, geziert hob die marmorne Figur ihre Arme zum Haar empor, das in steinernen Strähnen ihre stumme Stirn kränzte; der weiße Stein schimmerte körnig. Und Raspe ging auf und ab. Mit einem Mal öffnete sich eine der Flügeltüren, die einander gegenüber in den Schmalseiten des Saales standen. Eine junge Dame kam herein, in dem stumpfen Schwarz der neuen Trauerkleidung. Sie stand überrascht. Raspe machte große Augen. Ach! – dachte er – es war eine nicht zu klaren Gedanken sich formende, aufwallende Bewunderung. Das junge Mädchen sah ein wenig bleich aus, vielleicht im Kontrast zu der ganz schwarzen Kleidung, vielleicht von den Anstrengungen der letzten Tage. Braunschwarze Augen blickten ihn groß und lebhaft an. Und der Ausdruck in ihrem feinen, länglichen Gesicht war so deutlich: Wer sind Sie? – Was wollen Sie hier? – daß Raspe sich verbeugte. »Hellbingsdorf. – Oberleutnant von Hellbingsdorf. Ich bin Herrn Leutnant Rositz gemeldet und erwarte ihn.« »Ach so ... Mutter und die Brüder haben gerade mit Justizrat Kahler zu sprechen,« sagte sie. »Ihr Herr Bruder will mich aber doch empfangen. Ich warte eben.« Sie stand ein wenig unsicher. Was sollte sie tun? Vielleicht war dies ein guter Freund und Kamerad ihres Bruders. Dann konnte man ihn doch nicht fremd und ungastlich hier allein im Tanzsaal stehen lassen. Sie war zufällig hereingekommen, den Raum als Durchgang benutzend. Sie sah ihn immer gerade an. Er gefiel ihr so gut, wie ihr noch nie ein Mensch auf den ersten Blick gefallen hatte. Was für ein fester, gütiger Ausdruck in seinen blauen Augen! »Sind Sie ein Freund von Viktor? Ich habe Ihren Namen nie gehört. Aber das will nichts sagen – ich weiß nichts von Viktors Leben – Sie haben wohl erraten – ich bin seine Schwester Mathilde – Tulla sagen ja immer alle zu mir ...« Raspe verbeugte sich. »Nein,« sagte er, »ich bin kein Freund Ihres Herrn Bruders, nicht einmal sein Bekannter. Ich habe es nur übernommen, einen sehr wichtigen Auftrag an ihn zu überbringen.« »Viktor wird gewiß gleich kommen.« Der Wunsch, ein Gespräch zu beginnen, hier zu bleiben, bewirkte nun gerade, daß ihr gar nichts ein fiel, was sie sagen könnte. Außerdem: es schickte sich doch nicht, daß sie einem fremden Offizier Gesellschaft leistete, den Viktor nicht mal kannte. »Sie haben sehr Schweres erlebt, gnädiges Fräulein,« sagte Raspe, »darf ich Ihnen meine Teilnahme ausdrücken? Ich hatte einigemal das Glück, im Hause meiner Mutter Ihrem Herrn Vater zu begegnen, und war voll Bewunderung für seine ausgezeichnete Persönlichkeit.« »Oh,« sprach sie, »oh, Sie kannten Papa? – Er hätte noch nicht fort dürfen ...« Mehr konnte sie nicht hervorbringen. Sie sah ein paar Sekunden schweigend vor sich hin. Und dann schlug sie plötzlich groß die Augen auf und sah Raspe an. Sie dachte: aber ich muß doch wohl fortgehen. Besonders, weil ihr Bruder Viktor gleich hereinkommen könne. Und das war ihr, sie wußte nicht warum, jetzt und hier unangenehm – als müsse sie dann verlegen werden. Und zögernd ging sie, nach einer kleinen, ernsthaften Neigung des Kopfes. Langsam schritt die schmale, schwarze Gestalt durch den Raum, dessen Leere etwas Festliches hatte, schon durch die Größe und durch das Glitzern des durchsonnten Kristalls über dem gelben Rundsofa. Der feine Kopf der zögernd Davongehenden war von merkwürdig vielem dunklen Haar umgeben. Ihr ganzer Körper schien zart und schlank. Raspe sah ihr nach und fand es schade, daß sie ging. An der Tür wendete sie sich noch einmal um, die Hand auf dem Griff. Sehr ernsthaft, fest und lange sahen sie einander in die Augen ... Das war merkwürdig! dachte Raspe, als sie dann wirklich ging. Und fast laut sagte er noch einmal vor sich hin: »Merkwürdig ...« Er verfiel in solches Grübeln unbestimmter Art, daß er darüber gar nicht spürte, wie aus »zwei Minuten« eine Viertelstunde wurde. Dann kam Viktor Rositz hastig herein. In Zivil; mit der größten Sorgfalt drückte dies Zivil die frische, tiefe Trauer aus. Starke Familienähnlichkeit mit der Schwester, dachte Raspe, aber mit einem weniger sympathischen Zug – »Sie haben eine wichtige Angelegenheit, Herr von Hellbingsdorf? Wichtig für Sie? – Für mich? – Für einen Dritten? Darf ich erfahren? Aber bitte ...« Und er öffnete die Tür, durch welche vorhin seine Schwester so überraschend hereingekommen war. Die Herren traten in ein Zimmer, das vielleicht der Salon der Hausfrau sein konnte. Es schien übervoll von zierlichen Möbeln, und helle Himbeerfarbe drängte sich dem Auge auf. In einem winzigen Sofa und einem Lehnsessel, dessen niedere Rundlehne kaum bis zu den Schulterblättern des Sitzenden ging, nahmen sie Platz, ein Tischchen zwischen sich, auf das Raspe die Mappe legte. »Die Angelegenheit, Herr Kamerad, ist für Sie und die Ihren nicht ohne Interesse. Ich habe Ihnen etwas zu bringen, das man wohl als Hinterlassenschaft Ihres Herrn Vaters ansprechen darf.« »Meines Vaters? Sie kannten ihn?« »Ja. Wenig. Doch meine Mutter hatte die Freude, ihn näher zu kennen ...« »Ihre Frau Mutter?« »Sie trafen sich seit Jahren da und dort bei gemeinsamen Freunden, vornehmlich auch seinerzeit bei dem Vetter meiner Mutter, Exzellenz von Eggebeck ...« »Ach, das ist Ihr Vetter?« »Gelegentlich sprach Ihr Vater wohl auch bei meiner Mutter vor, die als namhafte Porträtmalerin ja mannigfach das Interesse ihres Kreises genießt.« »Porträtmalerin?« Diese Art, rasch hervorgestoßene Fragen ins Gespräch zu streuen, die manche Menschen haben, war Raspe immer unleidlich. Es machte ihn aber nicht nervös, sondern nur ein wenig förmlicher in der Haltung und vielleicht auch etwas trockener im Ton. »Vorigen Montag – ja, gestern vor acht Tagen, besuchte Herr Geheimrat meine Mutter. Er sprach mit ihr davon, daß sie seine Tochter porträtieren solle ...« »Ach nee? Tulla?« »Sobald sie das Bild der Fürstin Siegstein vollendet haben würde.« »Was? Die Fürstin Siegstein?« »Im Laufe des Besuchs wurde Ihr Herr Vater ganz offenbar von einem ernsten Uebelbefinden befallen. Er bat, daß man ihm ein Auto hole. Ob er nun das Gefühl hatte, ihm könne unterwegs etwas zustoßen – genug, er schien ungern diese Mappe mitnehmen zu wollen und bat meine Mutter, sie ihm aufzubewahren. Gewiß hoffte er, sie am nächsten Tag abholen zu können.« Der Leutnant Rositz verließ jetzt seine Fragemanie und diesen Tonfall, der etwas Zweifelndes hatte, der immer zu unterstellen schien, daß der andere doch nicht ganz glaubwürdig sei. »Papa ist dann in der Tat im Auto bewußtlos geworden. Als sein Fahrgast hier vor dem Gittertor nicht ausstieg, sah der Chauffeur mal nach ... na, und alarmierte dann das Haus –« »Also war seine Vorsicht leider nur zu gerechtfertigt. Wie leicht hätte die Mappe ihm entgleiten, unbeachtet liegen bleiben, abhanden kommen können. Meine Mutter befand sich aber dann in einer peinlichen Lage ...« »Wieso? In einer peinlichen Lage?« »Sie wartete. Vielleicht konnte eine Nachricht kommen. Jemand konnte die Mappe holen. Aber niemand kam. Und Donnerstag hörte sie: es sei zu Ende. Sie wartete noch bis zum Tage der Bestattung. Und dann berief sie mich, damit ich der Familie die Mappe übergäbe.« »Deswegen? Gott, wie umständlich! Warum nicht einfach per Post schicken?« Und er streckte die Hand nach dem verschnürten und versiegelten Paket aus, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Der wichtige Inhalt verbot es, denn ...« »Ihre Frau Mutter hat sich mit dem Inhalt beschäftigt?« »Ich bitte Sie, die Maßnahmen meiner Mutter durchaus zu respektieren,« sagte scharfen Tones Raspe, »sie sind in jedem Fall die richtigen gewesen.« Leutnant Rositz verbeugte sich höchst verbindlich. »Die Mappe war nicht verschlossen. Der Inhalt konnte einen Anhalt geben, wohin der Verstorbene sie hatte bringen wollen. Aber es fand sich keinerlei Anhalt, keine Notiz. Nichts. Nicht einmal beweisen kann meine Mutter, daß diese Mappe Ihrem Herrn Vater gehörte. Der Inhalt ist der unpersönlichste von der Welt. Aber er hat doch auch Beweiskraft in sich, durch seine Art ...« »Beweiskraft?« »Ja. Es ist nämlich Geld. Preußische Konsols. Dreißig Stück. Im Gesamtwert von einundachtzigtausend Mark.« Nun öffnete Leutnant Rositz leicht den Mund. Aber keine hastige Frage kam heraus. Er schien ganz verdutzt. Raspe ließ ihm Zeit und setzte förmlich hinzu: »Sie begreifen, daß meine Mutter Wert darauf legte, mich mit dieser Mission zu betrauen.« »Aber gewiß! Gott, wir sind Ihnen enorm dankbar! Wir hatten schon gesehen aus Abrechnungen, Bankzetteln und so – da mußte noch Geld sein, von dem wir nichts wußten. Ein Depotschein war da – über eine annähernde Summe – Deutsche Bank – ja – aber da mußte mehr sein. – Offenbar – Papa hat die Papiere irgendwo weggeholt, um sie anderswo zu verwahren – Gott ja – wir sind Ihnen enorm dankbar – Ihrer Frau Mutter natürlich in erster Linie auch.« Das kam alles in raschestem Tempo heraus. Raspe hörte – ein freudiger Ton klang mit und wurde im Laufe der Rede immer deutlicher. – – Wie ihn das verletzte! Seine Aufgabe war zu Ende. Sie hatte sich leicht erledigen lassen. Er erhob sich. Viktor Rositz begleitete ihn hinaus – über den prächtigen Korridor bis zur Garderobe neben der Eingangstür, und Raspe hatte noch eine Menge rasch heruntergehaspelter Verbindlichkeiten hören können, und wie der jüngere Kamerad sich freue, durch diese so ernste und ungewöhnliche Angelegenheit einen scharmanten Kameraden kennen gelernt zu haben. Aber Raspe dachte nur: ob die Schwester nicht noch einmal zufällig des Weges käme ... Nichts rührte sich im Korridor. Da war nur der Diener, den Viktor mit einer Handbewegung in den Hintergrund gescheucht hatte, um Raspe selbst in den Mantel zu helfen. Mit einer seltsamen Empfindung verließ er das Haus. Versonnen ging er, fast zögernd, auf die Pforte zu. Und als er am Gitter entlang schritt, sah er sich noch einmal die stattlich heitere Front des weißen Barockbaues an. Da bemerkte er oben an einem Fenster ein weißes Gesicht ... Er grüßte hinauf ... Und er konnte sich selbst nicht begreifen. – Das war ja wie etwas Erwartetes und Schönes. Seine Mutter war dann wehmütig glücklich, als sie vom Verlauf des Besuches hörte. Raspe verschwieg ihr nicht, daß er die Tochter gesehen und gesprochen habe. Und das feine Ohr der Mutterliebe hörte wohl: es war Interesse in seinem Ton – fast Befangenheit. Sie seufzte in sich hinein. Möglichkeiten stiegen vor ihr auf, die zugleich schon vergingen. – Wünsche blitzten und erloschen. – Ja, wenn der Tod nicht dazwischen gekommen wäre. – Wenn der teure Freund ihr noch die Tochter hätte bringen können – vielleicht, daß Tulla und Raspe sich kennen gelernt hätten – kennen und lieben. – – Wenn Menschenhänden Macht und Recht würde, die Leben zusammenzuknüpfen, die eine schöne Verbindung bedeuten könnten. – Aber so geht oft und oft ein Wesen am andern vorüber – man streift sich – staunt einander an – im raschen Blick leuchtet ein Verstehen und Erkennen auf – und schon ist es vorbei. – Man hat keine Möglichkeit und Form, dem andern zu sagen: warte, damit wir uns näher in die Augen sehen können. – Raspe meinte, die ganze Angelegenheit habe fast etwas Romanhaftes gehabt. »Ach nein,« sagte seine Mutter, »das Leben bringt so viel seltsamere Dinge zustande, als die Phantasie eines Dichters erfinden darf. Von ihm fordert man unaufhörlich das Wahrscheinliche, Begründete, und die Begrenzung durch Form. Und das Leben selbst ist ein Komponist, der sich in bizarren Anhäufungen von Unwahrscheinlichkeiten und Grausamkeiten gefällt. Bedenk' allein das sinnlose Geben und Nehmen, darin das Schicksal förmlich wie toll ist! Und wie es uns erbittert. Im Roman findest Du doch noch immer etwas, das die Erbitterung lindert und löst – das trägt die Kunst hinein – im Leben ist es nicht.« Es erging ihr wie allen, die nicht klagen und nicht schwach sein wollen – dann erleichtert es doch das Gemüt ein wenig, wenn man dem Leben seine Grausamkeiten im allgemeinen anschreibt. Kaum eine Stunde nach Raspes Heimkehr fuhr schon Leutnant Rositz vor. Aber Therese sagte eigenmächtig, aus ihrem Spürsinn heraus, daß die Herrschaften nicht zu Hause seien. Als sie dann die beiden Karten hereinbrachte, nachträglich doch ein wenig besorgt über ihr Handeln, war Sophie zufrieden. Sie sagte sich, es wäre ein qualvoll konventionelles Begegnen gewesen. – Sie verbrachten dann einen stillen Nachmittag und Abend. Raspe brauchte erst am andern Morgen in seine Garnison zurückzukehren. Und es tat der Mutter doch wohl, sich über ihre nächsten Pläne auszusprechen. Sie wollte ja nach Hamburg, schon in wenigen Tagen. Da hatte sie dann Arbeit und ihren Sohn Allert. Wenn die Hoffnung der Senatorin Amster sich verwirklichte, würden sich in Hamburg mehr Aufträge finden, vielleicht genug für den ganzen Winter. Und Raspe mußte zu Weihnachten hinkommen. Das stand fast vor der Tür – drei Wochen noch. Er sah wohl: seiner Mutter war zumut wie jemand, der sich an einer Daseinswende fühlt. Mit einer unendlichen Melancholie gedachte sie des Verlorenen, aber der neue Abschnitt, karger an Reizen, wie er sein würde und immer bleiben mußte, forderte volle Sammlung von ihr, und sie war entschlossen, sich dazu emporzuringen. Ja, das ist eine merkwürdige und eigentlich eine furchtbare Stimmung: man steht mit leeren Händen und weiß nicht, ob das Schicksal jemals wieder etwas hineinlegen will, das wert ist, festgehalten zu werden. Man steht ganz einsam, die Welt empfindet man als eine undeutliche Oede um sich herum. Man hat das Gefühl: hoch oben irgendwo ist doch noch Licht und Freude – aber wie soll man da je hinauf gelangen, ohne Hilfsmittel als die eigene Kraft, die ermüdet ist? ... Dergleichen empfand Sophie. »Die einzige Freude,« sagte sie, »die mir noch werden kann, wäre, wenn Ihr mir liebe Schwiegertöchter brächtet – Allert und Du. Schwiegertöchter, die Glück und Wohlstand ins Haus tragen, ihm neue Blüte und Bestand geben.« »Wie gern, Mutter,« sprach Raspe lächelnd, »wie gern! Wenn Du mir das Mädchen bringen kannst, das mir Glück garantiert.« »Garantiert?« rief sie. »Oh – ein Mann wagt. Und erzwingt sich's.« »Läßt sich Glück erzwingen, Mutter? – Du – Du hattest doch den Willen zum Glück in Deiner Ehe und die tägliche Selbstaufopferung, zu versuchen, ob es sich denn nicht erzwingen lasse ...« »Still! – Das soll Euch kein Beispiel sein – es gibt doch auch, gottlob, noch schöne, innige Ehen – eine solche ist doch wie vollendetes Menschentum. – Wie sollte es mich beseligen, Euch darin zu sehen! Und über den Wunsch hinaus, über das Verlangen, das Recht, das Eigenleben so voll ausgestalten zu können, gibt's noch viel andere Gründe zum Heiraten. Gibt's die nicht? Denke doch! Der Staat! Jawohl, Dir, mir und dem Volk bist Du's schuldig, zu heiraten.« Nun mußte Raspe lachen. »Mutter, geh nicht ins Volkswirtschaftliche! Der Staat – Du kommst mir sozusagen mit Tabellen – schielst nach Frankreich.« – Wie ihn das amüsierte. »Hast Du schon mal einen Menschen gesehen, der aus Pflichtgefühl gegen den Staat geheiratet hätte?« Sie mußte auch lächeln. Aber weil sie doch auch gern das letzte Wort haben mochte, sagte sie: »Das gesteht sich natürlich selten ein Mensch ein und andern wohl nie. Aber als halbbewußte Unterströmung –« Sie unterbrach sich. Therese kam herein. Und sie hatte schon an der Tür jene ihr eigentümliche Handbewegung, die zugleich Neugier zu wecken und diskret zu beschwichtigen schien. Dann streckte sie auch lächelnd das etwas geneigte Gesicht vor, und Sophie sah es ihr an der Nasenspitze an, daß draußen etwas Ungewöhnliches los sei. Ein verlumpter »Kollege«, der Unterstützung wollte, oder ein ganz hoher Besuch – jedenfalls etwas über, unter oder außer Theresens Taxe vom Normalen. Ganz nah an den Tisch vorm Ecksofa, wo Mutter und Sohn gemütlich saßen, kam sie heran und berichtete fast flüsternd: »Es ist 'ne Dame da. Karte hat se keine. Ich sagte, daß jnä Frau woll nicht annimmt – wo wir doch jleich zu Abend essen sollen. – Aber sie bat – ich soll mal fragen – tiefe Trauer trägt sie – ja und dann – es hinge mit Herrn Jeheimrat zusammen, sagt se.« Mutter und Sohn sahen sich an. Sophie dachte: seine Frau?! Kam sie vielleicht, um ihr selbst noch zu danken? – Wollte sie Fragen stellen? Sich von der letzten Stunde erzählen lassen, die der Verstorbene außerhalb seines Hauses verbrachte? Aber Raspe dachte: Sie! »Sie!« Denn in seiner Gedankenwelt spielte eine Frau des Verstorbenen gar keine Rolle – er kannte nur eine Tochter. – Was gab es da zu besinnen! Sophie sagte: »Laß mich allein mit ihr – zuerst – aber komm nach zehn Minuten. – Ich möchte, daß Du sie sähest – mir Dein Urteil sagtest – also ja, Therese, führen Sie die Dame hier herein.« Herzklopfend stand sie mitten im Zimmer. Oh, sie wußte, nun würde gleich eine sehr, sehr schöne Frau hereinkommen, wunderbar jugendlich erhalten, mit köstlichem braunen Haar, dem in den letzten zwei, drei Jahren ein kupferroter Schimmer gegeben worden war. Sie sah ja diese Frau in ihrer rauschenden, geschmeidigen Eleganz, mit ihren weißen Schultern und dem bandartigen Halsschmuck von Perlen zuweilen auf ganz großen Festen. Nun kam eine schmale schwarze Gestalt herein, deren Kopf durch einen runden großen Hut von Krepp und einen dichten Schleier ganz versteckt war. Aber gleich wurde der Schleier zurückgeschlagen, und Sophie erriet auf der Stelle: seine Tochter! Warm wallte in Sophiens Gemüt eine Bewegung auf – Rührung – fast Freude. Am liebsten hätte sie diesem jungen, von Trauerfloren umwallten Geschöpf ihre Arme entgegengebreitet. Tulla stand und sah sich, noch von der Schwelle her, rasch um – sah, daß der Gobelin, der vor der Türöffnung hing, die zu einem andern Zimmer führte, sich noch ein wenig bewegte, so, als sei dort eben jemand hinausgegangen. Schon aber war die Frau neben ihr und erfaßte ihre Hand und führte sie förmlich ins Zimmer. Tulla fühlte ein liebevolles Entgegenkommen. »Schickt Ihre Mutter Sie zu mir?« fragte Sophie in jenem schonenden Klang, den die Stimme Leidenden und Trauernden gegenüber annimmt. »Nein – ach Gott – nein – ich bin heimlich hier – ganz allein bin ich gekommen – zu Fuß,« sagte Tulla und nahm den Platz im Ecksofa ein, dabei sah sie unverwandt Frau Sophie ins Gesicht. Und dachte: ach ja – sie sieht gut aus – »Allein auf der Straße? Heimlich? Und wenn man Sie vermißt?« »Kein Mensch vermißt mich. Ich hab' Mademoiselle mein rosa Chiffonkleid geschenkt – sie soll Mama sagen, ich liege mit Kopfweh zu Bett – wenn Mama überhaupt nach mir fragt – aber sie wird schon nicht – sie liegt selbst zu Bett – aus Langerweile und liest, und vielleicht muß Mademoiselle ihr Karten legen – das kann Mademoiselle großartig« – Sie sprach wie ein unreifes Kind – aber nicht im Ton der Klage, sondern in vollkommener Einfachheit, wie von den gewohntesten Zuständen. »Und was führt Sie her?« fragte Sophie, etwas zurückhaltender – weniger liebevoll – ohne es selbst zu wissen – abwartend und erstaunt. »Ich mußte Sie etwas fragen. – Ihr Herr Sohn hat heute Viktor was gebracht – ich hab' Ihnen vielleicht auch was zu bringen« – – Sie zögerte einen Augenblick – in einer plötzlichen Verlegenheit – fingerte an dem Bügel ihrer Handtasche – und stieß endlich heraus: »Gehört das Ihnen? Sind die von Ihnen?« Und sie öffnete ihre Tasche und nahm ein Päckchen heraus ... Sophie fühlte sich erblassen. Ihre Briefe. In der Hand seiner Tochter. Tausend Fragen überstürzten sich in ihrem Kopf. Mit zitternder Hand nahm Sophie das Päckchen. »Wie kommen Sie dazu, liebes Kind? Und woher wissen Sie ...?« Das junge Mädchen besann sich ein wenig. Es war so schwer, anzufangen. Sie saß mit geneigtem Kopf. Und da fiel der schwere Krepp wieder herab und hing wie eine Trauerfahne vor ihrem Gesicht. Sophie wollte ihr dann behilflich sein, all diese Schleierüberfülle auf den Hut zurückzuschlagen – dabei waren sich die beiden Gesichter sehr nahe – sie blickten sich in die Augen – in einer scheuen, zärtlichen Neugier.... Sophie sagte: »Nehmen Sie doch den Hut ab – diesen schrecklichen Hut ...« Und das junge Mädchen zog gehorsam sofort die Nadeln heraus und legte den Hut auf den nächsten Stuhl, den ihre ausgestreckte Hand erreichen konnte. Nun sah Sophie mit ihren Maleraugen und mit den Augen der liebevollen, mütterlichen Frau den feinen jungen Kopf und fand die Züge des Toten darin – seine dunklen Augen mit dem Feuer starken Lebens ... »Nun sagen Sie – woher wissen Sie ...« »Sie haben ihn verstanden – Sie ! Verzeihen Sie mir – ich habe die Briefe gelesen – alle ...« Und plötzlich fiel sie Sophie um den Hals und weinte – weinte. – Das Herz der alternden Frau, dies verarmte und noch blutende Herz erriet: das waren die ersten Tränen, die seine Tochter tröstlich weinte – die ersten, ihren jungen Gram lösenden und mildernden Tränen. – Vielleicht hatte sie bisher allein, verborgen, ohne Mitgefühl zu sehen, weinen müssen. Und Sophie nahm dies verwaiste arme Kind in ihre Arme und ließ ihr Zeit, sich zu fassen. Dann hob Tulla von selbst an zu erzählen. Wie sie gleich gesehen: der Vater sei sterbenskrank. Aber die Mama wollte es nicht glauben und pochte auf seine gute Natur, die sich rasch erholen werde, und verschickte noch die Balleinladungen, weil sie doch schon ausgeschrieben gewesen seien und adressiert. Und dann kam Exzellenz von Czermack und sagte, es sei zu spät zum Operieren, es sei einer von den Fällen, wo von vornherein jeder Eingriff unmöglich gewesen sein würde. Und weiter erzählte sie, immer leidenschaftlicher, immer hinströmender im starken Gefühl und beschwingten Wort, eine, die lange hat schweigen müssen und nun endlich alles aussagen darf – wie sie ihren Vater kaum verlassen, nicht Tag noch Nacht, ob auch gleich die Wärterinnen und die Mama schalten und ihr Dortsein unnütz fanden. Und er habe sie manchmal erkannt und dann ihr zugelächelt. Und einmal habe er sie mit der Rechten zu sich herabgezogen – ganz schwach – sie habe aber gleich gefühlt, was seine Geste wollte. Er habe ihr etwas Wichtiges mitteilen wollen, nur mühsam habe er sich noch verständlich machen können und ihr zugeflüstert: »Schreibtischschlüssel nehmen – Briefe nehmen – verbergen – nicht Mama« – und die übrigen Worte wurden zu undeutlich – viele hatte er noch gemurmelt. – Aber Tulla wußte, was sie nun durfte und mußte: sie mußte den Schreibtischschlüssel aus dem Bund heraussuchen, das neben Papas Uhr auf dem Nachttischchen lag. Und sie durfte in seinem Schreibtisch stöbern, um irgendwelche Briefe zu finden, die er ihr und ihr allein anvertrauen wollte. – Es war ja Nacht. Die beiden Wärterinnen sahen, die eine stumpfsinnig, die andere ein bißchen interessiert zu, wie sie die Schlüssel nahm ... Mama schlief. Mamas Nerven konnten Nachtwachen nicht vertragen. – – Und da ging Tulla nach nebenan und drehte das Licht auf. Es war ihr schrecklich und unheimlich, so in Papas Sachen zu kramen. Ihr kam es dabei vor, als sei er schon tot. Und sie hoffte doch noch und hatte Exzellenz Czermack so dringend gebeten, Papa am Leben zu erhalten. Viel Geld sah sie, Gold und Silber, in einer offenen, in Fächer geteilten Kassette von grünem Draht. Ganze Bündel von Abrechnungen von Banken waren da. Ein großes Anschreibebuch. Und Briefe von Viktor und Harald. Die handelten alle von Bitten um Geld – Erklärungen über Geldverbrauch – Versprechungen. – Aber Tulla sagte sich: diese Briefe konnte Papa nicht gemeint haben, darin stand nichts, was Mama zu verbergen nötig war. Die Eltern stritten sich ja so oft vor Tullas Ohren über den Geldverbrauch von Viktor und Harald. Mama verzog und verwöhnte die Brüder an allen Ecken und Enden, aber wenn sie um Geld schrieben, ärgerte Mama sich doch, und Papa sagte, das sei inkonsequent. Dies alles erzählte Tulla mit einer Vertraulichkeit, die ihr dieser Frau gegenüber das natürlichste von der Welt schien. Und dann berichtete sie, daß sie endlich, ganz hinten, in einem alten Kasten ohne Deckel, diese Briefe, lose durcheinanderliegend, gefunden habe. Als sie dann den ersten, obersten las, da wußte sie es: die hatte Papa gemeint! Sie trug den offenen Kasten in ihr eigenes Zimmer und verwahrte ihn dort in der kleinen Boulekommode, die ihr Papa zum letzten Geburtstag geschenkt. Dann legte sie das Schlüsselbund wieder neben Papas Uhr. Die Wärterinnen guckten erst sie und dann einander an. – Und Papa lag wieder wie schlummernd – so, wie er dann bis zuletzt gelegen hatte. Sie vermochte ihm nicht mehr zu sagen: es ist besorgt. Sophie saß erschüttert. Seine letzten klaren Gedanken hatten ihren Briefen gegolten – Gott allein wußte, was der Inhalt all jener weiteren Worte gewesen, die sein Kind nicht mehr verstand. Vielleicht dachte er auch an die Mappe und das, was sie enthielt, und sagte noch, geistesklar und willenskräftig, wem sie gehören solle. – Sophie ahnte wohl: mir! Aber sein Körper war schon in Verfall. Wie oft hat ein Sterbender nicht mehr die Kraft, seinen allerletzten, klaren Willen auch klar auszusprechen. Wie tröstlich aber war es, zu denken, daß er in dem Wahn entschlummerte, sich noch verständlich gemacht zu haben. – Denn das Kind sagte es: auch den undeutlichen Worten habe sie mehrfach versprechend zugenickt: »Ja, Papa – ja – ja ...« Tulla fuhr dann fort: »Nicht wahr – Sie vergeben mir, daß ich die Briefe las – was konnte ich machen? Ich hatte nicht den Befehl bekommen, sie zu vernichten. Es konnte doch sein, daß viel daran lag, daß die Schreiberin sie zurückerhielt?« »Gewiß,« sagte Sophie, »gewiß.« »Ich dachte auch: Gott, wenn die Frau, die diese Briefe schrieb, nun von Papas Tod hört! Wie schrecklich sie sich wohl um ihre Briefe ängstigt – wer die findet! Wer die liest! Und ich wollte ihr zu gern sagen: bloß ich. Und ich hab' wohl verstanden: das ist was Schönes und Heiliges für Papa gewesen. Eine großartige Freundschaft!« Was Tulla nicht aussprach, war dies: sie hatte aus der Art der Aufbewahrung den Schluß gezogen: Liebesbriefe sind es natürlich nicht. Sie dachte nicht an himmelblaue Bänder und Geheimfächer. – Das freilich nicht. Aber ein alter, deckelloser Kasten – das war ihr doch zu profan. »Die Frau, die mit Papa so befreundet war, die wollte ich doch gern auch liebhaben – nicht wahr? Aber so viel ich auch las und mir ausdachte – bekannte Namen kamen ja vor – Anhalt gaben sie doch nicht. S – ich dachte: Selma, Sara, Sophie?« »Nun haben Sie mich doch gefunden – und so rasch?« sagte Sophie fragend. Das junge Mädchen antwortete nicht gleich. Sie sah auf den Gobelin – der wurde an der rechten Seite gefaßt und gehoben – Raspe kam herein. Und Tullas Gesicht bekam einen ganz hellen Ausdruck. »Oh, wir kennen uns schon!« sagte sie und reichte ihm die Hand entgegen. Mit vollkommener Beherrschung der Situation – einer Gewandtheit, die im Gegensatz stand zu der vorhin gezeigten kindlich unreifen Art, sah sie nun Sophie lebhaft an und fragte: »Darf ich in Gegenwart Ihres Herrn Sohnes weiter erzählen?« »Bitte. Raspe weiß um meine Freundschaft mit Ihrem Vater. Das gnädige Fräulein bringt mir meine Briefe an ihn. Ich bin ihr sehr dankbar.« »Heut mittag – das heißt, es war ja eigentlich noch vor Tisch – für uns – wir essen um vier – heut mittag waren Sie ja bei uns – lieferten Viktor eine Mappe aus mit Geld – davon sprachen die Brüder bei Tisch noch immerfort mit Mama – Sachen, wie in diesen Tagen endlos – das ist wohl so nach einem solchen Todesfall – Geld und die Erbschaft – aber Mama sagte, alles komme von ihr, sie sei die Besitzerin, und nun meinten die Brüder, dies andere Geld gehöre aber uns. Mama bestritt das. Sie wurden etwas heftig gegeneinander.« Sie schwieg einige Augenblicke. Und Raspe und seine Mutter achteten dies Schweigen, das ihnen schmerzlich schien. Sie fühlten, zart war im Trauerhause mit der Stimmung dieses holden Kindes offenbar nicht umgegangen worden. Vielleicht litt sie in Erinnerungen und verlor sich eben hinein – deshalb warteten sie stumm. Aber Tulla litt nicht eigentlich. Sie ärgerte sich nur nochmals und konnte das doch nicht erzählen – wie die Mama gesagt hatte: »Höchst eigenartige Geschichte. – Und welche Garantie hat man, daß es nicht ein paar Stück Konsols mehr waren ...« Da fuhr sogar Viktor auf und rief scharf: »Mama!« Und Harald machte sein Gesicht. Sie seufzte aus Herzensgrund. Ach, wie war es schön, hier zu sitzen. Sie blickte mit freiem Auge Mutter und Sohn an und fuhr fort, lächelnd: »Mama und Viktor und Harald hatten sich alle drei furchtbar um das bißchen Geld – schließlich sagte Mama nämlich, es sei nur ein bißchen – und der Justizrat sollte entscheiden, wem es zukomme. Und Mama meinte, Viktor müsse doch sofort einen Besuch bei Ihnen machen, ehe er abreise. Petzold mußte das Adreßbuch hereinbringen. Und da suchte Viktor denn herum, bis er vorlas: Sophie von Hellbingsdorf, Porträtmalerin, und die Straße und das Haus. Sophie! Ich fühlte auf der Stelle: sie muß es sein. – Und ich dachte: geh mal hin und frage.« – Nun war sie stolz und von einem glücklichen Wichtigkeitsgefühl ganz erhoben. Sie hatte den Wunsch des Sterbenden erfüllt. Und ihr achtzehnjähriges Herz war auch voll von einer jäh entstandenen Begeisterung für diese Frau, die ganz sicher der Inbegriff von allem Edlen und Hohen war. Allein schon, weil sie solchen Sohn hatte ... Sophie schloß sie noch einmal in ihre Arme – ebenso sehr aus Mitleid wie voll Dankbarkeit. Dann sprach Raspe davon, daß er unter gar keinen Umständen das gnädige Fräulein allein nach Hause gehen lassen, sondern sie heimfahren werde. »Darf ich noch etwas hier bleiben – ach, darf ich?« bat Tulla. »Wenn Ihre Mademoiselle sich nicht ängstigt?« »Fällt ihr gewiß nicht ein – wenn Mama sie nicht mehr braucht, geht sie todsicher noch aus – ihr Bräutigam wartet abends auf sie. – Das hab' ich längst 'raus. – Und Papa ist ja nicht mehr da – wenn er irgend, irgend konnte, sah er abends noch nach mir ...« Sophie dachte daran, wie er gesagt hatte, er hoffe, sie könne seiner Tochter Wohltäterin werden. Und sie begriff, wie sehr diesem Kind eine mütterliche Freundin nötig war. Gewiß konnte Tulla dableiben – es paßte vortrefflich – draußen in der Pfanne briet ja festliches Geflügel, und Therese hatte eine köstliche Speise gemacht, bezüglich deren sie an dem Wahn festhielt, es sei Raspes Lieblingscreme, während er längst gleichgültig gegen Süßigkeiten geworden war. – Das erzählte sie voll Heiterkeit. – Und Tulla, die die Traulichkeiten und Niedlichkeiten einer so stillen kleinen Wirtschaft nicht kannte, wo das bißchen umständlichere Tafeln wegen eines lieben Gastes schon Freude bedeutet, Tulla fand alles entzückend und poetisch. Als Sophie ins Eßzimmer ging, um ein drittes Gedeck aufzulegen, und Raspe mit Tulla allein ließ, fühlte diese sich nicht befangen. Sie sagte: »Mir ist ganz wunderbar – so, als kenne ich Ihre Mutter schon ewig lang. Und ich komm' mir hier ganz gemütlich vor ...« Raspe meinte: »Weil Sie wissen, meine Mutter kennt Sie aus den Erzählungen Ihres Vaters.« Tulla sagte: »Ihre Mutter hätte mich malen sollen. Ich lasse Mama keine Ruh – Sie muß Ihrer Frau Mutter den Auftrag geben...« Sie stockte. Ihr fiel ein, Viktor hatte gesagt »Laß Dich bei der Frau malen, wie Papa es vorhatte – das ist denn so 'ne Art Belohnung – Porträtmalerin! – Gott, die haben's meist sehr nötig –« Viktor war manchmal schrecklich plump. Durch die Wendung »Auftrag geben« und das plötzliche Verstummen fühlte sich Raspe irgendwie unangenehm berührt. Ihm ahnte, daß und wie man den Fall im Hause Rositz besprochen haben mochte – denn schon waren die Wände dieses Hauses wie Glas für ihn, und er sah darin einen Geist walten, der ihm gänzlich zuwider war – – »Meine Mutter«, sagte er kühl und mit jener etwas steifen Haltung, die er annahm, wenn er Verletzendes auch nur von fern witterte, »wäre nicht in der Lage, einen etwa dahinzielenden Wunsch jetzt zu erfüllen. Sie reist in den nächsten Tagen nach Hamburg und bleibt lange dort.« »Sie reist weg!« rief Tulla in einem ganz naiven und offenkundigen Schreck. Hier kam Sophie herein. »Sie reisen weg?« wiederholte Tulla. »Und ich dachte – weil ich Sie gefunden habe, dürft' ich Sie oft besuchen – oh, das wär' zu schön gewesen. Grade jetzt ...« Die nächste Zeit gähnte sie ja förmlich an. Was sollte sie nur anfangen? Keinen netten, lieben Menschen wußte sie. Es war auch Sophie leid. Mehr, als sie aussprach. Als man dann zu dritt um den kleinen Tisch saß, fühlte Sophie geradezu Reue über ihren Hamburger Plan, der sich nun nicht mehr rückgängig machen ließ. Ihr war, als sei das nun ihre nächste, ihre Hauptpflicht, sich dieses Mädchens anzunehmen. Und sie sah ja auch – wie die dunklen Augen ihren Raspe anstrahlten – Fäden spannen sich da an – sie würden gleich wieder zerreißen, wenn nun jede Gelegenheit fehlte zum Begegnen. – Wenn ich doch wenigstens erst nach Weihnachten zu reisen brauchte, dachte sie. Weihnachten kam Raspe doch auf Urlaub. Aber Aufschub war auch undenkbar. Allert freute sich schon. Und die Senatorin Amster hatte schon Tag und Stunde der ersten Sitzung bestimmt. – Sophie spürte wohl, das war eine Dame von scharfer Pünktlichkeit, ein Programmensch; man mußte sich auf sie einstimmen, wenn man durch sie Aufträge und Verdienst erhoffte. Und dabei verstärkte alles, was Tulla ganz offenherzig erzählte, in der mütterlichen Frau das Gefühl: sie braucht noch Anleitung, Herzlichkeit und viel Verständnis. Tulla klagte nicht, gar nicht, sie berichtete einfach. Man konnte denken, sie ahne nicht, wie viel ihr fehle. Zur Schule war sie nicht gegangen. Sie hatte mit Fiffi v. Samelsohn und Lille v. Parwitz zusammen Privatstunden gehabt, die Mütter der beiden waren Freundinnen von Mama, das heißt: gewesen. Wenigstens habe sich Mama mit Fiffis Mama erzürnt, und Mademoiselle sagte, es sei wegen des Barons Legaire, den die Samelsohn dem Jour der Mama abspenstig gemacht haben solle. Und Fiffi sei ihr verhaßt, denn alles wisse sie und könne alles besser, und wenn man sich mal freue, redete sie so rasend klug, warum es nicht der Mühe wert sei, sich zu freuen. Lille sei aber verboten dumm. Und dermaßen faul und eitel, und gäbe einem beständig zu verstehen, daß nur blonde Menschen das Recht hätten, schön gefunden zu werden. Warum sie eigentlich immer noch mit beiden verkehrte? Was sollte man machen? Die Mamas hatten einen noch nicht brauchen können. Allein mopste man sich tot. Ein Jahr waren sie auch alle drei in Pension gewesen, in einer rasend vornehmen englischen. Da habe man gelernt, sich in jeder gesellschaftlichen Lage absolut sicher zu benehmen. Nun hätte das Leben recht anfangen sollen. Aber jetzt war vorerst alles aus. Papa war dahin. Und man saß in tiefer Trauer. Da glänzten ihre Augen wieder in Tränen. Raspe sah sie durchdringend an. »Es tut Ihnen leid, daß Sie diesen Winter nicht tanzen und in die Welt können?« fragte er langsam. »Ach nein,« sagte sie aufrichtig und tupfte sich die Tränen ab, »für mein ganzes Leben wollt' ich wohl auf alles verzichten – wenn ich damit Papa nur lebendig machen könnte. Er fehlt mir furchtbar. Und ich weiß auch wohl: ich war sein Verzug – wenn er auch ganz verärgert war, mich ließ er's nie entgelten. Er hatte ja viel Aerger. Im Amt. Von der Presse – die wußte immer, wie er es anders hätte machen sollen, sagte er – von den Brüdern – Viktor, das ging ja noch, der hat auch so 'n strengen Oberst – aber Harald! Mit Harald kann ich mich gar nicht vertragen. Wenn Sie nur wüßten, was er für 'n ekliges Gesicht machen kann! Gerad so, als ob alles, was alle Anwesenden sagen und tun und denken, Unsinn und tief unter ihm sei. Papa wurd' immer so gereizt durch das Gesicht, bloß Mama lachte ...« Wenn die offenherzigen Erzählungen des jungen Mädchens bei dem Wort »Mama« hielten, entstand eine Stockung im Gespräch. Sophie wußte wohl, warum sie dann stumm blieb. Sie kannte ja die Frau genau – nach und nach hatte der Mann sie ihr gezeigt. – Sophie wünschte, schonungsvoll, nicht von ihr mit der Tochter zu sprechen. Mit keiner einzigen Frage wollte sie das Kind nötigen, Ungünstiges von der Mutter zu erzählen. Tullas Gedanken kehrten zu Raspes Frage zurück. Mit einem Male sagte sie lächelnd und strahlend: »Solcher Abend – wie dieser – das ist doch schöner als Bälle und Theater. – Haben Sie mich ein bißchen lieb, wegen Papa?« Und sie beugte sich vor, sah Sophie flehend und schmeichelnd in die Augen und küßte ihr dann plötzlich die Hand. »Gewiß. Nicht nur wegen Ihres Vaters. Um Ihrer selbst willen,« sagte Sophie gerührt. »Sehen Sie mich als Ihre mütterliche Freundin an. Wie gern will ich Ihnen helfen, das Leben zu nehmen.« »Das Leben zu nehmen« ... wiederholte sie nachdenklich und wußte nicht, was sie aus dem Wort machen sollte. »Könnte ich Ihnen doch eine Pflicht geben, eine Arbeit zeigen, einen Inhalt ...« Tulla faltete die Hände an der Tischkante und schüttelte im rötlichen Schein der Hängelampe ihren Kopf. »Hoffnungslos,« sagte sie mit dem anmutigsten Ausdruck, »kein Talent! Fiffi will noch Kunstgeschichte treiben und später Kritiken schreiben und vielleicht Novellen. Lille hat 'ne Stimme, hoch wie 'ne Flöte – ich find' ja, sie singt oft falsch, aber sie weiß kolossal Bescheid, wie all die großen Sängerinnen es eigentlich machen sollten. Ich kann nichts. Ja, wissen Sie, wenn ich eine ganz kleine Schwester hätte – das wäre reizend. Nicht? Lille und Fiffi lachten sich halbtot, als ich das neulich mal sagte, und Fiffi schrie ...« Sie schwieg und wurde rot. Diese gräßliche Fiffi hatte erklärt, das sei »Mutterschaftsinstinkt«, so 'n Wunsch. – Nein, solche unpassende Aeußerung konnte sie nicht erzählen. Etwas scheu sah sie zu Raspe hinüber. Und da sah sie einen Blick voll leuchtender Wärme und Güte. Das machte sie ganz verwirrt vor Glück. Ein wunderbares Schweigen breitete sich aus. Es schien ganz voll von den herrlichsten Ahnungen. Das junge Mädchen wagte kaum zu atmen und hörte nur ihr Herz klopfen – ganz geschwinde – ganz geschwinde – als eilten alle Schläge einer unnennbaren Seligkeit entgegen. Sie sprang auf. Sie mußte jemand liebhaben, greifbar mit Küssen und Umarmung. Und deshalb fiel sie der Frau um den Hals, die ihre mütterliche Freundin sein wollte, und rief: »Papa müßte bei uns sein.« Dafür war die Frau ihr dankbar aus Herzensgrund. An dem dunklen Kopf vorbei suchte sie mit fragendem Blick das Gesicht ihres Sohnes. Und sie fand auf den sonst so beherrschten, männlichen Zügen einen Ausdruck von Weichheit und Feierstimmung, daß ihr beinahe ebenso bewegt zumute ward wie diesem aufgeregten Kinde. Ein wenig später mußte Frau Sophie leider daran erinnern, daß es gleich halb zehn sei, und daß sie durchaus wünsche, Tulla treffe noch vor zehn Uhr zu Hause ein, ganz gleich, ob dort jemand ihr Ausbleiben bemerke oder nicht. – Tulla erhob keine Einwendungen. Mit vollkommenem Gehorsam brach sie sogleich auf. Sie nahm mit leidenschaftlichen Dankesbezeigungen Abschied und bat, vor der Abreise nach Hamburg noch einmal vorsprechen zu dürfen. Auf dem Korridor nickte sie sehr freundlich der scharf aufmerkenden, diplomatisch dreinschauenden Therese zu, denn sie hatte gesehen, daß die ältliche Person hier eine Vertrauensstellung einnahm. Und in ihr war eine Stimmung, die sie antrieb, sogar der Dienerin den Hof zu machen. Gleich nachdem die beiden jungen Menschen die Wohnung verlassen hatten, lief die Mutter ans Fenster. Sie riß es auf, sie beugte sich in die Nacht hinaus. Der Schneeatem, der ihr kalt und klar ins Gesicht hauchte, ließ sie nicht frösteln. Wie aus der Vogelperspektive sah sie's: Da unten ging ein hoher Mann in stolzer, ruhiger Haltung, und neben ihm, mit ihrem breiten Hut, von dem noch rückwärts der schwere Krepp herabwallte, das schlanke Mädchen. Eigentlich konnte man die Wirkung ihrer Gestalten von hier oben durchaus nicht beurteilen. Aber Sophie dachte entzückt: sie sehen großartig nebeneinander aus. Auch als sie das Fenster wieder geschlossen hatte, weil sich die Davongehenden in der Straßenperspektive zwischen anderen Passanten verloren, auch da sah Sophie die beiden noch im Geist immer vor sich und sah sie mit zärtlichem Lächeln wie etwas schon Vereintes. Denn eine wundervolle Hoffnung war in ihr groß geworden, so jäh in die Höhe gestiegen wie die Pflanzen, die indische Fakire binnen wenig Stunden unter mystischen Verschwörungen aus einem Samenkorn hervorschießen lassen. Ihr heißer Wunsch war der Zauberer, der diesen herrlich grünenden Hoffnungsbaum so märchenhaft wachsen ließ, und Myrtenzweige durchrankten ihn. Sie war eine Mutter, die kraft ihres unvergessenen Weibtums alle Wonnen und Leiden junger Liebe nachempfinden konnte. Viel mehr als nachempfinden: für und mit ihrem Sohn sie selbst erleben – mit jedem Nerv spürend, was in diesen jungen Herzen vorging –. Und sie dachte inbrünstig: möchten sie sich finden! Den Sohn verheiratet zu sehen und das Kind des verlorenen Freundes als Tochter in ihre Arme nehmen zu dürfen, war ihre dringliche Sehnsucht. Vergangenheit und Zukunft genoß ihre Phantasie. Sophie sah sich wieder als junge Frau, nach rasch ernüchtertem Liebeswahn bestrebt, doch noch irgendwie sich ein wenig Glück aufzubauen. Ihr Trost waren ihre beiden Knaben und das Leben mit ihnen in der stillen Zartheit der Natur. Wie liebten sie den tiefschattigen Garten, der sich an das Herrenhaus schloß. Auf den Treppenstufen seines Giebels saßen im Herbst die Raben, und wenn Allert sie zählen wollte, flogen sie schon, ehe die Zählung begonnen war, hinüber zu den drei Pappeln, die mitten auf dem Rasen im Garten standen. Sie liebten auch den Graben, dessen Wasser man nicht fließen sah, und der zwischen Krauseminze und Vergißmeinnicht stand. Ein Brett, auf Pflöcken ruhend, ragte über ihn hinaus, und da durften Allert und Raspe mit ihren kleinen Gießkannen Wasser aufholen und dem Gartenknecht helfen, die Sellerieknollen zu begießen. – Drüben dehnten sich die Wiesen, und die schwarz-weißen Kühe lebten da ihr schwerbewegliches, wiederkäuendes, plump-beschauliches Leben auf dem grünen Grunde. Und irgendwo im Garten gab es eine Stelle, wo Allert und Raspe als Sechs- und Siebenjährige ihren Phylax begraben hatten. Vater Meyns, der abends mit seinen weißen Haaren und seinem runzligen Diplomatengesicht, getrockneten Waldmeister rauchend, vor der Stalltür saß, machte ihnen aus schmalen, flachen Brettern ein Kreuz. Und Allert schrieb mit seinen ersten, steifen Kinderbuchstaben darauf: »Hier ruht in Gott der treue Filacks«. Mit Oelfarbe zogen sie dann die Bleistiftbuchstaben nach, und dadurch wurden sie beinahe ganz unleserlich ... Oft in ihrem Kampf ums Vorwärtskommen hatte Sophie voll vergehender Sehnsucht an all diese Stätten gedacht. – Sie wiederzuerwerben, sie ihren Kindern zurückgeben zu können, die alte Scholle der Familie in neuem Glück und Leben bessere Frucht tragen zu sehen, einen verheirateten Sohn, von Kindern umgeben, dort zu wissen, wenn sie einmal stürbe – das war ihr Ziel. Sie wußte längst, allein konnte sie das nicht. Dazu wuchsen die Ersparnisse zu langsam. Allert hatte einst versprochen: ich helfe dir. Aber er lernte rasch begreifen, daß ein kaufmännisches Geschäft, ob es sich mit Fabrikation oder mit Handel befaßte, gerade war wie ein Erdboden: sollte es ertragskräftig werden und in immer wachsendem Maße bleiben, so wollte es auch gedüngt sein – mit Gold. Auf viele Jahre hinaus mußte jeder Gewinn hineingesteckt werden. Anders war es ungesund. Da baute sie sich eine andere Hoffnung auf: wenn Raspe eine Frau nimmt, die er liebt, und die wohlhabend ist! Eine Frau ist ja glückselig, wenn sie das Ihrige dem geliebten Mann in die Hände legen darf. Und jetzt – heute abend – jetzt trat die Hoffnung aus dem fernen, unbestimmten Dunst klarer heraus – schien sichtbare Gestalt zu werden. Ihr Mutterherz ertrug kaum diese glückliche Unruhe, von der sie erfaßt wurde. Geschlossenen Auges stand sie in der Stille und sah und hörte: Sommerabend war es, und zwischen den Büschen des Gartens hatte sich, vom sonnigen Tage her, die Wärme verfangen. Vom fernen Graben her kam das leise plaudernde Gequake der Frösche. Der Himmel im sanften Grau dunkler Perlen stand voll unendlichen Friedens. Und durch diese liebliche Abendruhe ging sie. Und neben ihr schritt ein glückseliges junges Paar. Oh, wenn sich dieses Hoffen zu einem Erleben gestalten sollte! Es war Sophie, als ob sie dann für alles Glück, was ihr selbst versagt worden war, ganz entschädigt sein würde. Sie lächelte strahlend ... Die beiden jungen Menschen gingen indes durch das lebhafte Treiben der winterlichen Weltstadtstraßen. Tulla sagte gleich: »Nicht fahren – bitte. Wir kommen trotzdem zur rechten Zeit hin – vor zehn – das müssen wir – weil doch Ihre Mutter es wollte.« Er merkte: ihr lag daran, durchaus dem Wunsch seiner Mutter zu gehorchen. Das war nun ein merkwürdiges Zusammenwandern: auf Tritt und Schritt abgestimmt. Und die Gleichmäßigkeit des Ausschreitens gab irgendwie ein sicheres Gefühl – als gehöre man von jeher zueinander. Tulla merkte nichts von all den Menschen, die an ihnen vorbeikamen, nichts von Gedröhn der vorüberfauchenden Autos, nicht den Schnee, der als schon angebräunte Schanze sich zwischen Bürgersteigen und Fahrdamm hinzog, nicht den grellen und ungleichen Glanz der tausendfältigen Belichtung. In ihr sang und klang das junge Leben rasch emporgeflammter Liebe. Sie hatte es sich immer gedacht: auf den ersten Blick müsse es kommen. Und daß es sich so erfüllte, machte sie wie berauscht vor Glück. Herrlicher hätte es gar nicht sein und werden können. Ganz gewiß würde Papa mit tausend Freuden alles gebilligt haben. Der Sohn der von ihm so unendlich verehrten Frau! Wem hätte er seine Tochter lieber geben sollen als diesem. Ja, man konnte geradezu sagen: durch Papa war es so gekommen. Er hatte sie diesen unvergleichlichen Menschen zugeführt. Er hatte ihr die Briefe anvertraut – vielleicht sogar in dem bestimmten Wunsch, daß sein Kind ihr Glück durch einen der Söhne seiner Freundin finde. Tulla war, als ihr dieser Gedanke kam, durchaus geneigt, anzunehmen, daß Papa es so gemeint habe ... Und Mama? Gott, Mama war so mit sich beschäftigt – und Tulla konnte sich eigentlich gar nicht vorstellen, wie sie nun, als erwachsene Tochter, mit und neben Mama leben solle. Es schien einfach so, als ob neben Mama kein Platz sei. – – Es würde ihr ganz gewiß höchst angenehm sein, die Tochter in einer frühen Heirat gleich untergebracht zu wissen. Zweifellos gab das auch allerlei Unterhaltung für Mama, gerade im ersten Trauerjahr – noch heute mittag hatte sie gesagt: wenn ich nur erst wüßte, was man jetzt anfängt, am besten wird es sein, man geht auf Reisen. – So sah Tulla gar keine Hindernisse. Und auf das merkwürdigste mischten sich bei ihr in den seligen Rausch erster Liebe all diese Erwägungen. Sie dachte sogar daran, daß Mama sehr reich sei, und freute sich dessen, denn falls der geliebte Mann, wie sie vermutete, nicht viel oder gar nichts habe, so machte das nichts aus. Einer mußte Geld haben, natürlich. Aber wer – das war egal. Fiffi v. Samelsohn hatte noch neulich gesagt: das kann unsereiner wenigstens haben – wir können heiraten, wen wir wollen – – Eine jubelnde Sicherheit war in ihr. Nichts blieb in dämmernder, beklemmender Angst. Sie wunderte sich zuerst nicht einmal, daß Raspe in ernstem Schweigen neben ihr ging. Sie fühlte: auch in ihm stürmten die Gedanken ... Mitten in ihrer grenzenlosen Aufregung fiel ihr etwas ein. Hatte sie nicht etwa durch diese und jene Bemerkung bei Raspe und seiner Mutter Vorurteile gegen Mama erweckt? Das war gewiß nicht ihr Wille. Und sie sagte: »Witte, seien Sie offen – mir kommt es beinahe so vor – es hat doch nicht ausgesehen, als wollt' ich Mama kritisieren? Oder lebte nicht in Frieden mit ihr?« »Allerdings«, antwortete Raspe ehrlich, »hatte ich den Eindruck, als ob Ihr Vater Ihnen näher gestanden habe.« »O ja – natürlich – das tat Papa natürlich. – Und das ist wohl so – man kritisiert ja doch die Eltern immer 'n bißchen – sie sollten mal Lille hören – Papa war wundervoll. Lieb und geduldig und immer vornehm. Mama hat eben mehr Temperament – und schön ist Mama! Oh, Sie werden staunen. Immer, wenn sie mit Viktor oder Harald ausgeht, denken die Leute, sie sei die Schwester – so schöne Menschen, die dürfen ein bißchen egoistischer sein – nicht? Mama ist oft bezaubernd, Sie glauben nicht wie. Wenn sie lustig ist und da Dinge oder Menschen sind, die sie unterhalten. Mann kann ihr dann gar nicht widerstehen ... Ich hab' Mama ganz gewiß ebenso lieb, wie andere Kinder ihre Mutter haben,« versicherte sie. Ihr Ton wurde nach und nach zitternd, weinerlich – zum Schluß beschwörend. Die Art, wie er sie sprechen ließ, schien ihr plötzlich so abwartend, so bedrohlich. Wie ein Blitz fiel die Furcht in ihr Herz und verbannte sofort alle jubelnde Zuversicht ... Gewiß, er hielt sie für unkindlich und kaltherzig – er, der so innig mit seiner Mutter stand. Ihr Ton verriet so genau, was in ihr vorging. Raspe verstand es, und es rührte ihn. Er beruhigte sie: »Wie sollte ich daran zweifeln dürfen. Und das ist ja eine bekannte Sache, von der man oft hört: die Tochter steht dem Vater, der Sohn der Mutter näher. Darin ist wohl ein tiefer Sinn ...« »Ja,« sagte Tulla eifrig, »ja – ich stand Papa wirklich näher ...« Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie schon in der Friedrich-Wilhelm-Straße waren. Ihre Füße wurden ihr schwer. Sie ging immer langsamer. Mit jedem Schritt vorwärts entschwand das sichere Glücksgefühl mehr und mehr. – – All diese äußeren Dinge, die ihr gleich so gegenwärtig gewesen, versanken – das ganze Leben löste sich in schreckhafte Unbestimmtheiten auf. – Noch fünf Minuten – und man mußte sich trennen. – Mit welchem Wort würde es sein? Raspe zögerte auch. – Er fühlte wohl: es war ein unreifes, junges Geschöpf, das da an seiner Seite ging, ihm zugewandt mit sehnsüchtigem Blick und erwartendem Herzen. Aber was ist Unreife. Ein holder Zauber mehr, wenn alle Möglichkeiten zur Reife da sind ... Waren sie es? An Gemüt und Verstand, an Anmut des Wesens und des Körpers fehlte es dem Mädchen nicht – Ein rechter Mann konnte wohl alles aus ihr machen. Konnte er? Eine schwere, ernste Frage – nicht im jähen Sturm daherbrausender Liebe zu erwägen – sondern in langsamer Prüfung – – Die dunkeln Augen sahen ihn flehend an – rührende Demut stand jetzt in dem feinen Gesicht, das so weiß schien, weil der feierliche Trauerpomp der schwarzen Schleier seinen Hintergrund und Rahmen bildeten. Er nahm sich zusammen – als ein rechter Mann, der er war. Denn auch für ihn war dies kein Winterabend voll Schnee und Kälte und Weltstadthelle und Lärm – Eine wunderliche Stimmung wollte ihn bezwingen – Noch niemals hatte er sich so erhoben, so voll Stolz und Kraft gefühlt – Frühlingsfreude war in ihm – die berauschende Empfindung, als bräche eine neue Lebensjahreszeit an. – Nun waren sie schon bei dem ersten der hohen Sandsteinpfeiler, die das Eisengitter stützten und gliederten, und hinter dem verschneiten Vorgarten erhob sich das prächtige Haus. Zwei Fenster im ersten Stock waren von einer sanften Helligkeit erfüllt. Alle andern von weißen Stores fest verhangen. Aber selbst in diesem Schweigen, in dieser Ruhe wirkte es wie ein Bau hochmütigen Reichtums. Man sah es diesen Mauern an, daß sie Luxus umschlossen und glänzende Lebensgewohnheiten. – – Kein Haus für einen deutschen Offizier, der andere Ideale hat, als in breitströmender Ueppigkeit genießend mitzugleiten. – »Hier sind wir,« sagte Raspe. Sein Ton war gedrückt. Er fühlte wohl, es war ein seltsam inhaltsschwerer Augenblick. Ein zitterndes junges Herz erwartete ein Abschiedswort, darin irgendeine Verheißung verborgen sein solle – irgendeinen Blick – eine Andeutung – an die sich Hoffnungen klammern konnten. Und sein Gewissen verbot ihm, sich zu verraten. Am liebsten hätte er ja dieses feine, liebe Gesicht zwischen seine Hände genommen und die dunkeln Augen geküßt, um die bangen Fragen, die darin standen, zärtlich zu bejahen. Wie konnte er? Wie durfte er? Kenne ich sie? Kennt denn sie mich? dachte er. Sie standen schweigend. Vielleicht, nein, gewiß nur ein paar Sekunden lang. Und sie sahen sich an ... War denn das möglich, daß sie gestern noch nichts voneinander gewußt hatten? War denn nicht von jeher jede schöne Stunde ihres Lebens schon eine gemeinsame Freude gewesen? Das Wunder dieser Nähe, dies Gefühl von uralter Zusammengehörigkeit benahm sie ganz. Raspe dachte: ich bin der Mann – ich muß ein Ende machen. – Sie standen gewiß schon eine unermeßliche Zeit ... Tulla zitterte. Sie hatte eine qualvolle Angst. Wenn sie jetzt auseinandergingen, ohne ein Wort der Hoffnung, war es dann nicht eine so furchtbare Trennung, als risse man Zusammengewachsenes auseinander? »Leben Sie wohl,« sagte Raspe, »ich fahre morgen früh in meine Garnison zurück.« Tulla legte ihre Hand in die seine – diese schmale, kalte Hand – die ihn rührte, die sich so in die seine legte, als gehöre sie dahin. »Sehe ich Sie wieder? Bald?« ... fragte sie. Sie dachte: bald? Ach, seine Mutter geht ja fort – es kann nicht bald sein. Und sie setzte hinzu: »Aber einmal – später – einmal?« Sie wußte selbst nicht, wie flehend es klang. Und er sagte herzlich, dennoch aber in voller Selbstbeherrschung alles niederringend, was ihn fortreißen wollte: »Ich hoffe.« Nun kam Sophie in eine ihr ganz neue Welt hinein. Das war es gerade, was ihr Gemüt gebraucht hatte. Und anstatt von dem erlittenen Schmerz zerbrochen zu werden, erhob sie sich daran, ordnete ihn ihrem Wesen und seelischen Besitz ein und erstarkte zu reiferer und mutvollerer Arbeit. Denn in jeder Frauenarbeit, besonders in der Kunst, steckt ein gut Teil Trotz gegen das Schicksal. Anfangs benahm ihr Hamburg ganz den Atem. Das war ja ein verblüffender Unterschied gegen Berlin. In Berlin sah man die gewaltige, endlose, fast betäubende Bewegung des Handels im Kleinverkehr – dieses Kleinverkehrs, der die Massenanhäufung von Waren in phantastischer Schnelligkeit aufzehrte und immer neue Unmengen verlangte und verschlang. – Es war gerade, als würfe die Fabrikation von allen Gebieten des Bedarfs her einem Riesenungeheuer immer neue Millionen von Kleidungsstücken, Eßwaren und gewerblichen Gegenständen aller Art zu, die das Ungeheuer unersättlich in sich aufnahm. Man hatte immer den Eindruck, als sähe man eine Milliarde sich in Pfennig- und Markstücke auflösen und durch die Straßen rollen. Das bloße Zusehen bei diesem Schauspiel war schon erschöpfend. Vom Großhandel sah man in Berlin nichts. Er verbarg sich in Kontoren und Höfen von Straßen, in die man nie hinkam, und beherrschte selbst da nicht das Bild des Lebens. Aber in Hamburg sah man eigentlich nur ihn, empfand nur ihn – fühlte die reichen Läden in einigen Straßen der Alstergegend nicht als hervorstechendes Merkmal – der Hafen triumphierte, dieses wogende Gebreite von Wasser, im stürmischen Grau der Wintertage, groß und düster – mit all diesen unübersehbaren, sich verzweigenden kanalartigen Armen – flutenden Straßen gleich, auf denen statt der Wagen Schiffe den Verkehr besorgten; flink keuchende Fahrzeuge, mit dicken, aus Hanfstreifen geflochtenen Ballen an ihren Borden, Prall und Stoß abzudämpfen; Motorboote, die puckerten und an Menschen erinnerten, die mit kurzen Schritten vorwärts hasten; Dampfpinassen, die zuweilen einen greulichen Heulton ausstießen; Schlepper, die vorsichtig dahinrauschten, um nicht zu hohe Wellen zu erzeugen; Verkehrsboote voll von Menschen. Und an den Dückdalben und Landungsbrücken Namen, wie Straßenschilder. Ja, eine Verzweigung von Wasserwegen. Und sie führten alle zu den Teilen des Hafens, wo die Ozeandampfer lagen und ihre Leiber entlasten und füllen ließen. Aufgereiht waren die Schiffsriesen gleich einem Heer, das alle seine Regimenter hat einzeln Stellung nehmen lassen. An der Front eines jeden glitt auf unruhig bewegten Wogen der Hafenverkehr vorbei. Von den unübersichtlichen, wunderfein ineinandergegitterten Linien der Taue und des Mastwerks flatterten hoch die Flaggen, an deren Farben und Zeichen man erkannte, welcher Gesellschaft diese Gruppe gehörte, welche fernen Häfen ihre Bestimmung waren. Der Ozean, der ihr Feld war, schien sie zu umwittern – wie einen König die Majestät umgibt, auch fern von seinem Thron. An den Kais häuften sich die Warenballen und Fässer zu wundervollen Pyramiden oder hohen Schanzen. Das dröhnende Rasseln der schweren Lastfuhrwerke, die aus allen Straßen den Ufern zulenkten, hörte den ganzen Tag nicht auf. Dampf und Elektrizität gaben eisernen Hebebäumen die Kraft und Leistungsfähigkeit von hundert Menschenarmen – aber auch die Faust griff zu, und man sah, wie Stiernacken sich unter dem Gewicht von schweren Säcken neigten. Jeder dieser großen Dampfer schien eine Welt für sich, voll atemlosen Lebens, voll Eile, voll krachenden Getöns, rasselnden Kettengeklirrs. Spröde Laute zogen durch die Luft, als ob auf hunderttausend Bratschen zugleich die tiefe E -Saite gestrichen würde. Es war ein merkwürdiges Durcheinander aller Völkerschaften. Da und dort sah man auf den Verdecken Chinesen rasch und still ihrer Dienerpflicht nachgehen. Mit ihren schwarzen Wollköpfen und grellen Augen im tiefgrauen Gesicht stachen die Neger zwischen dem herumhastenden Arbeitsvolk hervor. An der Reling der Westindienfahrer lungerten kreolische Matrosen. Aus vielen Warenschuppen drang der Geruch des grünen Kaffees streng und würzig heraus. An andern Stellen hauchte einen der Atem des Südens an, und viele tausend Kisten mit Orangen wurden in die ragenden Speicher geschafft. Ganze Reihen von Loren, voll von Stabeisen, aus den rheinischen Industriegebieten kommend, wurden entleert, und hellkrachend, als zerberste jedesmal ein ganzes Haus voll Glaswaren, fielen die Eisenstangen neben das Gleis der Hafenbahn; die ganze Luft wurde von diesem klingenden, brutalen Lärm erschüttert. Und zuweilen zerriß der traurige, dunkle Schrei einer Sirene diesen Lärm. Der Abschiedsgruß irgend eines Dampfers, der Anker auf ging. Ja – das war der Großhandel – und die Salzluft des Ozeans war darin. Der Begriff der Ferne war ausgelöscht – da stand die Kultur und bediente sich der Hand des Kaufmanns und ließ die Erzeugnisse der Völker hin und her tauschen – ihre Unterschiede ausgleichend, ihre Mängel ergänzend, ihren Ueberfluß verteilend – – Sophie begriff, daß ihr Sohn seinem Beruf mit leidenschaftlicher Hingabe gehörte. In diesem ungeheuren Teil volkswirtschaftlichen Lebens mitzuringen, sich nur zu behaupten, vielleicht sogar in die erste Reihe zu kommen – das war wohl rechte Arbeit für ein Manneshirn und eine Manneskraft. Ihr Sohn Allert hatte sie mit einer freudigen Nachricht empfangen. Sein Suchen nach Kapital war von Erfolg gewesen, wenn auch anders, als es eigentlich in seinem Plan gelegen. Ein Kompagnon hatte sich ihm zugesellt. Ein Chemiker mit Vermögen, der sich mit einer Viertelmillion beteiligte, war nun Mitinhaber der Farbwerke Allert v. Hellbingsdorf, und der Firma war im Handelsregister wie auf den Etiketten aller ihrer Erzeugnisse das Zeichen »;& Cie.« zugefügt worden. Allert sagte, es passe gut; es selbst sei der kaufmännische, sein Teilhaber der wissenschaftliche Geist. Er lobte den Doktor Dorne – so, wie er zu loben pflegte, mit dem klugen Vorbehalt, der lange sagt »es scheint«, ehe er wagt festzustellen »es ist«. »Und nicht wahr, Mutter, der Frau Dorne nimmst Du Dich wohl an, soweit Deine Interessen und Verpflichtungen es zulassen. Du bist ja auch nicht zum Müßiggehen hier. – Weißt Du – das ist das Großartige in diesen Hafenstädten: das Arbeiten! Ich glaub' wohl, es macht die Geselligkeit ein bißchen enger und strenger, und es heißt, die Weiber hätten zu sehr das Präsidium darin – weil eben alle Männer so arbeiten – aber da ist kein Grandseigneur zwischen diesen bürgerlichen Aristokraten, und hätt' er noch so viele Millionen, der nicht arbeitete mit aller Anspannung – für sich und dabei auch noch für den Staat, in zahlreichen Ehren- und Verwaltungsämtern.« »Also ich soll nett mit Frau Dorne sein? Gut. Kann geschehen. Auch wenn ich sie nicht leiden mag. Hoffentlich ist es mir möglich, Dir auch noch sonst zu nützen. Ich werde Dich wohl bald bei Frau Senator Amster einführen können. Und von da aus kommst Du dann in die Gesellschaft.« Allert lachte. »Gib Dir keine Mühe, Mutter. Ich bin noch nichts und gelte noch nichts.« »Du bist ein Hellbingsdorf,« sagte seine Mutter. Er lachte noch mehr. »Das ist hier ganz egal. Hier gelten nur die hanseatischen Patrizier, und was sonst herankommt, muß sich erst durch Erziehung, Leistung und Vermögen allmählich ausweisen. Das macht's ja gerade so frei und schön – sich hier heraufzuarbeiten, wo alles arbeitet und man weiß, was das ist: Industrie und Handel. Hier kann es mir nicht passieren, daß mich einer anredet – wie vor'n paar Monaten mal in Berlin Dein Großvetter Baron Bray – Du weißt wohl – der von den Gardekürassieren. – ›Na,‹ sagte er, ›was, Allertchen, es geht die Sage: Kofmich biste jeworden? Legste denn nu 'n Adel ab, oder läßte sieben Zacken uf de Tüten drucken?‹« Seine Mutter ärgerte sich. Als Frau stand sie doch nicht ganz über solchen Kleinigkeiten. Aber Allert amüsierte sich wieder. Und er machte Bray in Ton und Miene sehr echt nach. Ja, Allert hatte Humor. Gottlob. Wie ihm das half in all den neuen Verhältnissen, mit denen er durch keine Tradition verknüpft war. Tradition ist solche Hilfe und solcher Halt, dachte Sophie. Sie fand ihren Aeltesten ein bißchen amerikanisiert in seiner Erscheinung. Aber sie sah bald, das war so ähnlich die Art all der Handelsherren, die in vornehmer Haltung, dunkel gekleidet, mittags zur Börse gingen. Allerts offenes, regelmäßiges Gesicht war fast bartlos, denn die winzigen Streifen vor den Ohrmuscheln erschienen eigentlich nur als Verlängerung der Schläfenhaare. Er war etwas blonder als sein Bruder Raspe und, bei gleicher Größe, ein wenig voller. Die gleichen blauen, fest blickenden Augen hatte er. »Und ernsthaft, Mutter,« sagte er noch, »daß Du mich nicht da bei den Amsters als empfehlenswerte gesellschaftliche Akquisition anpreisest! Ich habe vor der Hand noch viel zu schwer zu arbeiten, um mich in Verkehr und Vergnügungen einlassen zu können.« »Aber wenn Du nicht in die Gesellschaft kommst, hast Du auch nie Gelegenheit zu ...« »Zu heiraten!« ergänzte Allert vergnügt. »Nee, Mutter – hab' auch noch keine Zeit dazu – nicht eher, als bis ich meine wirtschaftliche Lage aus allen Kämpfen heraus ins Gesicherte bugsiert habe –« »Aber das kann doch ...« »Kann lange dauern. Jawoll, Mutter. Sieh Dich mal um, mit recht offenen Augen – wieviel Männer kommen vor lauter Arbeit und Kampf ums Brot heutzutage gar nicht mehr zur rechten Zeit zum Heiraten! Wenn sie dann so weit sind, Frau und Kind auskömmlich und standesgemäß ernähren zu können, sind sie grauhaarig und zu müde, um so bedenkliche Lebensveränderungen noch zu unternehmen. Ich sage mit Absicht: standesgemäß! Nicht, Mutter? Ehe man mit Frau und Kindern ins Jammertal kümmerlicher Beschränkungen hinabsinkt – auf eine Daseinsstufe kommt, an die man nicht gewöhnt ist – besser bleibt man allein – schon bloß aus ästhetischen Gründen.« »Aber wenn Du eine wohlhabende Frau ...« Allert schloß seine Mutter in die Arme. »Gern, wenn ich mich besinnungslos in sie verlieben kann. Und nun fang' nicht noch einen vierten Satz mit ›Aber‹ an.« »Du gehst respektlos mit mir um,« lachte sie glücklich. »Und ausreden läßt Du mich nie.« »Doch!« behauptete Allert, »immer wenn Du was sehr Kluges sagst, und das tust Du ja meistens. Und nun schicke ich Dir die Dornes, sie brennen darauf, Dir einen Besuch zu machen. Oder wahrscheinlich brennt nur Frau Julia – Lia – Juliana – so dergleichen heißt sie, glaub' ich – denn er, der Doktor Dorne, sieht und denkt nur an seine Frau und seine Wissenschaft – die letztere, kommt mir vor, läßt ihm keinen Raum zu Kritik und Unabhängigkeit – Madame hat die Zügel. Als Chemiker ist er großartig. Sollst mal sehen, der erfindet noch was Fabelhaftes. Wie man aus Selterwasser Schmieröl machen kann – oder sonst was ... Dann werden wir Millionäre, ich zahl' Onkel Just aus – Mutter, wenn Du wüßtest, was das so ist für 'nen Kaufmann, ohne fremdes Geld arbeiten – na und denn kauf' ich Dir Muschenfelde zurück. Bis dahin empfehle ich die Firma Allert von Hellbingsdorf & Cie. Deiner gnädigen Nachsicht.« Sie sah ihm lächelnd nach. Die Frische seines Wesens war so wohltuend. Man hatte so das Gefühl: er spielt mit den Mühseligkeiten des Lebens Fangball. Das sind Siegernaturen. – – Auf Allerts Rat hatte Frau Sophie sich nicht verlassen können bei ihrer Niederlassung in Hamburg. Er gestand offen, daß er aus jener Gegend da draußen bei Hammerbrook nur mal in Geschäftsangelegenheiten in die Stadt käme, und nie nach Harvestehude oder Uhlenhorst oder in die sonstigen Villen- und Wohnviertel. Seine Fabrik und sein Kontor befanden sich da, wo die Bille ihre ganze liebliche Wald- und Wiesenvergangenheit verleugnete und sich mit dem graugelben Riesenstrom in die Arbeit teilte, ein ganzes Netz von Kanälen zu speisen, bis sie sich dann durch den Billhafen und Oberhafen endlich in die Elbe warf, um in ihr zu ertrinken. Und zwischen all diesen Kanälen zogen sich die Straßen der Arbeit, des Lärms, der zischenden Dampfpfeifen und der grauen und weißen und gelblichen Staubwolken hin, wo Allert sogar, nur auf das Praktische und Sparsame bedacht, sich auch seine Wohnung genommen hatte. So ließ Sophie sich denn gern von Frau Senator Amster beraten, die, wie man leicht merken konnte, es als etwas ihr Zukommendes empfand, andern Menschen die Marschroute zu geben. Zum Atelier war ein großes, nach Norden gelegenes Zimmer im Amsterschen Hause bestimmt worden. Dies lag am Mittelweg in Harvestehude, behauptete aber in der Reihe der zum Teil prunkvollen Bauten und Gärten einen fast bescheidenen, soliden und altertümelnden Charakter. Es sei schon viele Generationen in der Familie, sagte die Senatorin, und dereinst nur Gartenhaus gewesen. Aber nach dem großen Brand von 1842, als das Stadthaus der Amsters gesprengt wurde wie so manches Haus, um dem Brand Einhalt zu tun, da baute der Großvater es wohnlich aus. Seitdem war nur ab und zu der nötige moderne Komfort hinzugefügt worden. In einer der Straßen, die vom Mittelweg zum Seebassin der Außenalster hinabführen, fand Sophie dann die ihr empfohlene Pension Hammonia und zwei angenehme Zimmer darin. »Wo man arbeiten kann, fühlt man sich sofort zu Hause,« sagte die Senatorin Amster. Und darin hatte sie wohl recht, denn als Sophie vor der Staffelei saß, kam ihr die Umwelt ganz vertraut vor. Jetzt begriff sie auch nicht, wie sie an jenem Abend so flüchtig über ihr »Modell« hatte hinsehen können. Sie meinte, selbst in ihrem gespannten Seelenzustand hätte ihr dieses Mädchen gleich zu denken geben müssen. Marieluis gefiel ihr. Wie gern sah man ihr in das kluge, klare Auge von unbestimmter Farbe. Ihr Gesicht und ihre Gestalt waren wohlgebildet, die Züge wie die Glieder wurden von einer bemerkbaren Harmonie getragen. Vielleicht war ihr Ausdruck zu reif für ihre zweiundzwanzig Jahre. Die Pflegemutter war oft zur Gesellschaft dabei. Es kamen und gingen auch andere Damen. Offenbar hatte sie für die Porträtangelegenheit das Interesse ihres Kreises erweckt. Sophie bemerkte bald, daß die Senatorin für all ihre Unternehmungen und Beschäftigungen sich gewissermaßen ein Publikum zu bilden pflegte; dies mußte eine zustimmende und lobende Haltung einnehmen, das war – unbewußt – die Voraussetzung. »Ich habe noch niemals eine so verständige Familie gesehen,« sagte Sophie, als ihr Sohn sie am Sonntag zum Essen abholte. Das war so ziemlich die einzige Zeit, in der er die Gegenwart seiner Mutter genießen konnte. »Alles, was sie tun, muß man billigen.« »Und wie ist es mit der Herzenswärme?« »Oh, die fehlt nicht!« meinte die Mutter in bestimmtem Ton. Aber dabei kam ihr das Gefühl: irgend was fehlt doch. Sie konnte sich aber nicht klarmachen, was. Unbestimmbarkeiten. Da nun die Senatorin sich bewußt war, Frau v. Hellbingsdorf hierherberufen zu haben, folgerte sie daraus die Pflicht, sich der hier Fremden eifrig anzunehmen. Sie war auch von ihr entzückt. »Eine vollkommene Dame und so einsichtig,« sagte sie, woraus der Senator schloß, daß die Malerin sich widerspruchslos von seiner Frau bevormunden ließ. Es wäre ihm aber niemals eingefallen, seine Frau mit derlei zu necken. Sophie wurde oft zum Diner geladen, das erst halb sieben begann, wenn der Senator seine kaufmännischen und Regierungsgeschäfte erledigt hatte. Oft riefen ihn diese aber sogleich nach Tisch noch zu späten Kommissionssitzungen wieder fort. Als sie den Verkehr der Gatten miteinander einigemal beobachtet hatte, dachte Sophie: eine solche Sachlichkeit, wie zwischen den beiden herrschte, ordne doch das Leben in der geschmackvollsten und nützlichsten Weise. Marieluis saß meist schweigend, in unbefangener Haltung aufmerksam und freundlich mit am Tische und antwortete nur auf Anreden. Ab und zu fehlte sie. Dann hieß es: sie ist zum Kursus. Oder: heut' ist Abendschule. Sophie erfuhr gelegentlich, daß Marieluis einen Kursus besuche, in dem zwei Professoren abwechselnd kulturgeschichtliche Vorträge hielten, mit besonderer Berücksichtigung der Volkshygiene in allen Zeiten und bei allen Völkern. Und die Abendschule war von einer Frauengruppe begründet und unterhalten, die sich die Erziehung unehelicher Kinder zur Pflicht gemacht hatte. Immer war die Senatorin voll des Lobes über die praktische Anstelligkeit, den raschen Verstand und die glückliche Hand ihrer Pflegetochter. Mit immer wachsendem Interesse beobachtete Sophie das Mädchen. Ohne einen verschlossenen oder auffallend stillen Eindruck zu machen, schien sie doch ihr Innenleben für sich zu haben und zu beschweigen. Einmal fragte Sophie: »Ist Marieluis Ihre Blutsverwandte?« »Nein,« antwortete die Pflegemutter und setzte gleich auseinander: »Aber natürlich: kein schlechtes Blut! Wie hätten wir ein Wesen von ungewisser Rasse mit unserem Namen decken wollen! Denn das war ja von vornherein Absicht: wenn sie sich nach Wunsch entwickelt, adoptieren wir sie, sobald mein Mann fünfzig wird. Das ist denn auch vor vier Jahren geschehen. Der Vater von Marieluis war ein junger Arzt, der Letzte eines arm gewordenen, vornehmen hanseatischen Geschlechts – er fing gerade an, leidliche Praxis zu bekommen. Da zog er sich eine Blutvergiftung zu und starb. Die Frau stand dicht vor der Geburt des zweiten Kindes. Infolge der Aufregung ging die Sache nicht gut aus. Mutter und Kind starben. Die Frau war aus dem Hannöverschen, aus einer soliden, bescheidenen Gutsbesitzersfamilie. Wir haben uns genau nach allem erkundigt!« »Wie traurig,« sagte Sophie, »wie unaussprechlich traurig.« »Gott,« meinte die Senatorin, »für Marieluis ist es schließlich ja ein Glück geworden. Vielleicht hätte sie mit entsetzlich vielen kleineren Geschwistern es knapp und unruhig gehabt. Nun kann sie ihre Individualität ausbilden. Und versorgt ist sie auch, wenn sie ledig bleibt. Natürlich beerbt sie uns nicht voll. Meine und meines Mannes Geschwisterkinder sind auch noch da. Aber immerhin: sie hat reichlich zu leben und kann wirken.« »Die bewegliche Natur und Intelligenz meiner Frau brauchte Aufgaben,« sagte der Senator, »da gab ich ihr die Pflegetochter. Und ein Budget für ihre sozialen Bestrebungen. Um die Details dieser kann ich mich nicht kümmern. Sie interessieren mich auch nicht. Ich habe andere Pflichten. Wenn meine Frau die Formen und das Budget innehält, kann sie machen, was sie will.« »Beides versteht sich ja wohl von selbst,« sprach seine Frau sehr stolz und entschieden. Als der zweite Sonntag herannahte, bat die Senatorin: »Sie machen uns das Vergnügen? Wir essen Sonntags schon um vier. Wegen der Dienstboten, damit die Küche früher entlastet wird. Meines Mannes Bruder und Frau, Sie wissen, Thea Daisters Eltern, werden Sie dann kennen lernen.« »Sie verzeihen und verstehen, wenn ich ablehne. Sonntags widme ich mich meinem Sohn, er hat in der Woche keine Zeit.« Nun war aber die Senatorin erstaunt. Davon hatte Sophie von Hellbingsdorf noch nichts gesagt. »Lassen Sie ihn doch bei uns Besuch machen,« sagte sie, ganz einfach über Allert bestimmend. »Danke – wie liebenswürdig – mir schien aber – ja, er will, glaub' ich, zunächst ganz ungesellig leben.« »Ach – wie verkehrt! Das reden Sie ihm aus. Die gesellschaftlichen Beziehungen bringen oft genug Nutzen für den Beruf. Das ist allerwärts so.« Ja, Sophie wollte ihm die gütige Erlaubnis übermitteln. Sie ärgerte sich manchmal über sich selbst – Regentennaturen hatten es ihr gegenüber so leicht; es schien gar nicht zu ihrer selbständigen Lebenslage zu passen: aber einem Herrscherton antwortete sie immer etwas zu bescheiden. Am Sonntag klagte sie es Allert vor. Aber sie bat ihn auch, bei Amsters Karten abzugeben. Erstens konnte es ihm wirklich nützlich werden, vielleicht traf er da Männer, deren Ansichten und Verbindungen ihm förderlich sein konnten. Und dann: Frau Amster war geradezu für sie ein Agent. Sie hatte es richtig schon erzielt, daß Sophie weitere Aufträge bekam: die beiden schönen Knaben einer Frau Haimbrugk sollte sie als Doppelporträt malen und eine sehr elegante, übermäßig schlanke Amerikanerin mit wunderbarem Haar, die sich kürzlich mit einem Vetter der Frau Amster verheiratet hatte, als Halbfigur. Diese Bilder sollten ebenfalls in dem Nordzimmer gemalt werden, das die Senatorin zum Atelier bestimmt hatte. Das mußte man doch auch bedenken. Und somit versprach Allert seufzend, was ihm doch nur Störung bedeutete. »Wer Geld verdienen will, ist schließlich abhängig,« sagte er. »Wer keins mehr zu verdienen braucht, weil er zu viel hat, ist es noch viel mehr.« »Es lebe der kleine Rentner,« rief Allert. »Von dem Rositz immer sagte, er sei der Feind der Entwicklung.« »Rositz – Gott ja – der arme Rositz. Hörst Du wohl mal was von seiner Familie?« »Oft schreibt mir die Tochter. Sie hat sich rührend zärtlich an mich angeschlossen.« »Ja, Mutter, dazu lädst Du ein. Hoffentlich tut es Julia Dorne auch. Du bist so mütterlich-weiblich. Du hättest zehn Töchter haben sollen.« »Bin zufrieden, wenn ich nur zwei Schwiegertöchter bekomme.« »Das ewige Thema.« Und sie lachten. »Dorne hat doch auch Zeit gehabt, sich zu verheiraten,« sagte die Mutter. »Das lag anders für ihn. Er hat ein Vermögen von annähernd einer halben Million. Er war also unabhängig. Und doch – da er der geborene Arbeiter ist – weißt Du, es gibt so viele Sorten von Arbeitern – solche von der Art der Bohrwürmer, still, pausenlos, unbemerkbar – andere wie Pferde, stolz, kühn, rasch – dritte wie Stiere, kraftvoll, aber plump – na, Dorne ist Bohrwurm. Gänzlich. So'n Mann hätte eigentlich nicht heiraten sollen. Paß auf – Du wirst schon sehen.« Dornes und Allerts Mutter hatten Besuche ausgetauscht und sich verfehlt. Nun wünschte Frau Julia durchaus eine Begegnung am dritten Ort. Sie war noch nicht mit ihrer Einrichtung fertig, konnte noch keine Gäste haben und war doch voll Ungeduld, die Bekanntschaft von Allerts Mutter zu machen. Sie störte die Herren ab und an mit ihrem Besuch, kam am Kontor vorgefahren und ließ sich von Allert immer wieder die Fabrik erklären. Er dachte: die langweilt sich. Und er dachte weiter, es sei besser, ein kleines Zeitopfer zu bringen, damit ihr Wunsch erfüllt werde. Morgen nun war ihr Geburtstag. Sie hatte sich ausgebeten, daß man ihn feiere. Man wollte auswärts essen. Die Zeit, fünf Uhr, war Sophie angenehm, dann hatte sie sich längst von der Arbeit erholt. Jetzt an den kurzen Dezembertagen konnte man keine Sitzungen nach ein Uhr mehr abhalten. Als Allert am andern Nachmittag das Kontor verließ, um sich umzukleiden, war er eigentlich wütend. Mitten aus der schönsten Arbeitszeit heraus! Aber er tröstete sich damit: gleich nach dem Essen, wenn das Geburtstagskind ihren Ehemann noch ins Theater verschleppte, konnte er sich wieder über seine Bücher und Korrespondenzen hermachen. Es war ein greuliches Wetter. Nebel. Dieser Hamburger Nebel, der ein Bruder des Londoner ist. Allert stand einen Augenblick im Einfahrtstor. Hinter ihm lag die Fabrik, mit ihren Schuppen, Maschinenhaus, Kontor und Lager und all dem Nebenkram von Karren, Kisten, Abfallhaufen. Es war ein feuchtes, verschwommenes Bild von düsterm Graugelb. Lichtflecken standen darin wie verwischt von nassen Pinseln, der Schein verfloß in das Grau hinein. Und durch diese dicke, stechende Luft klang allerlei Geräusch: Pfeifen, Pusten, das dumpfe Stoßen von Kolben, das Plappern von Maschinenrädern, das Zischen von Dampf. Vor ihm zog sich die Straße entlang, schmutzig, naß, ekel und unübersichtlich. Hinauf, hinab in einen graugelben Schlund verlaufend, die Laternen von dichten Nebelfloren umhüllt. Und jeder Atemzug schmeckte nach Kohlen. Die Menschen schienen zum Nibelungengeschlecht geworden, das verdammt war, in unterirdischen Höhlen das Gold zu schmieden. Und in Allerts Ohr formte sich das Geräusch, das ringsum aus den schaurig umhüllten Arbeitsstätten drang, zum Gehämmer der Zwerge Alberichs. Er pfiff den Rhythmus vor sich hin und ging dem Bürgersteige nach, um seiner Wohnung zuzustreben. Als er um die Ecke bog, hörte er seltsame Laute – Lachen, kurz und roh – den Schrei einer Frauenstimme – er sah niemand und nichts. Aber dem Klang nach war das in der Richtung seines Weges. Er beschleunigte seine Schritte nicht. Denn das gab es hier draußen alle Augenblicke: Balgereien zwischen betrunkenem Mannsvolk und liederlichem Weibszeug. Das prügelte sich und vertrug sich. Aber nun, wo er dem Stimmenklang näher kam, zeigten sich auf dem Bürgersteig im feuchten Nebel Umrisse ... Männer, die auf ein weibliches Wesen einzudringen schienen – nein, waren es nicht zwei? – Und im verfließenden Licht einer umnebelten Laterne hob sich ein Arm – wieder ein Schrei – und im gleichen Augenblick, als Allert das Gefühl bekam, daß da doch Frauen gegen Männerroheit zu schützen seien, rannte auch schon eine weibliche Gestalt daher und gegen ihn an und weiter – wie besessen. Taumelnd hinter ihr drein ein Mensch – Allert schob ihn bei Seite – plump schlug der hin – schwer, wie Körper tun, die alle Macht über ihre Bewegung verloren haben. So blieb er liegen und schimpfte lallend über die nassen Straßensteine weg. Zugleich sah Allert auch schon, daß da an der Hausmauer sich eine Gestalt lehnte – mit dem Rücken sich feststemmend – den gebogenen rechten Arm erhoben, ihn wie zum Schutz vor ihr Gesicht haltend, mit der Linken den Mann abwehrend, der auf sie eindrang. – »Een lütten Söten – eenen lütten Söten ...,« sagte der heiser. Schon war Allert neben dem Kerl und stieß ihn mit starker Faust zurück. Auf diese ganz unverhoffte Erschütterung seines Gleichgewichts war der Angetrunkene nicht gefaßt gewesen – mit groteskem Tappen, die Arme in die Luft hineinschlagend, versuchte er sich vor dem Fall zu bewahren. Er hatte auf der Stelle das weibliche Wesen vergessen und war voll Wut auf den Stoß und rohrte allerlei Unklares und Bedrohliches vor sich hin und kreuzte schwankend auf dem Bürgersteig, und war entschlossen, sich sowas nicht gefallen zu lassen – und überhaupt so'n Kerl – was unterstand der sich hier – stieß einen weg – wenn man bloß mal eben mit 'ner hübschen Deern 'n büschen nüdlich sein wollte – nee, so was braucht man sich nich gefallen zu lassen – in 'n Leben nich. – Und sein Zorngemurmel verlor sich – die mit den Armen nach Halt ausgreifende, hin und her vagabundierende Gestalt verschlang der Nebel. Allert stand vor dem jungen Mädchen – oder war es eine Frau? Gehörte sie in diese Gegend? Sie trug einen sehr einfachen langen Paletot – ihr Hut war von der größten Unscheinbarkeit – dennoch hatte Allert sofort das Gefühl: eine Dame. »Hoffentlich ist Ihnen nichts geschehen?« fragte er höflich. »Nein. Danke. Man ist ja immer mal Zudringlichkeiten ausgesetzt. Aber diese beiden Betrunkenen waren gräßlich.« Sie bückte sich ein wenig und schlug ihren Mantel ab. Durch Allerts Hirn blitzte ein Gedanke: ein Hallelujahmädchen? Aber nein, das war nicht die Kleidung der Heilsarmee. »Und Dory ist weggelaufen,« stellte die Dame nun erst fest, »es scheint ...« »Ja, mir lief eine Dame in die Arme und vorbei – aber der Mensch da fiel hin – ich sah – Sie hatten mich nötiger!« »Danke. Ja – Sie kamen zur rechten Zeit ... Aber Dory?« Sie schien zu überlegen. »Hinterdreinlaufen wäre nicht ratsam,« sagte Allert. »Und rufen unnütz,« meinte das junge Mädchen. Und nach einem kurzen Besinnen fügte sie hinzu: »Ich will ein wenig hier warten. Wenn meine Freundin in einigen Minuten nicht zurückkommt, muß ich annehmen, daß sie nach der Amsinckstraße gerannt ist, um die Bahn zu erreichen.« »Sie erlauben, daß ich mit Ihnen warte,« sagte Allert sehr höflich und sehr bestimmt. Er verstand es, eine äußerste Zurückhaltung merken zu lassen und zugleich auf eine herrische Art zu zeigen, daß es nicht seine Sache sei, eine junge Dame unbeschützt zu lassen. Ja, sein Ton war beinahe unfreundlich. Er fühlte ungefähr: sie soll um Gottes willen nicht denken, daß sie vom Regen in die Traufe kam. Solch stattliches Mädchen! Was tat die hier in den düstern Straßen? Nun sah er gewiß, es war eine Dame. Das klare, graue, sicher blickende Auge stand in einem Gesicht, dessen Züge sehr gewinnend waren. Besonders den Mund fand Allert wunderhübsch – so klug und in den tiefen Winkeln versteckt ein liebliches Lächeln. – Wenn er das doch hätte hervorrufen dürfen! Aber er begriff, er mußte barsch und fern und streng bleiben. Auf seine Erklärung, mitwarten zu wollen, neigte sie zustimmend ein wenig den Kopf, verbindlich ohne jede Verlegenheit. Gerade so, als stände man auf dem Parkett unter strahlender Krone zusammen und nicht auf der nassen Straße im graugelben Nebel, der den Himmel von der Erde schied und auf allem Lebendigen lastete, als sei ein Riesenkessel darübergestülpt, unter dessen Rand heraus nun der üble Brodem nicht entweichen könne. Die Stadt rumorte darin, und die Lichter glommen – alles floß ineinander, Töne, Strahlen, Formen, Farben – alles war wie zusammengewischt von einem feuchten, grauschwarzen Lumpen. – Sie warteten – vielleicht so lange, wie man bis hundert zählt, schweigend. Das war sehr lange. Ein paar Schritte weiterhin, auf dem Fahrdamm, den Kantstein des Bürgersteigs als Kopfkissen benutzend, lag der Kerl. Er schlief. Man sah ihn eigentlich nur, weil man wußte, da lag er. Der Nebel umhüllte ihn bis zur Undeutlichkeit. »Es müßte gleich zur nächsten Polizeiwache telefoniert werden,« sagte die Dame, »der Mann kann sich den Tod holen.« »Keine Sorge. Betrunkene nehmen keinen Schaden.« »Dieser Alkohol ...,« sprach sie bedauernd. Und so sachlich, als flögen ihre Gedanken zugleich über das ganze Gebiet der Bewegung gegen den Schnapsteufel. Jetzt kamen ein paar Jungen vorbei; der eine schlampte auf Holzpantoffeln, es klappte hell. Sie blieben dann bei dem Betrunkenen stehen – stießen ihn an – lachten – riefen ein Schimpfwort und gingen weiter. »Was ihnen Entsetzen sein sollte, ist ihnen ein Jux,« sagte die Dame. »Ja,« bemerkte Allert, »das ist wohl die schwierigste Aufgabe der Volkserziehung, das Laster als Laster begreiflich zu machen.« »Aufgabe – noch für Jahrzehnte,« gab sie zu. Sie sah immer nach der Richtung hinaus, die ihre Gefährtin bei der Flucht genommen hatte. Aber in dem spärlichen Leben der Straße erschien die Erwartete nicht. Um den Betrunkenen bildete sich nach und nach eine kleine Zuschauergruppe. »Die Dame scheint nicht umgekehrt zu sein,« sagte Allert. »Nein wirklich, ich glaube auch, sie kommt nicht zurück.« Und dann erwog sie laut: »Es wird für mich am besten sein, nach der Amsinckstraße zu gehen und die Ringbahn zu nehmen – wir waren noch nicht fertig – aber allein – das sollen wir nicht ...« »Sie gestatten, daß ich Sie begleite,« sprach er wieder in seinem bestimmten Ton. »Sehr gütig. Ich habe keine Furcht.« Er hielt sich neben ihr. Und er dachte: ich werde nicht fragen – sie wird vielleicht von selbst etwas erklären – eigentlich müßte ihr Gefühl ihr das eingeben. Sie spürte vielleicht aus seinem taktvollen Schweigen seine Erwartung heraus. Denn plötzlich sagte sie: »Sie haben wohl erraten – meine Freundin und ich waren auf Wegen sozialer Bemühungen.« »So was dergleichen dacht' ich mir – Armenpflege – Frauenverein – fromme Ermahnungen.« »Die letzteren nicht. Der Verein, dem meine Mutter vorsteht, verquickt nicht kirchliche Propaganda mit rein menschlichen Pflichten. Wir beschäftigen uns vor allem mit der Rettung gefallener Mädchen und unehelicher Kinder.« »Sehr schön,« sagte Allert, »aber es ist für Damen immer mißlich, sich in die Industrieviertel zu wagen und obenein in solchen dunklen Nachmittagsstunden und in solchem Nebel.« »Wir gehen immer zu zweien. Und ich bin nun einmal Montags von vier bis sechs an der Reihe. Wetter und Licht kann man sich nicht aussuchen. Im Frühling ist es freilich leichter.« »Gnädige Frau,« sprach er warm, »es ist sehr schön, wenn Damen am sozialen Ausgleich mitarbeiten – ich habe nicht die Ehre, Sie, Ihren Verein und seine Arbeitsmethoden zu kennen – aber ich hab' zu oft gesehen: das Dilettieren in der sozialen Frage erbittert oft die Betroffenen mehr, als daß es sie erhebt.« »Unser Verein hat schon viel Segen gestiftet und besonders durch Aufklärung die heranwachsende weibliche Jugend geschützt. Ich glaube sagen zu dürfen, daß wir taktvoll vorgehen. Wir vermeiden sogar, durch unsere Kleidung Neid zu erwecken.« Aber da waren sie nun. Die Straße, zur Linken von weiten Plätzen, noch in der Umwälzung begriffenen Anlagen, von großen Bauten, Planken und Bahnüberführungen flankiert, war voll Leben, das aus dem Nebel auftauchte und wieder darin verschwand. Sie mußten auf dem Rand des Bürgersteigs einige Minuten warten, bis die richtige Bahn kam. Zwei-, dreimal glühten die Laternenaugen elektrischer Wagen heran, und oben, vorn über ihren Stirnen, erhob sich im transparenten Licht ihre Zahl. Die erhellten Fensterreihen glitten vorüber, und man sah drinnen all die Rückseiten dieser Menschen, die einem fremd waren, von deren Fahrt und Ziel man nichts wußte, und die doch da, hell und warm und gesellig, ein Stück des eigenen Lebens auszumachen schienen. Allert hätte ja nun gehen können. Hier stand die Dame sicher. Aber irgendeine Empfindung hielt ihn an ihrer Seite fest. Er erwog, ob er sich vorstellen solle. Nein. Das erschien ihm zwecklos, fast zudringlich. Wozu einen Namen hersagen, den sie vielleicht nicht verstand oder nicht behielt und nach einer halben Stunde ihrem Mann, wenn sie ihm dieses Abenteuer erzählte, nicht einmal mehr richtig wiedergeben konnte. Sie hatte die Anrede »gnädige Frau« nicht zurück gewiesen. Vielleicht, nein gewiß, weil sie zutreffend war. Aber es konnte auch sein, weil sie dem fremden Herrn keinerlei Annäherung zeigen und gestatten wollte. Wenn man in solcher Lage sagt, wer man ist, kann ein Taktloser gleich viel fragen ... Ihre Haltung war von einer ganz ungewöhnlichen Sicherheit. – Allert verstand wohl: beste Erziehung. »Sie brauchen sich meinetwegen nun wirklich nicht länger zu bemühen,« sagte sie. Er dachte rasch: wenn Mutter nun nicht auf mich wartete, könnte ich flunkern und tun, als wenn dies eben mein Weg gewesen wäre, und als wenn ich genau auf diese Bahnlinie selbst warte. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als sehr förmlich und ernsthaft den Hut zu lüften. »Ach – meine Bahn,« rief sie gleichzeitig. Und nickte unwillkürlich dem noch fernen Wagen zu, der heranglitt, ein beweglicher Glaskasten voll Licht und Gestalten. Und der durchhellte dicke Nebel spann um ihn einen Schein. »Ich danke Ihnen nochmals,« sagte sie noch rasch und sehr freundlich. Es war, als ob diese allerletzte Sekunde, die gleich, gleich abgeschnitten ward vom fast schon haltenden Wagen, ihr die sachliche Art und die strenge Zurückhaltung etwas nahm. Und ihre grauen, klaren Augen strahlten ihn warm an – das war wie ein Husch. – Da griff schon ihre Hand nach der Stange des Trittbretts, und sie wurde förmlich hineingezogen in das Gedränge von Menschen, die den Hinterperron füllten. – »Besetzt!« schrie der Führer – der Wagen glitt schon weiter – Vorbei. Allert kam sich ein bißchen dumm vor, als er nach ein paar Herzschlägen merkte: er stand noch immer da ... Er begann wieder pfeifend vor sich hinzusummen und schritt schleunigst den Weg zurück. Er mußte doch in seine Wohnung und sich umkleiden – in diesem Vorhaben unterbrach ihn ja das Abenteuer der Dame. Hm – Abenteuer? Sie schien es gar nicht als solches aufzufassen. Welche Gelassenheit sie sofort zeigte. Vielleicht hatte sie sich kaum mal geängstigt – während ihre Freundin mit einem Schrei davonlief. Eine kühle, tapfere Seele? Oder so erfahren? Lief vielleicht jahraus, jahrein in den Höfen, Gängen und düsteren Straßen umher, als Engel der Barmherzigkeit? Oder war eine von denen, die bewußt halb, halb uneingestanden ein lüsternes Interesse an den Nachtseiten des Lebens haben? Konnte auch eine von den sozialen Priesterinnen sein, die sich einbilden, mit etlicher Ellbogenkraft, Broschüren, Versammlungen und Geschrei lasse sich alles ausgleichen? Die mit dem Wohltun und der Sittlichkeit gleich die Vorherrschaft der Frau befestigen wollen? Wer konnte das wissen. Vielleicht von alledem ein Gemisch – wie meistens – – Schöne Augen hatte sie und ein kluges, liebes Gesicht. Und eine Gestalt ... Donnerwetter! dachte Allert. Und als er längst in seiner Wohnung war und sich mit seinem Kragenknopf herumschlug, weil vor lauter Eile seine Finger tapsig waren und das Knopfloch im Halsbündchen des Manschettenhemdes schikanös zusammengeplättet schien – selbst mitten in diesen Umkleideärgernissen dachte er immerfort an dies kluge, beherrschte Gesicht. Ob der Mann das wohl mag? fragte er sich. Wenn sie einen Mann hatte. Aber doch wahrscheinlich. Schon die Zwecke des Vereins, die sie mit kurzen Worten streifte, schienen das zu verbürgen. – Ein Verein, der die heranwachsende weibliche Jugend durch Aufklärung vor dem sittlichen Fall bewahrte – durch sexuelle Aufklärung natürlich – denn wie sonst? Und Allert hatte alsbald einen humoristischen Gedanken dazu: und weil der Verein wohl spürte, daß Aufklärung hier und da ermunternd wirken konnte, sorgte er auch gleich für die unehelichen Kinder. Unwillkürlich fiel ihm seine selige alte Tante Malwine Patow auf Welsin ein. Die ließ ganze Massen von Kattunkleidern für die Patagonier nähen, um sie Keuschheit zu lehren und in ihnen den Begriff der Unanständigkeit des Nackten zu erwecken. Und wie Tante Patow dann entsetzt war, als ihr irgendein Globetrotter zuschwor, die Patagonier gingen infolge der Bekleidung ein. Früher waren sie bloß mit Fett beschmiert gewesen, da troff das Meerwasser, in dem sie sich zur Nahrungssuche aufhalten mußten, perlend von ihnen ab. Jetzt klebten die nassen Kattunkleider ihnen am Leib, und darin konnten sie dem rauhen Klima nicht trotzen. Sie bekamen Schwindsucht, Erkältungsepidemien und starben wie die Fliegen. Von da an legte Tante Patow jeder Sendung von Kattunkitteln viele Pakete Kamillentee, Brustbonbons und sogar Antipyrin bei. Allert lachte in sich hinein. Wenn sich ein Erlebnis in Humor auflöst, sollte es eigentlich überwunden sein. Aber auf der Fahrt zu seiner Mutter fielen ihm immer wieder die grauen Augen ein und der reizende Mund. Ein Mund zum Küssen. Reue wollte ihn anwandeln. Er hätte, bei aller formvollen Haltung, unternehmender sein sollen – sich doch vorstellen – oder wenigstens durch eine Frage irgendwie es herausbekommen müssen, »Frau?« – »Fräulein?« – Fräulein – Fräulein? dachte Allert kopfschüttelnd. Ja, wer konnte das wissen. Heutzutage! Wo stolze Engländerinnen Minister verprügeln, um ihnen ihr Stimmrecht begreiflich zu machen. Wo junge Damen in öffentlichen Versammlungen Vorträge über Prostitution halten. Wo in Frauenköpfen die Schamhaftigkeit von der Wissenschaftlichkeit verdrängt ward und zarte Töchter aus vornehmen Häusern, ohne Erwerbsnot, sich zum Studium aller Männerberufe drängten – – »Ja, ja, man kann nicht wissen – – Die Umrisse schwanken.« Plötzlich fiel ihm ein: Wenn der Kerl so weit gekommen wäre, seine Begier zu befriedigen ... Allert hörte förmlich mit dem Gedächtnis seines Ohres nochmals diese lallend heisere Stimme brüllen: »en lütten Söten ...« Er konnte schon etwas Platt. Er wußte, daß das Volk den Kuß »einen Süßen« nannte ... Ja, wenn der Kerl seinen gierigen Willen gekriegt hätte ... Und bei der Vorstellung stieg ihm das Blut zu Kopf vor Zorn – eine wunderliche, schreckliche Art Eifersucht, in Angst verkleidet, packte ihn ... Viel mehr war das als das bloße Beschützergefühl des Mannes, der kein Weib antasten sehen mag ... Und aus diesem Zorn und Ekel heraus über den Angriff, dem sie ausgesetzt gewesen, sagte er sich entschlossen: »Sie kann keinen Mann haben ...« Welcher Mann möchte sein Heiligtum solchen Gefahren aussetzen? Er wurde traurig. Irgendein unbegreifliches, weil unbestimmtes Gefühl legte sich wie ein Druck auf seine frohe Laune. Bei seiner Mutter fand er Besuch. Er erkannte die Dame sofort, er hatte ihr Bild auf der Staffelei bei seiner Mutter gesehen als einen schon ausgeführten Kopf, der auf der großen, sonst noch weißen Leinwand sich abhob, während die Linien der Gestalt nur von ein paar Kohlestrichen angedeutet waren. Und Thea Daister sagte, daß sie sich für seine Unpünktlichkeit bedanke, sonst würde sie ihre geliebte Frau von Hellbingsdorf nur für fünf Minuten gehabt haben. Jetzt aber erhob sie sich eilig und zog unruhig und zerstreut ihren Pelzschal höher um die Schultern und kam doch nicht so recht zum knappen, letzten Wort. »Ja, und was ich ganz vergessen hab',« sagte sie hastig, »es interessiert Sie doch? – Sie schätzen doch den Mann? O Gott, diese Frau! Fabelhaft. Die Kleine war vorgestern bei mir und gab mir noch tausend Grüße an Sie auf und erzählte, daß sie, so wie heute, nach Sankt Moritz abreisen wollten. Da sei dann doch Leben und Unterhaltung, an der man trotz der Trauer teilnehmen könne.« Sophie erriet, daß von der Frau und Tochter des verstorbenen Freundes die Rede sei. »Und Tulla meinte, viel lieber führe sie mit mir nach Hamburg – ich hätt' sie gern eingeladen, mitzukommen – bei meinen Eltern ist ja Platz in Hülle und Fülle – aber so 'n fremdes Element – und gerad' so Weihnacht – das mögen Pa und Ma nicht. Und außerdem, wir wollen ja gleich nach Neujahr selber 'n kleinen Rutsch nach Sankt Moritz machen – ja – –« Sie atmete wie eine, die beim Laufen die Luft verloren hat, und schloß: »Aber nun muß ich wirklich gehen.« »Abhaltung über Abhaltung,« schalt Allert. Aber er sagte nicht, welcher Art die seine gewesen sei. Natürlich saßen die Dornes schon in übler Laune in der Halle des Hotels Atlantic, wo zwischen den riesigen Säulen, auf dicken Teppichen, die verschiedenen Sitzgelegenheiten von sanftem Licht bestrahlt wurden und rechter Hand ein kleiner Wintergarten mit weißen Gartenmöbeln eine gekünstelte Frühlingsstimmung hervorzurufen versuchte. Aber im Augenblick, wo Frau Julia Dorne Allert sah, strahlte ihr Gesicht auf. Sie ging ihm und seiner Mutter entgegen. Fast mit Leutseligkeit. Jedenfalls mit der Verbindlichkeit einer, die von sich die hohe Meinung hat, andere durch ihr Wesen und Dasein zu erfreuen. Das war so bemerkbar, daß Sophie stutzte. Und überhaupt war sie erstaunt: sie hatte ein junges Paar erwartet. Dieser Mann mußte über vierzig, die Frau über dreißig sein. Der Mann sah ein wenig gebückt aus. Seine Augen waren hell und ausdruckslos. Doch belebten sie sich und glimmerten weißlich, wenn er sprach. Das Haupt war fast kahl, die Züge regelmäßig und angenehm. Einen kurzen, trockenen Husten, der an ihm auffiel, konnte man für eine gedankenlose Angewohnheit nehmen. Wie der Mann so war, verschwand er durchaus neben der auffallenden und sehr betonten Erscheinung seiner Frau. Sie wirkte, wie sie lächelnd in der vorteilhaft gedämpften Beleuchtung stand, sehr reizvoll. Sophie mit ihren scharfen Beobachteraugen sah es rasch: das war eine von jenen bleichen, nervösen Frauen, die je nach ihrer Stimmung unwiderstehlich anziehend oder bemitleidenswert verblüht erscheinen können. Von jener gefährlichen, unregelmäßigen Schönheit, deren Einzelzüge man immer vergißt, weil die Augen in dem Gesicht triumphieren. Groß und schwarz waren diese Augen, und sie strahlten und flammten, als bräche ein sprühendes, geheimes Innenleben unaufhaltsam daraus hervor. Als man dann, nach Erklärungen, Entschuldigungen, Glückwünschen, im großen Speisesaal an einem runden Tisch saß, vor der Hauptwand, in der Reihe vieler anderer solcher Tische, da kam eigentlich nicht die unbefangene Lebhaftigkeit der Unterhaltung auf, wie man von der Gelegenheit und zwischen vier gescheiten, durch Interessengemeinschaft verbundenen Menschen hätte erwarten dürfen. Frau Julia roch zuweilen an den Rosen, die Allert ihr, dem Geburtstagskind, mitgebracht hatte, und sah ihn dann dabei immer mit einem tiefen Glanz in den Augen besonders vertraulich an. Auf einige halb fragende Bemerkungen Sophiens hin erzählte Doktor Dorne, daß er bisher ein stilles Gelehrtenleben geführt habe, in seinem Laboratorium forschend und experimentierend – auch habe er einige Erfindungen gemacht und Patente darauf genommen – aber zur rechten Ausnutzung sei nichts gekommen – er habe immer zögernd gewartet – sich nicht in das hochgesteigerte Konkurrenzleben der chemischen Industrie hineinbegeben mögen – indessen, die Anforderungen heute seien sehr groß – eine Rente mit dem Charakter der festen Grenze im Finanziellen werde oft unbequem – die Töchter wuchsen heran – und so entschloß er sich, sein Geld arbeiten zu lassen. – Der gemeinsame Bekannte, der ihm vorgeschlagen hatte, sich Allerts jungem Unternehmen anzuschließen, war ihm autoritativ. Sophie sprach den Wunsch aus, die Verbindung möge beiden Teilen zum Segen gereichen. Aber es kam nur ganz höflich aus ihrem Munde, fast zerstreut. »Ich stellte meinem Mann vor,« sagte Frau Julia Dorne – sie sprach oft etwas stockend, als suche sie den besten Ausdruck und wolle nichts übereilt oder in nachlässiger Form sagen – »daß er geradezu ein Unrecht begehe, wenn er seine Wissenschaft, die ich bewundere, nicht ausnutze. So bedeutende Veranlagungen und so unerhörte Kenntnisse darf man heute nicht als Privatgenuß kultivieren. Die Allgemeinheit hat ein Recht daran.« Und ihr Mann sah sie aufmerksam und mit einem leisen dankbaren Lächeln an. Im Grunde nahm nun die Frau das Gespräch in die Hand. Allert hörte zu. Er sah wohl, die schwarzen Augen hatten viel Güte für ihn – er empfand das von fern – wie ein Schauspiel – kein neues, kein ungewöhnliches – auch diese kleine Tafelrunde hier und die sacht huschenden Kellner, die leisen Gäste an den andern Tischen – die still glühenden Lichter zwischen den Prismen spürte er. – Vor seinem geistigen Auge war ein anderes Bild: klebrig, graugelber Nebel, stechende Feuchtigkeit ringsum, Kohlengeschmack in der Luft, trüb umflorte Laternen und mißtöniges Grölen. Und dazwischen das kluge, liebe Angesicht, blonde Haare und klare, graue Augen. – – Das hab' ich geträumt! dachte er. Aber dies hier war Wirklichkeit: Die schöne Frau, die aufblühte wie eine Jerichorose und, im Vergnügen, gefallen zu wollen, von allen Seiten beachtet zu werden, immer reizender wurde ... »Erzählen Sie mir doch etwas von der Hamburger Gesellschaft. Ihr Sohn sagt, Sie seien so scharmant aufgenommen worden. Wir müssen uns orientieren – mit Vorsicht wählen – bis Ingeborg und Dolores erwachsen sind,« mit einem Lächeln darüber, daß man ihr ja doch nie die erwachsenen Töchter glauben werde, sagte sie es – »ja, bis dahin müssen wir einen festen Kreis haben. – Man kann ja nicht exklusiv genug sein – es heißt, eine Auslese treffen ...« »Auslese treffen?« wiederholte Sophie, etwas benommen von all dem Selbstgefühl, »ich glaube – es scheint mir – es ist nicht so ganz leicht, hineinzukommen.« »Nun,« sagte Frau Julia mit einem Siegerlächeln, »es gilt nur die ersten Anknüpfungen – dann sehen ja die Leute, mit wem sie es zu tun haben.« »Gnädige Frau fühlen sich offenbar vorderhand als Prinzessin Inkognito,« meinte Allert neckend. »Durchaus, und ich ernenne Sie zu meinem Ritter und ersten Kammerherrn.« Dabei leuchteten die schwarzen Augen ihn funkelnd an. Allert verbeugte sich. Ihr Mann lächelte nachsichtig. »Ihre Töchter aber werden traurig sein, daß sie am Geburtstag der Mama nicht mitessen durften,« sagte Sophie. »O, Ingeborg und Dolores dürfen noch nicht ins Restaurant,« erklärte Doktor Dorne, »meine Frau ist mit Recht dagegen.« Sehr richtig, dachte Sophie, aber dann bleibt man an solchen Tagen bei den Kindern zu Haus – mit uns, das hätte ja keine Eile gehabt – oder lag der Frau so überaus viel an Allerts Gesellschaft? Fast schien es so. Doch Sophie suchte nach einer Erklärung: vielleicht wollte die Frau das Ihre tun, zwischen den beiden Männern, die nun doch durch die allerwichtigsten Interessen miteinander verbunden waren, das Verhältnis recht gut zu gestalten – und tat dies auf ihre Art. – Sie fragte: »Sie gaben Ihren Töchtern so schöne Namen? Nordisch und spanisch.« »Als Ingeborg geboren wurde, erinnerten mein Mann und ich uns so lebhaft an eine herrliche skandinavische Reise, wo wir mit einem Freunde meines Mannes Stunden wundervoller Poesie erlebten. Weißt Du noch?« Er nickte und berichtigte mit Genauigkeit: »Das heißt, Herr von Adlerbjerg war eigentlich Dein Bekannter, Du stelltest ihn mir vor.« »Aber Du gewannst ihn rasch sehr lieb und schätztest ihn als einen der vornehmsten Menschen, die je ...« »Freilich,« nickte er, »sehr vornehm.« Sophie fragte mit noch mehr Interesse weiter: »Und Dolores?« »Dolores? Ja, wie kamen wir doch darauf? Ich weiß nicht mehr.« »Es war Dein Wunsch,« erinnerte ihr Mann. »Weißt Du noch, wie Bredarez in der Stadt war und Deinen Kopf mehrfach zeichnete – Du gewannst damals eine wahre Schwärmerei für alles Spanische. – Bredarez entdeckte auch, daß meine Frau ein ausgesprochenes Maltalent habe, und gab ihr Unterricht – schade – daß Du's so ganz liegen läßt.« – Bredarez! dachte Sophie geängstigt. Bredarez, der geniale Hund – der fabelhafte Maler und unbedenkliche Frauengenießer? »Ach ja,« sagte die schöne Frau lächelnd, »aber wie man doch vergißt – – wie hübsch war das damals. Und wie gut, daß man ab und zu eine Beschäftigung für die Phantasie hat, sonst würde man sich und andern langweilig.« Ihr Mann sah sie bewundernd an. Und ganz von fern wollte sich in ihm eine schwere Erinnerung rühren, wach werden – an die Eifersucht, die er damals, tief verhehlt, empfunden hatte. Nun wieder sah er's: zu Unrecht! Denn sie hatte jene Vorliebe für das Spanische völlig vergessen ... Das konnte doch wohl sie nicht und keine Frau, wenn dieser Bredarez ... O, fort mit der Erinnerung – es lag eben im Naturell seiner Frau, dies Bedürfnis, sich in der Anbetung zu spiegeln – – eigentlich auch das Recht einer so schönen Frau. – – Es wäre so verkehrt, darin nicht billig zu sein ... Nach Tisch wollte Frau Julia durchaus Mutter und Sohn noch mit in die Oper nehmen. Als Sophie ablehnte, ergab sie sich rasch und höflich darin. Aber um Allert zu gewinnen, machte sie mit neckischen Herrinnenallüren noch Versuche. Er wehrte sich lachend. Nachher seufzte Sophie ein wenig. Und stand noch ein paar Minuten in der Halle, ehe sie sich in den schrecklichen Nebel hinaus begab. Sie meinte, etwas Mühe werde es sie kosten, nett zu sein – sie sei nicht ganz ihr Genre, diese Frau Julia ... Und Allert hörte auch heraus, daß die stark draufgehende Koketterie seiner Mutter ärgerlich war. Dies amüsierte ihn außerordentlich. Da war wieder die typische Mutter, die noch ihre Mann-Söhne ängstlich am Rock festhalten möchte, damit sie ihr an Leib und Seele nicht zu Schaden kämen. Er tätschelte ein bißchen ihre Hand, die er abschiednehmend zwischen seinen Händen hielt: »Ich will mich nicht als Joseph aufspielen,« sagte er vergnügt, »aber Du ahnst nicht, wieviel verbrauchte Mittel und Posen in der Koketterie dieser Potiphar sind – da fallen nur grüne Jünglinge darauf rein – uralte Methode ... Gott und der gute Dorne ... Von himmlischer Vertrauensseligkeit ... Nee, Mutter, die Augen, die mich in Flammen setzen sollten, müßten andere Couleur und andere Blicke haben.« ... Grau müßten sie sein – grau und klar ... dachte er ... Und setzte gleich gegen sich selbst streitend hinzu: »Aber in den Schmutz des Lebens müßte sie nicht geschaut haben.« Nun bekamen die Tage flinke Füße und ungeordnete Manieren und liefen aufs Weihnachtsfest zu. Alle Menschen hetzten sich bis zur Erschöpfung, und die nobelsten Leute wurden ihre eigenen Laufburschen und Dienstmänner. Mit Paketen Beladene rempelten einander an, und selbst die verbindlichsten Herren hatten dann keine Hand frei, entschuldigend den Hut zu lüften. Auf den Plätzen etablierten sich bewegliche Tannenbaumwälder. An den Straßenecken standen Händler, breite, flache Kasten an Riemen um die Schulter tragend und mit vorgestrecktem Bauch der Balance nachhelfend. Sie ließen an Schnüren den drolligsten Spielzeugkram schwebend auf und ab schnurren, und man sah weltbekannte politische Persönlichkeiten als blanke, bunte Blechfigürchen, zwischen Straßensteinen und Kastenwand zappelnd, hinab und hinauf turnen. Der Verkehrslärm wälzte sich mit Brausen durch die Straßen. Das Wetter wurde gut. Dies schien ganz Hamburg wie ein Geschenk, fast wie ein Wunder anzusehen, und alle Menschen sahen vergnügter aus. Das Stadtbild um die Binnenalster war in jenen feinen, bläulichen Duft gehüllt, der nur Küstengegenden zu umzärteln vermag, denn er wirkt seine dünnen Schleier aus dem Atem des Meeres und des Riesenstromes. Der geregelte Lauf des gesellschaftlichen und Geschäftslebens kam aus dem Gleise; der eine wurde ganz matt und blieb wartend am Wege stehen, bis seine Bahn wieder frei werde; der andere hatte offenbar eine Riesenpeitsche hinter sich. Die Gebäude festester Programme kamen aus den Fugen, und selbst die Senatorin Amster sah sich genötigt, ihre stets vorher auf lange hinaus bestimmte Tagesordnung auszuschalten, zugunsten eines Zwischenzustandes von Pflichten, die alljährlich einmal um diese Zeit auch erfüllt sein wollten. Sie hielt keine ausführliche Entschuldigungsrede darüber. Frau von Hellbingsdorf hatte Verstand. Gut. Demnach mußte sie ohne weiteres einsehen, daß alle Armen, Kranken, Wöchnerinnen, Kinder und moralisch Verbesserungsbedürftige, die der Verein unter seine weitgespannten Flügel zu nehmen pflegte, in der Festzeit enorm viel Mühe, Zeit und Geld kosteten. Sie, die Senatorin, arbeitete ja nur für einen Verein, den von ihr gegründeten, dem sie vorsaß. Mit anderen Vereinen mochte sie nichts zu tun haben, es gab zu viel törichte und rechthaberische Frauen darin, himmelschreienden Dilettantismus im Sozialen. Aber in ihrem Verein sollte vorbildliche Arbeit geleistet werden – auch gerade in der Art der Weihnachtsfeier. Keine Massenbescherung mit Gesang, Ansprache, Verlegenheit und Stiefelgeruch. Nein, individuell! Jedem das ins Stübchen bringend, was gerade ihm Freude und Nutzen bedeutete. Das war nicht so einfach ... Sophie sah, wie von ihr erwartet wurde, völlig ein, daß Marieluis vom zwanzigsten Dezember ab nicht mehr sitzen konnte. Es war ihr selbst so lieb. Erstens wegen des Bildes. Wenn sie acht Tage nicht daran arbeitete, bekam sie mehr Ferne dazu. Es war doch immer die Gefahr, sich so hineinzumalen, daß die Selbstkritik schlafenging. Die zeitweise Trennung vom werdenden Werk verbürgte das Wiedererwachen der Selbstkritik. Es lag Sophie so viel an dem Bild, wie noch an keinem – es sollte ein Meisterwerk werden. Immer mehr interessierte sie sich für dieses Mädchen. Welch fester und ganz in sich abgeschlossener Charakter. Ein Wesen, das über sich selbst Bescheid wußte und mit sich im reinen war. Bedeutend vielleicht sogar. Kühl? Nein, das glaubte Sophie nicht. Aber doch wohl eine Verstandsnatur. Wenn die dann einmal von einer Leidenschaft erschüttert werden! Das kann ernste Kämpfe geben ... Und Sophie bildete sich ein, daß diese Marieluis ein stilles Gefühl des Wartens mit sich herumtrage – eine Art verschwiegener Neugier, die sich manchmal fragte: »Was ist mir noch aufbewahrt? Hab' ich schon die unerschütterliche, dauernde Form für mein inneres Sein gefunden?« Es war also der Malerin lieb, über ihre Arbeit und ihr Modell, fern von beiden, nachdenken zu können. Und die Mutter freute sich auch der gewonnenen Zeit. Raspe kam doch. Und in ihrem geräumigen Zimmer wollte sie den Söhnen einen kleinen Aufbau machen, damit sie ein bißchen brenzligen Tannenduft röchen. Allert hatte auch mehr Muße als sonst in der eigentlichen Weihnachtswoche. Sein Geschäft wurde von den starken Wogen der Weihnachtsansprüche ja nicht bewegt, hatte nichts damit zu tun, vielmehr spürte es eine gewisse Ferienlässigkeit, die zu hohen Festzeiten selbst Industrie, Großhandel und Politik erfaßt. Das war eine Freude, als kleine, beschützte, schwesterliche Mutter zwischen zwei großen Söhnen durch die bunten Straßen zu gehen und ein bißchen in den »Hamburger Dom« hineinzugucken. Eine volksfestliche Veranstaltung, die sich von riesigen Schützenfesten und Vogelwiesen eigentlich nur dadurch unterschied, daß sie mit weihnachtlichen Dekorationen aufgeputzt war. In der Winterkälte führte der »Dom« sein Dasein halb bei künstlicher Beleuchtung im Freien, wo der Tag schon gegen vier Uhr endete, halb in phantastisch ausgestatteten Prunksälen. Das gab ihm etwas Mittelalterliches, Rembrandtsches, aus düsterer Ungewißheit und grellem Trubel seltsam gemischt. Und man konnte sich so leicht in die Zeit zurückdenken, wo Buden aus grauer Zeltleinwand, von Schnee umwirbelt, mit einem baumelnden Oellaternchen kümmerlich erleuchtet, sich um den Dom scharten – versunken längst die Kirche, verändert die Gebräuche, geblieben nur ein Name, und dennoch ein Stimmungsfest des historischen Zaubers. Und wenn sie so in der fremden Stadt, die nicht ihre Heimat war, unter der unbekannten Menge sich vom Strom des Lebens mittragen ließ, kamen ihr weitgespannte Empfindungen. Und am Abend des Festes gab sie ihnen Ausdruck. Nach einem wundervollen Spaziergang am blaugrau verdämmernden und von Millionen Lichtern besternten Hafen kamen sie heim. Auf dem Tisch stand das Teegeschirr neben einem köstlichen Korb voll Orchideen, den Tulla Rositz geschickt hatte, und in der Ecke brannte der Tannenbaum. Es war das Zimmer einer Pension. Zwar besaß Sophie die Kunst, die Gemütlichkeit überall mit hinzunehmen. Aber man spürte ja doch: dies war kein Heim. Gerade auch der Charakter des Provisorischen in der Umwelt steigerte noch die Kraft ihrer Betrachtungen. »Wie ein Blatt vor dem Winde bin ich,« sagte sie zu den Söhnen; »spurlos verweht der einzelne Mensch aus der Menge. Sie weiß nicht, daß er da ist, sie vermißt ihn nicht und wird nicht geringer, wenn er stirbt. Man müßte verzweifeln über die Tragödie des Sandkornschicksals in der Menschenwüste, dieser Getrenntheit von allem Zukünftigen, wenn es nicht Fäden gäbe, die auch ein bescheidenes Dasein hinüberleiten können in das Kommende und ihm eine Art Unsterblichkeit sichern. Wer ein Stück Erdboden hat – ein eigenes Dach – einen Besitz, den er Söhnen und Enkeln weitergeben kann – die ihn erhalten und pflegen – ja, der lebt weiter. Denkt doch: wie viel Generationen war unser Gut, die eigene Scholle, zugleich die Unsterblichkeit der Vorfahren. – Was sie gebaut, gepflanzt hatten, ließ sie fortleben, und die Steine der Mauern sprachen von ihnen, und die Bäume rauschten ihre Namen.« »Ja, Mutter – Du leidest – das wissen wir wohl – nicht Dein Kampf ums Brot war Dir hart – nur der Verlust des eigenen Daches – Gott – ja, vielleicht kommt es wieder,« sprach Allert. Sie neigte sich über den runden Tisch noch näher zu den Söhnen und sprach halblaut, voll Leidenschaft: »Und das andere Band, das ist die Nachkommenschaft – Töchter, Söhne, Enkel – oh, welch ein wunderliches Gefühl, feierlich, verantwortlich, schaurig – erhebend. – Ja, es ist Unsterblichkeit – wenn ich mir vorstelle: mein Talent, vielleicht auch meine Fehler – diese Linie meiner Braue – diese Form meiner Wange – eines Tages, nach Generationen, besitzt das ebenso ein Urenkelkind. Und es heißt: ›Das hast Du von Deiner Ahne, so ist sie gewesen.‹ – Welch ein seltsames Wunder – mein Blut rinnt fort in späten Geschlechtern – ich lebe in ihnen – mein Herz schlägt darin – es ist ein ewiges Wiedergeborenwerden – meine Wesenheit wirkt weiter. – Seht, wenn Mütter oft so eine beharrliche Art haben, den Söhnen zu predigen: ›Heiratet!‹ – das sieht manchmal geschmacklos aus, plump vielleicht sogar. Begreift: das ist der geheimnisvolle Instinkt des Menschen, der sich gegen das Vergehen wehrt – die unbewußte Begier nach Unsterblichkeit – das berechtigte Verlangen des Weibes, nicht umsonst geboren und gelitten zu haben – das königliche Stammgefühl der Mutter, die stolz vorausschauen will auf Nachkommenschaft, die durch sie ward. Als Bindeglied fühlt sie sich – ihre Hände reichen den vergangenen und den künftigen Geschlechtern die Hand – und deshalb soll man keine Mutter schelten, wenn es der beherrschende Wunsch ihrer Seele ist, die Kinder zu verheiraten. Das sind nicht die banalen, bespöttelten Begierden der Frauen, zu kuppeln, Ehen zu stiften. Das sind heilige Forderungen« – Die leidenschaftliche Erregung ihrer Mutter wirkte auf die Söhne – sie saßen ernst – von Gedanken bestürmt. Fast zaghaft sprach Raspe: »Dir, Mutter, ist doch eine andere Art Dauer gesichert – sieh mal – Du hast schon mehr als ein Bild malen dürfen, das in einem Schloß, in einer Galerie eine bedeutende Persönlichkeit noch nach Jahrhunderten zeigt. Und der Name der Malerin wird nicht vergessen. Und wenn Du nun, wie Du sagst, daß es möglich ist, auch von Lichtwark aufgefordert wirst, für die Sammlung Hamburger Porträte irgendeinen wichtigen Kopf zu malen, dann hast Du abermals ...« Sie ließ ihn nicht ausreden. »Welche Ueberschätzung! Was ist das groß. Ach du meine Güte. Vielleicht in Zukunft, bei irgendeiner Gelegenheit schreibt ein Forscher oder ein Feuilletonist etwas über ein Schloß, ein altes Adelsgeschlecht – und stellt da nebenbei fest: ›Die Malerin dieses Porträts hieß Sophie von Hellbingsdorf.‹ So eine Art Fortleben des Namens ist wie das Aufbewahren von hübschem Gerümpel in den Truhen alter Familien – vielleicht kommt mal jemand darüber, der was draus macht, es ans Licht zerrt – vielleicht zerfällt es und wird ganz vergessen. Nein, so nicht – das Fortleben, das ich meine, darauf ich ein Recht habe, weil ich bin, weil ich atme, weil ich Kinder gebar, das ist durch Nachkommen – oh, tut es mir nicht an – bleibt nicht ledig!« In ihren Augen standen Tränen. Und die Söhne schwiegen. Sonst, wenn sie von diesem ihrem Wunsch gesprochen, obenhin und bevormundend oder mit genauen Angaben, wie »sie« sein solle, was »sie« auch »haben« müsse – wie eben zärtliche Mütter tun – sonst nahm das Gespräch sofort eine Wendung zum Lustigen und endete mit Lachen und Necken. Aber jetzt schwiegen die Söhne und sahen vor sich hin. Aus diesem Schweigen übertrug sich der Mutter ein Gefühl – wie eine Warnung war es – ein scheues Ahnen. All ihre leidenschaftliche Erregung wallte plötzlich zurück. Sie atmete auf und sagte fest und ernst: »Wir wollen nie mehr davon sprechen.« Allert stand auf, ging zu seiner Mutter und küßte sie auf die Stirn. Lange war es ganz still im Zimmer, wo in der Ecke am grünen Baum friedvoll die kleinen Lichter brannten und nach Wachs rochen. Dieser Geruch und diese flimmernden Flämmchen zwischen den Tannenzweigen hatten Wunderkraft. Sie schoben sacht die Wände fort und zeigten Bilder ... Jedem der drei Menschen ein anderes ... Vor der Mutter stand ein altes Herrenhaus mit Treppengiebeln. Rot und hoch, mehr würdig als stolz ragte es aus dem Schnee, der das Gelände dick belastete und die Aeste der Bäume verbrämte. Die Luft war voll von einer köstlichen Kälte, die auf den Gesichtern brannte und die Körper auffrischte. Der hellgraue Himmel stand still. Eine feierliche, unbegreifliche Lautlosigkeit war über den weiten Feldern. Das machte sogar die halbwüchsigen Knaben andächtig. Ihre Handschlitten hinter sich herziehend, stampften sie durch den weißen Puder heim. Es war ja bald Bescherungszeit, und vorher sollte noch der Nachmittagskaffee mit dem frischen Kuchen verschmaust werden. Die Mutter, in ihr weißes Wolltuch gewickelt, stand schon wartend im Portal. Und hinter der Fensterscheibe der Leutestube zeigte der Vater Meyns, aus seiner Pfeife getrockneten Waldmeister rauchend, sein verrunzeltes Diplomatengesicht und wunderte sich, wo die Junker blieben. – Ach, daß das Schicksal ihr Leben so leite – sie zurückführe in diese friedliche Stille, zu künftigen Weihnachtsfesten, mit Kindern, mit Enkeln, auf dem alten, dem eigenen Besitz ... Vielleicht, so dachte sie in einer Wehmut, die über ihre Seele hinfloß wie Tränen, vielleicht bekomme ich niemals wieder ein eigenes Heim – als jene vier Bretter, die auf uns alle warten – das letzte Haus ... Und Raspe sah einen hellen, leeren, durchsonnten Tanzsaal. Prismen sandten Regenbogenreflexe aus. Und vorbei an den gelbseidenen, gleißenden Stühlen schritt ein schlankes, schwarz gekleidetes Mädchen. – Er sah, wie sie an der Tür stehenblieb und sich mit den Blicken zu ihm wandte – fragend, wie von irgend etwas Unerklärlichem bezwungen, noch vor der Schwelle zurückgehalten ... Was vor Allert erstand, kam nicht aus zurückliegenden Erinnerungen herauf. Erst gestern vormittag hatte er es erlebt. – Er war auf einem Geschäftsgang mit einem Kopf voll Sorgen. Seinen bisherigen chemischen Assistenten entließ er im Augenblick, da Dr. Dorne als Teilhaber in die Arbeit eintrat. Wenn nun auch die Grundlagen ihrer Fabrikation die gleichen blieben, denn all diese zahllos abschattierten Farben zum Gebrauch für die Textilindustrie und allerlei technische Zwecke gingen ja aus erstaunlich wenigen Ausgangsprodukten hervor, so war Dr. Dorne doch wenig zufrieden mit der Art, wie der Entlassene gearbeitet habe. Auch wollte Dorne das Alizarin, das sie bisher in den gelbroten Kristallen fertig bezogen hatten, durchaus selbst aus dem Anthrazen herstellen, was den Bau neuer Oefen und einer neuen Abteilung für das Laboratorium nötig machte. Sodann war Dorne, von den Erfolgen der Professoren Graeke und Liebermann, die das künstliche Alizarin entdeckt hatten, angestachelt und seit langem mit dem Experiment beschäftigt, das Kampescheholz in seine Grundstoffe aufzulösen, um auch für dieses Produkt der Natur, wenn möglich, künstlichen Ersatz zu finden. Er war aber mit der Qualität des Kampescheholzes und der Fustik nicht zufrieden. Das heißt, Dr. Dorne sagte natürlich: des Haematoxylon campeschianum und der Maclura aurantiaca ; denn dem Mann der Wissenschaft wäre es zu unbequem gewesen, die gebräuchlichen deutschen Namen zu benutzen. – Und nun hatte Allert es auf sich genommen, einmal mit dem Lieferanten dieser ausländischen Farbhölzer scharf zu sprechen. Kontor und Lager der Firma Waller u. Nuß befanden sich in einer Nachbarstraße. All diese, zu zweien oder dreien gleichlaufenden kurzen Straßen waren von Kanälen fast quadratisch eingefaßt. Und hinter den Speichern und Lagerplätzen entlang klemmten sich die Leichter und die Oberländer Kähne bordseits an die Mauern und Kais. Sie schafften die Rohprodukte heran und führten die Waren fort, sie besorgten die Verbindung zwischen diesem Fabrikviertel und dem großen, weiten Hafen draußen in den Elbarmen. Allert hatte eine Weile mit dem Holzimporteur in dessen Kontor herumgeredet; dann gingen beide Herren hinaus, um auf dem Lagerplatz hinter dem Hause die Hölzer zu sehen, die gerade ausgeladen wurden. Gestern war der »Pelos« aus Honduras angekommen, und der Leichter brachte soeben die erste Ladung. Der rundliche Herr Waller trug einen Kneifer, was durchaus nicht in den Charakter seines bartlosen, von Kahlköpfigkeit gekrönten Vollmondgesichtes paßte. In seine tiefen Mundwinkel kam beim Anblick der Hölzer ein förmlich seliges Schmunzeln. Noch nie, sagte er, noch nie, selbst nicht zu Lebzeiten seines Teilhabers Nuß, der einer der ersten Farbholzkenner gewesen sei, noch nie habe sein Haus eine Sendung von solcher Vorzüglichkeit empfangen und an seine Klientel weitergeben können. Und mit frohen und überredenden Worten erklärte er, daß nur die Rücksicht auf die Jugend des von Hellbingsdorfschen Unternehmens ihn bestimmen würde, von diesen Hölzern an Allert abzugeben. »Neue Firmen, wenn sie von fixen, kapitalkräftigen Männern gegründet sind, zu fördern, das ist immer das Prinzip meines seligen Freundes Nuß gewesen. Ich halte daran fest.« Allert hörte die bezwingenden Worte, die den zahlenden Käufer fast zum Almosen- oder Geschenkempfänger machten. Und er hörte auch wieder nicht. All der Lärm, die ganze Sinfonie der Maschinengeräusche, das Rattern und Rollen von der Straße her, das Fauchen und Pfeifen auf dem Wasser – alles verklang für sein Ohr – alles schien sich in spannungsvolle Stille aufzulösen. Denn er sah etwas Außerordentliches. Das heißt für andere Menschen wäre es etwas höchst Gewöhnliches gewesen. Aber es kommt ja in keiner Hinsicht auf die Erscheinungen an, sondern völlig auf ihre Bewertung durch den Zuschauer. Und was der ölig redende Herr Waller überhaupt gar nicht bemerkte, nahm Allert den Atem. Eine Jolle glitt auf dem schmalen Kanal dahin. Sie hatte ihren Weg in der Mitte, wo das Wasser frei war; denn hüben und drüben lagen die langen Kähne an die Ufer gedrückt. Die lehmfarbene Flut sah schmutzig aus, Obstschalen, Strohhalme, Holzsplitter trieben darin. In der Jolle saßen drei Personen. Der Führer, der sich bald vorwärts bog, bald zurücklegte, benutzte mit Kraft und Vorsicht seine Ruder zugleich als Steuer; dann waren da ein ältlicher Mann oder Herr, der mit Paketen beladen war, und eine junge Dame. Wie oft hatte Allert schon geglaubt, wenn eine weibliche Gestalt auf der Straße heranschritt: sie ist es! Vorgestern, als er mit seiner Mutter und Raspe im Schauspielhaus war, durchzuckte es ihn: Da, in der dritten Parkettreihe, das ist sie! Die Sehnsucht – nein, vielleicht nur die Neugier auf ein Wiederbegegnen, war die Schöpferin solcher Irrtümer, die immer sofort wieder sich in Enttäuschungen auflösten. Und all diese kleinen Täuschungen waren nur wie Vorspiele gewesen, um das wirkliche, das zweifellose Erkennen desto stärker empfinden zu lassen. Nun sah er sie! Das war ihr stolz getragenes Haupt – das ihr blonder Haarknoten unter dem Rande des dunklen Hutes ... Eine unbegreifliche Erregung überraschte ihn. Er versuchte nicht einmal, ihrer Herr zu werden. Er starrte zur Jolle hinüber, die da unten auf dem schmutzigen Wasser vorüberglitt. Er sah ihr nach. Er wußte nicht genau: hat »sie« hergesehen? Aber er glaubte es. Er redete es sich ein. Ja – da wandte sie noch einmal den Kopf zurück. Wirklich nur, um dem auf dem Bankbrett hinter ihr sitzenden älteren Manne etwas zu sagen? Nicht, um nach ihm, der hier oben am Kai des Holzlagerplatzes stand, noch zu sehen? Vielleicht auch sich fragend: »Ist es der?« ... Weiter fuhr das kleine Ding von Schiff, langsam weiter. Die Luft war ja nicht klar. Wie konnte sie es hier sein, wo mit dem Dunst des Wassers sich das ganze Jahr der von tausend Stoffen geschwängerte Atem der Schornsteine und Oefen vermengte. Aber doch – heller und durchsichtiger als sonst war es schon. Er folgte mit dem Blick, sah die Jolle unter einer Brücke fortschaukeln – dachte nach: Wohin geht es da – wo muß die Jolle dort anlegen – ihre Fahrt enden? Herr Waller sprach ergriffen weiter. Nichts in der Welt schien die Phantasie und den Enthusiasmus eines Menschen so anregen zu können wie das Kampescheholz. Und plötzlich, als Herr Waller schon andeutete, daß es den Niedergang der jungen Firma bedeute, wenn sie sich nicht sofort diese eben angekommene Sendung sichere, plötzlich riß Allert aus. – Ganz einfach – jungenhaft. – Er murmelte nur etwas von »'ner halben Stunde wiederkommen.« Herr Waller sah ihm voll Siegerruhe nach. Ihm war es klar: Hellbingsdorf lief erst in seine Fabrik zurück, um dem Kompagnon zu sagen: »Dorne, wir müssen die Hölzer von Waller u. Nuß nehmen, anders stehen wir uns im Licht.« Allert hatte den richtigen strategischen Ueberblick gehabt. Er kam gerade am Kai des Mittelkanals an, als die kleine Jolle dort anlegte. Eine schmale Brücke unten am Fuß der Kaimauer bot Gelegenheit dazu; schräg an der Mauer, ihr abgespart, gingen ein paar Stufen hinauf. Allert sah, daß die Dame – sie heißt Isolde oder Katharina, dachte er – er sah also, daß sie den Jollenführer bezahlte und einige kleinere Pakete an der üblichen Verschnürung sich über die Finger der Linken gehängt hatte. Der Mann trug größere Pakete. Mann? Herr? Allert konnte es nicht bestimmen. Er war gediegen gekleidet und hielt sich voll Würde. Allert dachte einen Augenblick: Missionar? Oder doch ein Beamter der inneren Mission? Aber »sie« hatte ja gesagt, daß ihr Verein keine kirchliche Propaganda mit seiner rettenden und wohltuenden Tätigkeit vereine. Na, egal – was ging ihn der Mann an ... Er mußte mit ihr sprechen. Was Form! Was Schicklichkeit! Alles zwang ihn ... Er wartete oben an der Treppe. Und als sie emporstieg, erglühte ihr Gesicht. Das war für ihn ein herrlicher Anblick. Er lüftete den Hut. »Guten Tag, gnädiges Fräulein!« sagte er. »Ich dachte doch – ich glaubte eben« – sprach sie, aus aller Sicherheit des Auftretens gerissen. »Sie glaubten mich vor drei Minuten auf dem Lagerplatz von Waller u. Nuß gesehen zu haben? Das stimmt. Ich erkannte Sie und berechnete, daß Ihre Jolle hier landen müsse.« Sie sah sich wie hilflos um. Der ältere Mann mit den Paketen wartete auf der vorletzten Treppenstufe, unbeweglich, mit einer vollkommen ernsthaften Ausdruckslosigkeit im bartlosen Gesicht. Bloß ein Mitbruder in Christo oder in Charitas, dachte Allert flink, kein Onkel, Vater, Bruder, Vetter – bloß von der Gelegenheit ihr angeheftet als Schatten. »Das ist aber ...« »Sagen Sie nicht, daß das zudringlich ist, gnädiges Fräulein!« fiel Allert ihr ins Wort. Seine frohe Laune triumphierte über seine Erregung. Es kam ihm vor, als habe er die Situation völlig in der Hand. Er war so froh, ihm lachte die ganze Seele, als sei dies ein glückliches Erlebnis. »Ich muß Sie doch fragen, ob Ihnen die neuliche unangenehme Erfahrung nicht den Geschmack an diesen heiklen Gängen verdarb. Obschon dies eine höchst überflüssige Frage ist.« »Freilich. Denn Sie sehen ja, ich erfülle weiter meine Pflicht. Gerade dieser Bezirk hier ist einer von denen, wo unsere soziale Tätigkeit nur zu viel Aufgaben findet. Wenn Sie hier bekannt sind, müssen Sie das auch wissen.« »Ich bin hier bekannt,« sagte er. »Ich weiß es. Ich arbeite hier. Ich wohne sogar hier. Jawohl. Aber ich finde: Ueberlassen Sie doch Männern und häßlicher älterer Weiblichkeit die Seelenrettung und was an Apparat von wollenen Socken und Pfefferkuchen dazu gehört.« »Was erlauben Sie sich ...« »Sie geben sich Mühe, ein hochmütiges, ablehnendes Gesicht zu machen, aber Sie lachen ja eigentlich, gnädiges Fräulein. Ich hoffe aber, daß Sie nicht über mich lachen, sondern in fröhlich zustimmender Erkenntnis. Ach, wie schade, daß ich Ihnen neulich nicht das Leben gerettet habe! Daß ich bloß dem betrunkenen Kerl einen Schubs gab, berechtigt mich ja noch nicht, Ihnen Ratschläge zu geben. Sehen Sie, wenn es mir vergönnt gewesen wäre, Sie zum Beispiel aus dem Kanal zu ziehen, stände mir moralisch das Recht zu, Ihnen zu sagen: »Gehen Sie vorsichtiger mit sich um!« »Meine Mutter und ich, wir wissen genau, wie ich mit mir umzugehen habe!« sprach sie und neigte den Kopf. Das war so deutlich Abschied nehmend – sie schritt sogar schon weiter. Allert wollte neben ihr bleiben. »Sie erlauben, daß ich mich vorstelle.« »Nein – bitte!« Das kam so ängstlich abwehrend heraus. Und mit einer kurzen Kopfbewegung winkte sie dem älteren Mann, und nun ging sie sehr rasch. Allert fühlte sofort, mehr durfte er nicht wagen. Er blieb stehen. Alles Lachen, das ihn eben noch ganz erfüllt hatte, wandelte sich in tiefe Verstimmung. Er erriet, was dies ablehnende »Nein – bitte!« hieß. Das war die wohlerzogene, stolze, junge Dame aus gutem Hause, die es verweigerte, auf der Straße eine Bekanntschaft zu machen, die vor ihren Eltern, Freundinnen, vor ihrem ganzen gesellschaftlichen Kreis doch niemals sagen konnte: »Ich lernte ihn auf der Straße kennen.« Lachhaft! Einen Ehrenmann von Familie, dachte Allert, der ja immer alles ein bißchen mit seinem Humor durchmengte, einen äußerst famosen, empfehlenswerten jungen Kerl wie mich dürfte sie um die Welt nicht auf der Straße aufgabeln. Aber verderbten Mädels in zweifelhaften Quartieren die Folgen außerehelichen sexuellen Verkehrs klarmachen, das darf sie. Er sah ihr nach. Nun ging der ältere Mann – es war doch wohl ein kleiner Beamter des Vereins, denn seine Haltung als stummer Zuschauer und Zuhörer verriet wie von selbst die Gewohnheit einer Hintergrundstellung – nun also ging der Mann neben ihr, und sie sprach mit ihm. Dann bogen sie um die Ecke. Warum bin ich eigentlich dem dicken Waller ausgekniffen? dachte Allert niedergeschlagen. Ja, warum? So etwas tut man nicht mit klaren Vorsätzen. Da kommt das berühmte, von allen psychologischen Forschern als vorhanden konstatierte Unterbewußtsein hervor und benimmt sich auf der Bühne des Lebens wie eine handelnde Person. Und diese aus den geheimsten Gründen seines Wesens aufgetauchte hypothetische Person hatte sich wahrscheinlich eingebildet, dem wundervollen Mädchen etwas befehlen zu können. Ihr zu sagen: Laß ab! Deine junge keusche Weiblichkeit leidet ja doch Schaden. Wo bleibt die Poesie bei zu viel kennen, zu viel wissen? – Ja, diese sozialen Bestrebungen! Diese neuen Frauen! Diese Unsicherheit ihnen gegenüber ... Und Allert schalt sich selbst aus: Weiß Gott, es war höchst kindlich und höchst überflüssig ... Wenige Minuten nachher wandte er seine außerordentliche Beredsamkeit an, um nun seinerseits Herrn Waller schwindelig zu machen und in den Schmelz und die Begeisterung des Verkäufers die bitteren Tropfen des Zweifels und Unterbietens hineinzusprengen. Dabei dachte er immer: Nun seh' ich sie nie wieder – nie! Das sagte ihm ein Vorgefühl. Zum drittenmal wiederholt sich dergleichen nicht. Und wer wußte, ob sie sich nicht fortan einen andern Bezirk anweisen ließ. Nur, um einem so aufdringlichen Menschen nicht nochmals zu begegnen ... Trotzig fühlte er: Und das ist auch sehr gut – sehr! So genau aber lebte jedes Wort, jede Miene, das ganze Bild in ihm weiter, daß er hier, vom Lehnstuhl aus zum Tannenbaum in der Ecke hinüberträumend, alles vor sich sah: den schmutzigen Kanal, auf dem gerade eine halb ausgepreßte Zitrone vorüberschwamm, die Leichter und Kähne bordseits an die Ufer geklemmt, die Luft, die einem bläulichgrauen Flor glich, und das hochgewachsene Mädchen mit dem klugen, lieben Gesicht ... Plötzlich schreckten die drei versonnenen Men schen auf. Ein weißes Licht purzelte von seinem blanken Blechleuchtersitz und nahm durch die raschelnden Tannenzweige seinen Sturz hinab zum Teppich ... Gerade am Tage, ehe Raspe abreiste, kam ein großer Brief aus St. Moritz. Man sah ihm schon von außen an, daß eine Photographie darin sein mußte. Voreilig sagte Sophie: »Gewiß ein Bild von Tulla Rositz!« Und sie vermied es, ihren Sohn Raspe dabei anzusehen. Aber es zeigte sich, daß es kein großes Bild von Tulla war, sondern vier Momentphotographien, an den Ecken leicht auf die große weiße Pappe geklebt. Während seine Mutter den Brief las, nahm Raspe das steife Blatt in die Hand und sah sich aufmerksam alle Dargestellten an. Ein Gruppenbild zeigte sechs Personen. Alle waren im Sportdreß. Weiß wie der Schnee um sie herum. Da stand Tulla und hatte die Arme in die dünne Taille gestemmt, und unter der dicken weißen Mütze sahen die großen dunklen Augen so beredt hervor – wie Augen tun, die es zum Ausdruck bringen wollen, daß während des Photographiertwerdens an jemand sehr intensiv gedacht wurde. Eine sehr schöne Frau, viel schöner als Tulla in ihrer noch etwas herben Anmut, ziemlich voll, war auf dem Bild zu sehen, und dicht neben ihr stand ein sie etwas überragender Mann, den man für einen Italiener oder Südfranzosen halten konnte. Raspe erkannte auch den Leutnant Viktor Rositz wieder, der hier, im Vordergrund der Gruppe, mit weitauseinandergespreizten Beinen, die Hacken in den Schnee gestemmt, auf einem Bobsleigh saß und mit riesig frechem, vergnügtem Gesicht zu einer jungen Dame hinauflachte, die ihm mit einem Tannenzweiglein gerade die Nase kitzeln zu wollen schien. Die Dame war eine üppige, kleine Person von etwas orientalischem Typ. Auf einem andern Bild sah man Tulla in tiefschwarzer Straßenkleidung mit ihrem Bruder, der auch Trauer, aber Kniehosen, Strümpfe und Schnürstiefel trug. Wie zwei kohlendunkle Gestalten standen sie grell vor dem weißen Hintergrund. Und noch einmal die schöne, volle Frau; neben ihr wieder der romanisch aussehende Herr. Das vierte Bild zeigte nur drei Köpfe in einer Reihe, lachend unter den wollenen, über die Ohren gezogenen Mützen, vor einem ungewiß verschwimmenden hellen Grund: Viktor Rositz in der Mitte, rechts Tulla, links die junge Dame, die Kirschenaugen hatte und einen kleinen, schwellenden Mund. Sehr, sehr nachdenklich sah Raspe alle diese Gesichter an. Die schöne Frau anlangend, so taxierte er: die Mutter. Und zuletzt sah er nur noch die dreifache Abbildung der jungen Tulla. Ihm war, als hätte sie wohl an ihn gedacht und wollte es ihn erkennen lassen durch die tiefen, bedeutungsvollen Blicke. Auch hatte sie es sich genau ausrechnen können, daß die Bilder noch kurz vor Ende seines Urlaubs ankämen. Während er so das Blatt in der Hand hielt, las seine Mutter vor: »Liebe innigverehrte, gnädige Frau! Hoffentlich haben Sie meinen kleinen Blumengruß am 24. richtig bekommen. Thea Daister versprach mir, Orchideen zu besorgen. Wüßte ich doch, welches Ihre Lieblingsblumen sind, dann hätte ich sie gewählt. Sie haben ganz gewiß schöne, stimmungsvolle Feststunden verlebt mit Ihren Herren Söhnen. Von unserer Weihnachtsfeier kann ich das eigentlich nicht sagen. Wir trinken sonst immer den Tee nachmittags in der Halle unten, wo es ja sehr unterhaltend ist. Heiligabend nahmen wir ihn in Mamas kleinem Salon, und Mama beschenkte uns. Wir waren aber nicht allein: der Baron Legaire ist hier und Frau von Samelsohn mit Fiffi. Ich habe ein reizendes Halsband bekommen aus kleinen Perlen, dünnen Ketten und Saphiren, das ich natürlich erst nächsten Winter tragen kann. Später nahmen wir, wie immer, das Diner im großen Speisesaal. Da brannten in allen vier Ecken große Tannenbäume, das Orchester spielte Weihnachtslieder, die Tische waren mit Mistelzweigen geschmückt, und die Toiletten fabelhafter noch als sonst. Die anderen waren sehr vergnügt. Ich mußte aber doch oft an den armen Papa denken. Es ist hier sehr schön. Wir machen viel Sport, auch Mama, die immer für Viktors und meine Schwester gehalten wird oder höchstens mal für unsere Schwägerin. Man kommt eigentlich kaum zur Besinnung. Erstens sind wir ja sowieso schon zu sechsen, und dann sind riesig viel Bekannte hier. Es ist Mama gerade recht; denn sie sagte, bekümmert dazusitzen und sich in Einsamkeit Gedanken zu machen, wie alles gewesen ist oder noch hätte werden können, das hätte keinen Zweck. Mama hat sich mit Frau von Samelsohn wieder ganz ausgesöhnt. Sie sagt, wo Herr von Samelsohn doch ihr Bankier ist und auch die Buschbeckschen Werke mitzuberaten hat, sei es klüger. Deshalb muß ich mich auch mit Fiffi vertragen. Ich glaube aber, nicht bloß deshalb. Denn Mama will wohl gern, daß es was mit Fiffi und Viktor wird. Er macht ihr auf Tod und Leben den Hof. Aber Fiffi lacht ihn vor der Hand noch aus. Sie sagt: »Dein Bruder soll sich man keine Schwachheiten einbilden; erstmal will ich noch zwei Jahre die edle Männerwelt studieren, und dann wollen wir mal sehen, wem wir huldvollst die Hand reichen. Unter neun Zacken für mich und zwölf Ahnen für meine künftigen zwei Gören tu ich's nicht; das kann ich für meine drei Millionen verlangen.« Frech, nicht? Und dann sagte Fiffi: wenn mein Papa auch noch lebte, und wir Exzellenz geworden und erblich geadelt worden wären! das sei ihr doch nicht genug. Sie will mal bei Hof eine Rolle spielen, und sie sagt: Minister und Exzellenz an sich, das imponiere der alten Hofgesellschaft nicht, man müßte einen historischen Namen haben. Und das mit der Kunstkritik und dem Novellenschreiben hat Fiffi fallen lassen. Sie sagt: Mäzenin und Künstler protegieren, das sei noch interessanter. Ach, verzeihen Sie, liebe, gnädige Frau, daß ich so viel von Fiffi schreibe. Sie hat kein Herz. Aber das von Viktor wird wohl auch nicht brechen, wenn sie ihn abfallen läßt. Den Baron Legaire hasse ich. Mama und Frau von Samelsohn sind immer neu entzückt von ihm, was ich nicht begreifen kann. Wenn ich seine schwarzen Haare sehe, muß ich an einen Friseur denken, und bei seinen Augen an Likör, trotzdem er natürlich keine Karikatur ist, sondern bester Geschmack. Leider bleibt er noch unabsehbare Zeit bei uns und will offenbar auch nachher mit nach Nizza. Viktors Urlaub ist in acht Tagen zu Ende. Ende Januar reist Fiffi zu Verwandten nach Paris, worauf sie sich rasend freut. Sie sagt, da allein ist Kultur und da allein kann man als anständiger Mensch sich kleiden und essen. Wenn Fiffi und Viktor fort sind, bin ich ein recht überflüssiges Anhängsel der Reisegesellschaft. Mama sagt schon: »Was fangen wir mit Tulla an?« Ich hindere ja wohl auch Mama und Frau von Samelsohn, sich ungeniert zu unterhalten, was ganz natürlich ist, denn Mütter haben was anders zu sprechen als Töchter. Sie wollen zusammen nach Nizza und sind froh, daß der Baron Legaire mit will, weil es ohne Kavalier dort schwierig sein soll. Am liebsten bäte ich Mama, daß sie mich dann bei Ihnen malen läßt (wenn Sie überhaupt ein so unbedeutendes Wesen wie mich malen mögen), und wenn Sie dann noch in Hamburg sind, könnte ich ja ebenfalls in der Pension »Hammonia« wohnen und unter Ihrem Schutze stehen. Aber ich mag Mama nicht eher bitten, als bis ich weiß, ob es Ihnen so recht ist. Bitte, liebe, gnädige Frau, schreiben Sie mir, ob Sie es, um Papas willen, wollen. Geht es nicht, muß ich eben mit nach Nizza fahren, wo es ja freilich sehr schön ist; ich bin schon zweimal dort gewesen. Aber lieber komme ich zu Ihnen. Auf Thea Daister freue ich mich. Sie kommt in acht Tagen. Sie kann mir gewiß von Ihnen erzählen, und ich hoffe, manchmal mit ihr zusammen zu sein, obgleich Mama sie nicht gern mag. Sie sei so fahrig, sagt Mama, und mache die Menschen nervös und sei zu kindisch verliebt in ihren Mann. Ich schließe mit den allerinnigsten Wünschen zum neuen Jahr. Und mit der Bitte, mir weiter Ihre Güte zu schenken. Ihre Sie verehrende Mathilde Rositz.« Unwillkürlich wurde Sophies Stimme leiser und zögernder beim Lesen. Nach einer kurzen Pause legte dann Raspe sacht das Blatt mit den Photographien auf den Tisch. »Schade,« sagte er. »Was schade?« fragte seine Mutter. »Daß sie in dieser Umwelt von Luxus und zwecklosem Dahinleben aufgewachsen ist. Ein Mädchendasein, wie es Tausende in dieser üppigen Gesellschaft führen – die glaubt, die gute zu sein. Solche Eindrücke wurzeln zu fest – solche Bedürfnisse sind zur zweiten Natur geworden,« sprach er ernst. »Ich weiß nicht, was Ihr eigentlich für Mädchenideale habt,« meinte seine Mutter etwas ungeduldig, »gestern hielt Allert aus mir völlig unbegreiflicher Veranlassung eine seiner dahinstürzenden Reden. Er war gegen allerlei Richtungen der modernen, sozialen Frauenarbeit. Er wurde sogar poetisch und sagte was von ›seelischer Entblätterung‹ und ›Entzauberung‹, wenn man junge Mädchen mitarbeiten lasse, wo es sich um traurige und schmutzige Dinge handle. Und Du gabst ihm doch recht, warst seiner Ansicht. Und jetzt hast Du wieder was dagegen, wenn junge Mädchen, die doch nun mal in wohlhabende Familien hineingeboren sind, sorglos und froh in den Tag hineinleben.« »Ja, Mutter, eigentlich sieht man heute zumeist Extreme. Die einen sind ganz und gar die verwöhnten Töchter, die sich erst kritisch besinnen, ob sie überhaupt 'n Mann nehmen und beglücken wollen und ihn hinterher ganz naiv mit Ansprüchen erdrücken. Und die andern haben sich mit blindem Eifer in einen Beruf hineingesetzt, um für alle Fälle vom Mann unabhängig zu sein. Bekommen sie dann doch einen, so bringen sie, aus dem Gefühl ihrer Unabhängigkeit her, viel schwierige Nebenempfindungen mit in die Ehe hinein, wo das Sichaneinanderanpassen schon nicht so leicht ist.« »Die Liebe, mein alter Junge,« versicherte die Mutter mit zärtlich schmeichelndem Tonfall, »ist die große Lehrmeisterin und Ausgleicherin.« »Wenn sie immer in dem Hitzegrad ihrer ersten Flammen bliebe! In der Ruhe der Ehe erheben dann die alten Gewohnheiten wieder ihr Haupt und haben einen großen Mund, aus dem es von Vorwürfen und Forderungen nur so quillt.« Die Mutter schalt Raspe einen Pessimisten, und auf dem Bahnhof, beim Abschied, versuchte sie mit heiteren Worten seine Gedanken zu vertreiben. Als sie dann allein heimging, überdachte sie die mancherlei Gespräche der letzten Tage und ihr war etwas mutlos ums Herz. Sie wußte es ja selbst: Es war jetzt ein so seltsames Gemenge von Frauenwesen aller Art; die Farben flossen durcheinander, und alle Linien verschlangen sich. Vernunft und Extravaganz, Recht und Ueberforderung, angeborene und anempfundene Begabung, gesunder und überspannter Wille – alles stand dicht beieinander, wirkte ineinander hinüber. Wie sollte dem Mann nicht ein unsicheres, ja ein beinahe furchtsames Gefühl kommen, wenn er sich aus dieser wogenden, gärenden Menge die eine heraussuchen wollte, der er seinen Herd und auch seinen Frieden allezeit anvertrauen konnte. – Ueberhaupt, es war immer nur von den Frauen, ihrer neuen Entwicklung und ihren Ansprüchen die Rede. Und nie davon, wie das den Mann berührte, und wie er sich in seinem wichtigsten Innenleben zu dem allen stellte. – Das kam wohl, weil so viele von den Vorkämpferinnen unverheiratet und kinderlos waren und keine Söhne zu Männern erzogen hatten. Das machte sie so schrecklich einseitig. Und so taub und blind für die Bedürfnisse, Ideale, Poesien des Mannes. – Was soll auch die Frau vom Manne wissen, die keinen Sohn gebar und erzog? Auf der andern Seite diese Mütter, die aus Gedankenlosigkeit oder verkehrter Liebe den Töchtern die Jungmädchenzeit zu einem glänzenden Fest machten und sie an all die Ausgaben gewöhnten, die sie nach her auch vom Ehemann erwarteten. – Ein reicher Papa hat aber meist ein größeres Portemonnaie als so ein junger Gatte ... Das sind schwierige Sachen, dachte Sophie. Aber sie wehrte sich doch dagegen, allzu bedrückt zu werden. Und als sehr weibliche Frau hatte sie gleich eine Menge grundloser und unlogischer Hoffnungen zur Hand. Zunächst tat sie das ihre und schrieb an Mathilde Rositz, daß sie ihr jeden Tag als liebe Pensionsmitbewohnerin willkommen sein solle, und was das schon vom teuren Verstorbenen gewünschte Porträt anlange, so werde es in jedem Fall gemacht, auch wenn Mathildes Mama keine Neigung habe, einen formellen Auftrag zu erteilen. »Wie kannst Du so was schreiben, Mutter,« schalt Allert; »solchen Frauen gegenüber sind noble Gesten höchst unangebracht. Du kannst sicher sein, daß die Rositz, die ja immer in Geldklemme ist, auf diese Andeutung hin ihre Tochter gratis von Dir malen läßt. Reiche Leute sind oft wunderbar naiv in der Annahme von Diensten.« »Und wenn« ... sagte Sophie still. Sie dachte an einen, der nicht mehr war. Und in der Gebundenheit der Menschen, die sich nie das völlige Verschwinden eines Lebens vorstellen können, war ihr, als erfreue sie ihn noch damit. Allert kam von Amsters. Er hatte dort heute, am Sonntag, der dicht vor den Jahreswechsel fiel, Besuch gemacht. Seine Mutter wollte genau wissen, wie alles ihm gefallen hatte: Mann, Frau, Tochter, Haus ... Er antwortete: »Frau und Tochter nicht anwesend. Haus von bestem Geschmack. Voll solider Möbel und Familiengeschichte. Hausherr verbindlich. Allmählich mehr als das. Erwärmte sich, indem er von Dir viel Bewunderndes sagte. Sprach dann von allerlei Zeiterscheinungen. Kluges. Vor allen Dingen über die Pflicht des Adels, sich den sozialen Umwertungen anzupassen. Na, das sehen die Draußenstehenden ja immer klarer ein als die, die unter den alterstrüben Kronen sitzen und sich wunder wie vorkommen. Jedenfalls merkt' ich: Er findet, daß ich auf verständigem Wege bin. Na und dann sprach er von England. Gott – das ist ja nun das ewige Gespräch. Geht es los, oder geht es nicht los? Fangen wir an, oder fangen sie an? Ist unsere Flotte schon stark genug zu erfolgreicher Defensive? Und die Deutschenfurcht drüben und die Engländerfurcht hüben. Und ich sagte: Es käme mir allmählich vor, wie Papageno und Monostatos in der ›Zauberflöte‹, die voreinander so bange sind, daß sie gleichzeitig vom Schauplatz verschwinden. Hiermit machte sich Dein Sohn, nachdem er den Senator höchst geistreich unterhalten hatte, einen brillanten Abgang und schied wie Cäsar aus dem Hause Amster mit dem Gefühl: veni, vidi, vici oder ›fenefedefize‹, wie unsere alte Therese mal sagte.« »Ich hoffe, Du hast den Senator nicht schwindlig geredet,« sagte die Mutter lächelnd, »und ich denke, Du wirst noch zu dem Fest am 8. Januar eingeladen.« »Vielleicht geht dieser Kelch doch noch an mir vorüber.« Und dann sagte er plötzlich in einem ganz andern Ton – wäre Sophie nicht so unbefangen gewesen, hätte sie vielleicht finden können, in einem lauernden Ton: »Das Haus scheint sehr gut aufgezogen – da war so ein leiser Diener – einer von der patriarchalischen Sorte – aber abgedämpft – kein weißlockiger Lustspieldiener mit Vertraulichkeit und protegierendem Kopfnicken ...« »Was?« fragte seine Mutter erstaunt, »Du hast Lurch bemerkt.« »Mein phänomenaler Beobachterblick für Gesichter. Von Dir geerbt,« prahlte lustigen Tones Allert und dachte: Bin gerade so klug wie vorher. Wenn ich auch nun weiß, daß der Mann Lurch heißt, weiß ich damit doch noch nicht, ob es der mit den Paketen in der Jolle war. Als er das Amstersche Haus betrat und seine Karte auf das silberne Brettchen legte, stutzte er. Dieser ältliche, bartlose Diener kam ihm irgendwie bekannt vor ... Und ihm schien, als ob durch dessen Auge auch ein leises Aufblitzen gehe. – Aber wie? Wo? Wann? Na, das hat man ja manchmal. Manchmal? Quälend oft. Man sieht ein Gesicht. Begrübelt es, könnte darauf schwören: das ist ein Bekannter. Ist besorgt, durch unterlassenen Gruß verletzt zu haben. Und schließlich war es vielleicht bloß jemand, der einem mal lange in der Bahn gegenübersaß, oder ein Kellner in Zivil oder ein Beamter aus irgendeinem Bureau. Aber diese bekannten Unbekannten strahlen eine unbestimmte Beunruhigung aus. Als der Diener dann zurückkam und höflich sagte: »Herr Senator lassen bitten,« und ihm half, den Paletot ausziehen, da wußte Allert es dann doch ganz gewiß: Den kenn' ich – den sah ich schon mal wo ... Und er dachte plötzlich an die Jolle und sah das schöne Mädchen unterhalb der Kaimauer auf der schmalen Brücke stehen und den Jollenführer bezahlen, während dieser Mann sich, noch im kleinen Nachen, nach den Paketen bückte. Wirklich dieser Mann? Es konnte eine täuschende Aehnlichkeit sein. Vielleicht noch nicht mal eine täuschende, sondern nur eine flüchtige. Ein Mensch im bürgerlichen, dicken Winterüberzieher, mit einem steifen Rundhut auf dem Kopf, ist eine andere Erscheinung wie ein Mensch, der einen famos sitzenden braunen Frack mit silbernen Knöpfen und Gamaschen trägt und seine kurzgeschorenen Haare unbedeckt zeigt. – Seine Mutter hatte ihm nie genauer von Marieluis erzählt. Er wußte nicht einmal den Vornamen der Amsterschen Tochter, die seine Mutter malte. Er hatte auch nie darüber nachgedacht, weshalb sie so wenig davon sprach. Vielleicht war die junge Dame nicht sehr anziehend. Seine Mutter mußte ja die Aufträge nehmen, wie sie fielen. Sie hatte einmal eine in älteren Malerkreisen zirkulierende Strophe nachgesprochen: »Maler von Stilleben Kann nicht und will leben; Landschaft, Historie, Ganz wie der vorige; Porträtmaler, Portemonnaiemaler.« Allert war gar nicht der Gedanke gekommen, daß seine Mutter aus Vorsicht von Marieluis schwieg. Sophie wußte genau: Erzähl' ich ihm, wie fesselnd und schön sie ist, so denkt er gleich, ich hoffe, daß sie eine Frau für ihn werden könnte, und dann setzt er nie seinen Zylinder auf und macht nie da Besuch. Das sollte er aber; denn ihr war klar, daß Allert von dieser Familie aus in die Gesellschaft hinein müsse. Jetzt mit einemmal fand Allert es höchst auffallend, daß seine Mutter so wenig von der jungen Dame sprach. Wie gern hätte er gefragt – aber er konnte nicht. Das wollte nicht unbefangen über die Lippen. Irgendeine Angst tat seinem raschen Munde Zwang an und machte ihn stumm. Dieser Lurch beunruhigte ihn sehr. Wenn das der Mann mit den Paketen war, mußte oder konnte die junge Dame die Tochter des Hauses sein. Diese Möglichkeit machte ihn traurig. Sie niemals wiederzusehen – das war fast seine Hoffnung geworden, sein Wunsch. – Es war sehr schön, an sie zu denken – wie an einen Traum – wie an eine Gegend, die man von fern bewundert – vielleicht ist sie in der Nähe sehr nüchtern. Fernduft ist bezaubernd. – Am liebsten wär's mir, die Leute lüden mich nicht ein. Vielleicht hab' ich auf den Senator auch bloß als Schwadroneur gewirkt, hoffte er. Er war entschlossen: »Ich sage ab.« Aber das ging ja nicht wegen seiner Mutter. Am andern Morgen lag die Einladungskarte auf seinem Tisch. Er besah sie lange. Ein Gefühl von Unbehagen, ja fast von Furcht bedrückte ihn. Allert war eigentlich wütend. Drei Jahre hatte er in Frieden gelebt. Das heißt, völlig unabhängig wie ein Stier gearbeitet – einen neu zu bestellenden Acker für künftige Ernten vorzubereiten getrachtet. Nun zog sich ein Gewölk von Verpflichtungen über seinem Haupte zusammen. Die Sonntage gehörten ja zum Teil der Mutter. Und das war schön, war ausruhend, anspornend. Aber jetzt gab es auch eine Frau Julia Dorne für ihn in der Welt. Daran mußte er nun wohl oder übel denken und auf sie schon ihres Mannes wegen Rücksicht nehmen. Es war fabelhaft, was für Anliegen sie immer hatte. Allert hätte eitel werden können, weil er ihr unentbehrlich schien. Allein er dachte nur: Ich bin der einzige, den sie kennt! Sie muß schleunigst einen Kreis bekommen. Auswahl, damit sie einen andern vor ihren Wagen spannen kann. Das tut not. Ein eiliges Briefchen flehte ihn an, jedenfalls nach Kontorschluß zu ihr zu kommen. Es war dicht vor dem Amsterschen Fest. Dr. Dorne war tief in seine Experimente versunken und verließ bis in die Nacht hinein sein Laboratorium nicht, wo es nach scharfen Säuren und Salzen schweflig und teerig roch. Die reizende Julia konnte Briefe voll seltener Anmut schreiben. Ihre kleinen, regelmäßigen Buchstaben tauchte sie in lila Tinte. Und sie formte Sätze, in denen Inhalt war. Allert dachte: Schließlich arbeitet der Mann für mich ja mit – wenn Dorne die Entdeckung glückt, der er auf der Spur zu sein glaubt! Ja, das konnte was bringen! Donnerwetter! Na also, da mußte man sich für die Frau, die ja wirklich viel allein saß, schon mal die Viertel- und Halbstündchen stehlen. »In einer wichtigen Sache möchte ich Sie heute abend sprechen. Wichtigkeit ist ein relativer Begriff – was mir eine ist, braucht Ihnen keine zu sein. Aber ich denke doch, der Ritterlichkeit eines Mannes ist das Anliegen einer etwas vereinsamten Frau immer wichtig. Sie wissen, zurzeit ist mein Gatte, dessen Arbeit ich bewundere, einer neuen chemischen Entdeckung auf der Spur, und dann geht es ihm wie den Heineschen Grenadieren: ›Was schiert mich Weib, was schiert mich Kind.‹« So schrieb sie, und ihre Anrede lautete: »Lieber Freund!« Bin ich das schon? Das geht ja flink, dachte Allert. Die Dornesche Wohnung, eine geräumige zweite Etage am Alsterufer, war seit kurzem fertig eingerichtet. Alle Wohnräume wurden aber tags wie abends in Halbbeleuchtung gehalten. Die Sonne kam durch dünne seidene rosa Stores, das elektrische Licht war immer rotgelb umschleiert. In dieser Beleuchtung erschien Frau Julia in ihrer Anmut und mit ihren dunklen Feueraugen von mädchenhafter Jugendlichkeit. Und Allert bewunderte ganz objektiv die Kunst dieser Frau, sich zu dekorieren. Auch an diesem Abend verführte ein mildes, warmes Licht Augen und Nerven. Man war sofort in eine Sphäre vollkommener Weltabgeschlossenheit versetzt. Und im leisen rötlichen Schein bewegte sich Frau Julia. Ihr fast unwahrscheinlich dünnes Chiffongewand hatte einen Saum von dicken, graugelben Spitzen. Hals und Arme schimmerten durch den dünnen Stoff. Allert sah sonst keine Frauenkleidung. Er verstehe nichts davon, behauptete er. Aber dies hier fiel ihm durch die Schönheit und das Raffinement doch auf. Und in ihm wollte sich der kleine Spott rühren, den Männer haben können, wenn sie kalten Sinnes dringliche Bemühungen bemerken. »Sie haben befohlen, meine gnädigste Frau, hier bin ich.« »Ja. Ich habe das Gefühl, Ihrer Billigung zu bedürfen zu einem Schritt, den ich getan habe,« sagte sie, sich malerisch, schmächtig, schmiegsam in einen Sessel drückend. »Was Sie tun und lassen, hat doch nur Ihr Mann zu billigen, und da es sich um etwas schon Geschehenes handelt, käme es auch nur auf eine nachträgliche Billigung hinaus wie beim Reichstag nach Etatsüberschreitungen.« »Nein, nein. Es geht schon ein wenig Sie an. Oder Ihre Mutter. Es könnte so aussehen, als wollte ich mich mit Vorsatz gerade da in die Hamburger Gesellschaft hineinlancieren, wo auch Ihre Mutter offene Türen fand. Ich wünschte Ihnen zu erklären, daß es Zufall ist.« »Ich verstehe kein Wort,« versicherte Allert, der bemerkte, daß Frau Julia hellgrüne Seidenstrümpfe in ebensolchen Schuhen trug. – Fabelhaft geschmackvoll, dachte Allert, und fabelhafte Vergeudung – falls dies für mich ist. Frau Julia erzählte in ihrer stockenden, die Satzbildung bedenkenden Weise: »Mein Mann sowohl als auch ich haben einige Beziehungen zu hier wohnenden Menschen oder könnten Beziehungen schaffen. Aber Sie wissen: jede Umwelt hat ihre besonderen Matadore, und wer in X. eine maßgebende Persönlichkeit ist, wird eine unbrauchbare Nebenfigur, wenn er nach Z. zieht. Und ich habe festgestellt, daß die Personen und Familien, an die wir hier geraten könnten, nicht zur allerersten Gesellschaft gehören. Geradezu bei den Spitzen Besuche zu machen, dazu ist hier der Rahmen zu groß. Wir haben noch kein eigenes Haus, kein Auto. Mein Mann, dessen Klugheit ich bewundere, sagt, man muß den Gang der Geschäfte abwarten. Da dachte ich denn, auf irgendeine andere Weise anzuknüpfen. Es gibt ja so viele Wege. Zum Beispiel durch literarische, musikalische, wohltätige Vereine. In den letzteren findet man erfahrungsgemäß eher die Damen der ersten Gesellschaft als in den literarischen. Eine auswärtige Freundin riet mir, mich an den Verein der Senatorin Amster anzuschließen.« »So, hat die einen Verein?« fragte er trocken. Aber er merkte scharf auf. »Ja, zur Rettung gefährdeter Mädchen aus dem Volke, zum Schutz unehelicher Kinder und so dergleichen. Ich bin gestern zu ihr gefahren, ließ mich in Vereinssachen melden, wurde angenommen und gern als Mitglied akzeptiert. Wie kann man eine Vorsitzende besser bestricken, als wenn man Vereinsmitglied mit vierfachem Beitrag wird. Ich brachte ihr auch einen Gruß von meiner, ihr freilich weiter nicht bekannten Freundin, die ein gerettetes Mädchen vom Verein bezogen hatte, und es interessierte die Senatorin sehr, zu hören, daß jenes Mädchen doch gleich wieder weggelaufen sei. – Daß mein Mann Ihr Kompagnon ist, kam natürlich zur Sprache. – Ja – und nun werde ich im Verein tüchtig mitarbeiten – allmählich wird man bekannter – es werden sich gesellschaftliche Beziehungen daraus entwickeln lassen, wenn man es klug anfängt.« »Ich habe das Vertrauen, daß Sie alles klug anfangen,« sagte er, während er ganz benommen dachte: dann war es doch dieser Lurch – der mit den Paketen – »Kluge Frauen sind bei Euch Männern nicht beliebt.« Es war eine jähe Wendung – mehr im Ausdruck und im Ton als in den Worten selbst. So ein gewisses Etwas, das sich herausspürte wie: die Vorrede ist erledigt. »O doch. Wenn sie auch Gefühle haben. Bei den Dummen fürchtet man die Sentimentalität.« »Sentimentalität ist schrecklich. Sie bedroht den Mann in der Liebe mit Szenen. Alle sentimentalen Frauen sind zäh und anklebend. Ich habe noch nie eine gesehen, die es verstand, sich in das Ende einer Liebe zu finden,« plauderte Julia. »Das verstehen auch die Klugen nicht. Jede Frau denkt, sie ist die Eine, die Auserwählte, die Liebe ohne Ende erwecken kann.« »Oh,« sagte sie mit funkelnden Augen, »es gibt auch Frauen, die die Poesie und die beglückende Schönheit eines Rausches begreifen – die nach dem Erwachen nicht klagen, sondern danken. Die das Wort Lebewohl ohne Bitterkeit sprechen. Die wissen, das Glück ist des Schmerzes wert. Die fühlen, durch Vorwürfe und Jammer entweiht man, was doch göttlich war« – – Sie schwieg. Eine lange Pause entstand. Allert sah ihr in die Augen – eine Welt von Sinnlichkeit schwamm darin. Er schwieg sehr lange. Nun schien sie das Gespräch ändern zu wollen – vielleicht, um es auf einem Umwege wieder zu schwülen Erörterungen zu bringen. Denn sie wußte wohl: es gibt keine bequemere Brücke als Redensarten über die Psychologie der Liebe. »Ich bin sehr viel allein. Mehr eigentlich, als erlaubt ist. Aber ich bewundere den Fleiß meines Mannes.« »Ja, er ist ein leidenschaftlicher Arbeiter.« Seine Blicke wanderten umher – er fühlte sich nervös, unfähig zu einem vernünftig sich fortspinnenden Gespräch. Er fragte gedankenlos nach einer Büste, an der seine Blicke zufällig hängenblieben – Julia stand auf – er mußte ihr folgen; denn sie lud ihn mit einer Handbewegung ein, das Kunstwerk in der Nähe zu besichtigen. Mit einigem guten Willen erriet man, daß es den Dr. Dorne vorstellte. Julia legte die Rechte an den Sockel; so neben der Säule mit dem Bildwerk nahm sie sich im rotgelben Licht sehr schön aus. »Es ist von mir selbst. Ich modellierte eine Zeitlang eifrig. Knud Mohr war mein Lehrer. Er war auch mein Freund – er war es, der mein Talent entdeckte – aber so ohne Mitarbeiter, ohne gleichgestimmten Freund hat man keine Inspiration. – Ach, es war schön damals – ich denke so gern daran zurück!« – Allert sah und hörte ja, was das alles war. Eine von den Frauen war sie, die immer ihre geistige Richtung vom Mann bestimmen lassen, mit dem sie ein Verhältnis haben, die sogar in ihrer Anpassungsfähigkeit, die ihnen die Begierde gibt, ein dem seinen verwandtes Talent in sich aufblühen sehen. – Er wußte, das war das Satyrspiel zu einem tiefen, großen Naturwillen. Er sah ja auch, die Frau war auf der Suche. Wenn sie nicht gerade seines Teilhabers Frau gewesen wäre. – Kein Mann spielt gern eine Stockfischrolle. – Und einen Augenblick kecken Genießens – bei solchen Frauen vorwurfsfrei mitzunehmen – warum nicht ... »Inzwischen,« sprach sie halblaut weiter, »inzwischen habe ich auch begriffen, daß in unserer Zeit viel wichtigere Aufgaben im Vordergrund der Beschäftigung auch für die Frau stehen müssen. Ich versuche, mich mit den industriellen und merkantilen Fragen und der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage Deutschlands vertraut zu machen. Aber ich sehe schon, ich begreife nichts, alle Mühe wird verloren sein, wenn Sie mir nicht ein wenig dabei helfen.« »Leider bin ich ja ein mit Arbeit überhäufter Mensch« – »Aber wenn ich Sie bitte? Und ist es nicht auch eine Arbeit, die sich lohnt, einer Frau, die sich weiterbilden will, zu helfen?« Sie streckte ihm die Hand hin, die er nahm, um sie ausfürlich zu küssen. Er dachte nicht an eine schroffe Haltung und an ein plump beschämendes Ablehnen. Gerade hier mußte das ja mit einer gewissen Grazie gemacht werden. In diesem Augenblick hörte man deutlich draußen vor der Tür den kurzen Gewohnheitshusten des Doktors Dorne. Und ganz unwillkürlich änderten Allert und Julia ihre Stellung. »Mein Mann!« sagte sie grenzenlos und sehr ärgerlich erstaunt. Und dann kam er auch schon herein und reichte Allert nebenbei die Hand und hatte einen hastigen Ausdruck in seinen hellen Augen und erzählte etwas zu ausführlich, daß er sich doch noch entschlossen habe, seine Arbeit für eine Stunde zu unterbrechen, um zu Hause zu Abend zu essen. Er lud Allert ein, mitzuspeisen. Der aber lehnte ab und ging. »Nimmst Du Herrn von Hellbingsdorf nicht etwas zu oft in Anspruch?« fragte der Mann ängstlich. Er sah, wie schön seine Frau geschmückt war, und das beunruhigte ihn immer. »Aber nein. Er ist doch scharmant. Ich mußte ihm loyalerweise das mit der Amster sagen. – Und dann – er braucht ein wenig der zarten, letzten Abschliffe durch Frauenhand – Du weißt, ich erziehe gern ...« Er war verwundert; gerade Allerts Formen hatte er so sicher und angenehm gefunden, und die Mutter war so fein – Menschen aus guten Kinderstuben. – Aber Julia sagte: »Schließlich ist die Mutter doch Berufsfrau. Und die Art Frauen haben weder Zeit noch Blick, ihren Söhnen die letzte Modellierung des Wesens zu geben. Das bleibt dann die Aufgabe, die uns ganz weiblichen Frauen zufällt. Und weißt Du – ich denke – zwar ist Ingeborg erst fünfzehn – aber Allert von Hellbingsdorf wäre doch mal eine Partie für sie« – Der Ehemann streichelte ihr ganz sacht die durchsichtig bekleidete Schulter. Ja, so war nun seine Frau – voller mütterlicher Instinkte, wo sie sah, daß sie lenken und veredeln konnte. – Er begriff selbst nicht mehr, was ihn so hergejagt hatte – – und nicht diese qualvolle Nervosität, die ihn immer antrieb, draußen zu husten. – Unterdes ging Allert voll Ingrimm an der Alster entlang, unter der Bahnüberführung hindurch, wo gerade ein gewaltiger, hellerleuchteter D -Zug über seinem Kopf hindonnerte, und dann wartete er an der Esplanade auf die Ringbahn. Ausdrücklich hatte er seinem Teilhaber erzählt: »Ihre Frau wünscht mich zu sprechen, ich fahre für eine Viertelstunde zu ihr hinaus.« Und trotzdem war's ja gerade, wie der Gatte unverhofft kam, als sei man ertappt. Ein scheußliches und, gottlob! grundloses Gefühl. Aber was so eine unbedenkliche Frau alles anordnen kann: ein bißchen rosa Licht, ein bißchen sonderbar schöne Kleidung, uralter Aufwand von entgegenkommenden Blicken und Worten, dazu die Ritterlichkeit des Mannes, der nicht mit plumpkeuscher Tugendgeste seinen Mantel aus ihren Händen reißen mag – und die erste Szene ist gestellt! Daraus dann nach und nach in sorgsamem Aufbau das vieraktige Sittenstück weiterzuentwickeln, würde sich Julia schon zutrauen. Das heißt, alle Sittenstücke sind ja eigentlich Unsittenstücke ... Heimfahrend dachte Allert ganz frauenfeindliche Sachen: Das sind so die Weiber, die einen auch ehescheu machen können! Das hat sich doch einst aus Liebe oder meinetwegen bloß aus Verstand geheiratet. Wie auch immer: man hat sich die ersten Jahre gut vertragen. – Da sind die Kinder – man war sich jedenfalls klar und ist es sich noch, daß Interessen, Ehre, Empfindungen gemeinsamer Kult sein sollte. – Und doch! Die Frau, vielleicht mannstoll veranlagt oder so schamlos eitel, daß sie sich am Verlangen und der Bewunderung der Männer nicht sättigen kann – die Frau macht aus ihm einen Narren. Und er – so'n wissenschaftlich gebildeter Mann! – Unruhig ist er wohl, will aber blind sein, läßt sich dumm machen – warum? In der verfluchten Hörigkeit, in die jeder von uns hineingeraten kann! Wer darf sich vermessen, er sei dagegen gefeit? Das kommt ganz darauf an, was für 'ner Frau man in die Hände fällt ... Schade, daß es keine Statistik gibt über die Männer, die Junggesellen bleiben, weil sie bei 'ner verheirateten Frau zu genauen Unterricht hatten ... Und er ließ alle Riesen und Helden von Herkules und Simson an vor seinem Gedächtnis Revue passieren, von denen Sage und Geschichte erzählen, daß sie Frauenknechte und -opfer waren. Während er sich mit solchen unterhaltenden und erbitternden Schulbeispielen gegen die Ehe stärkte, fiel ihm noch ganz etwas anderes plötzlich ein – viel Naheliegenderes. – Seine Teilhaberschaft mit dem Doktor Dorne bekam einen starken Schlagschatten. Klug war der Mann, ein Chemiker von Rang. Geld hatte der Mann genug, um mit seinem Anteil dem Geschäft Aufschwung und neue Lebenskraft zu sichern. Aber grünseidene Strümpfe und Schuh und spinnwebene Kleider kosten Geld und – »Talente« kosten Geld, wenn man immer neue entdeckt und immer andere Lehrer dazu braucht. – – Und schließlich war Dorne bloß wohlhabend; kein Krösus. Und dann ein Mann, der innerlich gehetzt ist! Und es sich nicht eingestehen will, was ihn hetzt! Hieß es nicht für einen Aufstrebenden: »Du sollst keinen Götzen haben neben dem Geschäft?« ... Und Allert sah Gewölk heraufsteigen. – Dann kam ja das Fest bei den Amsters. Allert holte die Mutter ab. Sie spürte gleich: er war zerstreut und verstimmt. Er schob es auf Geschäfte. Von der Spannung, die in ihm brannte, sagte er nichts. Stumm saß er im Auto, das im Halbrund des Weges innerhalb des Vorgartens nur langsam vorrückte, denn ein abscheuliches Schneetreiben erschwerte Auffahrt und Aussteigen der Gäste. In der Herrengarderobe war dann wieder dieser ältliche Diener, dieser Lurch – Allert empfing auch die kleine weiße Karte, auf welcher der Name der Dame stand, die er zu Tisch führen sollte: Fräulein Marieluis Amster. Ganz selbstverständlich, weil er zum erstenmal als Gast hier war und immerhin schon weit die gesellschaftliche Rangstufe der jungen Dächse von Referendaren, Leutnants, Volontären und anderem Tanzgebein überragte. Aber er fühlte sein Herz klopfen. Dann waren da zwei große, sehr volle Räume, in denen nichts zu sein schien wie Menschen und Kristallkronen – so waren alle Möbel vom Gedränge verdeckt. Und voll Würde gleich vorn bei der ersten Tür der ihm schon bekannte Senator, der ihn seiner Frau vorstellte. Die blonde Frau mit den hübschen, aber scharf gewordenen Zügen und der bedeutenden Haltung lächelte sehr verbindlich und sagte ihm ein Dutzend sehr schmeichelhafter Worte über seine Mutter und überließ ihn dann seinem Schicksal und seinem Stern, weil auf seinen Hacken schon andere Gäste warteten, um ihrer Begrüßung teilhaftig zu werden. Sein Stern nun war seine Mutter. Er sah, wie bekannt sie hier schon mit allen Menschen schien, und mit welcher liebenswürdigen Heiterkeit sie sich bewegte. Na ja, das war ihr Feld – aus diesem Boden wuchsen ihr die Aufträge zu. – Sie sagte ihm: »Ich stelle Dich vor – auch der Tochter des Hauses.« – Nun mußte er sich da und dort verbeugen und sechsmal die Frage: »Sind Sie bei Ihrer Mutter zum Besuch?« beantworten: »Ich lebe hier, habe mich hier niedergelassen.« Und achtmal hören: »Haben Sie schon das Bild von Marieluis Amster gesehen? Es wird fabelhaft.« Drei Leute fragten ihn auch, ob er sich schon eingelebt habe. Und dann kam sehr eilig, elegant, hoch und schmal Thea Daister herangerauscht und nahm ihn unter ihre Fittiche, wie sie es nannte. Und weil gerade seine Mutter vom Generalkonsul Haimburgk festgehalten wurde, dessen beide Knaben sie ja malen sollte, bat sie rasch Thea Daister: »Bringen Sie ihn zu Marieluis.« Das war Allert lieb. Seine Mutter hatte ihm zu feine Ohren, zu scharfe Augen für das, was vielleicht gleich kam. Und da war es auch schon. – Er hatte sie schön und ernst und gelassen und überlegen und gereift und – und – er wußte nicht, was alles – gefunden – im langen Mantel, im dunkeln Hut. Nun sah er: Es war die Verkleidung einer Prinzessin gewesen. Hier stand ein Wesen, das einen merkwürdigen und doch stillen Glanz auszustrahlen schien – ein hochgewachsenes Mädchen mit blondem Haar und feinen Zügen – klug und grau die Augen – Schultern, Arme – ach, Allert fehlte der vernünftige Vergleich dafür. Und er hatte auch einen unbestimmten, allgemeinen Eindruck von blaßblauer Seide und großen, dunkeln Veilchensträußen. Seine Führerin strebte emsig durch die Menschen auf diese junge Fürstin zu. Wenn Thea Daister jemand so geleitete, hatte es etwas Pflichtvolles, Genaues, höchst Dringliches. Am liebsten hätte Allert sie am Arm fest- und zurückgehalten. Und nun sah auch Marieluis ihn und erglühte in völligster Ueberraschung. »Auf Wiedersehen,« sagte Thea Daister, »ich muß noch flink oben an der Tafel mal zusehen, wo mein Mann seinen Platz hat – ich bin Ihre Tischnachbarin links – hier Marieluis: der Sohn von Frau Hellbingsdorf.« Marieluis, die ihre gewöhnliche Farbe schon wieder hatte, reichte ihm die Hand. »Ich habe rasch eine große Verehrung für Ihre Mutter gewonnen.« »Das macht mich stolz. Ich werde viel zu tun haben, um hier für mehr angesehen zu werden als bloß für einen Sohn.« Marieluis lächelte ein wenig. »Den Eindruck hab' ich eigentlich nicht bekommen, daß Sie das Talent haben, unbemerkt zu bleiben.« »So? Also ich hab' vordringlich gewirkt? Vielleicht haben Sie Ihren Eltern schon eine entsprechende Schilderung von jenem Mann gegeben, der Ihnen beistand? Dann bitt' ich: Schonen Sie mein Charakterbild, damit es nicht in der Geschichte schwankt wie das mancher Helden, und decken Sie meine Identität nicht auf.« »Ich habe zu keinem Menschen von jenem Vorfall gesprochen.« Das machte ihn irgendwie glücklich. »Ich auch nicht,« sagte er leise. »Es war mir zu nebensächlich,« fügte sie hochmütig hinzu. Gott – diese jungen Mädchen! dachte er. »Dory, erlaubst Du: Herr von Hellbingsdorf – Fräulein Dory Vierbrinck.« Er verneigte sich vor einer zierlichen jungen Dame, die einen uneingefaßten Kneifer trug, einen schmalen Rosenkranz auf kastanienfarbenem Haar und entzückende Grübchen hatte. »Dory! Zum Unterschied von Laura, Fanny, Mimi, Evelyn und Helene Vierbrinck, die hier ebenfalls anwesend sind. Vierbrincke, teils vom Senator, teils von Vierbrinck Sohn & Compagnie, teils vom Konsul Vierbrinck,« sagte sie munter. »Ich bin schon lange genug in Hamburg, um diesen hier so viel bedeutenden Namen zu würdigen,« sagte Allert, »und darf ich fragen: »Von welchem Zweige dieser ansehnlichen Familie?« »Vierbrinck Sohn & Compagnie.« Sie lachten. Und er dachte: Dory? Das war also die Dory, die an jenem Abend davonlief. Sie aber konnte ihn gar nicht erkennen. Das war ihm lieb. Es lag ihm im Gefühl: Das muß zwischen »ihr« und mir bleiben. – Er wartete – horchte auf. – Nein, Marieluis sagte nichts. – Wenn es ihr sonst zu »nebensächlich« war, gerade Dory nun zu erklären: Denke Dir, es ist Herr von Hellbingsdorf, der mir damals beistand – das hätte sich doch fast von selbst verstanden ... Wie viel Nähe hatten sie schon zueinander – das berauschte ihn. – Welche Kluft war zwischen ihnen – er fühlte es in der nächsten Stunde mit Erbitterung. – Man saß bei Tisch. Alles ist bester Stil, dachte Allert, vornehm, nicht protzig, trotz der Menge alten Silbers und edlen Kristalls – trotz der erlesenen Speisen – wie sind sie sicher und bedacht zusammengestellt. In zwei Sälen saßen etwa hundert und mehr Personen. Die ungezwungene Fröhlichkeit, das lebhafte Gespräch brachte jenes gleichmütige, ununterbrochene Geräusch hervor, das dem einzelnen gestattet, vom Nachbar ungehört zu bleiben. Aber zunächst kam Allert nicht zu seiner Aussprache mit Marieluis. Seine andere Tischnachbarin war voll Unruhe. Sie ließ ihre Serviette fallen und dann ihre Handschuhe, und während ihr Tischherr sich bückte, fragte sie Allert was und hörte nicht seine Antwort. Dann fragte sie ihren Tischherrn und achtete nicht auf seine Auskunft, sondern wollte wieder etwas von Allert. »Können Sie meinen Mann entdecken?« fragte sie in ihrer geschwinden Sprache. »Aber – Sie kennen ihn ja nicht – pardon, wie dumm von mir – ich bin furchtbar mucksch mit meinem Mann, aber aufpassen muß ich doch, ob er nicht zu nett mit seiner Dame ist. Wenn man sich mit dem Gatten gründlich erzürnt hat – nicht wahr? So seid Ihr Männer! Er ist imstande, einer anderen den Hof zu machen.« Und sie bog ihren langen Hals nach rechts, nach links. – »Was denn? Erzürnt mit Ihrem Mann?« fragte Allert. »Wenn ich mir eine indiskrete Bemerkung gestatten darf: Ich habe von Ihnen wie von Turteltauben – natürlich in moderner Variante, sprechen hören.« »Bleib mal einer Turteltäubchen,« sagte Thea Daister, »wenn man plötzlich hört: wir können nur acht Tage in St. Moritz bleiben, es kostet zu viel, und unser Leben in Berlin schluckt alles. – Pa und Ma sind immer vier Wochen mit mir hingegangen ... Und im Frühling können wir nicht nach Cannes. – Ich bin starr. – Mußt ich da nicht mal auftrumpfen?« Wie recht hatte Raspe, dachte Allert, die Ansprüche nehmen sie aus den Elternhäusern mit in die Ehe ... »Sie können sich hinter Ihre Eltern stecken, gnädige Frau,« tröstete Allert, »wenn man so vorsichtig in der Wahl seines Vaters gewesen ist ...« Marieluis sprach mit vorsichtiger Stimme hinein, aber doch nur zu ihm: »Die Eltern haben den Etat so groß bemessen, daß er nicht überschritten werden darf. Thea hat ja Geschwister.« Die junge Frau bemühte gerade ihren Tischherrn mit der Entdeckung des Gatten und hörte nicht, was ihre Cousine sagte. »Nun, die Verstimmung wird nicht ernst sein,« äußerte Allert. Es interessierte ihn wenig. Er fühlte die Nähe dieses Mädchens wie ein beklemmendes, betäubendes Glück. Für ihn war sie das höchste Bild von Frauenschönheit; seine Natur wollte sie – sie! Ganz und gar sie – wie sie da saß, in beherrschter Haltung, mit vollen Schultern, schlanken Armen und diesem fein geformten Kopf, den köstliche, blonde Haare locker umgaben. – Diesem ernsten Gesicht mit den klugen, großen Augen und den tiefen Mundwinkeln. – »Es kommt mir ganz phantastisch vor, wenn ich Sie so sehe – in diesem Rahmen – in diesem Kleid – wenn ich auch nichts davon verstehe – es scheint mir köstlich und das Geschmackvollste von der Welt – ich möchte mich an den Kopf fassen: Sind Sie es wirklich, die ich im klebrig-schwarzgelben Nebel von einem grölenden Trunkenbold bedrängt sah?« »Ja – bei der Arbeit gibt's eben mal andere Situationen.« »Es ist keine Arbeit für Sie!« sagte er mit Entschiedenheit. »Barmherzigkeit? Keine Frauenarbeit? Welche ist es mehr?« sprach sie und sah ihn mit großen Augen an. »Es gibt Dinge,« begann er erregt, »über die man sich kaum mit Worten verstehen kann. So wie die Empfindungen sich zu Gedanken bilden – nicht wahr: Denken und Worte – das ist dasselbe – alles Denken ist stummes Sprechen – ja, gleich sind schon die Schwierigkeiten da. Wie sollte Barmherzigkeit nicht Frauenarbeit sein?! Sie ist die allererste! Keine Legende ist rührender als die vom Rosenwunder, das der heiligen Elisabeth geschah.« »Nun also ...« »Und doch ... Sehen Sie, früher waren die Frauen auch barmherzig – jede, sofern sie ein echtes Weib war – wirkte in ihrem Kreis, mit offenen Händen und offenem Herzen – nur mit dem Herzen. – Und solche Frauen gibt es gewiß auch überall heute – die nichts anderes wollen als wohltun. Aber da sind die vielen, die ›arbeiten‹ – ja, sie nennen es Arbeit – was liegt oft in dem Wort, in diesem Zusammenhang! – Und ich sehe im Geist in ihren Händen vor allem die Tabellen und Statistiken. Und wo früher die Träne des Mitleids rann, hört man jetzt das Wort ›soziale Pflicht‹.« »Ist es nicht ein Fortschritt, daß Pflicht wurde, was früher Gnade war?« fragte sie. »Ja. Mein Gott – ich fürchte, Sie werden mir nichts, gar nichts entgegnen, wozu mein Verstand nicht ja sagen müßte,« fuhr er immer eindringlicher fort; »aber das Holde, das Ergreifende, das die Mildtätigkeit hatte – dem Ausübenden eine Gloriole verleihend – dem Empfangenden das Herz erweichend und den Gram lösend – hat sich dies Ergreifende nicht da und dort verflüchtigt? Hat die Barmherzigkeit nicht einen doktrinären, sozialpolitischen Zug bekommen? Wenn sie so von Vereins wegen nach Prinzipien, in umrissenen Grenzen ausgeübt wird?« »Es gibt keine menschliche Institution, der nicht auch Mängel anhaften.« »Und die Hauptsache – sehen Sie – die Hauptsache – man muß auch das Menschenmaterial gegeneinander abwägen – wie kann man ein schönes, hochbegabtes, junges Mädchen auf ein Gebiet hinaussenden, wo ihr Gefahren drohen? – Ich selbst hab' Sie in einer solchen gesehen – welcher Schaden wäre größer, wenn Ihnen Furchtbares zustieße? Furchtbares – nicht Auszusprechendes! Oder wenn ein doch entartetes Kind oder sonstiges Wesen aus der Unterschicht mal keine Kleider und Vermahnungen bekäme?« »Wenn mir bei Erfüllung meiner Pflichten etwas zustieße, wäre es wie mit dem Heldentod meines Vaters: er infizierte sich, als er eine Operation ausführte, und starb. Sollte er nicht Arzt werden, weil ihm Gefahren vom Beruf drohten?« »Ihr Vater?« fragte Allert verdutzt. »Ich bin das Adoptivkind von Amsters,« sagte Marieluis ruhig, »und ich bin meiner Mutter unendlich dankbar, daß sie mir, sehr früh schon, den Blick öffnete für die Notwendigkeit, an der Ausgleichung sozialer Ungerechtigkeiten mitzuarbeiten. Daß sie mir große Ziele zeigte. Daß sie mir vor einigen Jahren offenbarte, wie viel Unglück nicht aus Leichtsinn, sondern aus Unkenntnis entsteht. Das macht milde und gerecht. Wie zahllose junge Mädchen wurden durch die Roheit und Gewissenlosigkeit der Männer ins Elend gebracht, nur weil sie gar nicht wußten, welche Gefahren ihnen vom Manne drohen.« Allert wußte ja: mit Worten ließ sich hier nicht fechten. Ihre Worte waren unwiderleglich. Sein Verstand, seine soziale Einsicht gaben ihr wohl recht. Und doch ... »In uns Männern,« sagte er, »wenn wir Frauen in dieser Art wirken sehen – ja, da kommen zwiespältige Empfindungen auf. Die Frau zu behüten, sie vor der Berührung mit dem Häßlichen, vor dem zu genauen Wissen vom Schmutz möglichst zu bewahren, das ist nun mal unser tief angeborenes, ritterliches Bedürfnis.« »Sie sind sehr konservativ und vorurteilsvoll,« sprach sie und hatte einen bitteren Zug um den Mund. »Nein! Ich? Nein! Meine Tätigkeit, die ich frei wählte, beweist, daß ich es nicht bin. Mein Geschlecht hat nur Offiziere, Diplomaten und Grundbesitzer gesehen. Ich wurde Kaufmann, weil ich die Zeit und bald auch den Beruf ganz verstand – in seiner kulturellen Bedeutung. Noch sind die adeligen Kaufleute wie weiße Raben – das wissen Sie ja auch. – Ich lasse mir nicht sagen, daß ich vorurteilsvoll bin – von niemand.« – – Er sah sie fest an, mit einem herrischen Blick vielleicht. Und sie hielt diesen Blick aus. Ihre Augen wurden dunkel und groß, ihre Nasenflügel bebten – es war ein stummes Kämpfen. »Ich nenne es aber vorurteilsvoll, wenn man ein überkommenes Gefühl nicht durch Erkenntnis überwinden kann. Unsere Zeit legt eben auch der Frau die Pflicht zur Mitarbeit auf und lehrt sie zugleich, sich selbst zu schützen.« – Er dachte natürlich an den Kerl, der schon nahe daran gewesen war, sie zu umfassen, zu küssen. – Und es schien, als läse sie diese Gedanken von seinem lebendigen Gesicht – sie brach ab und errötete ein wenig. Und dann kam wieder Thea Daister dazwischengefahren und fragte Allert, ob sie Tulla Rositz von ihm grüßen solle. »Ich habe gar nicht die Ehre, diese junge Dame zu kennen.« »Ach Gott – nein – pardon – ich bin so zerstreut – das ist ja Ihr Bruder – der Oberleutnant« – sie lachte ein wenig, wobei sie sich auch drolligerweise bückte, als müsse sie sich zum Lachen kleiner machen, »ich will mal indiskret sein – Raspe von Hellbingsdorf, das war so Tullas zweites Wort. – Völlig hin ist sie – passen Sie mal auf – das kann was werden – und trotz der unordentlichen Finanzwirtschaft der Frau – sicheres Geld ist ja da – das kann 'n Offizier immer brauchen – Ihr Bruder soll sich nur dazuhalten ...« »Junge Mädchen schwärmen heute und vergessen morgen,« sagte Allert in einer verallgemeinernden, sehr kühlen Ablehnung. Und er dachte: Sie zeigen ihr Herz auf dem Markt herum – und locken die taktlosen Zuschauer heran, die durch indiskrete Bemerkungen die Seele des Mannes verletzen und ihn verscheuchen. Wenn sein zurückhaltender und stolzer, sein vorsichtiger Bruder dies gehört hätte! Es wäre genügend gewesen, ihn für immer von Tulla abzuwenden. Nachher wurde Allert noch von der Hausfrau mit einem kurzen Gespräch bedacht. Sie bewachte mit Feldherrnblick den Ablauf des Festes und ob die Gäste auch stets richtig gruppiert und unterhalten seien. »Wissen Sie schon, die Frau von Ihrem Teilhaber ist unserm Verein beigetreten. Ich bin ganz entzückt von der Distinktion dieser Frau. – Und welche Einsicht! Sie sagte mir, daß sie hauptsächlich durch die intensive Erziehungsarbeit an ihren heranwachsenden Töchtern darauf gekommen sei, sich vorzustellen, wie doch zahllose arme Mädchen schutzlos dem Elend und der Verführung preisgegeben würden. Sie will uns tüchtig helfen, und nicht bloß Kräfte, auch Geld will sie opfern. – Ja, solche Mitglieder kann ich brauchen – aber – Gott! – Da steht meine Kollegin Vierbrinck ganz allein – verzeihen Sie,« und im Fortgehen wandte sie noch rasch das Herrscherhaupt und ordnete an: »Suchen Sie sich nur schon meine Tochter, das Tanzen kann gleich beginnen.« Somit war er der Antwort überhoben, und das bedeutete immerhin eine Erleichterung. Was hätte er sagen sollen, wenn man ihn um nähere Auskünfte über die »intensiven Erziehungsarbeiten« angegangen wäre. Höchstens konnte er äußern, daß er noch keine Gelegenheit gehabt habe, Frau Julia auf diesem Gebiet beobachten zu können ... Nur auf andern! dachte er amüsiert. Und er stellte noch bei sich in bezug auf Julia fest: Es gibt da paradoxe Sachen – das ganz Plumpe und Gewöhnliche kann wieder wirken, wenn eine Frau es kühn und mit Geschick handhabt – deshalb spreche nie einer von verbrauchten Mitteln. Und eine Viertelstunde nachher walzte er mit Marieluis. In seiner bedrängenden Arbeit war ihm ein wenig das Jugendgefühl und der Sinn für Vergnügungen abhanden gekommen. Deshalb hatte es fast etwas Unwahrscheinliches für ihn, daß er hier, ein wundervolles junges Weib im Arm, im Takt umherglitt – dasselbe Weib, mit dem er sich in schweren Augenblicken und ernsten Gesprächen gemessen – das gab ihm ein Gefühl, als stehe man in einer Doppelexistenz. – Der kühne Gedanke kam, ihr zu sagen: Du gehörst mir. Du bist nicht geschaffen, mit dem Laster und Elend zu ringen; Du bist nicht geschaffen, hier in prunkvoller Geselligkeit mit zu statistieren; es ist Deine einzige Bestimmung, das kluge, liebende, geliebte Weib eines Mannes zu werden. Mein Weib – – Oder war es schon zu spät – war sie schon unfähig, ihre Gedanken, ihre Pflichten auf einen zu konzentrieren? War sie schon eine von denen, die im stillen Frauentum nicht mehr genug Aufgaben für ihre Kräfte finden? Wie schön sie war. Voll blühenden Lebens. Und wie ihre Gestalt und die seine zusammenpaßten – sich in der Umschlingung des Tanzes aneinanderfügten – als seien sie füreinander gewachsen. Wie hätte sein feuriges Empfinden nicht auf sie hinüberwirken sollen! Jeder Nerv wurde zur elektrischen Leitung – ein fast qualvolles Gefühl von Glück war in ihnen. Sie hob den Blick zu ihm, und eine Unendlichkeit von Liebe, Verlangen, Bitten kam wie ein Strom von Glut aus seinen Augen. – Fünf Minuten gehörten sie einander mit ihren Wünschen, Hoffnungen – mit jedem Schlage ihrer Herzen. – Dann zerriß dieser Zauber – hart brach die Musik ab – andere Menschen waren um sie her – nahmen sie einander fort – all diese dummen Gesetze, von denen die augenblickliche Szene beherrscht ward, behaupteten sich. – Allert haspelte den Rest des Abends auch ganz ordentlich seine Rolle als Figur ab – er vermied es, sich noch einmal der einen zu nähern, vermied auch ihr Auge, fühlte nur von fern, wie man im Gesichtsfelde des Augenwinkels die Dinge wahrnimmt, ohne hinzusehen, daß sie da war. – Es wäre ihm eine Profanierung gewesen, eine Wiederholung jener Minuten voll leidenschaftlicher und zugleich tief geheimnisvoller Zusammengehörigkeit zu suchen. Alle Frauen und Mädchen fand er höchst uninteressant. Nur mit Dory Vierbrinck beschäftigte er sich ziemlich viel. Das war ja ihre Freundin. Was man so nennt – wenn man zusammen aufwuchs und auf den gleichen Bällen tanzte. Aber nein – diese beiden gingen ja auch sonst auf gleichen Wegen – da, wo er sie getroffen hatte ... Das kaum mittelgroße Persönchen hatte etwas sehr Anziehendes. Die Grübchen gaben dem Gesicht Heiterkeit und Anmut; dazu tat der Kneifer eine entschieden naseweise Note. Und Temperament besaß Dory! Es sprudelte aus ihren Worten und Mienen. Und er hatte, als er in einer längeren Tanzpause neben ihr saß, ein Gespräch mit ihr, davon manches Wort sich schmerzlich fest in sein Gedächtnis einbrannte. »Bitte, was haben Sie sich bei Tisch mit Marieluis erzählt? Ich saß schrägüber und dachte: Die sagen einander lauter Bissigkeiten.« – »Wir waren verschiedener Meinung über die Ausübung der Vereinstätigkeit, der Fräulein Amster sich mit Eifer hingibt.« »Mit Eifer?« sagte Dory, der das Wort viel zu klein war, »mit Leidenschaft! Sind Sie wohl auch wie mein Bruder John?« »Ich habe nicht die Ehre, zu wissen, wie Ihr Herr Bruder ist.« »Sonst entzückend. Nur von unserer sozialen Tätigkeit will er nichts wissen. Er prophezeit immer, uns passiert noch mal was. Ich graule mich ja auch manchmal, und es riecht immer schlecht bei solchen Leuten. Aber Marieluis würde mich verachten, wenn ich nicht einsähe, daß man sich an der moralischen Hebung der Gefährdeten und Gefallenen beteiligen muß. Wissen Sie – Marieluis ist mein Schwarm – sie imponiert mir kolossal, trotzdem sie uns immer wegen Fleiß und Benehmen als Muster vorgehalten wurde – gegen solche kriegt man manchmal Ekel und Wut. Nicht? Aber Marieluis ist wirklich fabelhaft. Ach Gott, und die Figur!« Sie schloß die nachdrückliche Erklärung, die durch viele, stark betonte Worte wirkte, mit einem ergebenen Seufzer, der ungefähr verriet: Man darf nicht neidisch sein, das ist klein. »Ich wäre also geneigt, die Furcht Ihres Bruders zu teilen,« sagte Allert und fragte hinterlistig: »Ist Ihnen denn noch nie etwas passiert?« Sie sah ihn durch ihre glatten, uneingefaßten Kneifergläser prüfend an. Sie mochte ihn sehr gern leiden; als er zum zweitenmal mit ihr tanzte, fiel es ihr schon freudig auf – und nun war sie bereits auf dem Wege, sich in ihn zu verlieben. Sie fand ihn auch so vertrauenswürdig und rückte ihm nun ein bißchen näher, wobei sie vergaß, ihre Eiscreme weiterzulöffeln. »Doch!« erzählte sie flüsternd, »doch! Schon zweimal. Wenigstens beinahe.... Aber Marieluis sagte, wir müßten nicht wie kleine alberne Mädchen alles unsern Müttern vorklagen, sondern lernen, mit allem selbst fertig zu werden, wenn es auch fatal sei. Einmal – ja, das war vorigen Winter – da sollten wir eine schlimme Frau, das heißt einen Mann hatte sie aber nicht – die sollten wir bewegen, daß sie ihre zwei Kinder in die Nachmittagsschule gäbe. Oh, die war gemein! Was die uns alles sagte! Nein, das kann ich Ihnen wirklich nicht wiedererzählen. Und gerade als Marieluis ihr zurief, sie solle sich schämen, da kam noch ein Kerl aus der Küche und – ja, ich behaupte steif und fest, er wollt' uns prügeln – er hatte Marieluis schon am Rock erfaßt. Und wie gemein die Weibsperson dazu lachte. Aber Sie glauben es nicht, großartig war Marieluis, entriß ihm ihr Kleid – beinahe ruhevoll – und sah ihn an. Nein, was für ein Blick! Und der Kerl war einen Moment baff. Da sagt ich: ›Komm!‹ und zog sie mit aus der Tür. Ja, es war schrecklich. Aber natürlich, riesig interessant war es auch.« Und ein Ausdruck ganz naiver, unbewußter Lüsternheit war auf ihrem pikanten Gesicht. »Und das andere Mal?« fragte Allert scharf. »Sie dürfen aber niemand von diesen Sachen was wiedersagen. Versprechen Sie es?« »Mein Wort!« sagte er einfach und fest. »Das andere passierte vor ein paar Wochen. Da wollten zwei Betrunkene auf uns los – und der eine packte mich – oh, er war schon mit seinem Mund an meinem Hals – gräßlich roch er nach Schnaps – ich schrie wie wahnsinnig und gab ihm einen Schubs – daß er, glaub' ich, hinfiel – ich lief und lief – o ja ...« »Und Ihre Freundin?« fragte er seltsam kurz und trocken. »Wie es ihr ergangen ist, weiß ich eigentlich nicht. Gott, ja, es war treulos von mir, so auszureißen. Marieluis sagt, sie habe auch heil die Elektrische erwischt – aber irgend etwas muß sie da doch noch erlebt haben – sie war so anders nachher. – Aber sie sagt ja, das sind eben die Gefahren auf dem Felde der Berufsehre. Und meine Mutter meint, die Barmherzigen stehen in Gottes Hut.« Sein geduldiges Zuhören, das doch durchaus nur Anteilnahme für sie sein konnte, wurde ihr immer wichtiger. Sie stellte bei sich fest: Mit keiner Dame hat er sich so viel beschäftigt wie mit mir! Sie setzte sofort auch bei ihm ein rasch aufwachsendes Interesse voraus, und mit der Fixigkeit, die manche junge Mädchen in der Entwicklung von Liebe und Hoffnun haben, war sie schon nicht mehr ganz unbefangen. »Wissen Sie, Herr von Hellbingsdorf,« fuhr sie fort, »das seh' ich ja ein: man muß was tun. Bloß so Bälle und Sport – nein, das ist nicht mehr zeitgemäß. Ein nützlicher, vernünftiger Lebensinhalt muß sein. Und gerade wir, die nicht für Broterwerb zu arbeiten brauchen, müssen auf sozialem Gebiet Pflichten suchen. Tante Amster hat es uns großartig klargemacht. Aber wenn ich mal heirate, tret' ich aus 'm Verein. Das steht bombenfest. Dann krieg ich ja andere Pflichten. Und wer weiß, vielleicht denkt mein Herr und Gebieter in spe so wie mein Bruder John und ist überhaupt dagegen. Wir sind darin total verschiedener Ansicht, Marieluis und ich. Und sie sagt, sie nimmt nur einen Mann, der in diesen Fragen eines Sinnes mit ihr ist. Sonst will sie ja gar nicht heiraten und sich der Hebung der Sittlichkeit und der Rettung vaterloser Kinder widmen. Wer hat recht: Marieluis oder ich?« Dabei lächelte sie ihn an, die reizenden Grübchen erschienen, und hinter den Gläsern strahlten die Augen. Er umging die Antwort. Die Art, wie sie von künftiger Heirat sprach, gab ihm glücklicherweise die Gelegenheit zu einer ablenkenden Frage: »Sie sind verlobt, gnädiges Fräulein?« Da wurde Dory Vierbrinck ganz rot und lachte etwas fieberisch. »Ach Gott, nein – keine Spur – wieso kommen Sie darauf? – Ich will keinen von all diesen jungen Leuten, mit denen man irgendwie vervettert oder verschwägert ist – die kenn' ich ja auswendig.« – – Sie brach ab. Sie fühlte plötzlich: das könne er vielleicht wie einen Wink auffassen. Nein, das wollte sie denn doch nicht. Das vertragen die Männer auch nicht – das wäre eine zu verkehrte Taktik. Aber »entzückend« war er – das stand fest – und man sah sich ja wieder – Papa mußte ihn auffordern, Besuch zu machen. Ach, wie schön würde das Leben, wenn da ein Mensch war, an den man mit Spannung denken konnte. Es war ja auch schon gerade zum Verzweifeln gewesen: den vierten Winter immer dasselbe. Nun hörte man Musik. »Hier, Lurch,« sagte Dory und reichte dem gerade mit einem Tablett Vorübergehenden ihr ungeleertes Cremeschälchen hin. Dieser Mann im braunen Frack – Allert sah wieder, wie er sich in der Jolle herumbückte nach den Paketen. Alle Bilder mußten ausgelöscht werden in der Erinnerung – auch der heutige Abend. Das war besser ... Sie wollte ja keinen Mann, als einen, der sie ihren Weg weitergehen ließ, dem es zusagte, daß sie mit dem Schmutze rang, dem es gefiel, daß ihre Ohren und Augen mit Unkeuschheiten vertraut waren. Und ihm – ihm war das eine Qual – eine Beleidigung ihrer feinen, hohen Weiblichkeit. Vorbei – unmöglich. – – Dory stand auf. »Ja,« sagte sie zögernd, »nun kommt die Quadrille, die hab' ich mit Oberleutnant Säger – die drei andern Paare sind auch schon fest.« – Ihr Bedauern war doch offenbar. Und Allert sagte höflich: »Schade.« Sie seufzte, besann sich eine Sekunde und sagte: »Das war 'n ernstes Ballgespräch.« »Ja, ein sehr ernstes,« antwortete er. Ernster als Du denkst, Du kleines, ehrliches warmblütiges Ding, dachte er. Und er mußte alle Selbstbeherrschung zusammennehmen, um auf sein Gesicht den Ausdruck von freundlicher Angeregtheit zu zwingen, der hier von ihm erwartet wurde. Eine Einladung ist schließlich auch wie ein Geschäft, ist ein Tauschhandel; der Einladende fühlt: Du nahmst meine Einladung an, dafür mußt Du nun mir auch fortwährend zeigen, daß Du Dich amüsierst. – Gerade kam die entschlossene Herrin des Hauses an ihm vorbei. Bemerkte sie einen unfreien, erzwungenen Ausdruck? Sie blieb eine halbe Minute stehen. »Nun, Herr von Hellbingsdorf, wie sind Sie denn mit uns Hamburgern zufrieden? Unterhalten Sie sich?« »Glänzend, gnädige Frau.« Hoch in siegreicher Gewalt stieg die Flamme empor, Rauchschwaden auftreibend, die sich zu rötlich bestrahltem Gewölk sammelten und den nächtlichen Himmel verhängten. Mit einer erhabenen Ruhe und Unbezwinglichkeit loderte sie aus dem düsteren Chaos. Dem ersten lärmvollen Treiben um die Stätte war längst das feierliche Grauen gefolgt, in dem die Zuschauermassen nah und ferner gebannt standen. Um die Wagenburgen der Dampfspritzen und Löschgeräte hantierten rasche, dunkle Gestalten mit blitzenden Messinghelmen. Dicke kristallene Strahlen nahmen in hohem Bogen ihren sausenden Weg auf die überhellen Dächer und Wände der verschiedenen Gebäude, die, alle von geringer oder kaum mittlerer Höhe, sich um zwei Schornsteine zu gruppieren schienen. Der eine stand als hohe, glühend beleuchtete Säule. Die kürzere vierkantige Esse, die, von einer gedrungenen Basis aufsteigend, sich nach oben verjüngte, stieß auch aus ihrem eigenen Mundloch Rauch aus. Zuweilen gab es mitten in dem höllischen Durcheinander von schwelendem Gebälk, glimmenden Wänden, dunklen Rauchwolken, züngelnden Flämmchen, zusammensinkenden Brettern einen Knall. Dann flog, einem Ballon gleich, ein unbestimmbarer Körper durch die hohe Flamme hinauf – in ihrem Kern einen Herzschlag lang sichtbar – wie ein kühner Vogel, den es zu höherem Fluge treibt – und was in der Flamme eine dunkle Form gewesen, ward droben über ihr eine glühende Kugel, und die sauste weiter in die Nacht hinein – als ein Geschoß der Gefahr – das Feuer wahllos hinzutragen, wohin der Wind wollte. – Oder ein Zischen entstand, und wunderbares, farbiges Gewölk, Stichflammen von Märchenpracht fuhren aus dem Chaos empor und wurden wieder vom Feuer verschlungen – gingen in seiner brünstigen Glut auf. Funken stiegen zur Höhe, leicht und spielend, gleich klingenden Tönen, helle Punkte über dem bedrohlichen Gewoge des Brennens. Daran vorüber zog sich die Straße, die fast schon ein Schlammstrom war. Zu schwarzen Silhouetten wurden vor der unruhig flackernden Stätte die Männer, die mit harter und sicherer Kraft ihre Arbeit taten. Aber hinten – an der Grenze des Grundstücks – da war dieses Schauspiel noch phantastischer. Planken hatte man niedergeschlagen, um über einen ausgedehnten Lagerplatz weg vom Kanalufer den ungehemmten Weg zum Feuer zu gewinnen. Dort lag der offene, wuchtige, kleine Dampfer mit der Hafenspritze. Er war in sonst verbotener, rasender Fahrt herangesaust, unter Brücken seinen Schornstein flachlegend, an Kaimauern die Wellen erregt aufschülpend, durch die bloße Eile seines unaufhaltsamen Vorwärtsdringens allen Schiffern, die an der nächtlichen Flut unter stillträumendem Backbordlicht Wacht hielten, verkündend: »Gefahr!« – Und nun kamen die kalten, gläsernen Wasserlinien vom Schiffe her durch die Nachtluft und begossen die Dächer der Nachbarschaft und vermählten sich mit dem Rauch, durch den sie ihren Weg nehmen mußten, von dem sie oft verschluckt zu werden schienen. Der Kanal war zum Stromband der Hölle geworden und seine Flut rotglühender Eisenfluß, von schwarzen Schatten grausig überworfen, in wilden, großen Willkürlichkeiten, die allem Bestehenden die Gewißheit nahmen. Und in diesem Formen auflösenden Durcheinander von roter Glut und düsteren Finsternissen verwischte noch der Rauch alle Grenzen. Huschendes Leben war überall auf dem Wasser, wachsam sprangen an den Borden der Leichter und Oberländer Kähne die Menschen hin und her, den fallenden Funken wie bösem Getier nachjagend. Die Pinasse der Hafenpolizei, heulende Sirenenschreie ausstoßend, kam rauschend gefahren. – – Sandsäcke wurden in rasender Eile ausgeladen, und den hastigen Männern nahm der immer neu daherfahrende Rauch fast den Atem. Und immer, vom Wasser und von der Straße, immer zogen die hohen kristallenen Strahlenbogen ihre reinen Linien auf das Geloder zu – gleichsam eine Verbindung herstellend zwischen den sich mühenden Menschen und der grausigen Einsamkeit der hinaufsteigenden Flamme. Allert stand, bleich, durchnäßt, beschmutzt, und sah dem furchtbaren Schauspiel zu – was zu retten gewesen war an Büchern, Papieren – das lag schon in seiner nahen Wohnung – anderes war im feuersicheren Geldschrank. Immer noch schien es Allert, als träume er, so roh hatte ihn das tolle Bumsen an die Tür seines Hauses, dann seiner Wohnung geweckt. Und der Schrei: »Feuer!« Feuer – ja Feuer – wie war es entstanden? Man wußte es nicht. Vielleicht Selbstentzündung. Und wenn ein Element sich sättigen konnte an dem Material der Fabrik, so war es das Feuer – da waren die Lacke und die Aether – all diese Säuren und Oele – all diese Hölzer und Harze. Auch Dorne kam – natürlich mit großer Verspätung – bis man durch das Telefon ihn in seiner entlegenen Wohnung aufgeschreckt hatte – bis er, in der Winternacht um vier Uhr, ein Auto fand – da war ja aber auch die Frau – Allert bemerkte ihre Nähe erst kaum. Bei kurzem Hin- und Herreden mit Dorne hatte er wohl gefühlt: So nah geht es dem nicht! Nein, nicht sehr nah! Man war völlig versichert, Dorne ließ gleich ein tröstendes Wort fallen, daß der Zwang eines Neubaues viele Vorteile habe, manche bisher ungünstige Anlage konnte nun zweckmäßiger eingerichtet werden. Er sah für seine Experimente, seine Arbeit bessere Bedingungen voraus. Er war ja auch erst seit ein paar Wochen mit diesem allen verbunden. Aber für Allert sanken hier viele Erinnerungen in den Staub. Drei harte Anfängerjahre – viele Stunden voll schwerer Sorgen – zahlreiche, nicht umzubringende Hoffnungen – alles, was einen Menschen an die Stätte bindet. Dach ist nicht Dach – Tisch nicht Tisch – Wand nicht Wand. – Der Verstand weiß es wohl: es gibt stolzere Dächer, kostbarere und bequemere Dinge als diese, die nun von der Glut verzehrt werden. Aber was sie adelte, was den eigenen, gewohnten Besitz doch zum köstlichsten macht, das war, daß er ein Stück Leben sah, Zeuge gewesen und so, durch stummes Mitspielen im Dasein, ein beseeltes Teil von ihm war. Es zerriß Allert fast das Herz, daß sein Kontorstuhl, sein Schreibtisch mitverbrannten. – Und dann – als Kaufmann fühlte er ja auch den Schaden als Schlag, gegen den man sich nicht versichern kann. – Die Unterbrechung der Fabrikation und der Lieferungen – wie leicht konnten da mühsam angeknüpfte Verbindungen für immer zerreißen – die Konkurrenz überholt eilig und lachend den, der wider Willen aufgehalten wird. Erster zu werden ist das Ziel – auch ein Rennen. – Er biß sich auf die Lippen. Da fühlte er eine sanfte Hand die seine ergreifen und liebevoll pressen. Er sah zusammenschreckend neben sich. Da stand Julia – im grauen Pelz, auf dem Kopf die graue Pelzmütze, unter der das schwarze Haar hervorbauschte – er sah, seltsam das Geringste und Nebensächlichste genau erfassend, daß an dieser grauen Pelzmütze ein Veilchenstrauß befestigt war – und wie ein Blitz huschte eine Vorstellung durch ihn hin – ein dicker, dunkler Veilchenstrauß auf blaßblauer Seide, an weißen Schultern. Und dies jetzt – hier! – Aber es war schon vorbei. Er sah die Flamme wieder steigen und die Rauchwolken aufquellen und hörte das emsige Raunen pruzelnder, sausender, brodelnder Geräusche. Und mitten in seine bitterlich schmerzenden Gedanken hinein, so, als hätte er sie ihr genau erzählt, sagte Julia: »Ja, Ihr seid genau versichert. Mein Mann sagte es mir unterwegs. Aber was hier alles gerade für Sie mitverbrennt, das kann Ihnen keine Versicherung ersetzen. – Alle Erinnerungen an Ihre ersten Arbeitsjahre. An Ihre erste Selbständigkeit – Gott, muß das ein wichtiges und verantwortliches Gefühl gewesen sein. – Sie war doch für Sie ein Stück Lebensgeschichte geworden, die Fabrik. Mein Mann, dessen Fassung ich bewundere, wird Ihnen gewiß eine große Stütze sein – aber dies versteht er nicht. Ich versteh' es – ja, ich ...« Windelweich war ihm zumute. Die Worte sprachen zu ihm. Sie hat doch ein warmes Herz. – Da ist doch mehr in ihr, fühlte er. Er drückte in heißer Dankbarkeit die Hand wieder, und es genierte ihn nicht, daß die schwarzen Augen in den seinen den feuchten Schimmer sahen. Und gleich danach geschah es, daß der eine der leitenden Feuerwehrmänner sie bat – »weit, weit zurückgehen« – und daß Julia sich voll Angst an seinen Arm klammerte. Er legte die Rechte um ihren Pelz und führte sie weiter fort. Und da kamen sie schon in die Front der Zuschauer, die die Straße füllten. Und all diese Gesichter, dies Gehäuf von Menschen zwischen den Mauern der nächtigen Straße, über die bald greller Schein hinflog und bald ein schwarzer Rauchschleier, das hatte etwas Furchtbares – wie Lemuren, die am Eingang einer Unterwelt lauernd sich zusammenhäufen. – – Und die zarte Frau schien von allem Mut verlassen, in dem sie sich hergewagt – sie lehnte an Allert, und er mußte sie halten. Wo war der Mann? Allert sah ihn nicht. Der Befehl des Feuerwehrmannes hatte sie, planlos, blind gehorchend, nur so fortgejagt. Nun dehnte sich vor ihnen der abgesperrte Straßenteil. Ja, wer mochte wissen, wo Dorne war. – Und hilflos stand man hier und sah den Tempel der Arbeit zusammenstürzen, und mit den aufquellenden Rauchwolken schienen die Geister der Stätte zu entfliehen. Er dachte: Ich sollte fortgehen – die Frau wegführen. Was tun wir hier. Man war nur ein tatenloser Zuschauer wie all diese Tausende, die sich im Schlunde aller Gassen hüben und drüben preßten. Er hatte nicht einmal das Recht, sich zu betätigen – da arbeitete die Wehr – die nur ihre geschulten Kräfte an ihre Maschinen heranließ – da war die Polizei, die sogar den Besitzer fortwies. Hier waren keine Menschenleben in Gefahr, die man mit heldischem Mut hätte retten wollen und können. Hier galt es die höchste Umsicht und die rasendste Arbeit, das Feuer nicht weiterspielen und -tanzen zu lassen – zu verhüten, daß ein großes Fabrikviertel, daß zahllose Schiffe ein einziges großes Feuerwerk wurden, daß sich Lagerstätten voll von Millionenwerten in prasselnde Scheiterhaufen, Raketen und Glühbomben auflösten. Ja – fort – die Qual des Zusehens war zerrüttend. Julia flüsterte: »Ich möchte fort – bringen Sie mich nach Haus.« – – Er verstand nicht. Trotzdem man das Gefühl hatte, inmitten einer grandiosen, andachtsvollen Stille zu sein, durch die nur Kommandorufe hallten, war in der Tat die Luft voll von Geräuschen, die durcheinander sausten und zischten. Sie mußte es noch einmal sagen. »Ja,« sagte er, »gewiß.« – Und nun fühlte er: es hielt ihn hier mit bezwingender Gewalt fest – es war ein Opfer, die Frau zu geleiten. – Ganz rasch machte er sich aber klar: In einer Viertelstunde kann ich wieder hier sein. Er versuchte, Julia durch das Gedränge zu bringen. Jeder wollte gern vor ihm zurückweichen, denn viele kannten ihn als den Besitzer der brennenden Farbwerke, und andere errieten, daß er es sei. Das teilnahmvolle Platzmachen war aber schwer, denn jeder Gefällige, indem er sich bewegte, drückte schon mit seinem Rücken gegen die Brust eines Hintermannes. Endlich kamen sie aber doch durch diese lang sich hinstreckende, zusammengekeilte Menge. Und da war auch ein Auto. Sie stiegen ein. Julia fiel, wie in halber Ohnmacht, mit ihrem Kopfe gegen seine Schulter. Mit ihren beiden Händen umklammerte sie seinen Arm, ging, wie suchend, mit ihren Fingern abwärts, bis sie seine Rechte fand, und umpreßte sie mit heftigem Druck. Und rasch schien sie sich zu erholen. Sie sprach – in abgebrochenen Worten – aber jedes kam aus seinem eigenen Gemütszustand – sagte ihm, wie ihm zumute war; sein tiefstes Innere, so wie es in die ser Stunde war, schien auf ihren Lippen sich in die rechten, erlösenden Reden zu kleiden. Das tat ihm wundervoll wohl. Er war ja nicht schwach und nicht zerbrochen. Aber er war weich, erregt, nervös. Und dieser Weichheit war es Trost, so mit verstehenden, zarten Worten gestreichelt zu werden ... Das schien nicht die Frau mit dem deutlich versucherischen Wesen. Das war das Mitleid, das war das Verständnis in Person – vor allem dies letztere. – So klein und einsam vor dem gewaltigen Ereignis hatte er gestanden – so ganz in menschliche Nichtigkeit aufgelöst. – Und man ist nicht mehr in der zermalmenden Einsamkeit vor der Naturmacht, man ist nicht mehr eine Nichtigkeit voll Ohnmacht, wenn eine verstehende Seele sich zu einem neigt: »Ich leide mit Dir, weil ich weiß, daß Du leidest.« – – Und immer traulicher schmiegte sie sich in seinen Arm. Da hielt das Auto – droben im Haus glänzten erhellte Fenster in die Nacht hinaus. – – »Dank,« sagte er mit unsicherer Stimme, »Dank für all Ihr Mitgefühl.« – – Und da neigte sie sich zu ihm – so nah – daß ihre schwarzen, flehenden Augen dicht vor seinem Gesicht waren. War sie es, die zum Kuß seine Lippen berührte – war er es, der die ihren suchte? – Ein kurzer Augenblick ... Dann Stimmen – der Chauffeur, der die Tür aufriß – helle Rufe von droben aus den Fenstern – Geräusche drinnen an der Haustür. – Julia stieg die drei, vier granitenen Stufen zu ihr empor. – Und er, der im Auto saß, das sofort wendete – er sah nicht das Siegerlächeln auf ihrem Gesicht. – Allert jagte zurück. Dieser kurze Augenblick war rasch abgetan – mit einer Handvoll vernünftiger Worte, die er sich sagte: die arme Frau war außer sich – gleich ihm jäh mit dem Donnerwort aus dem Schlaf gejagt – er wußte ja, wie einen das umwarf – und dann die Furchtbarkeit des Brandes – das war ein Schauspiel, das die Nerven fieberischer erbeben macht als jedes andere. – Ein zartes Weib hat das Verlangen, sich zu halten – es ist das natürliche Begehren nach Schutz, das sie sich an den Mann schmiegen heißt, der zufällig neben ihr ist. – Und gerade alles, was an Ritterlichkeit in ihm war, erklärte und entschuldigte ihre Hingegebenheit – und er entschuldigte auch sich selbst. – Es gibt Stimmungen und Augenblicke, die einen über die Grenzen führen. – Aber er war sich bewußt, jenseits der Grenzen nichts Unerlaubtes empfunden zu haben. Eine Aufwallung der reinsten Menschlichkeit – zwischen zweien, die in diesem Augenblick nicht Mann und Weib waren. – Und am andern Vormittag weinte seine Mutter an seiner Brust. Und er mußte und konnte ihr auch tröstend sagen: »Wär' ich ein Mann, wenn mich so ein Rückschlag umwürfe? Ein Zwischenspiel, das aufhält – jawohl. – Mehr aber nicht.« Das war im Amsterschen Hause. Dort suchte Allert seine Mutter; vorher zu ihr in die Pension zu kommen, war ihm unmöglich gewesen; bis zum Mittag konnte er nicht warten, er durfte es nicht darauf ankommen lassen, daß ein Zufall oder eine Zeitung ihr die erste Nachricht gäbe. Lurch, der ihn ja nun als den Sohn der hier täglich anwesenden und von seiner Herrschaft sehr geehrten und geliebten Malerin kannte, ließ ihn sogleich in das erste der großen Zimmer, wo er vor vier Wochen Marieluis als Tochter dieses Hauses erkannt hatte. Droben im improvisierten Atelier malte seine Mutter jetzt die beiden Haimbrugkschen Knaben, und in Gegenwart dieser Kinder, in Gegenwart von vielleicht deren Erzieherin und Atelierbesuchern mochte Allert seine ernste Neuigkeit nicht mitteilen. Er ließ seine Mutter herunterbitten. Als er das Zimmer betrat, erschrak er. Vor acht Tagen, als er zum Sonntagsessen hier mit seiner Mutter zuletzt gewesen war, stand das Bild noch nicht hier. – Er hatte es noch nie gesehen – nun war es hier aufgestellt, ehe es, dem Wunsche der Senatorin gemäß, zur Empfehlung der Malerin bei Commeter ausgestellt wurde. – Daß es ein wirklich bedeutendes Kunstwerk sei, erkannte und bedachte er in diesen Minuten nicht. Das war sie ganz! Dies schöne, gereifte Wesen, ernst und klug und kühl und beherrscht – mit dem reizvollen Mund, in dessen Winkeln mehr Heiterkeit und Temperament sich versteckten, als man in Sprache, Blick und Geste je erriet. Das blaßbläuliche Gewand trug sie auf dem Bild, und die dunklen Veilchensträuße in kraftvoll lila Tönen wirkten höchst malerisch. – Und wie das duftige Haar ihn entzückte – man hätte mit den Händen hineinfahren mögen. – Ach, und diese Schultern und Arme. – Vollkommen! dachte er. Und dachte es zornig – erbittert. Dann kam die Mutter. Und nach dem ersten großen Schreck, den ersten Tränen und seinen gefaßten Worten rief sie nach Lurch. Ja, man mußte doch die Senatorin wissen lassen ... Sie war gerade im Atelier gewesen. – Vielleicht hatte sie es sogar schon gewußt und beherrscht geschwiegen. – Jetzt meinte Sophie es durchaus: »Ja, unbefangen war sie nicht.« – Und als Lurch meldete: »Herr von Hellbingsdorf wünschen seine Frau Mutter dringlich zu sprechen,« da hatte sie gesagt: »Gehen Sie nur rasch.« – Es sah wohl der Senatorin ähnlich, ihr Wissen zu verbergen, um dem Sohn nichts vorwegzunehmen. – Das nackte Wissen ohne Kenntnis der näheren Umstände ist oft noch viel grausamer als die genaue Wahrheit. – Und es zeigte sich, daß die kluge Frau wirklich durch eine Telefonnachricht ihres Gatten vom Brande der Hellbingsdorfschen Farbwerke unterrichtet worden war – schon um halb zehn. – Aber sie war der Ansicht: »Nicht mir kommt es zu, die kahle Tatsache einem erregbaren Mutterherzen mitzuteilen.« Jetzt aber, da sie mit ihrer Tochter erschien, nahm sie die ihr gemäße Haltung an. Sie beherrschte mit Fragen, Mitteilungen, Ansichten das Gespräch. Es war Sophie lieb. Sie fühlte sich vom Schreck geschlagen, litt um ihren armen, lieben Jungen und bewunderte ihn auch zugleich. – Und dies Bewundernkönnen tat ihr wohl wie der beste Trost. Frau Amster erzählte zunächst, was ihr der Senator kurz telefoniert habe, und begründete ihr Verschweigen der Unheilsnachricht als logisch und gerecht. Auf diesen beiden Leitworten ihres Lebens ruhte sie ein wenig aus, voll Gefallen an sich und ihrer Freiheit von dem gewöhnlichen, weibischen Mitteilungsdrang. Dann aber wollte sie alles wissen. Und Allert erzählte. Und der Schluß seiner Erzählung lautete: »Es war so tötend – so unnütz – dazustehen – zu warten, bis endlich diese schreckliche, hochsteigende Flamme in sich zusammenfiel – nochmals stieg und sank, bis das Ganze nur ein wüster Haufen schien, aus dem zuweilen Flammen zuckten. – Und bis endlich alles schwarz war – diese trostlose nasse Schwärze, ja – die hatte was wie vom Grab. – Der Himmel wurde grau – die Menschen verloren sich – andere kamen – die Stockung in den Straßen hörte auf. – Ich hatte eigentlich gar keinen Gedanken mehr, als ganz blöde und dumm: jetzt ist der Himmel schon grau. – Und mich fror – Dorne war schon längst nach Hause gefahren. Ich hätte auch gehen sollen. Aber das war wie 'ne fixe Idee – ich mußte durchaus aufpassen, wie der Himmel langsam hell wurde. Endlich sagte der Brandmeister was zu mir – daß man erst nach einigen Stunden würde nachsehen können, ob der Geldschrank standgehalten habe – Geld ist ja natürlich nicht viel drin. – Das gibt's heutzutage nicht mehr – aber die Bücher. – Da kam ich denn ein wenig zu mir selbst und fühlte mich zerschlagen. – Du fielst mir ein, Mutter, und die zahllosen Tassen Tee, mit denen Du Dich lebendig machst, wenn Dich was umgeworfen hat. – Na – ich ging in meine Wohnung, und nach dem vielen starken Tee ward mir famos zumute – ganz kühn sozusagen. – Nun erst recht! fühlt ich so ungefähr. Man sollte Ereignisse niemals vor dem Frühstück beurteilen. Und ich beschäftige mich mit der Frage: Sollte Mut keine Charaktersache sein? Sollte er latent in Tee- und Kaffeekannen stecken? Wie Teein und Koffein? Das muß Dorne mal untersuchen!« Die Senatorin lächelte wohlgefällig. Sie selbst war eine gänzlich humorlose Natur. Gerade deshalb war ihr Allerts scherzhafter Ton unterhaltend, und sie spürte auch, daß er ihn zuweilen wie eine Art von Waffe und Wehr brauchte, um seine eigentlichen Empfindungen dahinter zu verbergen, und vor allen Dingen, um seiner Mutter zu suggerieren, er nähme das Leben leicht. »Und Frau Doktor Dorne? Haben Sie etwas von ihr gesehen? Hat sie sich aufgeregt?« »Sie war in der Nacht mit zur Stelle. Nachher mußte ich sie rasch nach Hause bringen. Der Gatte hatte sich im Gewühl verloren. Die Gattin war ziemlich aus der Fassung, doch voll Verständnis.« Du hast keins! Offenbar gar keins! dachte er grollend zu Marieluis hinüber, die schweigend saß, das Fenster voll Vormittagssonne im Rücken, so daß ihr Gesicht gänzlich im Schatten und um ihr blondes Haar eine goldschimmernde Kontur war. Sie hatte ihm nur die Hand gereicht – höchst flüchtig. Solche schreckhaften Ereignisse hatten wohl nicht auf Teilnahme von ihr zu rechnen – dabei gab es ja keine sittlich Verwahrlosten zu retten. – Dabei konnte ja keine hebende und ausgleichende Tätigkeit entfaltet werden. – Und ein warmes, gutes Wort an einen zu richten, der immerhin Schweres erlebte – der noch lange, lange an dem Schlag zu tragen haben werde – dazu stand man diesem einen wohl zu feindlich gegenüber. Während er diese zornigen Gedanken an Marieluis richtete, bemerkte die Senatorin lobend: »Das gefällt mir an Frau Dorne. In solchen Stunden gehört die Frau zum Mann! Man hat doch wiederholt immer die besten Eindrücke von ihr.« Es gefiel auch Allerts Mutter. Sie war immer so froh, wenn sie etwas Lobendes über Julia sagen und damit ihr Gefühl und ihre Vorurteile widerlegen konnte. »Und was fangt Ihr nun an?« fragte sie sorgenvoll. »Wenn man nicht selber das Objekt wäre – fast Spaß hätt's einem machen können – auch das Pech bringt Konjunkturen für Geschäftsleute. – Man kann den Satz aufstellen: Es gibt keinen Schaden! Alles, was sich ereignet, ist irgend jemandes Nutzen – alles ist Umsatz: Tod und Feuersnot und Wasser, Krieg und Pestilenz – bloß Umsatz.« »Und ich finde,« sprach die Senatorin angeregt, »daß gerade das dem wirtschaftlichen Leben der Neuzeit einen so intelligenten, ausgleichenden, rastlosen und sicheren Charakter gibt. Dies beinahe unwahrscheinliche Ineinanderverflochtensein aller Interessen bewahrt uns vor allzu großen Erschütterungen.« Sie fing an, von der großen Geldkrisis zu sprechen, die 1857 in Hamburg alle Geschäfte lahmgelegt, und wie, nach den Erzählungen ihres Vaters, die Leute in Freudentränen ausbrachen, als die bekränzten Lokomotiven auf dem Berliner Bahnhof, damals dem ersten und einzigen noch, einfuhren; diese kleinen Lokomotiven mit den großen Schornsteinen, die uns heute, wenn man Bilder von ihnen sieht, beinahe anmuten wie Modekupfer aus vergangenen Tagen. Sie brachten Silbergeld aus Oesterreich, diese Lokomotiven, und das sollte in die leeren, stockenden Adern des wirtschaftlichen Lebens fließen. Ja, so etwas konnte man sich gar nicht mehr als möglich vorstellen. Und weil sie doch einmal beim Erzählen war, kam sie auf ihres Vaters Berichte vom Hamburger Brand im Mai 1842, und wie die Leute auf den Knien lagen und beteten, während der flammende Kirchturm sich neigte, und das von der Hitze bewegte Glockenspiel mit hallenden Tönen in die Feuersglut hineinsang: »Allein Gott in der Höh sei Ehr'.« Sie sprach lebhaft und gut, und diese jeden Hamburger bewegenden Erinnerungen lenkten ganz von Allert und seinen Sorgen ab. Sophie, die sich in Gegenwart der Senatorin immer an die Wand gedrückt fühlte, ohne dadurch im mindesten verletzt zu sein, denn es war unwillkürlich und entsprach dem Wesen beider, Sophie hätte zu gern nachgefragt. Aber sie wollte nicht unhöflich sein. Mit einem Mal, in eine knappe Atempause hinein, fragte aber Marieluis: »Sie wollten uns erzählen – vielleicht, wie Ihre Lage andern Leuten zum Vorteil wird? – Ich verstand« – Daß Marieluis ihre Mutter unterbrochen hatte, ehe diese ihren Vortragsstoff bis aufs letzte Körnchen vor den Zuhörern ausgeschüttet gehabt, war wohl noch nicht dagewesen. Wenigstens Allerts Mutter und er selbst hatten es noch nicht erlebt. Und nun klopfte ihm sofort das Herz wegen dieser Zwischenfrage, als ob sie etwas ganz Besonderes sei. Die Senatorin schien ein wenig verdutzt – wie ein Husch ging ein derartiger Ausdruck über ihr Gesicht. Aber sie schloß sofort ein ermunterndes: »Also?« – an. »Drei Makler waren schon Punkt neun zur Stelle. Jeder schwor, daß er uns am vorteilhaftesten unter Dach und Fach bringen könne. Wir werden wohl die leerstehenden Gebäude einer verkrachten chemischen Fabrik am Nagelsweg mieten – Dorne meint, da läßt sich der provisorische Betrieb in kürzester Frist einrichten. Und ein Vertreter einer Baufirma, deren Spezialität Fabrikbauten sind, fand sich mit Vorschlägen ein. Und dann ein Mann, der ein Angebot auf Kauf und Abfuhr der Trümmer machte. Und ein Agent von Safes, falls unser stählernes das Feuer nicht sollte ausgehalten haben. –« »Fabelhaft!« sagte die Senatorin. Sophie war ganz erleichtert. Sachverständig fragte die Senatorin weiter: »Und die Lieferungen?« »Gerade gestern – 'n bißchen Glück hab' ich ja immer irgendwie doch – ja, da haben wir 'n ganzen Leichter mit Blechbüchsen befrachtet – Farbstoff für 'ne große sächsische Spinnerei und Baumwolldruckerei – soll die Elbe rauf. – Und zur Bahn kam gestern auch gerade noch vielerlei. – Ich muß die andere Kundschaft bitten, sich zu gedulden – zu der wichtigsten reise ich selbst ...« Er fühlte die herzlichste Anteilnahme der klugen Frau. – Plötzlich dachte er: Wie so ein außergewöhnliches Ereignis die Menschen gleich näher aneinander bringt. – Und die Hausfrau sagte jetzt auch, daß sie darauf bestehe! Allert und seine Mutter müßten hier heute abend essen, Allert sollte durchaus auch noch mit dem Senator sich aussprechen, den alles sehr interessieren würde. – Sein Haus habe doch unter seinem Großvater auch die Erschütterung durch einen Brand aushalten und überwinden müssen. Damals freilich seien nicht gleich Makler und Agenten mit Hilfsmitteln aus dem Boden aufgeschossen. – Alles sei schwerer gewesen, nicht nur weil das Unglück so viele traf und die ungeheure Ausdehnung hatte, sondern weil man damals diese auf Gelegenheit lauernden Allesvermittler im Geschäftsleben noch nicht kannte. Allert nahm die Einladung an. Er wußte selbst nicht, ob ungern oder mit heißer Freude. Er dachte: Ich sollte ihr aus dem Wege gehen – jetzt – jetzt auch das noch – diese Quälerei. – Das lenkt ab! Das darf nicht sein. – Ich habe Sorgen – Arbeit. – So viel von beiden, daß er die nächsten Wochen manchmal dachte, es würde sich nicht bezwingen lassen, es gehe über seine Kraft. Und alle Augenblicke mal zu kurzen Reisen auf und davon – trotz Telefon und Draht, in gewissen Dingen war die Ueberredungskunst doch die beste Art zu verkehren. Und darüber kam es ihm eigentlich gar nicht zum Bewußtsein, daß er plötzlich für einen kleinen Kreis von Menschen eine Hauptperson und ein Mittelpunkt geworden war. Bei Dornes wußten es sogar schon die Dienstboten: das Kommen und Gehen des Herrn von Hellbingsdorf bestimmte die Toiletten der gnädigen Frau und die Gerichte auf dem Tische. Oft, wenn er am späten Abend von einer Reise zurückkam, suchte er noch seinen Teilhaber auf, um sich mit ihm zu besprechen. Dorne, unfähig, nach außen hin auch nur den kleinsten Schritt für ihr Unternehmen zu tun, arbeitete in seinem Laboratorium mit desto leidenschaftlicherem Eifer. So schienen sie sich auf das glücklichste zu ergänzen. Wenn diese kaum verhehlbaren Unruhen nicht gewesen wären, von denen Dorne oft mitten bei der Arbeit befallen ward! – Und Frau Julia machte immer ein großes Wesen davon, wenn er so abends, manchmal etwas abgespannt, noch in wichtigen Sachen vorsprach. Dann tat sie, als sei es ihre Pflicht, sich in seiner Pflege zu erschöpfen, und als habe er zu ihrer aller Besten ungefähr Herkulesarbeit hinter sich. Es war ihm peinlich, daß seine Tätigkeit zu überschwenglichem Verdienst aufgebauscht wurde. Es genierte ihn vor dem Manne, der mit Worten beistimmte, in dessen helle Augen aber dann immer der seltsam schimmernde Funke trat. – Im Hause Amster war Allert auch plötzlich »der liebe junge Freund« geworden. Auf das ernsthafte Gesicht des Senators kam ein heller Schein, wenn er mit ihm sprach, und die klugen, scharfen Züge der Hausfrau milderten sich zur Zufriedenheit, so oft er sich bei ihnen als Gast, natürlich besonders eingeladen, zum späten Mittagessen einfand. Seine Mutter genoß es glückselig, ihrem Sohn die Achtung und Vorliebe dieser beiden hochstehenden Köpfe und Herzen zugewendet zu sehen – denn schließlich – sie hatten ja auch Herz. – Wie viel, das wußte Allert noch gar nicht. Aber seine Mutter, die hatte es erfahren. Nicht nur durch all die nahezu leidenschaftliche Protektion. Diese schätzte Sophie in ihrer feinen Menschenkenntnis sehr richtig ein. Da sprach das Herrscherbedürfnis der Senatorin. Sie hatte diese Malerin gewählt und hierher gebracht, nun sollten alle Menschen durchaus im Urteil und Geschmack mit ihr übereinstimmen, und indem sie der von ihr geladenen Künstlerin Auftrag über Auftrag verschaffte, bewies sie sich und anderen ihren machtvollen Einfluß. Nein, die Mutter hatte zur Mutter gesprochen. Etwa drei Wochen nach dem Brand. Es war nach einer Sitzung. Die kleinen Haimbrugks hatten mit ihrer Mama, der Erzieherin und einer älteren Schwester einen ziemlich geräuschvollen Abgang genommen. Sophie knöpfte sich gerade die Malschürze ab. Da betrat die Senatorin das Atelier. Sie war im Hut und Pelzpaletot, vornehm und stattlich sah sie aus. Sie kam aus einer Vorstandssitzung. Dann war sie immer besonders angeregt; sie hatte dann ihre Ueberlegenheit voll ausgekostet und war mit sich zufrieden. »Wir haben Frau Doktor Dorne zur zweiten Schriftführerin ernannt – sie glaubt, daß sie sich dazu besser eignet als zur Tätigkeit draußen – ja, dazu gehört eine besondere Begabung – keine von meinen Damen kommt da Marieluis gleich.« »Es ist doch eine Freude für Sie, daß die angenommene Tochter so ganz Ihr Kind geworden ist.« »Und ob! Aufrichtig – ich möchte mal ein vertrauliches Wort über Marieluis mit Ihnen sprechen;« dabei zog sie mit Sorgsamkeit ihren kostbaren Mantel aus und legte ihn, voll Respekt vor seinem Wert, schonlich über den nächsten Stuhl. Sophie wurde etwas unruhig zumute. Vertrauliche Worte über Marieluis?! Und von dieser Frau, die trotz aller Gesprächigkeit und aller Lebhaftigkeit ihres Verstandes niemals eine vertrauliche Art hatte? Die ganz, ganz geheimen Wünsche, deren Sophie sich bewußt war, gaben ihr plötzlich das Gefühl, als habe sie ein schlechtes Gewissen. »Sie wissen,« begann die eine Mutter zur andern zu sprechen, »daß Marieluis so erzogen ist, daß sie nicht zu heiraten braucht. Weder aus finanziellen noch aus ethischen Gründen. Sie ist versorgt und hat Lebensinhalt, gottlob! das darf ich sagen: Ich hab' die Pflichten, die ich übernahm, erfüllt.« Sie lehnte in dem weißen Korbsessel, in dem der kleine Haimbrugk in seinem weißen Matrosenkleidchen gemalt wurde. Den Ellbogen hatte sie auf die leicht geflochtene Lehne gestützt und sah Sophie nachdenklich an. Und hinter ihr stand das Stück weißgrauer Papierleinwand, das Sophie da hatte hinspannen lassen. Ihr gegenüber, neben der Staffelei, hockte Sophie auf dem Malerschemel und hielt die Hände auf den Knien. »Niemand kann sich vorstellen – ich denke mir, besonders keine natürliche Mutter kann das –, wie ein erworbenes Mutterrecht ist! Sie werden es nicht glauben, die andern Mütter, daß solche erworbenen Rechte leidenschaftlicher empfunden werden und noch tiefer wurzeln. Wissen Sie, die ersten zwölf Jahre hatte ich sehr gelitten. Mein Mann nicht so sehr. Es gibt ja Söhne bei seinem Bruder, das Haus blüht weiter. Aber ich – ich fühlte durchaus: Ich kann erziehen, bilden, ein junges Wesen ganz und gar mit dem meinen durchwirken, mich hinopfern. Und dann bekam ich Marieluis. Sie war zwei Jahre alt – also ich habe ihre ganze Jugend in der Hand gehabt! Wollen Sie es wohl glauben: Mit jeder Erziehungsmühe erkaufte ich mir, was andern Müttern von Natur zusteht! Ich habe alles darangesetzt, aus Marieluis ein kluges, klardenkendes, gerechtfühlendes, hochgebildetes Wesen zu machen. Das kostete Hingabe. Und ich verwuchs ganz mit ihr, ganz! Ich darf sagen: Mein Ziel ist erreicht. Wenn ich mir so all die andern Mädchen ansehe – keine reicht an meine Tochter. Sie ist ganz mein. Und doch – sehen Sie – da ist dennoch ein Stachel! Vielleicht scheint sie nur ganz mein. Eines Tages vielleicht wird sie, wenn sie liebt und heiratet, sich daran erinnern, daß in ihren Adern ja nicht mein Blut fließt. Das träfe mich wie ein Schlag. Wenn eigene Kinder sich gegen die Mutter wenden, ist es entsetzlich. Wenn ein so zu eigen gewordenes Kind die Mutter verließe, wäre es furchtbar.« »Das wird Marieluis niemals tun,« sagte Sophie fest. Und fügte nach einer ganz kurzen Pause tastend hinzu: »Auch deshalb wünschen Sie nicht, daß Marieluis heiratet?« Die Senatorin fuhr auf: »Nehmen Sie es nicht übel, liebe Verehrte, aber Ihr andern Frauen versteht Euch allesamt nicht aufs Zuhören und auf logische Gedankengänge. Wann hätte ich je gesagt, daß Marieluis nicht heiraten soll? Ich sagte nur, sie ist so erzogen, daß sie es nicht braucht! Aber natürlich wünsch' ich es ihr. Gott, Liebste, wenn ich denke, ich bekäme Enkelkinder – erlebte da das Wunder, das mir selbst nicht beschieden ward« – – – Sie stockte. Und wahrhaftig: die scharfen Züge bekamen den Glanz einer wunderbaren Weichheit. Aber das durfte nicht sein: Fassung, Selbstbeherrschung, Haltung – und wieder ganz überlegene, sichere Dame. »Ja – aber die Wahl des Mannes! Natürlich – sie soll frei wählen! Das versteht sich. Ihr Herz und ihr Verstand sollen wählen. Und können es, mit Bewußtsein – können prüfen – sich bedenken. Denn Marieluis ist ja sexuell aufgeklärt – weiß in jeder Richtung, was sie tut. Ich weiß auch, hoffe wenigstens, ihr wird nie eine Leidenschaft über dem Kopfzusammenschlagen und sie blind machen. Ich weiß auch, sie wird nie einen Mann nehmen, der sie zurückschrauben will, der alles ausstreicht und weglöscht, was ich sie an Erkenntnissen und Pflichten gelehrt.« Sie besann sich einen Augenblick. Nun kam ja erst das, was eigentlich gesagt werden sollte. Und sie fuhr fort: »Ein Weilchen dachte ich an John Vierbrinck. Sie wissen, den älteren Bruder der allerliebsten kleinen Dory. Ich bin eine geborene Vierbrinck – wie gern hätte ich Marieluis in meine Familie eintreten sehen. Aber John ist ganz rückständig. Er hat es ja sogar durchgesetzt bei meinem Vetter, daß Dory nicht mehr für meinen Verein tätig sein darf. Er hat den törichten Ausspruch getan, ›seine Schwester sei nicht dazu berufen, die soziale Frage zu lösen‹. Das sollte witzig sein. Also ja – ich denke: Söhne, die eine Mutter haben, die arbeitet, die wirtschaftlich auf sich selbst gestellt ist – die wissen, daß eine Frau heute nur bestehen kann, wenn sie gelernt hat, dem Leben allein Trotz zu bieten – ja, solche Söhne sind Männer, die unsere soziale Arbeit verstehen werden.« »O gewiß – gewiß!« murmelte Sophie. Und sie raffte sich, ihren spannungsvollen Vorgefühlen zum Trotz, sogar zu der Bemerkung auf: »Es würde ja wohl bei den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen keinem vernünftigen Menschen mehr einfallen, die Frau unter allen Umständen im Rahmen der Familie festhalten zu wollen.« Die Senatorin nickte befriedigt. Und war sich schließlich doch nicht bewußt, daß diese allgemeinen Redensarten und Gemeinplätze hier gar nichts zu bedeuten haben mochten. Sie änderte ihre Haltung nicht, sondern sah immerfort fest in Sophiens Gesicht. »Ihr Sohn ist meinem Mann und mir vom ersten Augenblick an sehr angenehm gewesen,« begann sie, gleichsam in einen neuen Abschnitt des Gespräches tretend. »Aber seit dem großen Brande seiner Fabrik haben wir viel Respekt vor ihm bekommen. Der fröhliche Mut, der in ihm ist, diese klare Uebersicht, die er hat, die zähe Energie, mit der er trachtet, den Schaden auszugleichen – ja, mein Mann sagt, solche Charaktere sind zuverlässig.« Welche Mutter wäre nicht beseligt von solchem Lobe. »Ja,« murmelte sie, »ich darf es auch sagen, so ist er.« »Es kommt mir vor,« sprach Frau Senator, »als ob Marieluis und Ihr Sohn in eine bestimmte Atmosphäre von Beunruhigung geraten sind. Zwar – Marieluis ist nicht das Mädchen, etwas über ihr Innenleben zu verraten – auch mir nicht. Das acht' ich, das lieb' ich an ihr – das hab' ich ihr ja anerzogen, sich stolz zu beschweigen. Aber ich sah sie zweimal erröten! Natürlich ahnt sie nicht und soll es nicht ahnen, daß ich es sah. Und dann sonst noch Zeichen – Sie haben es kaum bemerkt: Am Tage nach dem Brande – Marieluis fiel mir in die Rede – das konnte nur die starke Begierde sein, Ihren Sohn weitererzählen zu hören. Und so allerlei. Und er! Ja, ich finde, sein Humor wird wohl gelegentlich forciert, von versteckter Gereiztheit, wenn Marieluis lange schweigend dasitzt. Und so allerlei ...« »Sie meinen ...?« stammelte Sophie. »Ich meine: es paßte! Die beiden zusammen. Uns. Ihnen. Ich hoffe doch, auch Ihnen.« Sophie wurde dunkelrot. »Ich würde glückselig sein,« sagte sie, und Tränen traten in ihre Augen. Sie hatte das dringliche Bedürfnis, der andern Mutter um den Hals zu fallen. Aber die saß sachlich und voll äußerlicher Ruhe da und lud nicht zu solcher Rührung ein. Aber nun wußte Sophie es ja doch: unter all dieser verständigen Beherrschtheit verbarg sich ein warmes Herz. Und hinter all dieser sozialen Tätigkeit, die vor dem Kampf um sittliche Hebung auf den dunkelsten Gebieten nicht zurückschreckte, hinter dieser sehr modernen, moralischen Kühnheit lebte der ganz frauliche, uralte, rührende Mutterwunsch, das Kind glücklich zu verheiraten. – Die beiden Frauen waren sich dann klar: dies Gespräch mußte ihr Geheimnis bleiben, und man konnte nicht zart und nicht unbefangen genug sein. Aber immerhin wußte man nun beiderseits: solch Bündnis würde hüben und drüben Freude bedeuten. Auch konnten sie als kluge und taktvolle Frauen viel fördern, ohne daß es spürbar ward. Sophie merkte aus kleinen unwillkürlichen Wendungen schließlich auch ein wenig das Hochgefühl der Hamburger Patrizierin heraus, die sich bewußt war, vorurteilslos zu sein, indem sie sich bereit erklärte, die Tochter einem Anfänger ohne Vermögen zu geben. Aber es beleidigte nicht – gar nicht. Sophie war solche weiche Natur. Eine von denen, die das Bedürfnis haben, alle Schwächen bei andern zu entschuldigen; denen ein Ohr gegeben ist, das Liebevolle doch am stärksten zu hören. Sie empfand vor allem dann das grenzenlose Vertrauen, das ihrem Sohn geschenkt ward. Und das erfüllte sie mit begeisterter Dankbarkeit. Von dieser Unterredung an lebte sie in Stimmungen – himmelhochjauchzend, zum Tode betrübt – als hänge ihr eigenes Herz an den spinnwebenen Fäden solcher Hoffnungen, die ein Windhauch zerreißen kann. An Vergangenes und Begrabenes ward Sophie in schmerzlichster Weise gemahnt. Zu ihrer grenzenlosen Ueberraschung erhielt sie einen Brief von Frau Geheimrat Lyda Rositz, geborenen Freiin von Buschke. Der Brief war verbindlich und schien sogar warm. Und dennoch verspürte Sophie, auf Grund ihrer genauen Kenntnis dieser Frau, daß die naivste Unverschämtheit ihn eingegeben hatte. »Hochverehrte, liebe, gnädige Frau! Gleich nach dem Tode meines teuren Gatten haben Sie uns einen großen Dienst geleistet. Ihm selbst auch, indem Sie die Papiere für ihn verwahrten, die sonst verloren oder gestohlen worden wären. Ich war damals zu zerbrochen, um Ihnen gleich persönlich zu danken. Dann erfuhr ich, daß Sie abgereist seien, und bald ging ich ja auch hierher. In St. Moritz kommt man zu nichts. Deshalb hoffe ich auf Ihre Nachsicht. Nun wollen wir nach Nizza, und Tulla liegt mir in den Ohren, daß sie nicht mit will, und hat die fixe Idee, daß der Wunsch des Vaters erfüllt werden müsse, und beichtete mir, daß sie sich gewissermaßen schon mit Ihnen verständigt hat, und daß Sie so gern mein Töchterlein zu Ihrem Vergnügen malen möchten. Was soll ich dagegen einzuwenden haben! Tulla darf gern nach Hamburg reisen, meine Jungfer könnte sie hinbringen. Wenn Sie in der Pension Tulla unter Ihre Fittiche nehmen wollten, fände ich es entzückend. Schreiben Sie mir nur, wieviel Geld Tulla da wohl wöchentlich braucht. Sie kann bis über Ostern bleiben. Ich wußte früher gar nicht, daß Sie eine so genaue Freundin meines Mannes waren. Wie finde ich es nett, daß er manchmal zu Ihnen kommen und mit Ihnen plaudern durfte. Unwillkürlich schreib' ich Ihnen wie einer alten Bekannten. Aber wenn man auf so ungewöhnliche Weise durch so ernste und wichtige Dinge in Beziehung trat, macht sich das wie von selbst. Bitte, meine gnädige Frau, schreiben Sie mir gleich wieder, weil ich gern meine Abreise nach Nizza bestimmen möchte. Ihre dankbar ergebene Lyda Rositz, geb. Freiin Buschke. P.S. Tulla küßt Ihnen respektvoll die Hand. P.S. Wahrscheinlich bitte ich Sie später, auch mich zu malen.« Für Sophie stand zwischen den Zeilen: ich will Tulla gern für ein paar Wochen los sein, sonst wäre es mir nie eingefallen, dir zu schreiben! Und dann diese glatte Unverfrorenheit, mit der die reiche Frau ihr zuschob, Tulla umsonst zu malen. Wie Allert es vorausgesagt hatte! Und am ärgsten war der plumpe Hinweis auf den späteren, möglichen Auftrag. – Also sie braucht mich! dachte Sophie. Ihre Antwort war knapp und steif. »Hochverehrte Frau Geheimrat! Sehr gern werde ich Ihre Tochter für einige Wochen betreuen. Doch bin ich im Begriff, hier eine eigene Wohnung zu nehmen. Viele Aufträge halten mich hier für ein, zwei Jahre noch fest. Fräulein Mathilde müßte also in der Pension Hammonia, gleich einigen jungen Ausländerinnen, unter dem Schutz der Inhaberin leben. Sie kann aber auch, als mein Gast, bei mir wohnen. Ich habe allerlei Pflichten in der hiesigen Gesellschaft, ich habe auch einen Sohn hier, und mein auswärtiger Sohn kommt wohl einmal auf Urlaub. Jeder Vormittag ist der Arbeit gewidmet. Ich könnte Fräulein Mathilde demnach nicht so viel Zeit widmen, als es in ihrem Interesse und meinen Wünschen läge. Wollen Sie hiernach entscheiden.« Anstatt eines Briefes kam einfach ein längeres Telegramm. »Nun,« sagte Allert, »das nenn' ich Mutterpflichten per Draht erfüllen. Glatt alles angenommen! Und Du hast unversehens eine Pflegetochter für ein paar Wochen. Das kann schwierig werden.« »Es kann sehr hübsch werden,« meinte Sophie begütigend, »ich will versuchen, dem Mädchen etwas Lebensinhalt zu geben – sie Pflichten lehren ...« »Die einen haben zu wenig, die andern zu viel!« bemerkte er mokant. Sophie aber war voll geheimer Glückseligkeit. Ihre leidenschaftlichen Wünsche schienen sich der Erfüllung zuzuneigen – noch schwankte ja alles, war wie ferne Möglichkeiten. Aber ihre Phantasie eilte gern voraus und sah schöne Bilder. Wenn sie auch vernünftig versuchte, sich zu zügeln – Mütter können nur leben, wenn sie hoffen – als Weib kann man resignieren und tapfer bleiben – eine Mutter, die für ihre Kinder nichts mehr hoffte – die zerbräche – fühlte sie. Dann kam eine Zeit böser Unbehaglichkeit. Die treue Therese, die von sich behauptete: »Beinahe Moos hab' ich angesetzt«, wurde von ihrem Hüteramt befreit und mit den Möbeln nach Hamburg übergeführt, die angenehme Wohnung, drei Treppen hoch »An der Alster«, rasch eingerichtet. Von nun an war das Atelier im Amsterschen Hause, sehr zum Bedauern der Senatorin, überflüssig. An das neue Heim stieß ein Flügel, wo ein Photograph seine Werkstätte gehabt hatte; dort konnte nun Sophie ihre Staffelei aufstellen. Weit über die Alster blickte man von den Vorderfenstern der Wohnung hinaus. Gerade gegenüber war das »Alsterufer«, wo die reizende Frau Julia wohnte. Am Tage konnte man, jetzt im Winter zumal, von Fernduft überhauchte Häuserreihen nur blaß erkennen. Die breite Wasserflut wogte zwischen hüben und drüben. Aber am Abend leuchteten deutlich all die Fenster. Das sah, im Verein mit den Lichtern der Uferstraßen, wunderhübsch und gesellig aus. Selbst Therese meinte, »so janz übel wär's nich«. Nach wenig Tagen schon konnte Sophie ihrem Sohn telefonieren: komm und iß zum erstenmal wieder an meinem eigenen Tisch bei mir. Froh sagte er zu. Aber es war ihm nicht beschieden, seine gute Laune ungetrübt zur Mutter zu tragen – einen leisen Riß bekam diese gute Laune und verlor dabei ihren klaren Klang. Er kam aus der Dresdner Bank. Unter dem Portal des prachtvoll-wuchtigen Hauses stehend, sah er nach der Uhr und dachte, ob er sich auch lieber ein Auto nehmen müsse oder den Dampfer benutzen könne, der drüben vom Jungfernstieg nach der in der Nähe der mütterlichen Wohnung befindlichen Anlegebrücke fuhr. In diesem Augenblick kam ein Offizier vorüber – ein ziemlich großer Mann, blond und stattlich, von einer deutlichen Aehnlichkeit mit Allert. Es war ein Infanterist, im grauen Mantel mit Biberkragen und im Helm, wie jemand, der Besuche zu machen hat. Der Zufall oder dies rasche, blitzartige, unwillkürliche Sehen bewirkte, daß der Offizier und Allert sich ins Auge faßten und stutzten. Zugleich blieb der eine auch schon stehen, während der andere die Stufen aus dem Portal hinab und auf den Bürgersteig trat. »Nein – so was! Mensch! Fritz! Bist Du ins Sechsundsiebenzigste versetzt?« Der Baron von Patow war zögernd, zurückhaltend. Er wußte nicht genau: was stellt denn dieser Vetter hier vor? In der weiteren Familie hatte man nur höchst unklare Vorstellungen – man war leise von Sophie abgerückt, als es hieß, sie könne das Gut nicht halten. Und es war ja auch Hellbingsdorfsche Sache, den Familienzweig zu stützen, falls er dessen bedurfte. Allert war »Kofmich« geworden. Na ja, warum nich. Fing ja fast an Mode zu werden. Sein früherer Regimentskamerad, Prinz Hartenburg, arbeitete jetzt als Volontär in 'ner Bank – wenn man fix Geld machen konnte! Aber das wußte kein Mensch, ob Allert das wohl tat. Saß er im Fett? Schrapte er sich kümmerlich durch? War er Umgang für 'n Offizier? Eklig, so 'ne Unsicherheit. Unnützerweise verletzen will man nich. Voreilig familiär sein erst recht nich. – Hm – gentil aussehen tat er ja, der Allert Hellbingsdorf. Man mußte mal auf 'n Busch kloppen. Ein ganz klein wenig von oben herunter antwortete Patow nach diesen rasch durch seinen Kopf huschenden Erwägungen: »Sechsundsiebenziger? Nee. Zum Stab in Altona kommandiert. Brigadeadjutant. Dja – man macht so sachteken seinen Weg oberhalb der Ochsentour. Na und Du? Und wie geht es Deiner Mutter? Gott – wie man doch so auseinanderläuft – wenn ich denk', wie früher so die ganze Sippe in den Ferien um Großtante Malwinens Fleischtöpfe auf Welsin hockte. – Was sagst Du, Deine Mutter wohnt hier? Aber nee – also meine schönsten Empfehlungen, und wenn ich mal Zeit hab' – na, und Du? Hast 'ne auskömmliche Stellung?« Allert hatte die Ohren seiner Mutter und konnte großmütig und durchaus überlegen weghören, vorbei an den Menschlichkeiten des lieben Nächsten. »Fabrikbesitzer!« sagte er wohlgelaunt. »Großindustrieller – wenn Du willst. Firma: Farbwerke A. von Hellbingsdorf u. Kompagnie. Kompagnon ein wohlhabender Chemiker. Mein Umgang also nicht genierlich. Kreditfähiger, junger Mann. Erste Referenzen. In die angesehensten Familien eingeführt. Verleugnung verwandtschaftlichen Zusammenhangs nicht vonnöten.« »Red' keine Makulatur – na, darin warst Du ja schon als Junge groß. – Und Deine Mutter? Was macht sie?« »Dasselbe wie in Berlin. Da malte sie einen ganzen Teil der Hofgesellschaft – hier ist es im Handumdrehen in den ersten Kreisen Mode geworden, sich bei Frau von Hellbingsdorf malen zu lassen.« Sie waren über den Fahrdamm gegangen und schritten jetzt auf den Quadern dahin, die die Kaistraße oberhalb der Binnenalster breit pflasterten. Die Möwen flatterten, die Sonne schien, die großartigen Häusermassen standen, von durchglänztem Duft milde überhaucht, um das fröhlich wogende Wasser. Es war schon Vorahnung des Frühlings. »Sag mal, im Ernst: Ihr seid hier schon gut bekannt?« »Meine Mutter fabelhaft. Ich erst wenig. Hab' rasend zu tun. Jetzt noch mehr als in den ersten drei Anfängerjahren. Vor ein paar Wochen abgebrannt! Na ja – man war versichert! Aber wie viel Schaden, Aufenthalt, Rückschlag – es heißt schuften. Vorwärts will ich, soll ich, muß ich – wegen Mutter – wegen Onkel Just, von dem ich hunderttausend Mark habe – wegen meiner eigenen, mir höchst werten Person.« »Mensch, warum heiratest Du denn nicht reich? Hier ist doch Gelegenheit in Hülle und Fülle.« »So?« fragte Allert naiv. »Ich hab' noch keine Zeit gehabt, mich danach umzutun.« »Sage mal: ich hab' da so 'ne kleine Liste – von 'nem Kameraden entworfen, der hier sein Glück machte – ist zur Diplomatie übergegangen ...« Aha! dachte Allert. Sein Vetter holte aus dem breiten Aermelaufschlag unter seinem Mantel einen Zettel hervor. Er warf einen Blick hinein und begann sein Verhör. »Kennst Du Vierbrincks?« »Davon gibt's viele.« »Ja. Aber nur zwei sind so gestellt, daß se sich 'n Schwiegersohn meiner Art leisten könnten. Vierbrinck Sohn u. Kompagnie – Seniorchef Meno F. Vierbrinck mit Tochter Dory. Und Konsul F. M. Vierbrinck mit Töchtern Fanny und Mimi.« »Alle drei entzückend!« sagte Allert, und sein Vetter wußte wieder nicht, ob es ernst oder mokant gemeint sei. »Kennst Du Ruhlos? Tochter soll 'ne schneidige Sportsdame sein. Das paßte ja.« »Stimmt.« »Und Amsters?« »Die Tochter ist doch schon verheiratet, an Herrn von Daister.« »Weiß – weiß – Daister von der Kriegsschule her alter Kamerad, ja, Freund von mir – hat mir extra gesagt: Onkel seiner Frau, Senator, habe schöne Tochter – soll 'ne grandiose Erscheinung sein. Aber hier hör' ich nu ...« »Was hörst Du?« fragte Allert hart dazwischen. »Das soll so 'ne Art Hallelujahmächen sein, bekämpft Prostitution, Mädchenhandel, Unsittlichkeit, schimpft auf den Mann als den Schuldigen, wenn wo Kinder kommen, mit denen es standesamtlich nicht propper ist – na, ganz kolossal modern. Das paßte ja nu nich. Mit Weibern, die mit allem Bescheid wissen, hat man ja genug zu tun gehabt. Wenn man heirat't, will man 'ne holde Unschuld – vom Lande braucht se nich grade zu sein, und 'ne runde Mitgift nimmt auch der holden Unschuld keinen Zauber. – Sage mal, kennst Du die Leute? Bei diesen Hanseaten ist das so komisch. Bei uns sagt der Name alles. Hier kennt man die Namen ja nich. Und in 'n Kaffeeladen möcht' ich och nich grade 'reinschliddern – das nimmst Du woll nich übel – Du hast ja keinen« – »Frage einen Heiratsvermittler,« sagte Allert schneidend. »Und hier steig ich ein. Du kostest mich ein Auto. Sonst hätt' ich den Dampfer genommen – soll bei Mutter essen – wir haben uns gegenseitig an Pünktlichkeit gewöhnt.« »Du – halt – wo wohnt Deine Mutter?« rief Patow. Aber Allert schlug schon die Tür zu. Wie beleidigt es, wenn andere uns die Karikatur unserer Empfindung zeigen, dachte er böse. Das macht sie uns nicht unsicher. Aber es dämmert einem so auf, wie schwer man die eigene Empfindung verteidigen, beweisen, klarmachen kann – – – Er gab sich alle Mühe, bei seiner Mutter die gewohnte frohe Zuversicht zu zeigen. An der Tür bekam Therese ihr Scherzwort, das sie strahlend machte. In den Zimmern fand er alles wunderhübsch – aber, was ließe sich einer Mutter verbergen. Er erzählte von Fritz Patow, wie der offenbar mit dem festen Vorsatz umhergehe, hier eine reiche Partie zu machen. »Ich habe noch keinen Offizier gesehen, der davon nicht als von einem feststehenden Programm gesprochen hätte. Aber ich habe sehr wenige gesehen, die sich wirklich verkauften. Herz und Ehre triumphieren über alle solche Programme. So wird es auch mit Fritz gehen.« Allert hörte zerstreut zu. Endlich fragte die Mutter dann: »Hast Du es schwer im Geschäft?« »Nun ja. Aber das war zu erwarten – Und dann – Wie mich die Frau da drüben aufhält –« Er trat ans Fenster, um sich nochmals zu vergewissern, daß man die Hausfront in der Häuserreihe jenseits des Wassers erkennen konnte. »Alle paar Tage kommt sie hinausgefahren und sieht nach, wie der Neubau vorschreitet. Und dann läßt sie mich holen, und ich muß erklären. Aber heut' hab' ich mal grob sagen lassen, ich sei verhindert. Es ist gerade, als sei ihr der Brand apropos gekommen ...« Heute morgen und an allen Tagen sonst war es ihm nebensächlich oder ein bißchen zum Bespotten gewesen. Nun wurde es ihm der Haken, daran er vor den Augen der Mutter seine Verstimmung hängen konnte, damit sie nur glaube: aha, deshalb ... Seiner Mutter wurde immer leicht ums Herz, wenn er sich kritisch über Frau Julia äußerte. Dann dachte sie: nein, sie ist ihm keine Gefahr. Nun erzählte sie, daß Frau Dorne für Sonntagnachmittag zum Tee geladen habe, sie sähe dann auch zum erstenmal die Familie Amster bei sich. Sie habe es so klug verstanden, sich mehr und mehr anzufreunden, und man dürfe sich überzeugt halten, daß die schöne Frau nach einigen Monaten bereits so weit sein werde, eine Rolle zu spielen. »Meinetwegen!« sagte Allert. Aber es war ihm doch aus unbestimmbaren Gründen nicht angenehm. Er mochte sich Marieluis nicht in nahem Verkehr mit Frau Julia vorstellen. Als Allert am Abend gerade dieses Tages in seine so schmucklose Junggesellenstube trat, da draußen in den häßlichen Fabrikstraßen, wo alles grau, herbe, unfroh aussah, selbst die Wohnungen in den angeschmutzten Häusern, da stand er wie versteinert. Seine Wirtin, eine brave Zollbeamtengattin, hatte ihm schon an der Tür gesagt: »Es ist etwas für Sie abgegeben.« Und dies »Etwas« war ein wundervoller Korb voll Maiblumen. Sie dufteten durch das Zimmer und machten seine Nüchternheit ganz kraß. Auf derlei Dinge war er freilich nicht gefaßt. Er nahm das Briefchen, das im Korbgriff hing. Die feinen, lila Buchstaben in ihrer anmutigen Regelmäßigkeit kannte er. »Von einer, die zeigen möchte, daß sie viel zu einsichtig ist, die heute morgen erfahrene Abweisung übelzunehmen.« Und wenn sie es übelgenommen hätte! dachte er geärgert. Er setzte sich, noch mit dem Hut auf dem Kopfe, hin und schrieb: »Wollen Sie, hochverehrte, gnädige Frau, doch Ihre Güte, für die ich dankbar bin, nicht an mich und mein häßliches Zimmer verschwenden. Mann und Raum sind zu hilflos prosaisch, als daß man solche poetischen Sendungen an sie richten dürfte. Ich küsse Ihnen gehorsamst die Hand und bin Ihr verehrungsvoller A. v. Hellbingsdorf.« Es war ein wenig stark, einer schönen Frau so zu schreiben. Aber er sah im Geiste merkwürdig deutlich den Mann vor sich und den glimmenden, weißen Funken in den hellen Augen. Dieser Mann war sein Mitarbeiter. Dieser Mann litt an verborgenen Eifersuchtsqualen und Unruhen. Das mußte das Entscheidende sein. Der abenteuerlüsternen Frau konnte eine schroffe Zurückweisung nicht schaden – selbst für den Fall, daß sie gar nicht ernsthaft abenteuerlüstern war, sondern nur dies kecke Spiel mit Männern liebte, um ihre Eitelkeit zu sättigen, um sich kleine Sensationen zu machen. An den Sonntag dachte er aber doch mit Unbehagen. Er kam sich so plump vor. Er fürchtete auch, sie würde ihm die Zurückweisung nachtragen, sich dafür rächen, indem sie ihren Mann gegen ihn einzunehmen verstehe. Ja, weiß Gott, diese Teilhaberschaft hatte auch ihre Stacheln. – – Am Sonntag vormittag kam dann endlich Mathilde Rositz an. Die Nachtfahrt hatte sie nicht ermüdet. Glücklich hing sie an Sophiens Hals und dankte immer wieder, daß sie habe kommen dürfen. Sie brachte auch viele Grüße von Mama mit. Aber in einem merkwürdigen, stillschweigenden Verstehen gingen Sophie und das junge Mädchen jedem näheren Gespräch über diese Mama zunächst aus dem Wege. Der Vormittag verlief recht ungemütlich. Erstaunlich viel Gepäck sollte untergebracht werden, und dann war da diese allzu gewandte Jungfer, durch deren Person sich Therese auf irgendeine unerklärliche Art schwer beleidigt fühlte. Daß die Jungfer schon am Abend die Rückreise zu ihrer Dame antreten mußte, machte Therese ja aufatmen, reizte sie aber auch wieder. Ja, daß dieses flinke, glatte, sichere Wesen von ihrer »Dame« sprach, während sie selbst immer »meine jnä' Frau« sagte, erschien Theresen »affig«. Am meisten reizte sie es aber, daß die Jungfer, ohne Worte zwar, aber mit Deutlichkeit zu zeigen verstand, wie klein sie die Wohnung und besonders das Zimmer für ihr gnädiges Fräulein fände. Therese nahm sich vor, hiervon nichts zu sagen. Sie hatte ein angeborenes Zartgefühl. Aber sie zog Schlüsse und Vorurteile daraus – nahm von vornherein an, daß die junge Herrin nicht minder anspruchsvoll sein würde. Bei Tisch konnte Allert den Gast seiner Mutter dann kennen lernen. Tulla interessierte ihn nicht wenig. Er hatte ja aus den Erzählungen seiner Mutter, trotzdem sie von delikater Vorsicht waren, genug erraten, und auch ohne die kräftigen Bemerkungen der Frau v. Daister wußte er, daß Tulla seinen Bruder liebe. Daß Raspe sehr hingenommen gewesen war und sich immer noch mit ihr beschäftige, wußte er auch. Und nun dachte er: Das verstehe ich doch nicht! Ganz wie alle Männer, die jede Art von Frauenschönheit, die nicht in den Rahmen des eigenen Ideals paßt, mit ein paar kritischen Worten abzutun pflegen. Dies überschlanke, dunkelhaarige, braunäugige Mädchen erschien ihm so unreif, so herbe. Er fand das schwarze Kleid sehr ungünstig. Zu dieser Erscheinung hätte ein schüchternes, verschlossenes Wesen gepaßt – dachte er – so ein wenig: verstoßene Tochter, darbendes Gemüt. Vielleicht hatten auch die gelegentlichen Bemerkungen der Mutter ihn dazu gebracht, etwas Aschenbrödeltum und ein aus Mangel an Liebe verbittertes Wesen zu erwarten. Tulla aber war lebhaft, etwas aufgeregt lebhaft sogar. Das mochte an der neuen Situation liegen. Und von St. Moritz und dem dortigen Leben erzählte sie recht vergnügt. Allert hörte unbefangen zu und hörte wohl heraus, daß von der großen Winternatur und den erhabenen Eindrücken am wenigsten die Rede war. Sehr viel hingegen von den Toiletten der Frau von Samelsohn und anderer Damen, die auch seiner Mutter von Berlin her bekannt schienen. Von den Sportsiegen, Bällen, denen man nur von der Galerie aus hatte zusehen können wegen der Trauer. Wie seine Mutter auf alles einging! Das rührte Allert geradezu. Er verstand wohl: um des teuren Verstorbenen willen wünschte seine Mutter, daß dieses Mädchen ihre Tochter werde. Da kam zu Raspes Neigung, zum allgemeinen Wunsch der Mutter, die Söhne sich verheiraten zu sehen, noch ein tiefes Gefühl. Die Söhne wußten es ziemlich deutlich, wie die zärtliche Freundschaft zu dem bedeutenden, gütigen Mann ihrer Mutter das Leben geadelt und reich gemacht hatte. Welch herrliches Erbe konnte diese Tulla da antreten. Ob sie dessen würdig war? Ob die Bemühungen seiner Mutter, den Gedanken des verwöhnten Weltkindes wichtigeren Inhalt zu geben. Erfolg haben würden? Allert bezweifelte es einstweilen durchaus. Umwelt kann sogar auf Reife und Gefestete noch abfärben. Einem Kind, einem jungen Geschöpf bestimmt sie, vielleicht für immer, die Richtung! Wenn sein Bruder Raspe das bedachte, war der Konflikt nicht klein für ihn. Und er unterdrückte einen Seufzer mit vielen Nebengedanken. – – Am Nachmittag ging man zu Fuß zu den Dornes. Die Tage waren schon viel länger, und der Weg an der Alster, über die große Lombardsbrücke, zum jenseitigen Wohnquartier, gab Gelegenheit, Tulla das große Stadt- und Wasserbild in schönster Beleuchtung zu zeigen. Sie bewunderte alles, aber es schien fast, als ob sie nur aus Gefälligkeit bewundere. Unterdes erwartete Frau Julia ihre Gäste. Die Nerven waren ihr von einer ärgerlichen Spannung erregt. Dieses Briefchen von Allert hatte sie enttäuscht. Seit jener Autofahrt durch die Nacht glaubte sie ihn zu haben. Daß ein Mann, dem sie entgegenkam, sich ihr entzog, das hatte sie nur erlebt, wenn solch ein Mann von einer Liebe beherrscht war. So stand es für sie fest, daß Allerts Herz beschäftigt war. Womit? Dem forsche mal einer nach. Ein Männerleben ist, wenn der Mann es so will, für ein neugieriges Frauenauge undurchdringlich. Als dann Frau von Hellbingsdorf am Telefon die Erlaubnis erbat, Fräulein Mathilde Rositz mitbringen zu dürfen, und dabei erklärte, daß die junge Dame, die Tochter eines verstorbenen teuren Freundes, einige Wochen hier leben werde, da war für Julias Phantasie alles klar. Dies junge Mädchen war ihr die Ursache von Allerts spröder Haltung – vielleicht war das gar eine heimliche Braut – – Nun sah sie ein Wesen vor sich, aus dem sie nicht recht etwas zu machen verstand. Sie bemerkte wohl, wie zärtlich und töchterlich dieses Fräulein in Trauer sich an Frau von Hellbingsdorf mit Blick und Wort wandte. Aber ihr fraulicher Instinkt sagte ihr sofort, daß das schlanke, dunkle Kind, so weltgewandt es auftrat, so herzlich frei es Allert ansah, ganz unmöglich eine Rolle in seinem Empfindungsleben spiele oder spielen werde. Und nun begriff sie vollends nicht ... Sie war in einer merkwürdig gereizten, unruhigen Stimmung. Und ihr Mann, obschon er sich sehr vertieft und respektvoll mit Sophie unterhielt, ließ manchmal einen raschen, prüfenden Blick über sie gleiten. – Sie ahnte ja selbst nicht, wie genau er jeden veränderten Klang ihrer Stimme hörte – wie er jede Geste kannte – das Flackern ihrer Augen – wie von Glas sie für ihn war – und daß er nur nicht sehen wollte. Dann kamen Amsters. Es gab ein, zwei Minuten das allgemeine Durcheinander von Begrüßungen und Vorstellungen. Die Herren hatten sich bei Besuchen verfehlt; Tulla Rositz war der Familie völlig unbekannt. Mit ihrer lächelnden Anmut vermittelte Julia alles. In jeder Situation war ihr erstes und hauptsächlichstes Bedürfnis, bewundert zu werden. Sie betrug sich auf das reizendste, schien völlig unbefangen und nur die glückliche Hausfrau, die freudig die Ankunft sehr lieber Gäste würdigt. Und dennoch hatte sie genau gesehen: im Augenblick, wo Marieluis eintrat, stieg ein rasches Rot in Allerts Gesicht ... Und – ja – auch Marieluis errötete. Man saß in einem zwanglosen Kreise, von schön verhülltem Licht sanft überhellt. Das Gespräch floß ruhevoll, aber ohne Mühseligkeit, wie zwischen höflichen Menschen, die miteinander doch vielerlei Interessen haben. Frau Julia in ihren purpurseidenen Schuhen und blaßlila, leisen Stoffalten bewegte sich voll Grazie umher und bot selbst den Tee an. Die Männer und Frau Amster sprachen über die Politik draußen und drinnen, über die wirtschaftliche Lage und den Neubau der Fabrik. Wenn die Senatorin eine Ansicht äußerte, war es sicher eine von verwegener Fortschrittlichkeit, und ihr Gatte machte eine objektive Bemerkung darüber, daß Frauen, wenn sie links ständen, dies gleich bis zum Extrem täten, und daß, falls man die Frauen zur aktiven Mitarbeit in der Politik erst zulasse, wie seine Gattin hoffe, daß es bald geschähe, man sie nur zwei Parteien bilden sehen würde: ultrakonservative und radikale; eine weibliche Mittelpartei würde man nie erleben. Sophie und Marieluis hörten schweigend zu. Es stand zu vermuten, daß Tulla sich langweile, aber sie lächelte manchmal der von ihr vergötterten Frau zu. Das ganze Bild sah so durchaus landläufig und friedlich aus. Aber die sacht umhergleitende, lieblichdienende Frau ließ ihre flammenden Blicke lauernd über die zwei Menschen gleiten, deren Erröten sie gesehen ... Und sie spürte, mit welcher Vorsicht, mit welcher Befangenheit Allert und Marieluis sich vermieden. Sie sprachen nicht miteinander. Aber scheu und flüchtig suchte sein Auge zuweilen das beherrschte, schöne Gesicht. – Sehr aufrecht saß Marieluis und hielt die Hände leicht im Schoß gefaltet. Allert empfand, gleich vielen Menschen in einer großen Gefühlsfeinheit, immer bald, wenn er beobachtet ward. Und es zwang ihn förmlich etwas, dann dem Blick des Beobachters zu begegnen. So sah er nun Frau Julia an – in einer stolzen Frage. Sie lächelte ihm vielsagend, mit funkelnden Augen zu. Und da zwang ihn wieder sein Gefühl, sogleich nach dem Mann hinüberzublicken. – Wie unangenehm war es ihm, daß er das helle Auge auf die Frau gerichtet fand – und nun wandte sich dieser stechende Blick ihm zu ... Und wieder erging es Allert wie so vielen: das Mißtrauen eines anderen macht unfrei; wirkt hinüber auf den Beargwöhnten und gibt ihm ein ärgerliches Gefühl von schlechtem Gewissen ... Kein Wort war gesprochen worden, aber nun wußte Allert es ganz gewiß, daß dieser Mann von der Angst gepeitscht war, die Frau an ihn zu verlieren. Ich kann ihm doch nicht ins Gesicht sagen, daß er ruhig sein darf, dachte er. Er sollte mich doch zur Genüge kennen, um zu wissen, daß sein Verdacht unbegründet ist. Von diesem Nachmittag an schien sich zwischen der schönen Frau und Marieluis ein näheres Verhältnis anzuspinnen. Sie gingen zusammen zu den Schützlingen des Vereins. Sie besuchten Allerts Mutter gemeinsam im Atelier, wo nun, neben dem unvollendeten Bild eines hamburgischen Staatsmannes, das Porträt der jungen Tulla im Werden war. Frau Julia nahm auch einige Male die neue »Freundin« mit auf den Fahrten zum Bau. Und da traf Allert die beiden Damen. Er sah es wohl, in ihrer merkwürdigen, verschlossenen Beherrschtheit war Marieluis die Umworbene, Abwartende. Aber immerhin: sie ließ sich doch umwerben, gab sich und ihre Zeit, von der es immer hieß, sie sei den ganzen Tag ausgefüllt, den Ansprüchen der Frau hin. Was steckte dahinter? Seine Mutter erkannte es rasch. Aber alles verbot ihr, davon zu ihm zu sprechen. Sie als Frau wußte ja, daß es Frauen gibt, die, ganz entgegen dem veralteten Gerede von der weiblichen Lust am Heiratsstiften, durchaus ihre Freude und ihr Interesse daran haben, Heiraten zu hindern. Vielleicht nur, weil sie fürchten, aus ihrem engsten Kreis einen angenehmen Kavalier zu verlieren. – Oft genug auch, weil sie einen Verehrer nicht entlassen wollen. Sie spürte: Julia wollte belauern, hetzen, zerstören – mit feinen Worten, mit leisem Lächeln – wie eben eine kluge Egoistin zerstören kann, wenn sie will. Und zugleich hatte sie in Marieluis' Person ein Mittel, Allert öfters noch heranzuziehen. Wenn er ihr selbst auch vielleicht ausweichen wollte: er blieb gewiß nicht fort, wenn sie sagte: »Sie treffen Fräulein Amster.« Und was wollte Marieluis? Vielleicht ward sie von jener unbewußten Neugier getrieben, unter deren Zwang ein liebendes und doch noch schwer mit sich kämpfendes Herz steht. – Vielleicht bildete sie sich ein: Julia kennt ihn genau. Und dann: durch die Vermittlung dieser Frau sah sie ihn ja häufiger, als es sonst der Fall gewesen wäre. Das freilich fiel aus den so bestimmten und klaren Linien von Marieluis' Wesen. Schien so sehr die Art aller verliebten Mädchen. Aber gerade deshalb bewies es wohl viel. Und aus Herzensgrund hoffte die wartende Mutter, daß Frau Julia im Grunde fördere, was sie zu hindern sich vielleicht vorgenommen. Sie konnte übrigens auch nur sehr von fern dieser Beziehung zusehen und nicht genau nachprüfen, welcher Kitt die zusammenhielt. Denn sie war sehr in Anspruch genommen von ihrem jungen Gast, der ihrer Aufmerksamkeit in besonderem Maße bedurfte. Wie schnell verfliegt eine Rührung – wie rasch flaut ein Enthusiasmus ab. Die junge Tulla war vierundzwanzig Stunden glückselig, daß sie bei der geliebten Frau sein durfte, bei »seiner« Mutter. Aber nach dem ersten Freudenrausch des Wiedersehens kam ein sonderbarer Zustand. Es war keine Enttäuschung. Aber es war ein Warten! Auf irgend etwas Fröhliches, Unterhaltsames. Sie liebte in dieser rasch eintretenden Stille der Empfindungen die teure Frau nicht weniger. Aber sie wunderte sich, wie so ganz anders doch dieses Leben sei. Einen Tag war es sehr hübsch, im Atelier beim Malen zuzusehen. Aber es war schließlich jeden Tag dasselbe. Lesen mochte Tulla nicht. Das erkannte Sophie rasch: dies junge Leben war wirklich noch ganz leer. Man hatte es nur mit Zerstreuungen und Vergnügungen angefüllt. Tulla wurde eigentlich nur lebhaft und froh, wenn sie von Raspe sprach. Unermüdlich hätte seine Mutter von ihm sprechen dürfen. Aber da war ja eine gewisse Vorsicht geboten. Wie leicht konnte eine beredte und von ihrem Sohn entzückte Mutter zu weit gehen, Hoffnungen erwecken ... Das durfte nicht sein ... dazu war sie nicht berechtigt – mußte sich vielmehr hüten, die eigenen Wünsche zu verbergen. Wußte sie denn, zu welchem Ausgang sich des Sohnes Herzenskämpfe hindurch ringen würden? Nein, nichts wußte sie. Aber Sophie, in ihrer Zuversicht, daß in der Tochter des teuren Verstorbenen doch gewiß viel von seiner Art verborgen sei, nahm sich vor, ihrem lieben Gast auf jede Weise zu helfen. Vor allen Dingen begann sie gleich das Bildnis, um, beim Malen plaudernd, sich rasch näher mit Tulla bekannt zu machen. Gern ging Tulla durch die Straßen, besah sich die Läden und kam regelmäßig mit irgendeinem höchst überflüssigen Ankauf für sich selbst oder Sophie heim. »Liebes Kind,« sagte die ihr endlich, »lassen Sie das doch. Ich muß Ihnen einmal vorrechnen, wieviel Geld Sie in einer Woche vertun. Sie werden selbst erschrecken. Davon muß die Frau eines höheren Beamten oder Offiziers ihren Hausstand bestreiten – so viel ist das.« Tulla war betroffen. Sie konnte auch nicht gestehen, daß ihre Mama ihr befohlen hatte, sich durch Blumenspenden und elegante, kleine Aufmerksamkeiten für die Gastfreundschaft dankbar zu erweisen. Sie staunte es ehrlich und überrascht an: diese ihre kleinen Nebenausgaben kamen dem Haushaltsgeld etwa einer Offiziersdame gleich? O, wie schwer hatte es so eine Dame dann! Sie seufzte – ins Unbestimmte. Sie fand auch das Hauswesen rasch unbegreiflich eng und klein. Die ersten Tage war sie entzückt davon. Keine große Dienerschaft um einen herum, die lauert und frech ist und nie zur Stelle, wenn man gerade was will. Aber das, was zuerst wie ein Märchen schien, wurde ihr rasch eine Art Verlegenheit – besonders, wenn sie sich vorstellte: Fiffi von Samelsohn könne das alles hier beobachten. Und sie grübelte sich auch allerlei zurecht – nach Mädchenart. Wenn »er« sich nichts, gar nichts aus ihr mache, würde seine Mutter sie nicht eingeladen haben. Und wenn »er« sie liebte und die große, große Glückseligkeit käme eines Tages, dann brauchte man ja auch schließlich nicht so eng und klein zu leben, wie Frau von Hellbingsdorf tat. Unter dieser Vorstellung erschien ihr der gegenwärtige Zustand wie eine Art Prüfungszeit. Diese Einbildung gab Tulla Mut und befähigte sie, zu verbergen, daß ihr die Tage im Grunde genommen schrecklich lang wurden. Aber Sophie spürte es ja doch. Sie dachte: mit der Zeit! Und sie beschloß, für mehr Abwechslung zu sorgen. Abends ging man dann zuweilen ins Theater. Auch gab Sophie zweimal ein kleines Abendessen. Es waren beide Male je vierzehn Personen. Obgleich Hilfskräfte angenommen wurden, erwuchs der Dame des Hauses doch mancherlei Mühe. Und Tulla dachte vergleichend daran, daß die Mama bei Festessen von viel über hundert Personen nur eine Besprechung mit der Wirtschafterin habe, und sonst nicht die geringste Mühe. Das hatte entschieden doch auch seine Bequemlichkeiten. Aber – war nicht alles, alles egal? Wenn man liebte? Geliebt wurde? ... In dem Umgangskreis von Frau von Hellbingsdorf konnte Tulla das Gefühl von Fremdheit durchaus nicht bezwingen. Marieluis hatte was Unnahbares. Frau Doktor Dorne war ihr zuwider. Obschon in keiner Hinsicht der Mama ähnlich, hatte Frau Julia irgendeine Art zu lächeln – manchmal – die an die Art Mamas erinnerte. Und das ärgerte, reizte, schmerzte Tulla. Und sie wußte nicht, warum ... Mit John Vierbrinck konnte sie etwas über St. Moritz und Wintersport sprechen. Er sah aus und tat wie ein Diplomat und unterhielt sich aus einer großen Distanz. Die Senatorin Amster war einige Minuten sehr liebenswürdig zu ihr. Programmäßig. Der Baron Fritz Patow, der hier nun als Vetter der Familie aus und ein ging, der hätte Tulla schon am besten gefallen. In seiner Hauptmannswürde machte er sich imposant. Es war ein Gemisch von flotter Jugendlichkeit und gesetzter Reife in ihm, das einem jungen Mädchen wohl zusagen konnte. Die Uniform erinnerte Tulla auch – ach so deutlich! – an Raspe. Aber der Baron Patow beschäftigte sich ausschließlich mit Dory Vierbrinck. Auf der ersten Abendgesellschaft schien diese kleine Dory, die so allerliebst naseweis und klug aussah, wovon möglicherweise nur der Kneifer die Ursache war, etwas zerstreut. Nahm es so, als bemerke sie es wenig. Ja, es kam Tulla so vor, als sähe Dory durch ihre Gläser mit den lebhaften Augen oft forschend zu Allert hinüber. Aber an dem zweiten Abend ließ sie sich vergnügt und schlagfertig mit Patow in endlose Neckerei ein. Und wenige Tage nachher begegnete Tulla schon beiden. Sie ritten zusammen; der Bruder John, in vollendeter Haltung, das vornehme Diplomatengesicht von einem zufriedenen Lächeln verklärt, war als dritter dabei. Hinterdrein die Reitdiener. Eine kleine Kavalkade des Vergnügens. Sie waren so mit sich beschäftigt, daß sie Tulla gar nicht bemerkten. Sie kam sich plötzlich – obgleich ihr diese Menschen ja fast fremd waren – wie ausgeschlossen vor. Wie in der Verbannung. Was tue ich hier eigentlich? dachte sie. Aber dann kam es ihr zum Bewußtsein: ich warte. Auf das Glück! Auf den einen , Ersehnten. Ja, wenn »er« nur erst käme, würde auf der Stelle das Leben wieder leicht und unterhaltend und herrlich. Und das gab ihr dann immer von neuem eine zärtliche und fröhliche Stimmung, mit der sie im Hause seine geliebte Mutter in die Täuschung wiegte – ohne auch nur im mindesten täuschen zu wollen – daß sie sich diesem Leben anzupassen beginne. So waren diese Wochen vor Ostern doch wie ein Idyll. Und zu Ostern hatte Raspe Urlaub genommen – zehn Tage, lange – zehn Tage – ja, die können wohl eine Ewigkeit von Glück werden. Aber noch vor Ostern kam in das Idyll eine schwere Störung. Doktor Dorne war für einige Tage verreist. Das geschah sehr selten. Aber er mußte zur Förderung und Nachprüfung seiner chemischen Versuche durchaus das Laboratorium eines befreundeten Fachgenossen in Wien aufsuchen. Er hatte den Reiseplan und die Zeit der Abwesenheit mit seiner Frau besprochen. Am Sonntag nachmittag fuhr er nach Berlin, um dort den Nachtzug nach Wien zu nehmen. Die Rückreise sollte ebenfalls mit möglichster Zeitersparnis ausgeführt werden. Ja, sogar die kurze Strecke von Berlin nach Hamburg wollte Dorne nachts zurücklegen, und er versprach seiner Frau bestimmt, am Donnerstag früh sechs Uhr wieder daheim zu sein. Sie sagte, sie habe eine zu große Unruhe, wenn sie nicht mit allen Gedanken einer solchen Reise folgen könne, Station für Station; deshalb möchte sie gern so genau wissen ... möchte das Kursbuch im Kopfe kontrollieren ... die Hotels wissen, wo er absteige, kurz – im Geiste mit ihm reisen. Und so entsetzlich ihr es sei, früh aufzustehen: sie werde am Donnerstag morgen an der Bahn sein. Dies scheine denn doch ihre einfachste Pflicht, als Dank für all die Arbeit, die sie bewundere, für die er sich die Strapazen dieser hastigen Reise auferlege. Die Augen des Mannes bekamen einen Glanz von Glück. Und er reiste lächelnd ab. Schon am Montagmorgen erhielt Allert dann ein Eilbotenbriefchen: »Lieber Freund! Nun fühle ich mich noch einsamer als sonst. Sie müssen mir heute abend Gesellschaft leisten – nicht Sie allein – wie vielleicht Ihr männlicher Größenwahn sich gleich einbildet – ich improvisiere einen kleinen Kreis: Marieluis, Ihr Vetter Patow, der so liebenswürdig war, Karten bei uns abzugeben, Dory Vierbrinck – ich weiß noch nicht, ob mit oder ohne den vornehmen Bruder. Also bringen Sie Ihren Vetter nicht in die entsetzliche Lage, der einzige Mann zwischen drei Damen zu werden. Bitte eine Telefonnachricht! Ich habe aber nur ein Ohr für sie, wenn es ein Ja ist!« Nun, dies war harmlos und nett und begreiflich. Es kostete Allert keine Ueberwindung, am Telefon das gewünschte »Ja« nach dem Alsterufer hinzumelden. Vielleicht, nein gewiß: seine schroffen Worte damals nach der Blumensendung hatten ihr gezeigt, daß sie niemals Glück damit haben werde, ihn zu ihrem Ritter heranzubilden. Wie es mit dieser Ritterschaft auch gemeint sein mochte: schuldvoll oder schuldlos! Zu einem Spiel mit Ehre und Ruhe hielt er sich zu hoch; zu einem törichten Eitelkeitsdienst hatte er keine Zeit. Aber man mußte eben doch leidlich miteinander auskommen. Er hatte gedacht, sie werde sich rächen für den Abfall. So war er ihr fast dankbar, daß sie den ganz ignorierte. Und es war klug und überraschend vernünftig von der lebensgierigen Frau, daß sie sich nun einen Kreis jüngerer Menschen zu bilden suchte. Innerhalb eines solchen wollte er ihr gern jederzeit gesellige Opfer bringen. Und dann: er sah jetzt bei ihr auch die eine – die er zu meiden wünschte und dennoch nicht meiden konnte. Er war nie mit ihr zusammen, ohne sich voll Zorn zu geloben: ich will sie niemals wiedersehen. Und er war nie drei Tage von ihr entfernt, ohne sich auf das qualvollste nach ihrem Anblick zu sehnen. Allert ging absichtlich recht spät. Und traf trotzdem die noch nicht, um derentwillen er ja eigentlich kam. Da war Dory Vierbrinck, mit ihrem hochmütigverbindlichen Bruder, der sich immer so benahm, als gehöre er dem englischen Oberhause an. Und da war auch Fritz Patow. Allert machte einige merkwürdige Beobachtungen. Der etwas steifen und sehr vornehmen Haltung John Vierbrincks begegnete die Hausfrau mit einer vollkommenen Art von sicherer, aber begrenzter Freundlichkeit. Ihre Koketterie schien sie mit ihren bunten Schuhen in den Schrank geschlossen zu haben. Sie war wie immer sehr schön gekleidet, aber doch hatte sie einige der raffinierten Einzelheiten vermieden, mit denen sie sonst, in der Intimität des Hauses, ihrem Anzug etwas – ja, etwas – Einladendes zu geben wußte. Wie klug diese Zurückhaltung! Sie spürte wohl, daß ein noch so leises Herausfallen aus der strengsten Korrektheit Herrn John Vierbrinck veranlaßt hätte, seinen Eltern zu sagen: diese Frau Dorne ist kein Umgang. Sie sah das Geschwisterpaar zum erstenmal bei sich. Welche Fähigkeit, sich auf die Menschen einzustimmen! Oder vielleicht die Erkenntnis, daß hier eine würdige Zurückhaltung der einzige Weg zu gesellschaftlichen Erfolgen war? Nun – hoffentlich. Und die andere Beobachtung war, daß Dory Vierbrinck und sein Vetter, der Baron Patow, sich auf das offenkundigste miteinander beschäftigten ... Im Januar war es doch Allert vorgekommen, als ob die lebhaften Augen hinter den Gläsern ihm mit besonderem Blick begegneten ... Und es hatte ihm manchmal geschienen, als ob das Gesicht mit den reizenden Grübchen sich ganz verklärte, wenn er sich ihr zuwandte. Das hatte ihn mit Verlegenheit, fast mit leisem Schmerz erfüllt. Und nun? So rasch war, was da keimte, schon hingewelkt? Eine Erleichterung. Gewiß. Und so lehrreich. Er wußte wohl: das ist das Herzensleben von tausend Mädchen. Sie harren, warten – ihre Seelen sind geöffnet und bereit für die Liebe – und sie wenden sich sofort dem zu, von dem sie hoffen oder sicher spüren: er ist der Bewerber! All ihr Lieben ist nur Gegenliebe. Blüte eines Triebes. Er sah auch, wie ein Mann den andern durchschaut, daß Fritz Patow wirklich verliebt war. Die Liste auf seinem Zettel war ja lang gewesen; beim prüfenden Ueberblick über all die junge Weiblichkeit in den Ballsälen und an den Festtafeln mußte sich dann doch wohl seine innere Stimme – die man auch eine Herzensstimme nennen konnte, wenn man wollte – für Dory entschieden haben. Daß da allerehestens eine Verlobungsanzeige gedruckt werden würde, war klar. Sonst hätte der formvolle John nicht dieses Zusammensein durch seine Gegenwart gebilligt. Glückliche Naturen! So rasch, so unbesorgten Gemütes, so voll frohen Sinnes auf die höchste Stufe gemeinsamen Menschentums zueilen zu können. Allert mußte sich zusammennehmen, um sich nicht in zu schwere Grübeleien zu verlieren. Er beschloß seine Neigung dazu mit dem Gedanken: Gottlob, daß auf diese Weise alle Tage noch zahllose Ehen geschlossen werden, sonst sähe es auch schlimm aus um den Staat. Das Gewöhnliche hat auch seine soziale Wichtigkeit. »Wo in aller Welt bleibt Marieluis?« fragte John die Hausfrau. »Wir werden ein Viertelstündchen zu warten haben mit dem Essen. Marieluis hat Abendschule und muß dann erst nach Hause, sich umzukleiden,« erklärte Frau Julia. John machte eine leise mißbilligende Kopfbewegung. »Tante Amster ist mir unverständlich. Nun gottlob, daß ich ihr Dory entrissen habe,« sagte er. »Ich selbst, nun ich näher in diese Art Arbeit hineinsehe, muß gestehen, daß sie mir zu unweiblich ist.« Frau Julia sah nur John bei ihren Worten an, schien sich in keiner Weise an Allert zu richten. »Sie glauben nicht, was man alles kennen lernt. Lebensverhältnisse, Gewohnheiten, naive Sicherheit im Unmoralischen, Liederlichkeit, die aus den Wolken fällt, wenn man ihr vorstellt, daß sie Liederlichkeit ist – nein – Sie glauben gar nicht, Herr Vierbrinck! Und von diesen Dingen hat man ja gar keine Ahnung gehabt, das lernt man alles durch die Vereinstätigkeit kennen. Und ich meine auch, wenn sich Frauen so daran gewöhnen, all diese Dinge mit dem richtigen Namen zu benennen, verliert sogar die Sprache schon den feinen Zauber der Weiblichkeit. Und mit welchen Vorstellungen wird die Phantasie junger Mädchen getrübt, die sich in solche sozialen Unterschichten hinabbegeben.« »Sehr richtig, meine gnädige Frau.« »Ich bewundere die Opferfreudigkeit und den Verstand von Frau Senator Amster, sie ist eine der bedeutendsten Frauen, die ich kenne, nur aus unbegrenztem Respekt vor ihr mag ich mich nicht so rasch wieder von der Mitarbeit zurückziehen. Wo sie selbst mit solchem Fanatismus unermüdlich dabei ist.« »Ja,« sagte John, »Tante und Marieluis sind wirklich fanatisch. Sie sollen mal sehen, an Marieluis erleben wir noch was.« Allert hörte zu; jedes Wort stieß ihn in sein Herz ... Es wurde ihm aber erspart, zu vernehmen, von welcher Art das sein sollte, was John sich noch an peinlichen Ueberraschungen versprach. Denn die Tür tat sich auf, und Marieluis trat herein. Schön und freundlich, von sicherem Wesen – sie hatte ja vorher gewußt, daß sie Allert träfe, und sich darauf gerüstet. Man ging sogleich in das Eßzimmer, und um den kleinen runden Tisch wurde es alsbald lebhaft. »John sagt, Du bist fanatisch,« berichtete Dory lachend. »Das ist mir lieb zu hören. Ich möchte nicht lau sein, in gar nichts,« sagte Marieluis. »Weshalb dauerte die Abendschule denn so lange?« fragte Julia. »Es war nachher noch eine Sitzung. Fräulein Doktor Marya Müller will hier zweimal sprechen. Vorträge, mit sich anschließenden Debatten. Wir haben sie nicht eigentlich herberufen, aber wir stützen die Sache finanziell. Und für den einen Vortrag treten wir auch als Einberufende heraus.« »Was für Vorträge?« fragte Allert. Und Dory, aus ihrem hie und da noch aufflackernden Gewohnheitsinteresse heraus, das aber kein wohlwollendes mehr, sondern im Handumdrehen ein kritisches geworden war, fragte fast zugleich: »Warum bloß für einen?« »Der zweite Vortrag wird von den Forderungen sprechen, die das uneheliche Kind an die Gesellschaft und das Gesetz hat,« erzählte Marieluis, »das ist ja durchaus unsere Sache. Der erste soll das Stimmrecht der Frau behandeln. Mutter ist ja leidenschaftlich dafür und hofft es auch zu erleben, daß sie zur Urne gehen darf. Sie steht doch auch mit einigen englischen Führerinnen der Bewegung in lebhaftem Briefwechsel. Aber hier öffentlich dafür eintreten – das kann sie ja leider nicht. Wegen Vater, weil er doch zur Regierung gehört, es wäre nicht taktvoll.« »Aha!« sagte John und lächelte bedeutungsvoll. Marieluis sah ihn kühl an. »Und Sie,« fragte Allert, »Sie werden sich an den Versammlungen beteiligen?« »Aber doch selbstverständlich. Hoffentlich auch an der Debatte.« »Ach, Marya Müller!« sagte Patow vergnügt. »Die habe ich mal gesehen, ulkiges Weib, das heißt: mehr Mann als Weib, gänzlich maskuline Toilette, wenn man da von Toilette sprechen darf; ohne das bißchen schwarzen Kleiderrock unterm langen Paletot 'raus hätt' ich taxiert: Mann!« »Nun,« bemerkte Marieluis, »das Uebermaß ihrer wichtigen und großartigen Tätigkeit läßt ihr keine Zeit, sich zu putzen. Sie wählt eben die bequemste Tracht. Das muß jeder machen, wie er will.« »Ich sehe Dich im Geiste auch schon so herumlaufen,« prophezeite John. Marieluis zuckte die Achseln. »Es sollte mir einfallen, mit Dir über diese Fragen zu sprechen,« sagte sie. »Nun, nun,« wehrte John ab, »bitte, nicht so von oben ›runter. So ganz ohne Einsicht bin ich ja nicht. Soziale Arbeit – richtig, wichtig, famos. Aber ich meine: laßt das, soweit es eben Weiber machen sollen, wollen, müssen, die Alten, Häßlichen, die Unverheirateten, die Kinderlosen, Enttäuschten tun, und laßt die Jungen, Schönen, Holden, Zarten, Zärtlichen nach wie vor uns beglücken, ihr einziges Ziel darin suchen, eines Mannes Weib zu sein!« Er sagte es mit Pathos, und die Tischgenossen lachten auch, selbst Marieluis, die schon weit darüber hinaus war, sich durch Verulken ärgern zu lassen. »Diese köstliche Teilung aller Weiblichkeit in zwei Gruppen wird Ihnen wohl nicht gelingen,« sagte Allert, und er fühlte, daß seine Stimme gereizt klang, und konnte ihr trotz des Willens zur Selbstbeherrschung keinen festen Klang geben. »Es wird wohl immer Frauen geben, die zögernd auf der Grenze zwischen beiden Gruppen stehen. Solche, die sich einbilden, ihre Pflichten gegen einen Gatten, gegen die eigenste, engste kleine Welt ihrer Familie mit den Pflichten gegen die Allgemeinheit vereinen zu können. Frauen, denen es ihrer Vorbildung und ihren geistigen Bedürfnissen nach ein Opfer wäre, wenn der Schauplatz ihres Wirkens nur die Häuslichkeit sein sollte. Das sind die Frauen, die in das Leben des Mannes, der sie liebt, der sie vor der Berührung mit dem Unreinen hüten möchte, schwere Konflikte bringen.« Und sie sahen einander fest an, zwei stumme Kämpfer, von denen keiner die Schwachheit haben wollte, den Blick zu einer Bitte zu mildern. »Was Konflikt!« sprach der Hauptmann. »Ein rechter Mann hat die Kraft, das Weib ganz zu sich herüberzuziehen.« Und Dory und er lächelten sich offenherzig zu, in Erinnerung an ein Gespräch über Dorys vormalige Tätigkeit. Patow bildete sich nämlich fest ein, daß sein bloßes Erscheinen an Dorys Lebenshorizont genügt habe, sie sofort von ihrer früheren Richtung abzubringen. Und Dory war im Grunde genommen auch schon dieses Glaubens. »Es ließe sich doch auch der Fall denken, daß es einer Frau gelänge, auf die rückständigen Ansichten des Mannes klärend einzuwirken und aus ihm ihren Mitarbeiter zu machen.« Ganz blaß war Marieluis, als sie das sagte, aber sie sah nun an Allert vorbei. Rückständig. Da war es schon wieder, dies üble, dies nichtssagende Wort, mit dem man gar nichts machen kann, und das gerade deshalb so schwer besieglich ist. – Allert sprach, mit Mühe nur allzu hörbare Bitterkeit vermeidend: »Sie und Ihre Mitkämpferinnen sind sehr rasch mit diesem Wort bei der Hand. Und ich fürchte, es trifft – in Ihrem Sinn – auf die meisten von uns zu! Wir haben uns eben noch nicht so ganz auf die neue Frau eingerichtet. Wir sind gewissermaßen bei diesen Entwicklungen und Uebergängen ganz vergessen worden! Niemals haben sich all diese Frauen gefragt: was sagt der Mann dazu? Berauben wir ihn nicht? Dadurch, daß wir sein Leben öder machen und ärmer an Illusionen und Poesie? Ganz einfach: der leidende Teil sind wir, jawohl, das sind wir, mag uns unser Verstand noch so viel Einsichtsvolles vorpredigen, daß das edel und groß und nötig sei, was viele von diesen rastlosen, aufopferungsfähigen Frauen tun. Aber unsere Empfindung sagt nun mal dagegen: von meiner Frau mag ich solche Arbeit nicht getan sehen. Meine Frau soll mir stillen Frieden und Glück ins Haus bringen, sie soll sich allein mit mir und ihren, meinen Kindern beschäftigen. Und wenn dies Egoismus ist, kann man vielleicht sagen, es ist der gesunde Egoismus. Der unbewußt über den Bestand der Familie wacht, deren Gründung immer schwerer wird, ja wohl auch dank der neuen Frau.« Nur Frau Julia fühlte, wußte, daß hier zwei leidenschaftliche und starke Menschen miteinander fochten, um den Weg zueinander zu finden. Sie werden ihn nicht finden! dachte sie triumphierend. Die anderen Zuhörer dachten, es sei ein kleines Wortgefecht. »Meine Mutter zeigt, daß man beides, soziale Arbeit und völligste Pflichterfüllung in der Familie, vereinen kann. Zum Beispiel ist es ihr doch auch ein Opfer, nicht auch öffentlich für Marya Müllers Vortrag über Stimmrecht einzutreten. Sie bringt das Opfer der Stellung ihres Mannes und begnügt sich, in der Stille ihrer Ueberzeugung förderlich zu dienen.« Dies endete das Gespräch, schlug ihn einfach auf den Mund. Was sollte ein Mann von Takt hierauf antworten vor Zeugen? Oh, könnte ich sie nur einmal allein sprechen, wie wollte ich die Worte finden, ihr zu sagen, daß dieser sachliche, kluge Friede im Leben ihrer Pflegeeltern etwas anderes ist als das Glück, von dem ich träume. Aber Allert sah und sprach sie ja nie allein. Und er wagte nicht, ihr eine Möglichkeit dazu vorzuschlagen – solche in der Wohnung seiner Mutter herbeizuführen – das wäre nicht gegangen, ohne eine vorherige Verabredung mit seiner Mutter. Der bloße Gedanke an etwas derartig Inszeniertes war ihm schon zu plump. Das Feinste, Zarteste, Keuscheste auf der Welt mußte in Verschwiegenheit wachsen, wohin es wollte, der Blüte oder dem Untergange zu. – Nicht einmal nach einem geselligen Zusammensein wie diesem konnte er den Heimweg zu ungestörtem Sprechen benutzen. In den meisten Fällen sah er Marieluis mit den Eltern zusammen, oder da war ein Auto, sie zu holen, oder, an ganz schönen Abenden, so wie heute, Lurch, der hinter seiner jungen Herrin wachsam und in Hörweite ging. Allert fand es ja beinahe sinnlos und sah ein ganz naives Betonen einer Doppelexistenz darin, daß Marieluis sich auf ihren werktägigen Gängen allen möglichen Anrempelungen und Gefahren aussetzen durfte, ja, mußte, aber daß sie andererseits innerhalb der Formen ihrer Gesellschaftsklasse sich nicht von einem jungen Herrn allein nach Hause bringen lassen durfte. Frau Julias fünf Gäste brachen gemeinsam auf; alle schienen in der besten Stimmung. Mit Allert hatte sie sich beinahe gar nicht beschäftigt; er fühlte es befriedigt. Vielleicht hoffte sie nun, John Vierbrinck zum Ritter heranzubilden. Mochte es ihr gelingen. Unten vor der Haustür gab es noch einen kurzen Aufenthalt. Da stand die Vierbrincksche Equipage, und John sagte: »Ja, Auto kann jeder reichgewordene Bäcker haben, von Pferden muß man was verstehen.« Und es sah im hellen Straßenlicht vornehm aus, wie der imposante, bartlose Kutscher auf seinem hohen Sitz unbeweglich thronte, die Zügel in den straff vorausgestreckten Händen. Patow klopfte sehr wohlgefällig den dunkelglänzenden Tieren die Kruppe und lobte: »'n paar famose Norfolktrotter.« John und Dory konnten den Baron Patow einladen, mitzufahren, sie kamen, auf ihrem Wege nach der Flottbeker Chaussee, beinahe an der Wohnung des Hauptmanns vorbei. Marieluis lächelte in sich hinein. Es war für Allert nicht schwer, zu erraten, daß dies dem drolligen Schauspiel galt, das ein eifriger Bewerber und eine willig entgegenkommende Umworbene dem Zuschauer immer bieten. Nun gingen sie zusammen die Uferstraße dahin, Lurch auf den Hacken. Also gebunden in jedem Wort, mit jeder Geste. Und doch, es war immer ein bißchen karges Glück, immer eine Gelegenheit, um zu versuchen. Allert hatte sich ja längst in das ergeben, was nun nicht mehr auszulöschen war, in all ihr Wissen von den Düsterheiten des Lebens in seinen Niederungen. Er hoffte wenigstens, daß sein Gefühl das überwinden werde, vergessen könne. Wenn nur fortan – – Die Nacht war wundervoll weich, von allerlei Düften durchhaucht, diesem starken Atem der Frühlingserde, der sich mit dem reinen und feuchten Geruch des Wassers mischte. Auf ihm schlief alles Leben Die kleinen Dampfer rauschten nicht mehr in eiliger Fahrt hin und wieder; nichts pflügte mehr die sich schaukelnden, von blitzenden Reflexen beworfenen Wellen auf. Von den Lichtern aus den Anlagen her spannen sich Strahlen hinaus auf die bewegliche Fläche. Am Ufer die Büsche und Bäume öffneten schon ihre harten Knospen. Ostern stand ja vor der Tür, ein Ostern im April, in der raschen Werdezeit. Alle Reiser schienen voller und schmiegsamer, als sie es noch vor wenigen Tagen gewesen waren, die neuen Säfte kreisten. Und dort, auf der kühlen Flut, wirklich noch ein einsamer Schwan; langsam glitt er dahin, schien sich nur treiben zu lassen, ein Träumer, um ihn das schwarze, überglitzerte Wasser, über ihm ein dunkler, melancholischer Himmel ohne Sterne. Und in das feierliche Schweigen hinein, das die Vorfrühlingsnacht ihnen aufzwang, sagte Allert endlich leise, bittend – noch kein Weib, nicht einmal seine Mutter hatte aus dieses Mannes Mund solchen Ton der innigsten Bitte gehört –: »Sie werden die Versammlung nicht besuchen, nicht an den Debatten teilnehmen?« Sie antwortete nicht gleich. Und er wartete schweigend. Denn er fühlte in einer großen, beglückenden Gewißheit, was in ihr vorging. Daß sie mit sich kämpfte, gleich ihm. Jeder Nerv in ihm war Spannung, sein Herz klopfte. Dieses genaue Voneinanderwissen, nur aus dem Gefühl heraus, hatte etwas Bezwingendes, schien ihnen aufzudrängen: begreift, daß ihr eins seid. Es war dasselbe vollkommene Hinüberwirken von einem zum andern wie damals, als beim Tanz ihr gesundes, starkes Blut in gleicher Leidenschaft aufwallte. Da sagte sie leise und flehend: »Doch! – Aber Sie – ich möchte – ja, ich will Sie bitten – kommen Sie hin – versuchen Sie zu verstehen.« Er antwortete nicht. Er hatte ein dumpfes Gefühl davon, daß er irgend etwas unsinnig Glückseliges getan haben würde, wenn sie ihm versprochen hätte – – Er begriff auch: dieser flehende Ton. Das war viel von ihr. Das brach nicht ungehemmt aus den Fugen ihres stolzen, festen Wesens hervor, das hatte sie etwas gekostet. Aber antworten, versprechen konnte er nichts. Am übernächsten Morgen sah er wieder die kleinen ebenmäßigen lila Buchstaben. Und diesmal schrieb Frau Julia: »Mein Mann kommt schon heute abend. Wie ich ihn kenne, wird ihm daran liegen, Sie gleich zu sprechen, Ihnen von den Resultaten seiner Reise erzählen zu können. Aber mit dem Abendessen werden wir nicht warten. Wenn ich das Kursbuch recht verstehe – es ist für mich Sanskrit, Hottentottisch, Tungusisch –, so kann mein Mann erst halb zehn zu Haus sein. Ich bitte Marieluis, mit uns zu essen; sie ist frei heute abend, das weiß ich gewiß. Vielleicht debattieren Sie dann mit ihr weiter. Sie ist herrlich in ihrer leidenschaftlichen Ueberzeugung für die Sache. Ich komme daneben in den Schatten. Macht nichts. Im Schatten ist es ganz bequem. Ihre Julia Dorne.« Allert war überrascht. Dorne hatte doch vorgehabt, am Dienstag Abend Wien zu verlassen, in Berlin am Mittwoch Vormittag einzutreffen, den Tag dort noch eifrig auszunutzen und dann gegen Mitternacht den Zug nach Hamburg zu nehmen, der hier morgens sechs Uhr eintraf. Nun, es paßte gut. Seine Mutter wollte mit Tulla in die Oper. Er pflegte jetzt an freien Abenden bei der Mutter zu essen. Indem er dann so Dornes Reise überdachte und das, was seine Mutter für den Abend vorhatte, verbarg er vor sich selber, daß seine erste, einzige Aufwallung gewesen war: ich kann sie heute sehen. Wieder, wie am Montag, war Marieluis noch nicht anwesend; dafür fand er aber bei seinem Eintritt ein anderes, höchst überraschendes Bild. Das Zimmer schwamm in rotgelbem Licht, Frau Julia war wie immer von weißem Chiffon zart umflossen, unterm Saum schauten die Spitzen der hellila Schuhe hervor. Eher Bajadere als Mutter! dachte Allert. Denn sie hatte ihre beiden Töchter neben sich, von deren kluger, bedachter Erziehung man so viel hörte, und die man so selten zu sehen bekam. Es war ein liebliches Bild stillen Familienlebens. Die dunkeläugige Dolores hatte ein Buch auf dem Schoß und lehnte das schwarzhaarige Köpfchen an die Schulter der neben ihr sitzenden Mutter. Und Ingeborg, blond, fade von Farben, mit jenem Unglücksgefühl der Fünfzehnjährigen, zu lange und zu viele Arme und Beine zu haben, stand mit einer Wollsträhne über den Gelenken und wickelte an einem Knäuel, der ihr rund und rot zwischen den Fingern lag. Bei Allerts Herannahen fiel ihr vor Verlegenheit der Knäuel aus den Händen und rollte unter ein Schränkchen. Nun bückte man sich und lachte, und der Faden riß. Und dann sagte Frau Julia, die Kinder müßten Gutenacht sagen. Es war nun einmal ihr Prinzip: Kinder gehören nach acht Uhr nicht mehr in den Salon. Durch dieses kleine Vorspiel bekam das Zusammensein etwas unbeschreiblich Harmloses. Allert mochte nicht fragen. Aber Marieluis kam nicht – kam nicht ... Frau Julia bat zu Tisch ... Da war für drei gedeckt ... »Ich hoffe, mein Mann kommt doch noch, während wir unser Hähnchen verschmausen.« Also war das dritte Gedeck für den Gatten? Nicht für Marieluis? »Wenn er schon um halb sechs von Berlin gefahren sein sollte ... Aber das würde mich doch sehr überraschen ... Er hat dringend dort zu tun. – Ich denke, vor elf Uhr kann er nicht eintreffen ... Mir hat er überhaupt bestimmt gesagt gehabt, daß er sich für Mittwoch Abend noch mit Professor Rädels verabredet habe.« »So?« fragte sie, während sie von der Schüssel ein besonders gutes Stück Geflügel aussuchte und ihm auf den Teller legte, »sollte ich das so völlig falsch verstanden haben?« Ihre Unbefangenheit war vollkommen. Und doch fühlte er so etwas wie Aerger leise in sich aufsteigen – aber nur aus dem einzigen Grund, weil sie so gar nicht das Ausbleiben von Marieluis erklärte. Er spürte darin weibliche Hinterhältigkeit – ein spöttisches kleines Rachegefühl –, denn er ahnte, daß sie erraten hatte, daß er in Aufruhr sei ... Er nahm sich vor, auch seinerseits zu schweigen – der Frau nicht den Gefallen zu tun, nach der Ausgebliebenen zu fragen. So ging die Tischzeit hin, in sehr lebhaftem Gespräch. Aber sie wußten doch beide, es war ein verstecktes Gefecht. Julia hoffte, ihm die Frage nach Marieluis abzuzwingen, und er blieb entschlossen, zu tun, als denke er nicht an diesen Namen. Dann kehrte man in das weiche Traumlicht des Salons zurück, und Allert sprach etwas zerstreut vom Kursbuch und daß doch wohl Doktor Dorne nunmehr erst um 11 Uhr 2 Minuten käme, und daß er, am Bahnhof fast vorbeikommend, an den Zug gehen wolle. Fast klang es, als ob er Frau Julia jetzt sich selbst überlassen wolle. Sie sagte flink, das wäre sehr aufmerksam von ihm, und sie ginge vielleicht sogar mit. Sie ließ sich auf die Chaiselongue in der dämmerigsten Ecke nieder, den Ellbogen in das Kissengehäuse am Kopfende gebohrt, das interessante Haupt in die Hand gestützt. Und immer noch hatte Allert nicht nach Marieluis gefragt. Da sah sie dann ein: er hat einen zu harten Kopf! Und ganz rasch, um wenigstens das Vergnügen zu haben, ihn zu überrumpeln, sagte sie: »Marieluis konnte nicht, ihre Mutter hat Migräne oder so dergleichen; Marieluis muß für sie korrespondieren – ich glaube – ich verstand es nicht recht am Telefon. Telefon macht mich nervös.« Plötzlich hatte Allert doch das Gefühl: sie hat Marieluis gar nicht eingeladen – sie wußte auch, daß der Mann nicht hier sein konnte – Aber nein! Das reizende Bild von vorhin wirkte nach, wie sie hier mit ihren Kindern saß. Und da war doch das Gedeck für den Mann auf dem Tisch gewesen. – Die Dienstboten, die Kinder wußten demnach auch: er hätte kommen können – – Als ob Frau Julia ihm an der Stirn ablese, daß da unbehagliche Gedanken sich zu sammeln begannen, so fing sie nun an, auf das munterste zu plaudern. Dabei machte sie es sich auf ihrer Chaiselongue immer fauler und kuschelte sich immer weiter in all diese Kissen hinein; eigentlich lag sie mehr, als daß sie saß. Allert, auf dem Stuhl daneben, etwas vorgebeugt, die Hände zwischen den Knien gefaltet, sah aufmerksam zu ihr herab – dies Exemplar von Frau betrachtend und bedenkend: so was von versucherischer Koketterie, von unbekümmertstem Evatum hat sich doch nur durch männliche Schwachheit entwickeln können. »Ja,« sagte sie mit einem Seufzer, der durchaus offen für gekünstelt genommen werden sollte, »nun müssen wir uns auf die Seite der Engländer schlagen.« »Der Engländer?« »Na ja. Als ich Marieluis einlud, dachte ich mit den Franzosen: le troisième fait la conversation , und hoffte, daß sie, als die unterhaltende Dritte, uns mal allerlei aus ihrer sozialen Tätigkeit beichten solle. Ich sage Ihnen, da gibt es gewagte Situationen und die heikelsten Geschichten. – Aber das ficht Marieluis nicht an. Ich habe sie ja dabei beobachten können. Bewundernswert, sage ich Ihnen. Eine heilige Priesterin, die gewissermaßen mit vollen Händen in den Schlamm greift, um da irgendein Individuum herauszufischen und zu säubern.« Das war für ihn gesagt. Er ahnte es. Und er konnte sich doch nicht dagegen wappnen. Es schmerzte. Sie fuhr angeregt fort: »Das ist nun mal ihre Mission. Ich glaube schon, daß sie wahrmacht, was sie vorhat: ihr ganzes Leben sich dieser Tätigkeit zu widmen – o Gott – das könnte ich nicht – einen beglücken – ja. Aber so Volksbeglückung« – sie schüttelte sich ein bißchen. Und aus dem schmeichlerischen Dämmerlicht leuchteten die Augen heraus, mit glutvollen Blicken – sie waren wie Schauspieler, diese Augen, und führten für sich allein eine ganze Komödie der Lockung auf. Allert schwieg. So merkwürdig versagte ihm, dieser Frau gegenüber, immer sein flinkes, fröhliches Reden. »Also nun müssen wir sehen, ob die Engländer recht haben: two are company, three are no . Zwei sind eine Gesellschaft, drei nicht! Wunderlich – dieses Wort sollte doch viel eher von den Franzosen kommen als das vom Dritten, der die Konversation macht. Zweisamkeit – das Bezauberndste zwischen zwei Menschen, die sich verstehen ...« Und ganz jäh den leichten Plauderton verlassend, sagte sie voll bebender Leidenschaft: »Eine Zweisamkeit mit mir ist Ihnen Last – ja, ich weiß es – Sie verstehen mich auch nicht ...« »Aber, gnädige Frau ...« »Wie durften Sie meine armen Blumen so mißhandeln!« Also doch! dachte Allert und unterdrückte den Seufzer starken Aergers. Nun wußte er, daß dieser ganze Abend auch nur eine genau vorherbedachte, klug angeordnete Szene gewesen war. Er sagte kälter noch, als er selbst wußte: »Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich. Wie kann, wie darf ich Zeichen solcher Güte von Ihnen annehmen ...« »So – und jene Nacht – wo wir vom Feuer heimfuhren – da dacht' ich doch – da durfte ich glauben ...« »Nichts, als daß Erregung der allermenschlichsten Art, daß Weichheit, Nervosität – mich in Ihnen eine schwesterlich Mitfühlende sehen ließ.« »Wenn Sie wüßten, wie ich oft leide ...« Und sie warf sich, plötzlich aufschluchzend, herum und versteckte ihr Gesicht in den Kissen ... Unterdessen war schon vor einer Stunde ein blasser, reisemüder, überarbeiteter Mann aus den Wagen gestiegen, die der D -Zug von Berlin in rasender Fahrt nach Hamburg gebracht. Es war Dornes fester Vorsatz gewesen, in Berlin noch den Abend mit seinem Studienfreund Professor Rädels allerlei Fachmännisches durchzusprechen. Auf der Nachtfahrt von Wien nach Berlin hatte er wenig geschlafen. – Sein Gehirn durchsiebte rastlos alles, was es aufgenommen hatte – verglich eigene Resultate mit den in Wien gesehenen, ging bohrend und konzentriert all diesen unerhört schwierigen Formeln und Zahlen und Zeichen der chemischen Versuche nach. – – Und dann – ganz jäh fuhr, wie ein Blitz, der Gedanke an die vergötterte Frau dazwischen. – Und sein erschöpftes Hirn hatte einen tollen Gedanken ... Wenn er wüßte – wenn es eine Wissenschaft gäbe – das geheimste Leben solcher Frau zu erforschen – auseinanderzulegen – wie eine chemische Verbindung. – – Weil es seine Frau war, und weil sie sich auch gerade vor ihm mehr verbarg als vor anderen Männern, sah er sie als etwas Geheimnisvolles. – Zuweilen – – In Berlin gönnte er sich kaum rechte Muße zu Mahlzeiten und dachte: Heute abend werde ich mit Rädels vortrefflich essen und in Ruhe mit ihm sprechen ... So bei Tisch – das ist keine Anstrengung mehr. – Und inmitten aller Hetze kam ihm dann immer die Vorstellung: sie will morgen so früh aufstehen ... Das rührte ihn ... Das wollte er ihr ersparen ... Und plötzlich fragte er sich: was sie wohl heute abend tut? Montag hatte sie einige Gäste, daß sie sich die zusammenbitten wollte, erzählte sie noch, ehe er ging ... Aber Dienstag abend? Und heute abend? – Oh, und das frühe Aufstehen ... Morgen früh halb sechs Uhr schon an die Bahn ... Solch ein Unsinn ... Aber sie machte manchmal solche törichte Aufopferungen – nur um ihm zu zeigen, wie teuer er ihr war ... Und ganz aus den dunkelsten Gründen seiner Erinnerungen kam so etwas herauf wie Schreck – eine Beobachtung meldete sich – – Immer fielen diese Beweise von Zärtlichkeit in Zeiten, wo er voll Unruhe war – wo es ihm schien, als stehe ein anderer Mann an seinem Wege und wollte seine Straße als Räuber kreuzen ... Aber welche Tollheit ... Nein! Und er zwang das nieder – wie so oft – schämte sich – bat den fernen schwarzen Augen alles ab ... Und fünf Minuten vor fünf depeschierte er doch an Professor Rädels, daß er sogleich nach Hamburg weiterreisen müsse und am Abend nicht mit ihm zusammen sein könne ... Während er die Depesche schrieb, quoll ihm die Güte, die weiche Sehnsucht nach der Frau als Rührung im Herzen hoch. Nein, sie sollte nicht früh in den rauhen Morgen hinaus. – Diese ersten Apriltage steigen oft mit solcher Herbheit aus der Nacht empor. Das wollte er ihr ersparen – er wollte sie überraschen. – – Und seltsam – als er sich jäh vorstellte: sie nimmt die Ueberraschung vielleicht unfreundlich auf – da siedete so etwas wie Haß über das weiche Gefühl hin – und ließ ihn erbeben. – – Die Fahrt wurde fiebrische Ungeduld. Sie sank aber in feigste Unschlüssigkeit zusammen im Augenblick, wo er den Fuß auf den Asphalt des Hamburger Bahnsteigs setzte. Wo war sie? Einsam und friedlich zu Haus? Mit den neuen Bekannten im Theater? Hatte sich jemand der Strohwitwe angenommen und sie für den Abend eingeladen? Vielleicht war Frau von Hellbingsdorf so gütig gewesen. Oder lud sie sich irgendeine Gesellschaft ein? Marieluis? Oder – oder Allert? ... Der Mann fühlte: sein Mut versank ihm, wie Boden unter den Füßen beim Erdbeben ... Plötzlich dachte er, daß er zunächst zu seinem Teilhaber gehen und ihm von den wichtigen Erlebnissen der Wiener Reise berichten wolle. Allert selbst war darin so aufmerksam: kam er heim von einer Geschäftstour, müde, abgespannt, so trat er doch noch oft spät bei dem Arbeitsgenossen ein und sprach von seinem Erfolg. Es erschien mit einemmal als die nächste Pflicht: zuerst zu Hellbingsdorf. Der war ja nun, seit seine Mutter hier wohnte, jeden Abend bei ihr. Außerdem: Frau von Hellbingsdorf war so gütig, nahm sich Julias an, obgleich sie sie nicht mochte – ganz seltsam hellseherisch begriff er das mit einem Male. – Ja, wahrscheinlich – Julia war dort. – – Also dahin – gleich – zuerst. – – Und er schleppte, völlig wie verbohrt in seine Gedanken, seinen Handkoffer selbst mit sich ... Vom Hauptbahnhof nach »An der Alster« – wenige Minuten ... Dann treppan – treppan. – Und der schrille, zitternde Klang der elektrischen Glocke fuhr über seine Haut als Frösteln. Therese öffnete. »Ih, Jotte doch, der Herr Doktor Dorne – nee, das wird die Herrschaft aber bedauern ... Was meine j'nä Frau is, die is mit Fräulein Rositz in de Oper ... Herr von Hellbingsdorf? Ih nee, wenn die j'nä Frau nich zu Haus sind, kommt er nich hier Abend essen ...« »Darf ich einen Augenblick eintreten,« bat er. »Aber jewiß doch – darf ich 'n Ilas Wein bringen? Oder 'n Happen Butterbrot – Herr Doktor seh'n flau aus ...« »Danke, danke ...,« wehrte er ab. Therese fand es ja ein bißchen wunderlich, daß er in das große Wohnzimmer vorn eintrat und ihr abwinkte, als sie das Licht aufdrehen wollte ... Aber was wollte sie machen? Wo es doch eben Herr Doktor Dorne war ... Er trat in dem dunklen Zimmer ans Fenster. Es war matt durchhellt vom Licht, das die Räume einer Weltstadt immer füllt, das in Straßen und auf Plätzen die Nacht vertreibt und noch bis zu den höchsten Stockwerken hinauf seinen Schein sendet. Er sah hinaus und hinüber ... Die Nacht war klar. Schwarzblank flutete da unten das Wasser, und das Verkehrsleben zog drüber hin. Erleuchtete kleine Dampfer krochen, gleich Riesenglühwürmern, hin und her – begegneten sich, zogen in geraden und geschweiften Linien aufeinander zu und wieder auseinander – ruhten an Brücken zwei Minuten aus und rauschten weiter ... Der Himmel stand schwarzblau und mit Sternen besäet über ihm. Kein Lüftchen regte sich. Drüben, hinter den Anlagen des jenseitigen Ufers, sah er die Häuser. In ihren Fronten waren die erhellten Fenster wie längliche viereckige, unregelmäßig aufgeklebte Stückchen Glanzpapier auf dunklem Grund. Und er sah so deutlich zwei, die rotgelb schimmerten. – Vielleicht sah er sie nicht wirklich – oder nahm irgendwelche hellen Flecke dafür. – – Ja, so deutlich sah er sie – daß er dahinter, durch die Seide und den Tüll der Vorhänge, eine Frau auf umdämmerten Kissen sich dehnen sah – und sie war nicht allein ... Therese kam aus ihrer Küche heraus. Sehr eilends und erschreckt. Da war doch eine Tür hart ins Schloß geworfen worden? Und sie ging nach vorn. Nein – das! Weg war der Doktor, und da stand wahrhaftig sein Handkoffer ... Der Mann lief treppab – er rannte an der Uferstraße hin und rannte Menschen an – er kam an die Lombardsbrücke – seine Füße wurden schwer – immer langsamer ging er. – Und ob er gleich endlich nur noch schlich – einmal kam er doch an ... Er ging auf und ab vor dem Hause – lange. Dann schritt er über den Straßendamm und betrat die Anlagen am Ufer, die die Straße jenseits einfaßten. Von da konnte er an der Front des Hauses emporsehen. Und nun sah er sie wirklich, diese beiden sanften, von rotgelbem Licht so warm und lockend erfüllten Fenster, und sah die dicht zusammengezogenen Vorhänge, durch die all dieser wohltuende Schimmer kam ... Die Feigheit fiel von ihm ab wie ein gelöster Panzer – er war plötzlich kalt, entschlossen, sicher. – Dies friedlich schöne Licht war ihm wie ein Ruf. – Er ließ sich davon rufen ... Schnell ging er ins Haus – auf den Treppenstufen mit dem kleinen, stählernen Schnepper fingernd ... Und stumm – ohne daß ihm wie sonst dieser nervöse, trockene Hustenreiz kam, der wie ein Heroldsgeräusch war – stumm und rasch trat er ein ... Da lag in der dämmerigsten Ecke des Zimmers, tief eingebettet in all diese phantastischen, farbigen Kissen ein Weib, von dünnen, weißen Stoffen war der schlanke Körper straff umspannt – Und neben ihr saß vornübergebeugt ein Mann und schien zu der Weinenden zu sprechen ... Allert erhob sich auf der Stelle – peinlich betroffen – jäh von dem Gefühl erschreckt, daß ein Rasender ihn beschlichen habe – daß der ihn falsch sähe – mißdeutend – »Dorne!« sagte er; »also doch noch. Ich hoffte Sie hier zu finden. Und da Sie nicht gekommen zu sein schienen, besprachen wir schon, daß wir Sie um elf Uhr am Zug empfangen wollten.« »Das ist Lüge,« sprach der andere Mann. »Sie sind ein Lügner und ein Schuft.« Allert erbleichte. »Herr« – – brauste er auf ... »Sie wußten, daß ich erst morgen früh halb sechs ankäme. Und sie – sie wußte es auch ...« »Ich bitte Dich!« rief seine Frau dazwischen – und welche kalte, herrische Verachtung war in ihrem Ton. – »Was fällt Dir ein ... bleibe doch geschmackvoll.« »Wir haben uns wohl in diesem Augenblick nichts mehr zu sagen,« fuhr der Mann fort – in einer furchtbaren, stillen Sammlung – ein Besessener, der nicht tobt – »ich bitte Sie, mich mit meiner Frau allein zu lassen.« Allert, mit einem vor Zorn entstellten Gesicht, versuchte sich zu sammeln. Er begriff – er mußte es sich versagen, jetzt mit diesem Mann zu streiten. Das Briefchen der Frau, das ihn hergelockt, trug er bei sich – er konnte, er durfte sich nicht auf Kosten des Weibes reinigen von Verdacht. Nach diesen Beleidigungen hatte er dem anderen den Glauben an seine Ehre mit nachdrücklicheren Mitteln einzuschärfen, als es Worte sind – – »Ich gehe,« sprach er ruhig, »Sie verstehen von selbst, daß ich meine Antwort auf Ihre Beschimpfung zu geben wissen werde ... Die Rücksicht auf die Dame gebietet mir aber noch, Ihnen mein Ehrenwort zu geben, daß ...« Der Mann erhob unterbrechend, abwehrend die Hand – es war eine gebieterische Geste des Schmerzes – in den hellen Augen glimmte ein gesammelter, kalter Haß. – Das gab ihm Größe, diese kurzauf züngelnde Größe, die dem Wahn die Gewalt gibt, sich über die Wahrheit zu setzen ... Und Allert gehorchte. Er ging. Nicht ohne von der Schwelle her eine förmliche Verneigung in der Richtung zu machen, wo er die weiße Frauengestalt sah. – »Du bist toll!« sprach sie und zuckte die Achseln. »Die Szene verzeih ich Dir nie. Du hast Dich lächerlich gemacht.« »Ich bin nicht toll. Ich habe nur endlich den Mut zu sehen ...« »Aber mein Himmel – – Er gab Dir doch sein Ehrenwort.« »Ehrenworte in diesen Dingen sind immer Lügen.« »Wenn ich Dir doch schwöre – –« »Deine Schwüre sind auch Lügen ...« Sie sah ihn an. Sie kannte die Männer von Grund aus. Auch den ihren. Und hatte ihn tief verachtet, weil er mit sich spielen ließ ... Nun war sie betroffen, sah etwas Rätselhaftes – das sie nie – auch in ihrem ganzen künftigen Leben nicht begriff. So oft war er blind gewesen – hatte blind sein wollen – aus Hörigkeit – und diesmal – diesmal, wo er keinen Grund zur Eifersucht hatte – – Diesmal?? ... Unfaßlich war es – ganz unfaßlich. – Wie sie so, einige Herzschläge lang, mit jagenden Gedanken, ihm in die Augen blickte, quoll leise ein neues, furchtbares Gefühl in ihr auf ... Angst vor diesem Feigling. Was ist Angst vor einem Zornigen? – Was Zittern vor der Mannhaftigkeit? – Nichts, nichts – – aber wenn die Feigen hassen! – »Ich will Dir Beweise geben,« sprach sie langsam. »Wie könntest Du!« »Doch. Ich will Dir das einzige Briefchen geben, das ich von ihm habe.« »Es kann eine Lüge sein – wie alles – –« »Nein. Du wirst sehen – ich schickte ihm einmal Blumen – er ist so plump – sah Gott weiß was drin – wies sie zurück – –« Sie ging an ihren Schreibtisch. Sie schloß auf. – Da hinten im Fache – wie viel Briefe – sauber in Bündeln – umbunden mit kleinen Goldlitzen. – Und vorn allerlei Papiere durcheinander – Rechnungen – dazwischen noch Allerts Zeilen im Umschlage, darauf die Adresse von seiner kräftigen Schrift. – Sie hatte nicht gleich gespürt, daß ihr Mann herankam – schleichend fast – und hinter sie trat. – Gerade hatte sie Allerts Brief in der Hand, und nun wandte sie sich rasch um, mit ihrem Körper den Blick auf das offene Schubfach zu hindern. – Ein jähes Gefühl trieb sie warnend, – sonst trat ja dieser Mann schonend hinweg, wenn sie in seiner Gegenwart einmal an ihren Schreibtisch ging – als scheue er den Blick – wolle Diskretion zeigen. – Und nun kam er so nah heran? – Zu spät – er stieß sie fast hinweg – er umkrallte den Rand des offenen Schiebefaches ... »Was willst Du? ... Hier ist Allerts Brief ...,« schrie sie. Er dachte nicht mehr an Allert – oder nicht mehr an ihn allein – da waren andere Handschriften – in Bündeln, wohlgehäuft, lagen sie da – das Herz und Hirn seiner Frau spiegelten sie – hineinsehen konnte er nun – wissen, wissen, wissen – – Sie rang mit ihm. Umsonst. Und endlich kauerte sie, die Ellbogen auf den Knien, das Gesicht in den Händen, auf dem Rand des Ruhebettes. Nicht mehr eine Verführerin, sondern ein für den Augenblick geschlagenes Weib, das nun trachtete, sich zu sammeln, seine Hilfskräfte zu bedenken, sich klarzumachen, wie der Mann dennoch zu besiegen sei ... Dieser bettelhafte Mann. Oder war er nicht mehr der gierig Verlangende, von ihrer Gnade Lebende – vor ihrem Blick Zitternde? – Nicht mehr? Er saß vor dem Schreibtisch – über die aufgezogene Schublade geneigt – die wie ein Stück entblößtes, aufgewühltes Dasein war. Feine Goldfäden wurden zerrissen – sauber geordnete Briefbündel glitten auseinander, als seien sie in lauter kleine Schollen aufgelöst worden – aus ihren glatten, stillen, weißen, flachen Lagern standen die Worte wieder auf, die ihr Leben nur durch die Augen haben, die sie liest – die nicht sind, wenn das Papier nicht entfaltet wird, darauf sie sich hinreihen. Hier waren aber kalte, feste Finger, die aus dem Spaltenmund dereinst in fiebernder Wonne geöffneter Umschläge nun die zusammengelegten Bogen nahmen. Hier waren stechende Blicke, die in furchtbarer Ruhe lasen. – – Die Minuten liefen. Außer dem Rascheln der Papiere kein Laut. Die Frau seufzte nicht einmal – sie horchte – sie dachte – sie erwog. – Und da stand er auf. Befreit. Ein Mann. Er fühlte keinen Schmerz – noch nicht – in dieser Stunde noch nicht. Ganz wunderbar beschwingt und erlöst war ihm. Er hatte seine Hörigkeit zerbrochen. Nicht einmal Liebeshaß war in ihm – nur das Gefühl, daß irgend etwas Ungeheures von ihm genommen, daß Schimpfliches zu Ende sei. Eine Schmach beendet. Er ging auf die Frau zu. Sie erhob ihr Gesicht aus den Händen und sah ihn an. »Laß mich Dir sagen ...« »Nichts!« unterbrach er sie; »Du wirst zu tun haben, was ich Dir befehle. Es mag jetzt halb elf – elf sein – in einer halben Stunde kannst Du das Nötige gepackt haben. Um Mitternacht gehen Züge – einerlei wohin – nach Köln, nach Frankfurt – oder Du kannst nach Altona hinüber fahren, im Hotel bleiben, morgen früh reisen – –« »Aber laß doch mich ...« »Nichts!« sagte er. Und er sah sie an – mit seinen hellen Augen – fest, kalt – erstaunt fast – und langsam quoll nun doch etwas in ihm auf – als Vorbote künftigen Grames: ein furchtbarer Zorn gegen die Frau, die auch Mutter war ... Er sah diese arme, junge, hochaufgeschossene Ingeborg, die immer verlegen war und sich überflüssig fühlte neben der schönen Mutter – und er sah das dunkeläugige Kind mit dem spanischen Namen und dem tollen Temperament – – Sie erkannte einen Wechsel in seinem Auge. Daß da was aufglomm. Es wirkte furchtbar. Und eine wahnwitzige Idee zuckte durch ihr Hirn. Wenn er haßte, sich rächen, sich von ihr befreien wollte ... Er brauchte nicht Dolche und Kugel. Er beherrschte eine fürchterliche Wissenschaft – sie machte ihn, wenn er wollte, zum Herrn über Leben und Tod – leise, unentdeckbar, konnte er hinwegräumen, was seiner Rache verfallen war. Sie fror vor Angst. Und wenn sie auch in dieser Stunde so lange rang und flehte und log und verführte, bis ihr Sieg ward. – – Er konnte morgen, in wiedererwachendem Haß, ihre Speisen mischen und ihr jeden Trunk zu einem schleichenden Todesurteil machen. Dieser Wahnsinn – diese Furcht vor der Rache eines, den sie feige gekannt, brach ihren Willen – gab ihm die neue Richtung: nur fort – fort – – um ihr Leben schien es zu gehen – nur fort. – – Sie erhob sich. Mit ihrer letzten Kraft versuchte sie Hochmut zu heucheln. »Geh,« sagte er. Und sie ging. Allert war von jener merkwürdigen Gefaßtheit wie gebunden, die so oft einem großen Schreck nachfolgt. Ganz erstaunlich kaltblütig und ruhig fühlte er sich, als er langsam die Treppen hinunterging. Er ging nach Hause. Es war weit. Das gelassene Dahinschreiten tat gut. Er fragte sich: und jetzt? Das nächste war klar: an Patow schreiben: Komme sofort und stehe mir in einer Ehrensache bei. Von heute auf morgen ließ die sich natürlich nicht abwickeln. Wen hatte denn Dorne? Hier keinen Menschen. Er gehörte einer schlagenden Verbindung an. Er mußte sich einen von seinen alten Korpsbrüdern herbeizitieren. Also das gab eine Verzögerung. Und die schien zunächst das allerärgerlichste. Eine Beleidigung soll sofort abgewaschen werden – solange sie es nicht ist, brennt sie wie Feuer weiter – Der Kerl war verrückt! dachte Allert kräftig. Nun, das sind die Sinnlosen ja immer. Aber ihre Taten ziehen die Besonnenen mit in den Wirbel und Abgrund. Allert fühlte voll Empörung, daß er nicht die mindeste Lust habe, sich totschießen oder schwer verwunden zu lassen. Wegen so einer Frau! Das war denn doch zu toll. Ihm fiel ein weiser Ausspruch ein, den Fritz Patow früher mal getan: Bei wirklich schuldvollen und gefährlichen Geschichten hat man viel mehr Sicherheit als bei bloßen Unvorsichtigkeiten! Schuld meidet eben den Schein, die Unbefangenen tappen oft zu dumm in was 'rein. Und hier konnte ja nicht einmal von Unvorsichtigkeit und dummem Hineintappen die Rede sein. Auf welche Weise hätte er sich denn diesem Zusammensein entziehen sollen? Er war doch an den Mann gekettet. Da ließ es sich schwer einrichten, die Frau zu meiden. Daß die Eifersucht des Mannes sich so jäh gegen ihn gewendet hatte, war Allert nicht sehr verwunderlich. Da hatte eine Zündschnur lange geglimmt und das Feuer des Argwohns sich allmählich herangefressen an den Sprengstoff. Dem armen Menschen konnte man aber jetzt seinen bösen Irrtum nicht klarmachen. Vor der Hand handelte es sich einzig um seine eigene verletzte Ehre und darum, die erfahrene Beschimpfung abzuwehren. Allert schüttelte den Kopf. Es gibt wahnwitzige Sachen, dachte er. Wie lange, wie oft war dieser Ehemann wohl blind gewesen. Und nun – ausgerechnet diesmal, wo keine Ursache war ... Es hätte nicht viel gefehlt, daß Allert auflachte. In allem ist auch immer eine verborgene Komik. Die spürte Allert stets deutlich heraus, dazu hatte er ein förmliches Talent. Aber diese Geschichte ging ihn denn doch zu peinlich nah an, als daß er sich wohlgefällig am Grotesken darin hätte erbauen können ... Ihm kam die Frage: wie die zwei nun wohl miteinander abrechnen? Welcher Genuß für die Frau, welche famose Chance, als unschuldig Angeklagte aufzutrumpfen! Um danach und dadurch sich desto sicherer als Herrin dieses hörigen Sklaven zu fühlen. Na, immer zu. Jeder Mann hat die Frau, die er verdient ... Man kann zu einer kommen, die man nicht verdient hat – aber was man dann behält, das ist eben nicht mehr Sache des Schicksals, sondern des Charakters. Seine Gedanken verließen das Ehepaar und begannen wieder die Regelung der Ehrenfrage zu umkreisen. Allert wußte, daß er von dem Augenblick an, wo er Patow bitten mußte: nimm das in die Hand – ordne das! eigentlich willenlos wurde. Dann hatte er sich ganz einfach in das zu fügen, was seine Sekundanten ausmachten ... Eine rasende Ungeduld stieg in ihm auf. Daß man nicht gleich und ganz primitiv sich selbst seine Genugtuung nehmen konnte! – Er beneidete dem Mann aus dem Volke sein Faustrecht. – Dem Beleidiger auf der Stelle einbläuen dürfen: was unterstehst Du Dich! Wie entladend, wie herrlich entspannend mußte das sein. Nun hieß es schwüle Tage voll qualvoller Stimmungen ertragen. Allert dachte daran, daß sein Dasein doch gerade in diesem Augenblick sehr reich sei – Kampf um Erfolg – Kampf um ein Weib. Ja, rechtes Mannesleben war das. Und nun? Sollte eine Ironie des Schicksals all das enden? Sollte er, gerade er seine Brust den Schüssen darbieten, die zukömmlichere Ziele bei anderen Gelegenheiten hätten finden können? Nein. Ein unzerstörbares Vorgefühl sagte ihm, daß er nicht an einer Albernheit scheitern würde. Die Geschichte würde sich ordnungsgemäß abwickeln; man schösse vielleicht ein paar Löcher in die Luft – hüben und drüben – denn der zur Besinnung gekommene Dorne würde ja wohl nicht an ihm zum Mörder werden wollen, und er selbst hatte nicht die mindeste Lust, dem Gatten der lüsternen Frau Julia das Leben zu nehmen. Also das mußte nun mit anständiger Haltung – zu der vor allem Geduld gehörte – durchgemacht werden. Und dann Schluß – Er kam so, in überlegener Fassung, in seine Wohnung. Die paar Zeilen an den Vetter Hauptmann waren rasch entworfen – ein Ruf, daß Fritz so schleunig als möglich sich herbeibemühen möge. Schererei für Fritz, dachte er. Sekundant sein, ist immer lästig – freilich, es gibt auch da freudige Spezialisten – aber so einer war ja Fritz Patow nicht. Nun, er würde aber die Situation mit Würde beherrschen. Plötzlich fiel Allert ganz etwas anderes ein. Und er blieb wie versteinert stehen – gerade vor dem Briefkasten, in den er das Schreiben an Fritz werfen wollte – die nächtliche Straße war so einsam – und durch ihre Stille kamen deutlich die Geräusche – wie sich wenige Figuren von einem leeren Hintergrunde genauer abheben als vor einem Menschengewühl – das pünktliche Stampfen irgendeiner Maschine – das rasche, puffende Ausstoßen von Dämpfen aus einem Ventil – wie aus keuchender Menschenbrust kam das. Allert hörte ein Weilchen zu, wie um den Gedanken, die ihn so schreckhaft überfallen hatten, erst noch Sammlung zu gönnen. Ein greller Pfiff, den eine Dampfpfeife irgendwo auf dem Kanal oder in einer Fabrik hinausschrie, riß ihn dann aus dieser Pause – Was hieß das: und dann Schluß!? – Er konnte ja gar nicht mit dem Manne Schluß machen. Solche Teilhaberschaft löst sich nicht von heute auf morgen! Ganz abgesehen von dem schlechten Eindruck in der Geschäftswelt ... Ende November hatte man sich zusammengetan – im April lief man wieder auseinander? Nein – ganz einfach – das war unmöglich. Das hätte die Firma in einen zweifelhaften Ruf gebracht – das hieße, alles an junger Ehre, erwachendem Ansehen, aufsprießender Ernte preisgeben, was man in vier Jahren sich blutsauer erkämpft ... Und viel mehr noch: nicht nur um des Ansehens willen, des moralischen Kredits halber konnte er sich nicht von diesem Teilhaber trennen. Da war ja dies Geld! Dieses so bitter nötige Kapital – um dessentwillen er sich ja doch überhaupt mit Dorne zusammengetan hatte. Und wenn sich das Unternehmen noch auf der gleichen Basis befunden hätte! Noch begrenzter und kleiner, wie vor Dornes Eintritt – wie vor dem großen Brande! Vor Allerts Erinnerung stieg die hohe Flamme wieder auf, die so prachtvoll und furchtbar in die Winternacht emporloderte ... Nach dieser großartigen Vernichtung hatte man begonnen, das Dichterwort wahr zu machen und neues Leben aus den Ruinen blühen zu lassen. Die Neubauten – schon waren sie im Rohen und Aeußeren vollendet, und drinnen begannen die Monteure und Installateure die betriebstechnischen Einrichtungen – diese Neubauten waren für eine doppelt so große Fabrikation, für einen stark erhöhten Umsatz angelegt worden ... Und mit dem Gelde dieses Mannes ... Ich kann nicht von ihm los! dachte er. Aber man kann sich doch heute nicht mit jemand schießen, der einen Lügner und Schuft genannt hat, und morgen mit diesem selben, friedlich und von den gleichen Interessen beseelt, geschäftliche Dinge beraten? Allert fühlte einen furchtbaren Widerwillen gegen den Mann und sein still vornehmes Gesicht mit den hellen, stechenden Augen in sich emporkommen. Dieser Mann – begabt, tüchtig, fleißig – dieser Mann: feig, sklavisch, blind, unwürdig verliebt – Und er dachte bitter: ein Mann, der ernste Pflichten hat, der mit seinem Kapital, seiner Arbeitskraft, seinem Unternehmungsgeist sich in das große volkswirtschaftliche Getriebe hineinbegab, der darf sich nicht durch ein Weib aus der Richtung werfen lassen. – Nun, das dürfte natürlich kein Mann. Aber für einen, der kämpft, ist das alles schwerer – man steht nicht allein, man steht nicht sicher – die eigene Unruhe gefährdet andere – der eigene Sturz reißt andere mit ... Was sollte nun werden? Konnte er sich denn überhaupt mit einem Mann schlagen, mit dem er dann gleichen Tags zusammen weiterarbeiten mußte? Unmöglich – ganz unmöglich – Aber wie sollte sich dies lösen? Hieß es, sich einfach gleich zufrieden geben, wenn der Beleidiger kam und um Verzeihung bat? Weil Geldinteressen zur bereitwilligen Nachsicht zwingen? Ging es etwa in dieser Welt so zu – in dieser, für seinen Stand neuen Welt? »Hab' ich eine andere Ehre bekommen? Eine von lockeren Linien – die sich dehnen lassen – die man gelegentlich nicht zu streng ziehen darf?« Und er wog den Brief zweifelnd in der Hand ... Nein – tausendmal nein – Edelmann – Kaufmann – Ehre bleibt dasselbe. Und er schob entschlossen das Schreiben in den Kasten – die Drahtzähne des Kastenmundes klapperten – nun war es geschehen. Allert ging heim. Das gab eine Nacht ohne Schlaf. Zwei Gewißheiten sprachen immerfort laute, deutliche Worte zu ihm. Diese: »Du kannst mit dem Mann nicht mehr zusammen arbeiten.« Und dann dagegen, ebenso bestimmt: »Du kannst nicht ohne ihn arbeiten.« Allerlei Geschichten fielen ihm ein, von feindlichen Teilhabern, die nie direkt ein Wort zusammen sprachen, sondern sich alles durch eine Mittelsperson sagten, und die in Haß, Gift, Groll doch zusammenblieben, weil ihr Unternehmen blühte und weil sie das Geld hereinströmen sahen. Nein, dachte Allert, das wäre nichts für mich. An solchen Verhältnissen würde seine Lebensenergie, sein Humor versiegen. Arbeit muß in Fröhlichkeit getan werden, dann allein ist sie eine beglückende Kraftübung. Arbeit in Groll – die verbittert – zehrt auf. Aber woher Kapital nehmen? Die Frage stand vor einem halben Jahr erst vor ihm. Dornes Eintritt in die Fabrik löste sie – scheinbar glücklich. Nun war diese elendeste aller Fragen abermals da ... Aber sie stellte sich mit härteren Zügen hin und sah Allert böser an ... Dem Morgen ging er entgegen, als steige da ein Schicksalstag herauf – – Er brachte aber viel Peinlicheres als Schlag und Krach. Er brachte unklare Stille. Fritz Patow kam. Und alles bißchen Typische – diese kleinen Gewohnheiten, die an der Grenze stehen und sich so leicht bespötteln lassen, die waren wie weggewischt. Ernst, sachlich nahm er die Mitteilung entgegen ... Allert war ja Reserveoffizier – die Angelegenheit mußte dem Ehrenrat unterbreitet werden – zugleich aber auch mußte Patow sich von Doktor Dorne dessen Sekundanten nennen lassen ... Das hatte alles seinen vorgeschriebenen Gang. Das Unfaßliche schien Allert nur, daß er in sein Büro gehen müsse ... Man würde suchen, sich zu vermeiden – aber gab nicht jeder Tag zehnmal die Gelegenheit und Notwendigkeit zu Begegnungen und Besprechungen? Aber er hörte dann: Herr Doktor Dorne war nicht in seinem Laboratorium. Der junge Assistent, den Dorne sich vor kurzem genommen, kam mit Fragen zu Allert. Dieser riet: telefonieren Sie ... Und bald danach kam aus der Dorneschen Wohnung die Nachricht: die gnädige Frau sei heute nacht, der Herr Doktor mit beiden Töchtern heute morgen abgereist. Das auskunftgebende Mädchen schien zu glauben, daß eine Schwester des Herrn schwer erkrankt und daß die Familie zu ihr gereist sei. Später brachte der Bursche des Hauptmanns von Patow einen Brief, der kürzer ähnliches berichtete: »Ganze Familie Dorne von der Bildfläche verschwunden. Soweit ich verstand: Madame allein in der Nacht; der Mann früh mit den Töchtern. Ich deponiere mein Ersuchen somit schriftlich in seiner Wohnung. Es heißt also seine Rückkehr abwarten. Fataler Zustand. Aber das ist so oft in diesen Sachen, daß die so erwünschte prestissimo Abwicklung sich nicht erzwingen läßt.« Warten – warten. Das war in dieser Lage unerträglich. Und dazu kam eine dumpfe Unruhe. Daß die Frau in der Nacht allein abgereist sei, ließ einfache Erklärungen zu. Es war zwischen den Gatten zum Bruch gekommen. Vielleicht hatte er ein großes, ein furchtbares Gericht gehalten. Wenn erst einmal so ein Bau zusammenstürzt, den nur Betrug und geweltsame Selbsttäuschung so lange aufrecht erhalten! Wie aus einer Versenkung emporgekommen, mochten da vergangene Geschichten und Namen auf der Szene erschienen sein. Und freiwillig oder davongejagt – sie war gegangen. Aber der Mann ... Und mit den Töchtern ... Es fröstelte Allert. Die qualvolle Vorstellung von entsetzlichen Möglichkeiten beschlich ihn ... Konnte denn dieser unselige Mann überhaupt noch leben, wenn er den Glauben an das Weib hatte einbüßen müssen? Daß diese ganze Sache sich seiner Mutter nicht verbergen lassen könne, sah er ein. Aber da war ja Tulla Rositz. Diese junge Tulla, die er immer von neuem als etwas ganz Fremdes empfand. – Welche Störung. Er telefonierte an seine Mutter: »Schaffe Tulla für heute abend fort, ich muß allein mit Dir sein.« Und ganz ahnungslos erwog seine Mutter laut am Telefon, ob sie Frau Doktor Dorne bitten könne, mit Tulla ins Theater zu gehen. »Was? – Die ist verreist? So, das wußte ich nicht – ja – dann – mir scheint, so einfach Marieluis bitten, sich ihrer anzunehmen, das können wir uns nicht erlauben ... Oder meinst Du?« Hierzu schwieg er vollkommen. Und es war gerade, als ob dies starre Schweigen durch das Telefon zur Mutter hinüberwirkte, denn sie sagte unfrei: »Nun – ich muß mal sehen ...« Als Allert dann am Abend kam, zeigte es sich, daß seine Mutter keinen andern Ausweg gefunden hatte als den, Tulla allein in die Oper zu schicken. Gegen den Versuch, daß man ihr Marieluis als Gesellschaft einlade, wehrte sie sich. Lieber wolle sie allein in »A ï da« sitzen. Fräulein Marieluis Amster sei ihr zu ... ja, sie wisse nicht was ... zu bedeutend vielleicht ... so überlegen. »Merkwürdig,« sagte Allert geärgert, »sonst sieht man junge Mädchen allzu flink dicke Freundschaften schließen. Und mit diesen beiden will es gar nicht.« »Sie sind sehr verschieden,« begütigte Sophie. Und beinahe hätte sie gesagt: Raspe und Du – Ihr seid auch verschieden. Nun hieß es, der Mutter, die in eigenen Sachen so tapfer, aber so völlig verängstet war, wenn es die Söhne anging, alles Vorgefallene berichten. Natürlich klammerte sie sich mit ihren Gedanken zunächst an das Unabänderliche. »Aber wie konnte er nur. Wie durfte er glauben, daß Du ...?« Und daß der Mann ihren Sohn eines Verrates für fähig gehalten, war ihr zunächst die Hauptsache. Er wurde etwas ungeduldig. »Das alles wird ja in den gegebenen Formen ausgeglichen werden.« »Ein Duell?« »Was denn sonst?« »Nun ja.« Sie dachte nach. Sie stellte sich ihren großen, kraftvollen, stattlichen Sohn vor – sah den ihm so familienähnlichen Fritz Patow als Sekundanten daneben – sah auch den gebückten, stillen Mann mit den hellen Augen. Das Bild erschreckte sie nicht. Die Edelfrau in ihr hob voll Stolz den Kopf höher. Sie fürchtete nichts. Und diese Reise, fluchtartig. »Vielleicht vor einem Duell davongelaufen?« »Nein,« sagte Allert, »er gehörte einer schlagenden Verbindung an – er trägt die Farben eines sehr angesehenen Korps – er wird niemals kneifen. Das wird sich klären mit der Reise. Der Mann ist wohl sinnlos.« »Und weiter?« Da sagte er es denn, daß ihm der Gedanke furchtbar, mit dem Manne weiter verbunden zu bleiben in gemeinsamer Arbeit. Aber wie auseinanderkommen? Das Lösemittel hieß: viel Geld! Wo es hernehmen? Nach dem Brande hatte man alles so groß, in bedeutend erweiterten Dimensionen angelegt. Die besten, teuersten Maschinen und Apparate waren bestellt. Die Fabrik sollte in ihrer neuen Gestalt etwas Vollkommenes, Vorbildliches werden, alle Konkurrenz übertreffend ... Ohne das Feuer befände man sich noch in bescheidenerem Rahmen. Aber nun. Fast wie eine günstige Schicksalsfügung hatte er, nach Ueberwindung der ersten Rückschläge, den Brand ansehen gelernt. Voll heißer Vorfreude war er gewesen und voll Stolz. Ja, es würde sich vorwärts arbeiten lassen ... Und jetzt? ... Es zerriß Sophie das Herz. Sie sah, wie ihr Sohn litt, wie er sich daran erbitterte, daß ihm sein Arbeitsleben so verwirrt wurde, daß das Schicksal Hemmnisse hineinschob. Was sollte werden?! »Hätte ich Kapital! Ich zahlte ihn in aller Stille aus. Aber dazu gehörten, nach dem augenblicklichen Stande des Neubaues und aller Bestellung und Vorarbeiten und für den vergrößerten Betrieb, mindestens hundertfünfzigtausend Mark ... Woher sie nehmen ... Man könnte ja sagen: ich solle mich zurückziehen. Er könne mich nun auszahlen! Dann bekäm' ich das Geld heraus, was Onkel Just mir gab, und vielleicht eine Bagatelle darüber. Aber – Mutter – verstehst Du das wohl? Das zerrisse mir schlechtweg das Herz. Ich hab' das alles gegründet. Ich hab' schlaflose Nächte drum durchgemacht. Ich hab' meinen Namen der Firma gegeben – ich hab' das alles lieb – das ist ein Stück von mir – glaub nur – ein Kaufmann liebt sein Haus wie ein Edelmann seine Scholle. Oder sollen wir liquidieren? Und dann soll ich von vorn anfangen? O nein – es gibt ja doch wohl noch Gerechtigkeit in der Welt.« Sophie sah, wie leidenschaftlich erregt er war. Sie fühlte den Ernst der Stunde. Und sie wußte: eine Lösung lag nah – eine beglückende Lösung. – Marieluis ... Sie sah ihren Sohn an. So beredt, so ganz von dem Wunsch durchzittert, er möge in ihren Augen das lesen, was sie nicht laut sagen durfte. »Was siehst Du mich so an?« fragte er. »Ich denke,« begann sie zögernd, daß er fühlen mußte, sie habe eine Fülle von Gedanken und wähle sehr vorsichtig aus, was davon sie laut werden lassen könne. »Ich denke – wenn Rositz noch lebte. Er würde uns raten – mehr: er würde uns helfen. Aber wir haben auch hier Freunde – sehr sachverständige in kaufmännischen Fragen. – Wenn Du mit Amster sprächest?« Und ganz geschwind schloß sie an: »Ich meine – ihn um Rat bätest – nur um Rat.« Und dachte dabei: er liebt sie doch – und sie ihn – ich weiß, ich fühle es. Und Marieluis' Mitgift, die Hälfte des ihr zugedachten Amsterschen Vermögensanteils, war noch mehr als die Summe, deren er bedurfte. Konnten Herz und Verstand in vollerem Einklang stehen als hier? Allert wurde rot wie ein Knabe. »Nein,« sagte er kurz. Und dieses knappe Nein verriet der Mutter, daß ihre Hoffnungen noch weit von Erfüllungen entfernt waren. Das machte ihr Herz traurig. Ein kurzes Schweigen entstand. Und sie, in der tiefen Innigkeit, die sie verband, fühlten einander förmlich all die Geständnisse ab, die der Mund verschweigen mußte. Wie kann ich denn um sie werben! grollten seine Gedanken, ich liebe sie – aber schwere Fragen sind noch unbeantwortet zwischen ihr und mir – und die Bedenken, die mich gestern abhielten, ihr zu Füßen zu stürzen, soll ich heute vergessen, weil ich ihr Geld brauchen könnte? Und die Mutter flehte ihn an – ihr ganzes Gemüt war ja voll von diesem Wunsch, diesen Gedanken: Habe doch den Mut! Das, was zwischen ihr und Dir steht, wirst Du in der Ehe und gerade nur in der Ehe besiegen. Denke auch daran, daß ein liebendes Weib beglückt ist, wenn ihre Hand dem Manne Hilfe bringen darf ... Aber sie wußte wohl, sie mußte das beschweigen. Und dies Zwischenspiel von zärtlichen Wünschen, das sich so unversehens unter die rauhen Sorgen geschlichen, schloß sie mit einem Seufzer ab. Ihr ganzes Wesen verwandelte sich plötzlich in Energie und in mütterliche Autorität, und sie sprach: »So wirst Du nun meine Ersparnisse in Dein Geschäft nehmen. Sie reichen nicht ganz – aber das Fehlende gibt dann doch vielleicht Onkel Just oder eine Bank ...« »Nein. Du hast gespart, damit wir unsere Heimat wieder erwerben können – einst – wenn Du so weiter verdienst und sparst, kannst Du es in fünf Jahren erreichen. Gibst Du mir Dein Geld, verschiebt sich alles in ungewisse Ferne – wird vielleicht unmöglich – selbst bei gutem Geschäftsgange – erst hieße es doch, Onkel Just ausbezahlen.« »Ich habe es längst aufgegeben, für Muschenfelde zu sparen,« sagte Sophie tapfer. »Du sagst es – uns – Dir selbst! Aber Du weißt doch gut: tief unter unsern Worten sitzen noch Dinge, die man nicht heraufkommen lassen will. Und das ist bei Dir die ewige Sehnsucht nach der eigenen Scholle« – Sophie wurde ein wenig blaß. »Aber noch stärker ist mein Wunsch, Dich sorglos emporkommen zu sehen; noch größer wäre mein Glück, wenn Du das wirst, was Du nun doch einmal werden wolltest: der Beherrscher eines großen Unternehmens, das weithin Ansehen genießt – Du bist ein Hellbingsdorf – unser Zweig hat Unglück gehabt – bring' ihm die Blüte zurück, auf neuem Felde – und nimm mein bißchen Geld.« Er nahm dankbar die Mutter in die Arme. Für diesen Augenblick mußte alles unabgeschlossen bleiben. Aber er fühlte so ganz die Wohltat, mit einer klugen, warmherzigen, arbeitenden Frau seine Sorgen teilen zu können ... Als er es sagte, meinte sie – vielleicht ein wenig heuchlerisch, denn im tiefsten Grunde denken Mütter ja doch: Keiner versteht ihn wie ich – »Und ich bin nur die Mutter – ein Weib – o, das ist doch noch ein ganz anderes Teilen.« »Ja, wenn die Frau all ihre Gedanken und all ihre Zeit dem Mann und dem Gedeihen des gemeinsamen Lebens widmet! – Wenn sie nicht in Spelunken und schlechten Gassen die Sittlichkeit heben muß« – »Nun – nun – nicht so kraß!« warnte sie schmeichelnd und streichelte ihm die Schulter. Er trat aber spröde hinweg – er wollte nicht umschmeichelt sein. Und er sah sich sehr genau das Bildnis des Papstes Julius II. an, das seine Mutter mal kopiert hatte, und das nun hier, über der Barockkommode aus Familienbesitz, an der hell gestreiften Wand hing. Nun kam auch Tulla heim und wurde von ihrer mütterlichen Gastgeberin auf das sorgsamste mit einem späten Imbiß bedient. Und Tulla sah sehr hübsch aus, in schwarzen Spitzen, die den Hals frei ließen, und mit einer glitzernden, schwarzen Jettspange im Haar. Das gab Allert sich zu. Aber es ärgerte ihn irgendwie, daß seine Mutter das junge Ding so fürsorglich verpflegte. Es kam ihm vor, als mache seine Mutter ihr beinahe den Hof. Er war nicht unbefangen, er sah nicht, daß seine Mutter nicht mehr tat, als selbst dem jungen Gast gegenüber am Platze war, er vergaß, daß dann immer alles bei seiner Mutter gleich eine solche Note von Wärme und Hingabe hatte. Er dachte wirklich geradezu: Mutter hofiert sie per procura Raspe. Tulla sprach von der Oper. Es war ziemlich voll gewesen. Bekannte? O ja – Dora Vierbrinck und der Hauptmann Fritz von Patow und eine Dame dabei, die vielleicht Dorys Mutter sein konnte. Rötliche Haare? Sehr glatt gescheitelt? Ja. Und es sah so aus: Verlobte, die von der befriedigten Mutter geleitet werden. Tulla hatte herangehen wollen. Aber die Herrschaften waren so umdrängt gewesen – und sie hatte im Vorbeigehen genau gehört, daß die Dame mit den glatten, rötlichen Scheiteln abwehrend gesagt hatte: »Glückwünsche werden durchaus noch nicht angenommen ...« Und rund herum hatte alles gelacht – ja, sehr vergnügt waren sie gewesen in der Gruppe. Und man hörte heraus, daß Tulla sich fremd und allein im Zwischenakt gelangweilt habe ... Das war so begreiflich. Sophie war voll Mitleid und tröstete: es solle auch nie wieder vorkommen. Heute hatte es sich so gefügt – es waren ernste Sachen zu besprechen gewesen – Geschäfte, und davon mögen junge Mädchen nichts hören. Zu entschuldigen brauchte Mutter sich auch nicht gerade, dachte Allert. Und die Oper selbst? Oh, ganz nett – aber Tulla hatte Caruso als Radames gehört, und sie fand auch die Amneris der Götze besser – ja, Mama hatte jenesmal für den Platz achtzig Mark bezahlt – aber schön war es gewesen ... Und es klang ein leises, fernes bißchen Blasiertheit und Protzentum heraus – ganz unbewußt – Am andern Tage sagte Tulla: »Sie haben Sorgen, liebe, gnädige Frau – ganz gewiß – irgendeinen Kummer haben Sie – ach, ich kenne Ihr Gesicht so genau –« Das rührte nun Sophie. »Ja, liebes Kind. Dumme Sorgen.« »Sorgen?« sprach das junge Mädchen in einem Ton des Widerwillens. »Das hängt immer mit Geld zusammen.« »Kann sein – auch hier – in zweiter Linie. Ich will es Ihnen lieber sagen: es scheint, in der Familie Dorne sind Katastrophen eingetreten ...« »Wegen der gräßlichen Frau?« Sophie stand verdutzt. Welches Urteil hatte denn die junge Tulla über diese Frau? Wie konnte sie überhaupt ein Urteil haben? »Wie kommen Sie darauf, Kind –?« Tulla zuckte die Achseln. »Ach,« sagte sie in einem Gemisch von Naivität und Erfahrung, »ich weiß nicht – die kommt einem nicht geheuer vor ...« Das war unbestimmt – ganz ins Blaue hinein gesprochen. Sophie hütete sich aber, näher nachzuforschen. »Was eigentlich vorgegangen ist, wissen wir nicht. Nur dies ist klar: Allert wird noch ernste Auseinandersetzungen haben und möchte sich von Doktor Dorne trennen. Dazu gehört viel Geld. Und so haben wir allerlei zu bedenken.« »Jetzt gerade, wo bald Ihr Sohn Raspe kommt!« sprach Tulla und bekam eine weinerliche Stimme. Seit Wochen war sie nun hier und wartete geduldig auf die schöne Osterzeit. Und nun kamen Sorgen? Oh, Tulla wußte gut: Sorgen – Geld – Verstimmung – Streit – das hing zusammen. Das war ihre Erfahrung aus dem Leben der Mama. Seit Papas Tod gab es ja seltener Streit, denn Onkel Karl von Buschke, Mamas Bruder, der Junggeselle, hatte solche Schwäche für die jüngere Schwester und schickte immer Geld, wenn sie festsaß. Aber wenn Harald und Viktor schrieben, fuhr Mama im Zimmer umher und schimpfte ... Also von nun an wurde es hier auch so ungemütlich ... Sie ging in ihr Zimmer und starrte lange auf die Höfe und Hinterhöfe hinaus und auf die Wipfel, in die der Frühling grüne Pünktchen hineinwirkte, und die sich zwischen den Mauern wie Gefangene ausnahmen oder wie vergessene Ueberreste der Natur ... Diese Aussicht machte sie noch bekümmerter. Sie dachte an ihr Zimmer in Berlin – an den großen Raum voll weißer Lackmöbel und blau und weißer Libertyseide. Aus einem dumpfen Gefühl heraus schrieb sie einen Brief an Fiffi v. Samelsohn und dachte: sie ist doch ganz nett – und man war so aneinander gewöhnt, von klein an. Es wurde ein sehr tiefsinniger Brief, voll von Betrachtungen über die Schwierigkeiten des Daseins, und wie besonders doch die Liebe Opfer fordere. Ja, an den Opfern, die man bringe, könne man erst recht ermessen, wie groß eine Liebe sei. Tulla weinte aus einem ihr selbst nicht erklärbaren Grund über diesen ihren Herzenserguß. Dann fügte sie noch ein P.S. hinzu: »Wie war es denn in Paris? Bist Du schon in Nizza? Wie gefällt es Dir? Hast Du Dich in Paris verliebt? Ist der Baron Legaire noch bei unsern Mamas? Schreibe bald Deiner Tulla.« Und das »bald« unterstrich sie fünfmal. Hiernach wurde ihr plötzlich wieder sehr mutvoll ums Herz. Sie holte aus ihrer Schmuckkassette das Bild Raspes hervor, das sie – ihrem Glauben nach heimlich, dennoch von seiner Mutter wohl beobachtet – sich aus einem Kasten mit Photographien »gestohlen« hatte. Es war sehr ähnlich. Ein Kabinettbild und Raspe in Uniform darstellend. Sie versank in den Anblick. Ja, er war der stattlichste, wundervollste Mann, den sie je gesehen. Ihre Verliebtheit schwoll hoch an – flutete als Glückseligkeit über ihr junges Herz und ließ sie alles vergessen. Sie küßte das Bild voll Andacht – ganz und gar liebende, bescheidene Demut. Dann sah Tulla in den nächsten Tagen wohl ein, daß ihre Voraussetzung, es gäbe hier nur Streit und Verstimmungen, nicht zutraf. Ganz im Gegenteil schien dieses liebevolle Verstehen zwischen Mutter und Sohn noch inniger. Sie gingen so herzlich miteinander um, als könne Güte ihnen helfen – aber daß die Stimmung sehr ernst war, sah Tulla wohl. Und sie sah ja auch: wenn Allert abends kam, zog er sich mit der Mutter immer erst für einige Minuten zurück. Sie hörte auch: er verzweifelte beinahe, weil die Lage dunkel blieb. Der abgereiste Doktor Dorne schrieb nicht. Man wußte nicht, wohin er gereist war. Man konnte gar nicht nachforschen. Das vorsichtige Anfragen bei den Dienstboten schien schon fast zu viel riskiert. Man wollte, durfte kein Aufsehen machen. Skandal war zu vermeiden. Der Mann konnte doch unerwartet zurückkehren. Oder schreiben. Die Leute in der Wohnung wußten nichts ... In der Fabrik sagte Allert, daß sein Teilhaber in wichtigen Familienangelegenheiten verreist sei. Die wissenschaftliche Arbeit mußte inzwischen der Assistent weiterführen, der, das sah Allert gleich, ein tüchtiger und selbständiger Mann war. Schon sprach Allert mit seiner Mutter davon, ob man sich mit der Polizei in Verbindung setzen wolle ... Sechs Tage schlichen so hin – Und Raspes Ankunft stand vor der Tür. So klagte Tulla es denn laut der Mutter des geliebten Mannes vor: »Diese Geschichte wird ihm seinen Osterurlaub verderben. Und sie geht ihn doch gar nichts an.« »Nun, die Sorgen des Bruders gehen ihn wohl an,« sagte Sophie. Aber sie dachte selbst voll Bekümmernis daran: Er kam, vielleicht das Herz voll Spannung und Vorfreude – vielleicht sollte er sich über sein ganzes zukünftiges Mannesleben entscheiden – in festlichen Frühlingstagen sich prüfen, ob junge Liebe und seliges Hoffen zu herrlicher Wahrheit werden können. Und da drängten sich diese häßlichen Sachen dazwischen. Die Furcht vor Aufsehen, die Allerts geschäftlichen Ruf doch immer ein wenig trüben konnte – wie, wenn der unselige Mann sich ein Leid angetan? – Wenn das alles in die Presse käme? Allert in solchem Zusammenhang genannt zu sehen – welch ein Gedanke! Sophie dachte daran: am besten würde es sein, mit Tulla und Raspe zusammen fortzugehen. An Vorwänden fehlte es nicht. Sie war überarbeitet, sie durfte das Bedürfnis nach einer Ausspannung wohl geltend machen. Man konnte in die Lüneburger Heide gehen – malerische Studien versuchen und den herben nordischen Frühling skizzieren. Aber Tulla, das verwöhnte Prinzeßchen, würde in den einfachen Wirtshäusern der Heidedörfer vielleicht zu viel entbehren. Doch Helgoland? Sophie kannte es nicht. Als sie den Gedanken laut erwog, schien Tulla entzückt. Sie war mal dagewesen – als ganz kleines Kind, mit Papa und Mama, in den Zeiten, als es noch vorkam, daß Papa und Mama zusammen reisten. Sie konnte sich jedoch beim besten Willen nicht mehr erinnern, wie es dort aussah. Ja, ja, nach Helgoland. Und sie ward so belebt von der Aussicht auf diese kleine Reise, daß Sophie wohl herausfühlen mußte: es hatte schon an Abwechslung gefehlt. Sie war es ja auch nicht anders gewöhnt: immer Veränderung, Vergnügen. Neues Vorhaben tauchte schon auf, wenn ein Programm noch nicht ganz zu Ende genossen war ... Es gab nun einen Kampf für das Mutterherz. Sie wünschte so heiß, ihrem älteren Sohn in dieser schweren Zeit der Ungewißheit zur Seite zu bleiben. Aber sie wünschte nicht minder dringlich, dem jüngeren Sohn die bevorstehenden Tage zum Fest zu machen. Aber da kam ein im Grunde für sie ja recht nebensächliches Ereignis und verhalf zur Entscheidung. Dory Vierbrinck verlobte sich mit dem Baron von Patow. Er war der Sohn von Sophiens verstorbenem Bruder. Wie hätte sie sich der Teilnahme an all den Festlichkeiten entziehen können? Das neue Brautpaar sollte in der Osterzeit durch viele Diners gefeiert werden. Einladungen für sie und ihre Söhne kamen gleich reichlich ins Haus. Dies alles mitmachen und den jungen lieben Gast dann immer allein lassen, hätte geheißen, die ganze Urlaubszeit Raspes um ihren eigentlichen, unausgesprochenen Zweck bringen. Und wie wenig war der Mutter nach Festen zumute, jetzt, wo so schweres Gewölk über dem Leben ihres Sohnes stand. Allert selbst riet: reise ab, nimm Raspe und Tulla mit Dir, ich will versuchen, ab und an die Familie zu vertreten; und übrigens weiß ja Fritz ziemlich Bescheid und kann mir's nicht verargen, wenn ich nicht allemal dabei bin, wo er und seine Braut angefeiert werden. Es schien ihm selbst fast willkommen, ein paar Tage allein zu sein. Er fühlte täglich mehr: alles erträgt sich gut, ja besser zu zweien. Nur gerade nicht Ungewißheiten – deren Peinlichkeit steigert sich beim Besprechen. So war es denn beschlossen. Am Dienstag nach Palmsonntag wollte man sich einschiffen und am Ostermontag zurück sein. Und Sophie fuhr am Montag spät nachmittags zur Bahn, um Raspe abzuholen. Tulla blieb in der Wohnung zurück – ganz aus aller Haltung vor fieberhafter Spannung. Zweimal zog sie sich um, und Therese mußte ihr die Kleider im Rücken schließen. Das nahm Therese übel, denn sie war nicht gewohnt, in ihrer Arbeit so oft gestört zu werden. Tulla wollte wissen, welches Kleid ihr besser stehe, und bekam die Antwort: »Beides ejal. Schwarz steht jnä Fräulein nu mal nich.« Und Mamas Jungfer hatte doch immer bewundert, wie vorteilhaft die Trauerkleidung für Tulla sei! Sie weinte beinahe. Sie zog ein drittes Kleid an. Das aus schwarzen Spitzen, das den Hals freiließ. Und geängstigt von Theresens Kritik, suchte sie sich heller aufzuputzen. Sie legte ihre Perlenschnur um den Hals. Sie starrte in den Spiegel und kam sich nun schöner vor. Aber in ihr war doch eine große Ungewißheit: bin ich eigentlich hübsch oder nicht? Wenn man so sah, wie die meisten Frauen über diesen Punkt sich unglaublicher Selbsttäuschung hingaben! ... Ja, es war offenbar schwer, es zu wissen. Und sie hätte so gern schön sein mögen – für ihn! Sie sah nach der Uhr – jeden Augenblick konnte er hier sein. Sie lief nach vorn. Ihr Herz klopfte hart und schnell. Sie riß ein Fenster auf und bog sich hinaus. Da fuhr gerade unten ein Auto vor. Sofort schlug sie das Fenster wieder zu und rannte in ihr Zimmer zurück. Da saß sie mit heißem Gesicht und wartete. Das Leben im Hafen tönte als grandioser Rhythmus durch die Morgenfrühe. Vom hellen Dunst leise überschleiert lag das gewaltige und in steter Bewegung sich verschiebende Bild. Vom hohen Geländer herab, über begrüntem Hang und knospenden Baumriesen her, sah das ungeheure Haupt aus Granit. Die ganze hellgraue Riesengestalt Bismarcks hatte fast den gleichen Farbenton wie der Himmel. Und so wurde das Ueberlebensgroße zu einer unbeschreiblichen Feinheit und Märchenhaftigkeit – der Stein verlor seine Härte, die Größe das Erdrückende – einer Geistererscheinung gleich stand der Mann aus Granit und bewachte den großen Strom und die Nähe wie die Ferne und begrüßte alle, die hereindampften, und entließ alle, die hinaussegelten, mit einer Mahnung. Von der Sankt-Pauli-Landungsbrücke ging der Salondampfer »Prinz Heinrich« Anker auf. Es fröstelte die Reisenden. Ein Apriltag – acht Uhr morgens – der konnte keine einschmeichelnden Temperaturen hergeben. Aber Raspe und seine Mutter freuten sich an der herben Luft. Denn man spürte wohl: der Ozean blies von weit her hinein. Und das noch nicht Gesehene, erst noch zu Erschauende lockte. Die Gewißheit, neue Eindrücke erleben zu dürfen, gab der reifen Frau jedesmal Kinderfreudigkeit zurück. »Auf der Reise bin ich immer ganz jung,« behauptete sie. Und Raspe war, in diesen Augenblicken wenigstens, auch von der ungetrübten Genugtuung erfüllt, eine erfrischende kleine Fahrt antreten zu können. Er war so wenig verwöhnt. Ganz hell war seine Seele in ihrer schönen, aufrechten Einfachheit. Und wenn eine Freude, ein gesunder Genuß ihm geschenkt wurde, nahm er das mit einer gewissen dankbaren Sammlung in sich auf. Tulla aber hatte seit gestern nachmittag so viel in sich erlebt, daß sie vor Verworrenheit und Aufregung gar nicht wußte, ob sie sich nun eigentlich freue oder nicht. Sie ging mit Raspe auf Deck spazieren, stand auch wohl mit ihm an der Reling still, wenn er einem vorbeifahrenden Schiffe nachsehen wollte. Aber im Grunde bemerkte sie nichts von dem bunten Wechsel der Dinge auf dem wuchtig meerwärts flutenden Strom. Die hohen Ufer zur Rechten zogen sich hin, prunkvoll, von Villen gekrönt, von prachtreichen Gärten behangen. Zur Linken verdämmerte das weite, flache Land. Schiffe kamen ihnen entgegen, an deren ragenden Borden sich heimkehrfrohe Menschen drängten. Die grüßten die hamburgische Flagge mit hellem Jauchzen – man sah, sie waren erregt vor Ungeduld und fieberten der nahen Minute der Landung im deutschen Hafen entgegen. Sie winkten mit Mützen und wehenden Tüchern. Die kleine Zahl der Passagiere auf dem »Prinz Heinrich« grüßte wieder, und auch Raspe nahm unwillkürlich die Mütze ab und lächelte hinüber zu diesen Menschen, die auf der langen Seefahrt gleich Gefangenen geworden und nun vorweg schon im Befreiungstaumel lachten und gerührt waren. Scharf vor dem Winde, der in ihren schweren Segeln rauschte, schnitten Fischereikutter durch die graugelben Fluten. Schleppdampfer mit schwarzwolkigen Rauchfahnen oben an ihren plumpen Schornsteinen arbeiteten hart gegen den Strom und zogen ein Gefolge von kleineren Schiffen hinter sich drein. Von Bord einer Kuff her, die sich mit gerefften Segeln so hafenwärts gleiten ließ, kläffte ein schwarzer Spitz; er stand auf den bleichen Brettern der hochgehäuften Holzladung und verzehrte sich in Zorn über diese Dinge, die da respektlos vorüberzogen, ohne daß er ihnen an die Beine hätte fahren können. Man kam später auch an Inseln vorbei. Lang und schmal lagen sie da, stille Gelände, rasig und von Pappeln und Eschengruppen überragt, zwischen denen wohl auch ein großes, tieflastendes Dach hervorschimmerte. So wenig erhoben sie ihre Erde über das sie unruhig und in großer Bewegung umspülende Stromwasser, daß man sich vorstellen konnte, wie jede Flut und jeder Sturm Ueberschwemmungsgefahr bedeutete, und wie die einsam Lebenden vom Marschfieber geschüttelt wurden. Und der Himmel wurde blauer, er schien sich förmlich zu heben, und das gab den Reisenden drunten auf dem rasch vorwärts wühlenden Dampfer ein Gefühl von größerer Leichtigkeit des Lebens. Das Unterwegssein war flotter, vergnüglicher. Dann kam auch noch die Sonne. Mit einem Male bewarf sie die Flut mit so viel Licht, daß es aussah, als seien hunderttausend Spiegelsplitter verstreut und das Wasser schaukele sie. Raspe hatte das Gefühl: man bekommt größere Augen vor so gewaltiger Sehfläche. Er empfand: alles in einem weitet sich mit der Weite des Bildes, der Fülle aller bedeutenden Bewegung. Er machte mit einem frohen Wort, einem raschen Ausruf Tulla zur Gefährtin dieser Freudigkeit. Er wollte sie zur Gefährtin machen – denn nach und nach spürte er wohl: die Welt zog an ihr vorüber – ungewürdigt – kaum gesehen – sie war so zerstreut, antwortete kaum. Und Raspe mußte an seine Mutter denken, die alternde Frau – die ganz gewiß voll Glückseligkeit war und wie berauscht von jeder Segelsilhouette, die in kecker Linie und kühner Raschheit vor dem Horizont vorbeisauste – und gewiß stumm vor Bewunderung über die Feinheit des dunstigen Lichtes, in dem das Flachland verschwamm. Und dankbar und ferienfroh, dies Wandelbild von Größe und Raumunermeßlichkeit überhaupt genießen zu dürfen ... Ja – die Mutter! Vielleicht nahm er zu sehr den Maßstab nach ihr ... Sie war immer so ganz Kind mit den Kindern gewesen – schien immer gerade das Alter, die Interessen und Begeisterung der Söhne zu haben – sich mit ihnen entwickelnd – sich ihnen ganz anpassend. Solche Mütter stehen vielleicht, ohne daß sie es wollen oder auch nur ahnen, zwischen dem Sohn und seinem Mut zur Ehe. Sophie saß auf der Bank an der Steuerbordreling und hatte ihre Hände warm in die weiten Aermel ihres Mantels von links nach rechts, von rechts nach links gesteckt. Alle Sorgen waren weggehuscht wie Nachtgetier vorm Licht; alle Hoffnungen waren so gut wie erfüllt. – In einer so göttlich großen, erhabenen, von Sonne durchfluteten, von fröhlichem Wellengewoge erfüllten Welt mußte es auch noch Glück geben! Jedes dahinschießende Segelboot verbürgte es ihr; die stolz heranziehenden Dampfer brachten es mit; der lachende Himmel schüttete es herab ... Sie genoß die ganz grundlose, reine Daseinswonne, die Natur zu verschenken vermag – und nur sie ... Sophie sah auch immer wieder den Anblick vor sich, den die junge, holde Tulla gestern gewährt. – Mütterlich ging sie in das Zimmer der Wartenden und sagte so unbefangen wie möglich: »Nun, liebe Tulla, wollen Sie denn nicht nach vorn kommen? Mein Sohn ist da.« Und als Tulla dann auf der Schwelle stand, war es ein Erlebnis. Sophie wußte wohl: Frauen – alte wie junge – alle, alle können einen begnadeten Augenblick haben, der ihre Schönheit verklärt, ihre Erscheinung adelt – eine geheimnisvolle Erhebung ist das – sie reicht auch der Bescheidensten eine Krone. Und die herbe Anmut der jungen Tulla war zu rührendstem Reiz verklärt, als sie da zögernd stand – die Augen fast schwarz vom Feuer des Glücks – auf den schmalen Lippen ein Lächeln voller Poesie der Jugend – die ganze schlanke Gestalt verkörperte Erwartung und keusches Zögern zugleich – Sie, die Mutter, sie spürte es auch, obschon sie vermied, den Sohn gerade anzusehen: über sein männliches Gesicht ging der Glanz einer großen, beglückenden Ergriffenheit. Es war ein Augenblick voll Andacht gewesen. Nachher freilich schien da irgendeine Hemmung zu sein – der Glanz losch hinweg aus Tullas Wesen – Vielleicht trug der Brief schuld daran, den sie noch mit der Abendpost aus Nizza bekommen hatte ... Sophie durfte ihn lesen. Und er verletzte auch ihr Herz – und ihr war, als wolle man einen teuren Toten beleidigen. Der Brief war die Antwort von Fiffi v. Samelsohn auf Tullas letztes Schreiben. Eine eilige Antwort, denn Fiffi hatte eigentlich keine, keine Minute Zeit, man wollte gleich zum Blumenkorso fahren. Sie teilte aber doch genau mit, daß ihre Mama und Tullas Mama den Wagen ganz mit weißen Rosen verkleidet haben würden. Dann floß noch eine neckische Bemerkung ein: »Wollen wir wetten, Tulla? Noch ehe das Trauerjahr ganz vorbei ist, bekommst Du einen Stiefpapa. Meine Mama fände es nicht sehr geschmackvoll, sagt sie, weil doch der Baron Legaire zwei Jahre jünger ist als Deine Mama. Aber er hat ja ein Schloß in der Touraine – wenn's auch recht verkommen sein soll. Dies finde ich himmlisch! Obschon ich sonst nicht romantisch bin. Aber ein Schloß in der Touraine!« Jetzt, wie Sophie hier saß und sich an dem gewaltigen Schauspiel erhob, das der in riesenbreiter Majestät sich dem Meere hingebende Strom ihr bereitete, jetzt dachte sie: der Brief kam zur rechten Stunde – er wird helfen, Tulla erkennen zu lassen, wo die wahren Werte des Lebens liegen. Sie konnte von ihrem Platz aus manchmal die beiden sehen, wenn sie auf und ab schritten oder stehenblieben und hinausblickten – und sie sah auch wohl – die Unterhaltung floß spärlich. Aber versteht man sich nicht oft am tiefsten im Schweigen? Daß die Gedanken ihres Sohnes vergleichend sie suchten, ahnte sie nicht. Tulla fror eigentlich, trotzdem sie ihre Persianerjacke anhatte und den Kragen hochgeschlagen. Sie war so herabgestimmt und wußte doch nicht genau warum. Fiffis Mitteilung schmerzte natürlich ein wenig. Nur ein wenig. Denn im Grunde genommen dachte sie doch bald nach Papas Tod schon: Mama heiratet gewiß noch mal wieder. Auch Viktor hatte in St. Moritz dergleichen geäußert und noch scherzhaft gesagt: »Meine Einwilligung dazu müßte Mama aber mit der Verdoppelung meiner Zulage erkaufen.« Fiffis Prophezeiung überraschte sie also nicht so sehr. Und sie fühlte deutlich: wenn ich nur selbst glücklich werde, kann es mir ja egal sein, was Mama tut. – Und wenn Mama wieder heiraten will, ist sie gewiß vergnügt, mich rasch los zu sein, und knappt nicht mit dem Zuschuß ... Ach nein, die Möglichkeit, daß Mama den Baron Legaire heirate, lag nicht so auf ihr – drückte nicht so seltsam allen Jubel nieder. Was für eine merkwürdige Ueberraschung war es gestern abend gewesen. Raspe in Zivil! Wie verwirrend. Ein vornehmer, stattlicher Mann, auch im schwarzen Gehrock – Aber man mußte sich erst daran gewöhnen ... Und Tulla sah auch: das Zivil war sehr gut gehalten – aber der Rock hatte solche Schals mit Seidenaufschlägen, die vor zwei Jahren Mode gewesen waren – Herrenmoden kannte sie genau von Viktor und Harald her, die sich glänzend kleideten – selbst Fiffi gab zu, daß Viktors Zivil auf der allerhöchsten Höhe sei – ja, Tulla ärgerte sich über sich selbst, daß sie überhaupt so etwas sah – und sah es eben doch. Heute aber, auf der Reise, hatte er einen weiten Paletot an, der unter allen Umständen fertig gekauft war ... Wie Viktor sich wohl darüber mokiert hätte – – Aber – das war doch kleinlichste Nebensache – Und dann: sie war doch reich. Später brauchte Raspe nicht sparsam mit Zivil zu sein ... Nun tat sich das Meer auf – grün und glasig drängte es sich in beginnender Flut dem Ufer zu, dem ausgehenden Strom entgegen. Die Wellen stiegen an und zerwarfen ihre Spitzen beim Fallen zu weißem Geschäum. Schwarz und groß kam der Schiffsleib eines Ozeandampfers auf dem Wasser daher, das die Farbe dunkelbraun durchströmter Smaragde hatte; die Möwen, des Schiffes durcheinanderschießendes Gefolge, flatterten kreischend über dem Strudel seiner Schrauben. Die Sonne traf ab und zu einen Flügelschlag, dann blitzten weiße Linien auf und verhuschten sofort wieder. »Großartig!« sagte Raspe voll Andacht. »Aber der Golf von Neapel ist viel schöner,« sprach Tulla; »und all die eleganten Menschen da an Bord – und die Mandolinenspieler – die so komisch übertrieben singen – ach ja – wenn man so nach Capri fährt – ich weiß nicht: dies ist gar nicht wie Vergnügen – so ernst ist es ...« Er schwieg. Nun kamen ein paar Tage, die aussahen, als liefen sie gelassen ab, und die Mutter lobte immer von neuem, daß sie ihr wohltäten, weil sie nichts von ihr forderten. Und forderten doch etwas sehr Mühsames für ihr lebhaftes Temperament und ihr vor Erwartung klopfendes Mutterherz. Nämlich die Maske der vollkommensten Unbefangenheit. Sie mußte ihren Augen jeden beobachtenden und fragenden Blick verbieten. Sie mußte sehr viel Takt und sehr viel Kunst aufbieten, um das junge Paar sich selbst zu überlassen, ohne daß eine Absicht dabei spürbar ward. Sich selber mußte sie vor dem Gefühl bewahren, daß sie das Handwerk einer Ehestifterin übe ... Sie wollte ja auch keine Ehe »stiften« ... Aber ihre Seele war erfüllt von dem innigen Hoffen, daß die junge Liebe dieser beiden sich festige und kläre. – Denn sie sah rasch: diese Liebe nahm nicht den schnellen und sicheren Werdegang zu einem Bündnis. – Da waren auch keine stürmischen Kämpfe – viel Beängstigenderes wuchs da: eine stille, trübe Schwere ... Sie sah: die Wage schwankte auf und ab ... Und in ihrem erfahrenen Herzen dachte sie inbrünstig dem Sohne zu: Könnt' ich dir doch das Beste, das Notwendigste hineinlegen in die Seele – den Mut, den Glauben – Es war sehr merkwürdig, auf diesem Eiland zu sein. Es glich einem von Waffen starrenden Kriegsschiff, einem von phantastischen, zyklopischen Formen und Größen, das eines Zauberes Riesenfaust hier verankert hatte. Mitten in dem flutenden Meer, in der gewaltigen Einsamkeit der Wasser stand dieses Wunderwerk – Körper gewordene Drohung! Durch das Gestein seiner roten Felsen führten geheime Gänge von umschützten Landungsstellen aus hinauf zum Oberland. Und von seiner ragenden, kahlen, windumtobten Höhe richteten die Geschütze ihre schlanken Läufe meerwärts. Die Bauten und feinen Linien von Telefunkenstationen, Signalvorrichtungen, allerlei fremdartigem und für den Laien unbegreiflichem Gestänge ragten aus dem roten Felsenrücken. Der Leuchtturm, einst in Oede und feierlicher Stille der einsame Wächter, war nur noch ein Teil der geheimnisvollen, mächtigen Sprache, die durch die Wundermittel der Elektrizität ihre Sprüche und Warnungen weit hinausrief. Aber er stand in ehrwürdiger Feste und blinzelte abends aus seinem roten Strahlenauge scharfe Blicke hinaus über das dunkelwogende Meer. Zu Füßen der nordwestlichen Felsschroffen, unten an den jähen Abstürzen, wuchs neues Land an. Was der Ozean vor Jahrhunderten dem Knochenbau der Felsen vom Erdkörper abgerissen, so daß sie kahl und karg stehenblieben, nicht mehr umschmiegt von lieblichen Geländen – das schien nun die große Dienerin der Macht und der Völkerblüte, die Kriegskunst, der Insel wieder zurückerobern zu wollen. Ein pochendes, unaufhörliches, streng bewachtes und geleitetes Arbeitsleben war um die Insel. Bagger kreischten in Ketten und strudelten klatschend sandigen Inhalt in umhegte Reviere; Barkassen schossen hin und her. Ein Kreuzer, grau und eisern, ankerte auf der Reede; die weiße Kriegsflagge mit dem Reichsadler in dem rechten obern Viertel strich der Wind glatt aus. In den engen Straßen, die das Häusergehocke zwischen Fels und Strand am südwestlichen Ende der Insel durchschnitten, war jeder zweite Mensch ein Matrose in der blauen Uniform der Kriegsmarine. Und man erriet es wohl, daß der eingeborenen Bevölkerung Daseinsbedingungen anderer Art aufgezwungen sein mußten – nicht mehr der Badegast war für sie der hauptsächlichste Geldgeber – nicht mehr der Fischfang und die Seefahrt nährten zumeist ihr Leben – die Kriegsmarine hatte ihre eisernen Fäuste auf das rote Eiland gepreßt – und aus diesen ehernen Händen empfing es nun seine ungeschriebenen Gesetze, seine Arbeit, seinen Gewinn. – Dies alles hatte für Raspe geradezu etwas Berauschendes. Er bewunderte, er staunte, er war stolz, als Deutscher, als Soldat. Die kühne Arbeit, die hier getan wurde, im Kampf mit tosenden Stürmen und brausenden Wogen, bedeutete ihm eine Schönheit der größten Art: die der Technik, die des Mutes. – Tulla war immer von neuem in ihn verliebt, wenn er straff und stolz neben ihr einherschritt und mit einem stillen, großen Leuchten in den Augen auf all diese Mannestaten sah. Von Herzen gern wollte sie mitbewundern. Aber sie verstand nun wirklich nicht, was daran zu bewundern sei. Sie sah so reizend aus, in der weißen dicken Wolljacke und in dem weißen Wollmützchen, das bis über die Ohren herabgezogen war. Und wenn der Wind sie packte, mußte sie Raspe manchmal am Arm halten; es sah aus, als würde sie sonst davongeweht werden. So jung, so schutzbedürftig, ganz seiner festen Hand anheimgegeben war sie dann ... Und sie hatte ein glückliches Gefühl davon, und ihre Augen strahlten zu ihm empor ... Am ersten Tage, als man zur Düne hinüberfuhr, sagte Tulla: »Hier ist es hübscher.« Das verstand Raspe wohl. Das Idyll der sandigen Düne mußte dem holden Kinde beruhigender und vergnüglicher erscheinen als drüben der für das Grauen einer Seeschlacht so furchtbar gerüstete Felsen. Auch die Mutter breitete beglückt die Arme aus. Sonne wärmte den weißen Sand und täuschte eine andere Jahreszeit vor; die von Salz gesättigte Luft prickelte wie Hitze auf der Haut. – Man konnte sich hinlegen und mit geschlossenen Lidern dem Rauschen der heranflutenden Wogen zuhören und dem Rhythmus ihres Zurückrinnens. Jeden Tag, gleich nach dem Essen, ließen sie sich hinüberbringen – segeln mochte Tulla nicht, so mußte gerudert werden. Viktor und Harald hatten einmal in Montreux beim Segeln beinahe umgeworfen – sie sagten zwar immer: Mama und Tulla hätten es sich in ihrer unnützen Angst bloß eingebildet. Aber seither war Tulla doch eben zu furchtsam. – Nun – daran lag ja nichts –, ob man nun ruderte oder segelte. Drüben war es immer gleich schön. Der Himmel wollte ihnen so wohl. Es blieb sonnig-stürmisch bei blauem Himmel. Als die Mutter das pries, sagte Tulla: »Bei schlechtem Wetter müßte es hier auch zum Auswachsen sein.« »Oh – ich möchte, wir erlebten hier großes Unwetter,« – meinte Raspe. »Was sollten wir dann wohl machen?« fragte sie naiv, »im Hotel sitzen und uns langweilen? Das haben wir mal im Hangenäsfjord gehabt – ich sage Ihnen, es war schrecklich. Mama weinte beinahe. Na, Mama hatte ja mehrere Bekannte mit sich – die Gesellschaft spielte dann schließlich Poker und vergaß den Regen – aber ich? Es war tötend.« Sie ist schon allerwärts gewesen, dachte Raspe, und das machte ihn unbestimmt traurig. »Sie sind eine weitgereiste junge Dame,« sprach er. »Ich?« fragte sie unschuldig und erstaunt, »ach, gar nicht. Im Sommer nahm Mama mich immer einmal mit und einmal auch im Winter – aber auf allen anderen Reisen mußte ich zu Hause bleiben – Papa sagte, es werde sonst zu viel. – Ich bin noch nicht mal in Aegypten und in Konstantinopel gewesen – Fiffi sagt, es sei so amüsant, wegen der Basare, dort kann man so nett kaufen. – Wenn ich mal heirate, mach' ich meine Hochzeitsreise nach Assuan. – Das steht fest.« »So?« fragte er scherzend, »und wenn es nun ein Mann ist, der dazu keine Zeit hätte?« »Ach – die nimmt man sich – Mama sagt: alles ist Geldfrage.« »Es gibt auch noch andere Fragen in der Welt,« antwortete er kurz und sah mit gerunzelter Stirn hinaus, als ob da irgendwo etwas Besonderes zu beobachten sei. »Hab' ich was Dummes gesagt?« fragte Tulla sich bestürzt. Raspe merkte auch, daß die Düne ihr am zweiten Tag schon Langeweile bedeutet hätte – ohne ihn. – Und er dachte schwer: Nicht alles Leben, nicht alle Freude muß einem Mädchengemüt vom Manne kommen – es muß auch seinen eigenen Reichtum haben – an dem es den Mann teilnehmen läßt – mit dem es ihn bereichert ... Und er suchte mit liebevollem Bemühen nach solchen Reichtümern. – Er dachte: vielleicht ist sie doch innerlich so abgelenkt, weil man ihr das von der Mutter geschrieben hat. Und er wagte es, ihr davon zu sprechen. Sie saßen im Sande der Düne, im Windschutz einer Mulde. Nicht fern von ihnen, aber doch außer Hörweite, saß die Mutter und versuchte sich an einer Wellenstudie. Sie hielt eine Papptafel auf den Knien, den oberen Rand mit den Fingern der linken Hand haltend, und die Palette lag neben ihr, auf dem Malkasten. Sie rang sehr mühselig mit dem ihrer Begabung gar nicht liegenden Versuch, und schien den Sohn und das »Pflegetöchterchen« vergessen zu haben. Der Himmel glänzte, das Wasser war durchleuchtet und grün, der feine Sand gleißte. Vom Horizont zog unter schwarzem Dampf eine Torpedobootsflottille vorbei. Und in dieser großartigen Freiheit der Natur sprach Raspe zu Tulla: »Darf ich Sie etwas fragen?« Tulla bekam rasendes Herzklopfen. Er will mich fragen, ob ich ihn liebhabe, fühlte sie. Aber in ihren seligen Schreck mischte sich auch eine sie selbst ganz überraschende Beklommenheit. »Bin ich Ihr Freund? Hab ich als solcher das Vorrecht, auch Dinge berühren zu dürfen, die vielleicht Ihnen schmerzlich sind?« Schmerzlich? dachte sie. Und eine große Enttäuschung ernüchterte sie. Dies war doch offenbar und gewiß nicht das Vorwort zu einer Liebeserklärung. Sie wurde ganz rot. »Oh – Sie,« sagte sie, »ja Sie dürfen über alles mit mir sprechen – zu keinem Menschen in der Welt hab' ich so viel Vertrauen ...« »Es liegt in diesen Tagen irgendetwas auf Ihnen. – Da ist so etwas wie eine geheime Unruhe. – Nein, Unruhe ist schon zu viel gesagt. – – Es ist, als ob irgend etwas Sie verhinderte, sich an dieser großen Welt zu freuen.« Mein Gott, dachte Tulla ganz betroffen, man kann sich doch nicht immerzu über Helgoland begeistern. »So?« ... fragte sie nur unsicher. »Und da hab' ich mir gedacht: es schmerzt Sie, daß Ihre Freundin Fiffi Ihnen solche Sachen schrieb. Vielleicht ist es gar nicht wahr.« »Ach,« sprach Tulla höchst gleichgültig, »es wird schon wahr sein.« Er schwieg. Sie glaubte: verstimmt! Und plötzlich fielen ihr allerlei Nebenumstände und Beziehungen zu dem Thema ein. Sie beeilte sich, ihn zu beruhigen. »Natürlich – das ist Unsinn, was Fiffi schrieb – daß Mama das Trauerjahr nicht abwarten würde – solche Taktlosigkeit macht sie nicht – was würden die Leute davon denken! – O nein. – Und für die Brüder und mich wär's auch kein Unglück. – Mama stellt uns ganz bestimmt sehr unabhängig. Ganz bestimmt.« Und er hörte genau heraus, weshalb sie ihm diese beruhigende Versicherung gab – ihre Gedankengänge lagen offen vor ihm da – er sah hinein, in diese naive Abhängigkeit vom Gelde, die sie auch bei ihm vermutete. Er fragte: »Tut es Ihnen nicht weh, daß Ihr Vater so bald vergessen wird. Er war ein ausgezeichneter Mann.« »Ja – Gott – gewiß – sehen Sie, ich – ich kann so was nicht begreifen – ich tröstete mich nie, wenn ich den Mann verlöre, den ich liebe.« »Das glaubt jedes Herz von sich.« »Aber Mama und Papa waren schon seit vielen Jahren nicht mehr glücklich. Warum soll sie nicht ein neues Glück suchen? Nur – ich möchte dann nicht mehr im Hause sein.« Tulla sagte es mit leiser Stimme. Sie fühlte selbst: es war wie eine Bitte: Bewahre, rette du mich davor! ... In all diesen Tagen erinnerte sie sich oft, daß Fiffi gesagt hatte: »Einem armen Bewerber muß man entgegenkommen, sonst traut er sich nicht ...« So was war leicht gesagt! Wie soll man entgegenkommen? ... Tulla fühlte immer von neuem: das kann ich nicht – alles, was von Feinheit in ihr war, wehrte sich dagegen ... Aber eben, jetzt – ja jetzt war sie »entgegengekommen« ... Und sie saß herzklopfend und wartete auf den Erfolg. »Sie sind aber sehr verwöhnt – verwöhnter, als Sie selbst wissen,« sagte er, »es würde Ihnen schwer werden, sich einem engeren Leben anzupassen – zum Beispiel in einer Ehe, wo es mit einem festen, bescheidenen Einkommen rechnen heißt.« »Trockenes Brot könnte ich essen und glücklich sein!« versicherte Tulla begeistert. Er lächelte – er sah ein wenig melancholisch aus – welche Kindlichkeit in diesem Ausruf ... »Aber das brauche ich ja auch gar nicht,« sprach sie weiter und war ganz eifrig, »das wäre doch Unsinn – Mama ist doch reich. Weshalb soll man auf so viel Schönes verzichten, wenn man's haben kann ...« Ein Schweigen entstand. Tulla wußte nicht, was es zu bedeuten hatte. Er war wie benommen von einem Gedanken ... Von jener Frau Geld annehmen? ... Und dann diese Mädchen, die aus einem Millionenhaus kommen, dereinst nur einen Bruchteil erben, aber die Ansprüche und Gewohnheiten nach dem Rahmen des Ganzen haben ... In dies Schweigen hinein, das für Tulla so schrecklich war, daß sie beinahe geweint hätte, kam dann die Mutter mit ihrer Skizze ... Tulla fand sie aufrichtig schön. Aber Raspe sagte, das Meer sähe aus wie Milch, in die ein wenig Spinatwasser gegossen sei. Und darüber lachte Sophie dann und war guter Dinge. Am Abend war man in dem großen, verandaartigen Raum des Kurhauses. Da und dort an den Tischen saßen Marineoffiziere oder -beamte, auch einige Ausflügler, die hier ihre Osterferien verbrachten. Man konnte sich vorstellen, wie anders, wie gedrängt und lärmend hier im Sommer der Verkehr sein mußte. Hart an einem der großen Fenster wollte Sophie mit den beiden jungen Menschen speisen. Auf das Meer draußen sank die Abendstille nieder. Es wurde sehr langsam dunkel. Und dies allmähliche Versiegen aller Farben und aller Helle war sehr feierlich. Es war wie ein Abbild vom einstigen Erlöschen allen Lebens. Die Nacht auf der Erde ist Friede. Die Nacht auf dem Meer ist Grauen und Unendlichkeit. Die eine nimmt den Menschen still in ihre Arme, die andere macht ihn zum armseligen Geschöpf in der Finsternis – – Dergleichen empfand Sophie. Sie starrte hinaus. Raspe saß still und war voll Andacht. In diesen Minuten gab ihm die Nähe des holden Mädchens ein zartes Glücksgefühl. Mancher lähmenden Enttäuschung widersprach sein Herz. Eine gläubige Zuversicht wollte siegen. Er sah alle lieblichen Wesenszüge, er fühlte Mut aufwallen. Liebe kann ja Wunder tun, warum nicht auch das: ein zur Oberflächlichkeit und zu Ansprüchen erzogenes Geschöpf zur Tiefe und Einfachheit erziehen. Tulla winkte dem Kellner. »Ziehen Sie doch endlich die Vorhänge zu ... so ...« Und sie drehte hausfraulich vorsorglich die Tischlampe auf. »Das ist ja langweilig, so ins Dunkle zu gucken.« Die Suppe kam; es war hell und warm, und Tulla schien sehr fröhlich. »Auf die Heimfahrt morgen freue ich mich. In Hamburg ist es doch amüsanter. Aber nicht wahr, wir haben morgen früh noch Zeit, ich muß doch Therese etwas mitbringen ... helfen Sie mir einkaufen?« Dazu war Raspe gern bereit. Tulla erwog: eine ausgestopfte Möwe und ein paar Tonfiguren, Bewohner in Landestracht vorstellend. »Das wird ihr sehr nützlich sein,« spottete Raspe, und Tulla ließ sich gern auslachen. Nachher stellte sie Betrachtungen an über die Marineoffiziere, und sie bedauerte die armen Frauen. »Beruf!« sagte Raspe. »Die Frau, die den Mann liebt, achtet seinen Beruf, bringt ihm Opfer.« »Ach bewahre – sie sieht den Beruf als ihren Feind an!« »Warum?« »Na – er nimmt ihr doch den Mann fast den ganzen Tag weg – eigentlich konnte man sich nicht wundern, daß Mama mit Papa ganz auseinander kam. Was hatte sie denn von ihm?« Die Mutter sah sie aufmerksam an. »Eine Frau, die liebt, hat Ehrgeiz für den Mann, nimmt Teil an den Sorgen, Freuden, Aussichten seiner Arbeit – ist stolz auf sie – hilft ihr – und wenn nicht anders als dadurch, daß sie die Häuslichkeit auf die Anforderungen seines Berufes glatt und behaglich einzustellen weiß.« »Es ist immer bloß vom Mann die Rede,« debattierte sie eifrig. »Ich finde im Gegenteil, es ist heutzutage immer bloß von der Frau die Rede.« »So? Sie sind doch schlankweg der Ansicht, daß die Frau sich in den Beruf des Mannes zu fügen hat.« »Unter allen Umständen,« sprach Raspe. »Ach nein,« meinte Tulla naiv, »doch wohl nur, wenn die Verhältnisse so sind ... Ich meine – viele müssen doch verdienen und einen Beruf haben – aber wer es sich leisten kann ohne – wenn ich mal heirate, müßte mein Mann den Abschied nehmen – mich so liebhaben, daß er mir allein leben wollte –« »Ihr Papa hat doch auch gearbeitet,« sagte er. »Gott – ja – er wollte doch auch Exzellenz werden – das erwartete Mama bestimmt ...« Sie brach jäh ab. Es war gerade, als lege ihr jemand eine Hand auf den Mund. Sie fühlte, sie war im Begriff gewesen, etwas Taktloses zu sagen, beinahe offenherzig zu wiederholen, daß Mama von Jahr zu Jahr ärgerlicher über den fehlenden Adel gewesen war und auf die Exzellenz als auf einen Ausgleich gewartet hatte – Wenn ihr das entschlüpft wäre! Großer Gott! Dann hätte Raspe noch gar gedacht, sie mache sich um seines Uradels willen so viel aus ihm. Und sie, sie hätte ihn auch geliebt, wenn er nur Schulz oder Müller geheißen hätte – es war ihr ganz egal – oder doch beinahe ... Wegen der Mama, den Brüdern, der Welt und vor allen Dingen wegen Fiffi war es natürlich sehr schön, auf einen alten Namen pochen zu können. Aber sonst? ... Ja, ganz egal. Rasend liebte sie ihn – über alle Maßen. Und deshalb mußte er auch später durchaus den Abschied nehmen.... Tulla war sehr mit sich zufrieden, daß sie ihm vorweg angedeutet habe, er brauche nicht mehr abhängig zu sein. Das mußte ihn doch freuen – war doch eine herrliche Aussicht für ihn! Welcher Mensch hätte sich das nicht gewünscht! Nur noch Freude am Leben! Gar keine Plage mehr! Wenn sie nur erst verheiratet wären. Ach, es konnte dann zu schön werden – Reisen – Sport – vielleicht auch mal in Frankreich auf dem romantischen Schloß des künftigen Gatten der Mama – wo sie schon alles aufs großartigste herrichten würde. Und kein Dienst mit frühem Aufstehen mehr, keine scharfen Vorgesetzten, keine bevormundende Kommandeuse – Viktor, der es doch wissen mußte, sagte auch immer, es sei Schinderei.. Und Viktor nähme auch am liebsten den Abschied – aber er konnte sich ja nicht ein bißchen einschränken und mußte deshalb erst eine wahnsinnig reiche Frau finden. Sie aber und Raspe, sie würden bequem mit dem auskommen, was Mama und Onkel Buschke ihnen bewilligten – deshalb brauchten sie noch immer nicht so betrübend sparsam zu leben wie die arme Frau von Hellbingsdorf ... An diesem Abend, als Tulla sich ganz gehorsam hatte zu Bett schicken lassen – sie schwelgte förmlich im Gehorsam vor seiner Mutter – ging Sophie noch mit ihrem Sohn auf die Brücke hinaus. Schwarz waren Himmel und Meer. Vom Kriegsschiff herüber glänzte Licht. Droben auf der Höhe glühten Strahlen auf und loschen hin im regelmäßigen Wechsel. Das Vaterauge des Leuchtturms öffnete sich und schloß sich – immerfort – in rhythmischer Bewegung von Licht und Dunkelheit. Eng schmiegte sich die Mutter an den Sohn, der den Arm um sie gelegt hatte. Sie saßen auf einer der Bänke; unter ihnen, um die klobigen Holzfundamente der Brücke, schülpte das Wasser. Sie sprachen zusammen – ganz wenige Worte – aus der Fülle ihres Verstehens heraus – als hätten Geständnisse sie vorbereitet – und alles war doch bisher mit Schweigen umhüllt gewesen. »Vielleicht ist es meine Schuld,« sagte die Mutter leise und traurig, »zu sehr habe ich Euch für die Familie erzogen – für ihre Stille – ihren genügsamen Frieden – ihre Wichtigkeit – –« Und ganz schüchtern fragte sie vor sich hin, beinahe wie an sich zweifelnd: »Sie ist doch noch immer das Wichtigste? ...« Er drückte ihr fest und kurz die Hand zur Antwort. »Das arme Kind – glaubst Du nicht, daß Erziehung ...« »Nein, Mutter,« sagte er, »nein, da ist nicht bloß Angewöhntes, da ist Angeborenes« – »Armes Kind ...« »Kaum. Sie fühlt ja keine Leere. Und wenn sie den rechten Mann bekommt – ich meine, solchen, der den gleichen Geschmack hat« – »Raspe,« flüsterte sie, »wir wollen doch hoffen..« Er lächelte schmerzlich in sich hinein. »Die Fürstin Siegstein sagte mal zu mir,« erzählte Sophie sich ermutigend, um dadurch den Sohn zu ermutigen, »sie sagte: ›Das Herz kommt nach, wenn der Kopf durchaus weiß: es ist vernünftig. Es ist so viel angeborenes Bedürfnis in einem zu lieben. Das hilft denn nach, wenn der Verstand mal 'ne unabänderliche Lebenslage etabliert hat. Und dann die Gewohnheit. Die gute Hälfte von dem, was man für Liebe hält, ist Gewohnheit,‹ sagte die Fürstin. Sie heiratete ihren Mann mit vielen Bedenken und war nachher so glücklich.« »Es war da wohl umgekehrt: der Kopf war einverstanden, das Herz wurde nicht gefragt. Es gibt ja auch Fälle, Mutter – Fälle – wo das Herz wohl möchte – und wo es sehr weh tut, wenn der Kopf nein sagt ...« Das war sein Fall – sie wußte es, und ihre Seele weinte. »Der Kopf ist auch manchmal eigensinnig,« schmeichelte sie. »Was hab' ich als bescheidener Mann denn anders, als im Einklang mit mir selbst zu sein. Darin liegt meine Würde, Mutter – tut sie nicht?« Sophie fühlte eine Träne in ihrem Auge – Hoffnungen begraben tut weh. – Und gerade diese. – Auf der der Segen eines teuren Verstorbenen zu liegen schien. Noch weher aber tat es, den Sohn in schmerzlichen Kämpfen zu wissen ... »Um Allert hab' ich auch Sorgen,« sagte sie vor sich hin. »Ich weiß es, Mutter.« Und dann schwiegen sie und hörten dem großen Rauschen des Meeres zu, das in rastloser Bewegung gegen das Hindernis anbrauste, als welches das rote Felseneiland in seiner Breite stand. – Auf der Heimreise war Tulla sehr unruhig. Sie dachte: heute ist sein Urlaub zu Ende. Und sie begriff sein Schweigen nicht. Und ganz allmählich überkam es sie: auch sein Wesen begriff sie nicht. So gütig – so ernst. Ja, wie ein Schleier von Traurigkeit lag's darüber ... Warum nur? Sie zermarterte ihren Kopf ... Ganz gewiß – er dachte, er könne es nicht wagen. Er war einer von den wenigen Männern, die durchaus nicht in den Verdacht kommen wollen, daß sie an das Geld und nicht an das Herz des Mädchens denken ... Oh, wie sollte sie es ihm nur zeigen, daß sie ganz felsenfest an seine Uneigennützigkeit glaubte – daß sie darauf schwor: ihr Geld sei ihm Nebensache – daß sie wisse: er könne, wenn er nur nach Geld heiraten wolle, so viel Partien machen. Natürlich war es ganz unmöglich, ihm das zu sagen. Aber in ihrer zitternden Aufregung zeigte sie ihm, ohne zu wissen, ganz unverhüllt die Sehnsucht ihres jungen Herzens. Und er spürte es. Sein Gemüt war ihm schwer. Er empfand es als Grausamkeit vom Schicksal, daß es ihm Glück vorgaukelte, das bei ernstem Betrachten nur brüchig aussah. Wie viel Reiz hatte dies schlanke junge Geschöpf, mit den dunklen, bettelnden Augen im schmalen Gesicht ... Und das Verlangen wallte in ihm auf, sie in seine Arme zu nehmen und sie herauszuretten aus ihrem leeren Luxusleben. Nein – stark sein – ein Mann bleiben. Und als rechter Mann nicht nur auf die Stimme des Blutes hören, sondern auch auf die Stimme der Vernunft. Er glaubte nicht an sein Glück mit ihr. Er sah es – er fühlte es: sie standen auf verschiedenen Ufern – von den ernsten Eichenhainen des seinen führten keine Brücken zu den goldenen Gärten des ihren. Es gibt Naturen, die nicht kraftvoll genug sind, um verpflanzt werden zu können. Dies liebliche Kind würde niemals seine Anschauungen begreifen ... Als man sich der Landungsbrücke näherte, der weltberühmten »Alten Liebe« von Cuxhaven – dieser Stätte, an welcher der Völkerverkehr vorbeiflutet – die den Schmerz der Ausreisenden und die Wonne der Heimkehrenden kannte, die alle Hoffnungen und alle Enttäuschungen auf ihren Balken hatte flüstern und weinen hören – da wurde Tullas Herz von Angst ganz fassungslos. Und sie bat: »Bleiben Sie noch – verlängern Sie Ihren Urlaub.« »Nein,« sagte er, »es ist unmöglich.« Er war ernst und blaß. Der Dampfer legte an – die Unruhe des Von-Bord-Gehens kam – zur Rückfahrt, elbaufwärts wollten sie ja die Bahn benutzen. Ein heimlichholdes Wort – eine Frage, die man nur ohne Zeugen ausspricht – das war nun nicht mehr möglich. Und Tulla wußte: er wird nichts sagen ... Warum nicht? O Gott – wie schwer, wie schrecklich! Warum nicht? Sie hatte ihm doch so viel, als möglich war, Beruhigendes über die Verhältnisse gesagt! Warum sprach er nicht? Es war schließlich doch wohl wegen der Mama, und es paßte ihm doch wohl nicht, daß die Mama wieder heiratete ... Tulla fand und fühlte keinen Grund ... Der Jammer in ihrem Herzen wurde immer größer. Nun sank alles zusammen. Die Minuten, die verrannen, schienen alles Leben, alle Hoffnungen mit sich fortnehmen zu wollen ... Gleich war man in Hamburg. Auf dem Bahnhof kam der Abschied. Raspe mußte sofort umsteigen in den Zug nach Wittenberge ... Dann war alles aus – das wußte Tulla – schied er jetzt, stumm – in diesem unbegreiflichen Schweigen, dann sah sie ihn nie mehr – nie. Sie hatte beinahe Furcht davor, ihn anzusehen. Sie stützte den Arm auf die schmale Fensterbank des Fensters und sah starr in die Marschlandschaft hinaus, die flach und braun draußen lag. Sie waren allein im Abteil. Und sie schwiegen fast auf der ganzen Fahrt. Sophie war traurig. Statt eines Aufblühens hatte sie ein Abwelken erlebt – ein seltsam niederdrückendes Schauspiel. Vorwärts stürmende, wagemutige Jugendtollheit wäre fast natürlicher gewesen. Aber gewiß war es gut so, daß ihr Sohn besonnen blieb. Ihr war, als sei die heutige Jugend vielleicht im allgemeinen reifer als die der vorigen Generation. Vielleicht. Sie sah, daß Tulla verwirrt vor Schmerz und Enttäuschung war. Es tat ihr leid ... Eine innere Stimme sagte ihr: das Kind wird vergessen ... Aber ihr Sohn? Der feste, ernste Raspe – mit der klaren Tiefe seines Wesens? Da blieb eine Wunde im Herzen. Und ein Zweifel, eine Unsicherheit, ein Zögern – jedem neuen Gefühl gegenüber, das ihn etwa bestricken wollte ... Sie mußte sich bezwingen, um nicht zu weinen. Und je näher sie Hamburg kamen, desto unruhiger eilten ihre Gedanken auch Allert entgegen. Sieben lange Tage hatte sie nichts von ihm gehört. Was konnte in dieser Zeit alles geschehen sein? Sein Duell mit dem vielleicht zurückgekehrten Dorne konnte stattgefunden haben – mit einem Male sah Sophie es nicht mehr so hochgemut an ... wie, wenn Allert verwundet daniederlag. Oder vielleicht war Dorne immer noch verschwunden und Allert hatte sich an die Polizei wenden müssen – seine Firma war in aller Mund – schreckliche Katastrophen konnten eingetreten sein. Endlich sprach sie von ihren Aengsten. Aus ihren bangen Vorstellungen heraus wollte sie Zuspruch und Wahrscheinlichkeiten von Raspe hören, der ihr doch auch nichts, gar nichts sagen konnte. Aber, um sie zu beruhigen, sprach er: »Vielleicht hat sich alles umgekehrt zum Harmlosen gewendet. Und wir finden vielleicht Allert glücklich und von allen Sorgen befreit.« Ach – das konnte ja nur auf eine einzige Weise möglich sein ... Marieluis ... Die Mutter dachte es voll Inbrunst. Ja – vielleicht. Sie hatten sich in den letzten Tagen gewiß manchmal gesehen – bei den Festen für Dory und Fritz. Und es ist so ein wahres altes Wort: Verloben steckt an. Der Anblick von Glück erzeugt Sehnsucht nach Glück – das ist so natürlich. Und die rasche Phantasie Sophiens verließ alle düsteren Bilder und baute ein neues auf: wie, wenn am Bahnhof zwei Glückselige auf sie warteten? Wenn dem älteren Sohn inzwischen die Träume zur Wirklichkeit geworden waren, die der jüngere hatte zerfließen sehen? ... Da fuhren sie in die Halle ein ... Auf dem Bahnsteig standen ziemlich viele Menschen, ihr Durcheinander machte es nicht ersichtlich, ob etwa Allert zur Stelle sei ... Aber Tulla schrie auf – überrascht – außer sich – »Mein Bruder!« Und ein paar Augenblicke darauf hing sie am Hals eines jungen Mannes, den Sophie nie gesehen hatte. Aber Raspe erkannte ihn: es war der Leutnant Viktor Rositz ... Tulla brach in leidenschaftliche Tränen aus. Sie konnte sich nicht beherrschen. Eine jammervolle Traurigkeit schluchzte heraus ... »Na nu?« sagte Viktor. »Ich freu' mich so, Dich wiederzusehen,« stammelte Tulla und hatte auch, in aller Aufregung, ein solches Gefühl – es floß in ihren Gram hinein. Sie hatte selbst nicht gewußt, daß ihr der Bruder, mit dem sie auf dem Kriegsfuß lebte, so teuer sei ... Wenigstens kam es ihr in diesem Augenblick so vor, als habe sie ihn unmenschlich lieb ... Sophie stand verlegen und bestürzt. Was sollte der Leutnant Rositz von der Gemütsverfassung seiner Schwester denken! Aber Viktor Rositz war nicht der Mann, sich durch irgend etwas aus seiner gesellschaftlichen Glätte herausbringen zu lassen. »Nervös? Ja, die kleinen Mädchen. Herr von Hellbingsdorf – bitte mich der gnädigen Frau vorzustellen ...« Und er beugte sich über Sophiens Hand. »Gnädige Frau sind erstaunt, mich zu sehen? Ich war in Ihrer Wohnung, dort erfuhr ich, daß Sie mit diesem Zuge aus Helgoland zurückkehrten. Wir hatten von der Reise keine Ahnung – Tulla schreibt ja nie. Darf ich gnädige Frau nachher eine halbe Stunde in Anspruch nehmen?« »Aber natürlich ... Kommen Sie doch zum Abendessen – mein Sohn reist gleich weiter – ein wenig müssen Tulla und ich uns erst nach der Reise besinnen ...« »Zum Abendessen? Danke gehorsamst. Um acht Uhr? Danke sehr – ja. Und Sie reisen gleich weiter, Herr von Hellbingsdorf? Schade. Na und Du, Tulla? Willste morgen mit mir nach Haus? Mama ist seit Palmsonntag in Berlin. Ewig kannste ja nicht die Gastfreundschaft der gnädigen Frau in Anspruch nehmen ...« »Ja,« sagte Tulla, »ja, ich fahr' morgen mit Dir.« Und nun mußte Raspe sich verabschieden – sein Zug wartete auf einem andern Bahnsteig. Alles war hastig, unfrei – kein inniges Wort zwischen Sohn und Mutter mehr möglich – die Minuten drängten. Er reichte Tulla noch die Hand. Und sie sah ihn mit einem so schmerzlichen Blick an, als wollte sie eine große Schuld an ihrem jungen Leben auf sein Herz laden. Raspe erwiderte den Blick – von schwerem Ernst war sein Ausdruck, aber fest und klar. Das fauchende, rollende Gelärm des Bahnhofs erfüllte die Ohren und übertäubte jedes Wort. Und so ging ein Traum unter ... Das brausende Leben machte keine Pause – gönnte der Minute dieses Abschieds nicht einmal die Andacht der Stille. Mit der Frage, was die überraschende Ankunft von Viktor Rositz zu bedeuten habe, konnte Sophie sich nicht befassen. Ihre Unruhe war zu groß. Allert hatte sie nicht vom Bahnhof geholt? Obgleich er wußte, daß er dort noch seinen Bruder einen kurzen Augenblick sehen konnte? Sollte ihm etwas zugestoßen sein? Und in der Wohnung hatte Sophie gleich Hausfrauenunruhe. Therese war nicht so leistungsfähig, daß man ihr alles Weitere hätte überlassen können. Sie brauchte Zeit und Sammlung für ihre meisterlichen Kochkünste, und ihre Gedanken waren auf die Regelmäßigkeit des Arbeitsganges eingestellt. In der Küche fand also eine Beratung statt. Und Tulla steckte den Kopf zur Tür hinein und fragte, ob Therese ihr nicht packen helfen dürfe. Aber das war unmöglich – sie mußte doch für das Abendessen sorgen, zu dem der Bruder erwartet wurde. Tulla erklärte dann weinerlich, sie habe noch nie, in ihrem ganzen Leben nicht, selbst einen Koffer gepackt und käme gewiß nicht damit zustande – und es war zum erstenmal ein leiser Ton von Ungeduld in ihrer Stimme. Begütigend versprach Sophie ihr, am späten Abend ihr zu helfen, es würde schon gehen. Und Tulla zog sich zurück, in einem Gemisch von Beschämung und – Erleichterung ... Morgen würde sie ja wieder so viel Bedienung haben, wie sie wollte ... Sophie aber, indem sie nun rasch die Zimmer durchsah, ihre eigenen Sachen auspackte, gestand sich zum erstenmal: Tulla war doch ein recht mühsamer Gast gewesen – immer anspruchsvoll, ohne es zu ahnen – durch ihr bloßes Dasein – reizend – lieblich – eine kleine Prinzessin, die sich darin gefiel, einmal bürgerliches Leben zu kosten – Wo nur Allert blieb? Sie telefonierte an. Es wurde von der Fabrik aus geantwortet, daß Herr von Hellbingsdorf soeben mit dem Auto zur Stadt gefahren sei. Also gottlob – er war gesund – lag nicht etwa zerschossen und elend danieder. Und wenige Minuten später hatte sie ihn dann auch vor sich – er schien der alte – er tat lebendig und humorvoll wie immer. Er hatte mit dem besten Willen nicht an den Zug kommen können, so sehr es ihn verlangte, Raspe noch die Hand zu drücken ... Da war gerade ein Geschäftsfreund gewesen – es handelte sich um den Abschluß großer Lieferungen. Aber sein Gesicht war bewölkt, trotzdem er von bedeutenden Bestellungen sprach, die erheblichen Gewinn verhießen. Und seine Farben waren unfrisch, ja, versorgt sah er aus – ermüdet – unfroh. Sophie wollte wissen ... »Ach,« sagte er, »Du hast ja keine Zeit, und gleich kommt Tulla herein ...« »Nein, sie kommt gewiß nicht herein.« Sie hatte das bestimmte Gefühl: Tulla wird sich, gleichsam versteckt, in ihrem Zimmer halten, bis ihr Bruder kommt – der bedeutet ihr in ihrem Schmerz so etwas wie einen Schutz, einen Halt ... Und nun fragte sie sich doch laut: »Was kann denn Viktor Rositz von mir wollen?« Gleichgültig sagte Allert: »Ach – irgend was Taktloses. Sie sind vielleicht auf den Gedanken gekommen, daß sie Dir Tullas Bild doch noch honorieren müßten.« Im Grunde war es auch ihr gleichgültig. Des Sohnes wichtige Angelegenheiten drängten heran und wollten besprochen sein. Allert saß auf dem Koffer seiner Mutter und sah zu, wie sie, rasch und sacht sich hin und her bewegend, ihre Sachen an den zukommenden Stellen einordnete. Er hatte die Arme verschränkt, und es war eine gewisse Ruhe in seiner äußerlichen Haltung. Die Mutter sah wohl: Bitterkeit, die auf dem Weg ist, sich in die herbsten Enttäuschungen zu fügen. »Dorne? Ja, Mutter – der ist wieder da. Als ich Sonnabend vormittag in mein Büro trete, sitzt er da – an meinem Schreibtisch – noch flauer, fader, schlapper anzusehen als sonst. Ich kann Dir nicht beschreiben, Mutter, was für'n Widerwillen mich packte. Bei Gott, in mir kribbelte so was – ich hätt' ihn schlagen mögen. Na, nachher kam denn das Mitleid – als er mit scheuem Blick, wie 'n mißhandeltes Tier zu mir aufsah ... Und wie er leise sagte: ›Ich war wahnsinnig – können Sie mir verzeihen – ja, von Sinnen – ich bitte Sie um Verzeihung – ich hab' Patows Brief gefunden. Gewiß – natürlich – ich bin zu jeder Genugtuung bereit – wenn meine Reue Ihnen keine ist‹ ... Und wie er dann so beschrieb – immer leise vor sich hin – wie er seine Töchter zu seiner Schwester gebracht habe und dann weggereist sei – er wisse nicht wohin – tags in der Bahn – nachts in der Bahn – kreuz und quer – blöde. Oh, das war schrecklich, einen Menschen so reden zu hören ... Und was sollt' ich da viel antworten. Ich würde die Sache mit Patow besprechen.« »Und was sagte Fritz?« »Daß der Ehrenrat wohl entscheiden würde, ich dürfe mich mit so 'ner Art Erklärung zufrieden geben. Der Ehrenrat sei ja schließlich eingesetzt, nicht um Duelle zu fördern, sondern um sie, wo möglich, zu hindern. Na, und der Mann war ja tatsächlich sinnlos – was so einer tut und sagt, darf man wohl nicht anders bewerten als die Aeußerung eines Betrunkenen. Aber diese Duellfrage ist ja so nebensächlich« – »Mir nicht!« sagte Sophie aus Herzensgrund und gab sich erst jetzt zu, daß sie zu viel und mit Sorge daran gedacht hatte. »Das wäre so 'ne kurze Szene gewesen – meinetwegen mit 'nem kleinen Denkzettel – das ist wie Theater: Spannung, Aufregung, Schluß – vorbei. Aber nun?« Und er brach los. Er stand von seinem burschikosen Sitz auf dem Koffer auf und rannte hin und her in dem vollen Raum und stieß eine Hutschachtel aus seinem Weg und setzte mit Nachdruck einen Stuhl von einer Stelle zur anderen. »Fortan alle Tage – Jahr um Jahr den Mann sehen – sprechen – mit ihm arbeiten! Meine Arbeit wird mir ja zum Ekel. Und was das gräßlichste ist – Du sollst sehen, Mutter – eines Tages verzeiht er ihr! Das wetterleuchtete schon durch seinen Gram – die Töchter, die haben geweint, sagte er, – aber es ist nicht das allein – ich hab's gespürt, Mutter, als hätt' er mir's haarklein beschrieben – als er heimkam und der Duft ihrer raffiniert gepflegten Person noch in den Zimmern war – als er in die Kleiderschränke hineinsah, wo ihre weißen Flöre hingen und ihre bunten Schuhe standen. Oh, ich hab's erraten – er wird sie aufnehmen, wenn sie wiederkommt. Und ob sie wiederkommt – das hängt ja bloß davon ab: findet sie einen, der ihr Dasein auf sich nimmt und mit mehr Geld stützen kann – nein, Mutter – so einen Mann kann ich nicht achten.« Nun saß Sophie auf dem Koffer, ganz erschreckt und geschlagen. »Und da ist kein Loskommen – das seh' ich ... Er sprach von der gemeinsamen Weiterarbeit als etwas Notwendigem. Dieser Brand – und danach die Neuanlagen – so vergrößert – nach seinen Ideen, mit seinem Gelde. Das schmiedet mich an ihn – das ist die Kette, die mich bindet. Er weiß es, er sagt es sich selbst – ganz still und ergeben – daß ich nicht die Mittel habe, ihn auszuzahlen – daß er auch keinen Grund sähe, falls ich die Bitte um Verzeihung annähme, daß doch die gemeinsame Arbeit gedeihe. Und ich kann ihm nicht ins Gesicht sagen – daß ich ihn verachte, daß all sein tüchtiges Wissen ihn mir nicht zum Manne macht! Männlichkeit erochst man sich nicht auf Universitäten, und sie sitzt nicht im Gehirn – die sitzt im Blut – im Charakter ... Ja, siehst Du, selbst wenn ich ihm nicht verzeihe – Fritz sagt, ich muß es – aber wenn ich vorschütze, als könne ich's nicht über mich bringen – selbst das kann ich ja nicht mal zum Vorwand nehmen ... Ich bin an ihn geschmiedet – oder ich muß meine Schöpfung verlassen.« »Hast Du mit Senator Amster über die Sache gesprochen?« fragte Sophie dazwischen. Ueber Allerts Gesicht flog eine helle Röte. »Nein. Aber« – es wollte ihm nicht rasch von den Lippen – »aber mit Marieluis – ich hab' es ihr erzählt – wir waren ja dreimal zusammen diese Woche – es ist fabelhaft, wie Fritz in Glück und Festen schwimmt und wie Dory glänzt« – – »Und was sagte Marieluis?« »Daß sie es mir ganz nachfühlt – daß ich mit dem Manne nicht weiterarbeiten könne – dürfe ...« »Ah« ... sprach Sophie und wartete ... Aber es schien, daß Allert nichts mehr zu sagen habe. So setzte sie denn hinzu: »Das hab' ich von Marieluis erwartet, daß sie nicht den Nützlichkeits- und Geldpunkt als Hauptsache ansieht. Sie – ja, sie ist von unserer Art und unsern Sinnes!« »In vielem, Mutter,« sagte er, »in sehr vielem – aber in großen Fragen – in Fragen, die ihr nebensächlich sein sollten und daran sie beinahe ihr Leben hängt – da nicht.« Er strich sich über die Augen, schien plötzlich ganz abgelenkt, als denke er an Gott weiß was, und sagte dann: »Mir scheint, Du hast eingekramt – wir können ja wohl bald essen – ach so – dieser Leutnant Rositz kommt noch – und was ich noch erzählen wollte: ich gehe morgen in die Versammlung – höre Doktor Marya Möller – tja – so is man nun – sie bat – ja – sie bat ...« »Doktor Marya Möller?« fragte Sophie grenzenlos erstaunt. »Ach nee – Unsinn – kenn' ich ja gar nicht – Marieluis, die bat – immer wieder bat sie ...« Er war verlegen und setzte hinzu: »Es war nicht ganz männlich von mir, es zu versprechen.« »O doch!« rief seine Mutter. »Ihr Männer müßt nicht gleich denken, wenn Ihr 'n bißchen Euren Eigensinn lockert, das sei schwach.« »Na denn ... Und kommst Du mit?« »Aber natürlich!« Ihre Stimme klang aufjubelnd. Das war ihr ein Zeichen – eine Verheißung – »Um noch ein Wort von Dorne zu sagen,« fügte sie in einer blitzschnellen Ideenverbindung hinzu, »Du zahlst ihn allmählich aus und nimmst dazu vorerst meine Ersparnisse. Das weitere findet sich.« Er soll, er muß ein Gefühl der Unabhängigkeit haben, dachte sie – damit ihn der Gedanke an Marieluisens Geld nicht hemmt – »Ich soll Dich berauben?!« »Du sollst mich beruhigen!« Ein kräftiges Klopfen tönte in diesen Wettstreit hinein. »Wenn es nicht das Pochen des Schicksals ist, ist es Theresens Knöchel. Beide klopfen mit gleicher Härte,« sagte Allert. Herr Leutnant Rositz waren da und hatten befohlen, seine Schwester noch nicht zu benachrichtigen, sondern allein erst die gnädige Frau. Aber Sophie hatte in keiner Hinsicht Verlangen nach einer Zwiesprache mit Viktor Rositz und bat Allert, mit nach vorne zu kommen. Tullas Bruder zeigte eine gewisse feierliche Gemessenheit. Er reichte Allert die Hand und betonte, daß es ihm ein Vergnügen sei, auch den älteren Sohn von Frau von Hellbingsdorf kennen zu lernen, für die seine Familie eine unbegrenzte Verehrung und Dankbarkeit empfinde wegen aller Güte, die sie dem Verstorbenen wie auch nun der jungen Tulla bewiesen habe. Es war gar nicht möglich, dies alles konventioneller zum Ausdruck zu bringen, als er es tat. Und dann brachte er die Frage an, ob er in Gegenwart des Herrn Sohnes sprechen dürfe ... Aber Sophie sagte schnell in seine Frage hinein, daß es gar nichts gäbe und nichts an sie herankommen könne, was sie nicht mit ihren Söhnen teile ... Viktor Rositz fühlte sich ein bißchen unfrei. Er dachte: man kennt ja das Terrain nicht ... Saß ihm da in diesem stattlichen Mann, mit dem offenen Gesicht und den beinahe unangenehm klugen Augen ein künftiger Schwager gegenüber? Mama hatte es bestimmt behauptet: Tulla ist offenbar in einen der Söhne von der Hellbingsdorf verliebt. Der Oberleutnant Raspe war es nicht! Das stand für Viktor fest. Der Abschied am Bahnhof war bestimmt keiner wie zwischen Verliebten und heimlich Verlobten gewesen. Also war's dann der Kaufmann? Egal, ob der Oberleutnant oder der Kaufmann. Es paßte Mama nicht. Die wollte für Tulla 'n reichen Mann, damit ihr nicht etwa 'ne Offiziersmenage beständig auf der Tasche liege; und wenn schon 'n Offizier ohne Vermögen, dann doch Garde, aber nicht Linie. Und so Kaufleute! Fabrikanten! Die brauchen Kapital. Das wußte Mama – sie kam ja aus der Großindustrie. – Mama hatte gedacht: wenn da Tulla mit den Söhnen ein bißchen flirtet – immerzu – dann langweilt sie sich nicht. Aber was Ernstes? Und das schien doch aus Tullas Brief an Fiffi – aus dem Fiffi Bezeichnendes mitgeteilt hatte – hervorzugehen. Natürlich, wenn Tulla sich schon gebunden hatte! Viktor hielt es für undenkbar, daß nicht einer der beiden Hellbingsdorf sich das Goldfischchen gefangen hätte – dann war nichts mehr zu wollen. Er hatte der Mama auch seine Meinung gesagt! Um Tulla im Moment los zu sein, machte sie sich nicht klar, daß man ein Risiko lief. Na, und da hatte Mama denn gemeint: reise hin, sondiere, und ist es zu spät, handle gleich ab und bereite darauf vor, daß ich nicht sehr freigebig zu sein denke. Das wäre ja eine greuliche Aufgabe gewesen. Denn feindselig und knickerig mochte Viktor durchaus nicht wirken. Aber dieser unerwartete Fund in Papas Archiv erleichterte doch alles. Dies Testament – das gab ja Handhabe und Möglichkeiten – entlastete Mama im Fall einer ihr nicht zusagenden Heirat Tullas und besonders einer Heirat mit einem Hellbingsdorf ... Viktor kam sich ungeheuer verantwortlich vor und nahm mit ernster Miene Platz. »Wenn Sie, meine gnädige Frau, alles mit Ihren Herren Söhnen teilen, bedaure ich, daß Herr Oberleutnant nicht ebenfalls zur Stelle ist. Er war es, der mir damals in Ihrem Auftrage Papas Mappe brachte, mit dem wertvollen Inhalt – wie sehr würde es gerade ihn interessiert haben, daß ich heute komme, um einen Teil jenes damals Ueberbrachten zurückzuerstatten – nur einen kleinen Teil,« fügte er flink den feierlich langsamen Worten an. »Mir?« fragte Sophie und schüttelte in vollem Unverständnis leise den Kopf. »Ist es Ihnen erstaunlich? Ja, es gibt so Sachen – schließlich nicht mal wunderlich – –« Nun hatte er die Verpflichtung zum Feierlichen überwunden und geriet zwanglos hinein in das flotte Tempo seiner gewohnten, fragenden Sprechart. »Nicht wahr? Gibt es nicht Verhältnisse ...? Sie kennen Mama nicht? Aber – ich kann's ja wohl ohne Respektverletzung sagen? Nicht? Sehr innig war das Verhältnis zwischen Papa und Mama nicht. Das werden Sie wissen? So hatte Mama keine blasse Ahnung, daß Papa eigenes Vermögen besaß. Viel war es ja nicht ... Woher sollte es auch kommen? Es war das bißchen Erbschaft von Tante Laura Rositz ... Wir merkten es dann an den Abrechnungen und einem Depotschein im Schreibtisch – und dann kam ja Ihr Herr Sohn mit der Mappe ... Und dann gab es Zank. Wem gehörte das nu? Mama sagte: ihr. Wir sagten: uns. Ist bei so was nicht immer Zank? Und es hieß: da muß doch 'n Testament sein. Man fand nichts. Kehrte den ganzen Schreibtisch um – nee – keins zu finden. Glauben Sie wohl?« Sophie saß ganz still. Eigentlich nicht sehr voll Spannung. Doch aufmerksam. Und auch im Gemüt bewegt, daß ihr der Verlust des Freundes durch diesen Sohn und seinen Bericht wieder so deutlich vor die Seele trat. »Mama ist göttlich! Da, wo sie hätt' suchen müssen, suchte sie nicht. Papa hatte eine Art Schrank – inwendig lauter Fächer – Genealogisches. Die Rositz sind ja alte preußische Beamtenfamilie – standesamtliche Scheine – all solche Sachen. Er nannte das sein Archiv. Mama war mit dem Inhalt nicht bekannt. Wie sollte sie? Nicht wahr? Bei dem Wort Archiv hat sie bloß immer an den Staat und was Wissenschaftliches gedacht – na, und wir reisten denn bald nach Sankt-Moritz, und es hieß, das Geld von Papa käme denn wohl uns Dreien zu ... Aber nu kamen wir ja Palmsonntag zurück. Und Mama meinte: jetzt müsse alles fort aus den Zimmern. Mama will sie anders einrichten – als Gastlogis. Mama erwartet bald einen wichtigen Besuch – ich glaub' den Baron Legaire – der will mit Berliner Architekten den Durchbau seines alten Schlosses in der Touraine besprechen.« Viktor räusperte sich. Und fuhr dann fort: »Mama warf die Frage auf, ob das Archiv wohl dem Ministerium auszuliefern sei, und hatte solche kindliche Vorstellung. Da sagt' ich denn, wir wollten erst mal nachsehen. Und Harald konnte doch alles beurteilen als Jurist! Und so fand es sich denn: es waren lauter Privatpapiere in dem Archiv – von größtem Interesse für unsere Familiengeschichte. Die Rositz sind mal adlig gewesen. Irgendein Vorfahr, der in Not war, hat das ›von‹ abgelegt. Harald sitzt nu und büffelt sich da 'rein und sagt, wir können es beweisen und dann wieder aufnehmen – ja, und da war denn auch das Testament an seinem ordnungsmäßigen Platz.« Er lachte. »Wissen Sie, was Harald sagte? Harald sagte: ›Mama, Du hättst es längst jefunden, wenn's an 'ner verrückten Stelle versteckt jewesen wäre, aber an der richtgen haste natürlich nich jesucht‹ – ja so was kann bloß Mama machen.« »Und das Testament?« fragte Allert. »Was geht es uns an.« »Gleich, gleich,« sagte Viktor Rositz beschwichtigend, denn er nahm an, daß Mutter und Sohn vor Spannung vergingen und sich schon darauf vorbereiteten, Krösusschätze entgegenzunehmen. Da hieß es erst vorweg abwiegeln. »Papa«, berichtete er, »hat in der Hauptsache sein kleines Vermögen Tulla vermacht. Sie soll es ausbezahlt bekommen, wenn sie heiratet. Es sind etwa hundertsechzigtausend Mark. Und Mama sagt: ›Gut – das ist dann ihre Mitgift – damit muß dann ihr Erwählter zufrieden sein – so lang ich lebe, gibt's nicht mehr‹ – sagt Mama. Na, Tulla wird Augen machen! Sie wissen, reiche Leute denken immer ganz naiv, daß andere Menschen weniger Bedürfnisse und weniger Verbrauch haben als sie, und sind flink bei der Hand mit dem Wort ›einschränken‹ für andere! Na – so is Mama eben auch. Und denn is sie eine von den Müttern, die nu mal für Opfer nich zu haben sind – und sie sagt, wo in aller Welt steht denn geschrieben, daß Mütter sich was versagen sollen, bloß damit 'n Schwiegersohn in largere Umstände kommt –« So! dachte er. Nu wissen se Bescheid – – Weder Sophie noch ihr Sohn begriffen aber im mindesten den Zweck dieser Auseinandersetzung. Doch sagte Sophie freundlich: »Tulla war ein wenig ihres Vaters Liebling, wie oft einzige Töchter« – – Und jetzt glaubte Viktor mit diplomatischer Feinheit alle Vorreden erledigt zu haben. Er ging zu dem über, was seine Zuhörer am meisten anging. »Papa hat auch Ihrer gedacht, meine gnädige Frau. Er hat Ihnen ein Legat von fünfzigtausend Mark vermacht. Ich habe das Testament hier.« Sophie errötete tief. Ihr erstes Gefühl war, mit raschem Blick das Auge des Sohnes zu suchen. Der sah sie herzlich an, nickte leise. – – Sie nahm das Testament. Viktor hatte es etwas umständlich aus seiner Brusttasche geholt. Ihre Hand war unsicher. Ein Frösteln lief ihr über die Haut. Die Schrift eines Toten! Und im Ohre wachte der Klang seiner Stimme auf. Es war Sophie, als spräche er laut, was sie nun mit tiefer Rührung las: »Meine teure, langjährige Freundin, Frau Sophie von Hellbingsdorf, geborene Freiin von Patow, bitte ich, ein bescheidenes Legat von mir anzunehmen. Durch die Summe von fünfzigtausend Mark beraube ich die Meinen nicht. Ich bin mir auch bewußt, dadurch das Vermögen von Frau von Hellbingsdorf nicht wesentlich zu vermehren. Von ganzem Herzen wünsche ich nur, ihr zu zeigen, daß ich auch in der ernsten Stunde ihrer denke, da ich meinen Nachlaß ordne.« Und geschrieben war dies am Tage vor seinem Zusammenbruch. Vielleicht hatte das Gefühl, daß irgend etwas unheimlich und zerstörerisch heranschleiche, ihn geängstigt, das Empfinden körperlichen Elends ihn schon bedrückt. Und die Kräfte hatten dann am anderen Tage nicht mehr gereicht; er vermochte seine Geschäfte nicht zu Ende zu führen ... Sophie erinnerte sich, daß er in jener letzten Stunde ihres Beisammenseins Geld für Allerts Unternehmen angeboten. Sie wußte auch, wie ihre Gedanken dieses Geld dann umkreisten, wie ihr Herz, ihre Phantasie dem Toten gleichsam den Vorsatz untergeschoben: es ihr für ihren Sohn zu gönnen. Es erschütterte sie, nun zu erkennen: sie habe seinen Wunsch ahnend und richtig gefühlt. Und ganz gewiß hatten alle jene Worte, die er, nicht mehr Herr einer deutlichen Sprache, der Tochter noch zuflüsterte, von diesem Testament gehandelt – waren vielleicht Grüße gewesen – und eine Bitte: sag' ihr, sie soll mir das nicht verweigern. – Aus dem großen ewigen Dunkel her streckte er noch seine Hand zu ihr aus – so empfand sie es – gerade in der trübsten Lage wollte er ein wenig helfen ... »Kann ich das annehmen?« fragte sie mit Tränen in den Augen. »Aber, gnädige Frau ...« »Unbedingt, Mutter,« sagte Allert ruhig. Viktor Rositz war doch baff, mit wie wenig Worten das abgemacht wurde. Er hatte viel erwartet: Ausrufe, schlecht verhehlten Jubel, schöne Redensarten, Lobpreisungen des Edelmutes seines Vaters. – – Und er sah nur eine stille Würde, die sich sogar bemühte, die Ergriffenheit zu verbergen. Es imponierte ihm. Guter Geschmack, dachte er. Und er dachte auch an seine Mama. Den Seufzer, der ihm da aufquellen wollte, unterdrückte er. Der Abend wurde überraschend nett. Tulla kam und war aufgeregt vergnügt. Und fand ihren Bruder so wohltuend elegant. Und er brachte die ganze vertraute Atmosphäre mit, die solche Sicherheit gab. Das Leben schien leichter. Es war doch beinahe, als sprächen nicht alle Menschen die gleiche Sprache. Und Viktor war schon bei dem Vorgericht seiner Sache sicher: Tulla hatte mit diesem Allert ganz gewiß kein heimliches Verlöbnis angebandelt. Komische Kerls, diese beiden Hellbingsdorfe: ließen sich 'ne brillante Partie entschlüpfen. Mama konnte mit Knapsen und Knausern drohen, aber die reiche Zukunft blieb. Na, das war Sache dieser Herren ... Und er meinte, daß Tulla sich großartig rausgemacht habe in den Hamburger Wochen und wirklich entzückend sei. Er bekam auch ihr Porträt zu sehen und fand es fabelhaft. Es sei geschmeichelt, sagte er, sonst ein Kunstwerk ersten Ranges. »Geschmeichelt?« fragte Sophie und sann dem Wort nach. Sie hatte in das feine, dunkeläugige Gesicht vielleicht all ihre eigenen Gedanken und Träume hineingemalt; das junge Wesen so dargestellt, wie sie inbrünstig hoffte, daß es sich entwickle. – – Dann bat Sophie, das Bild der Familie Rositz übersenden zu dürfen; auf Wunsch des teuren Verstorbenen sei es gemalt, als Andenken an ihn möchte sie es seiner Gattin und seinen Söhnen widmen. Und Viktor nahm es mit einer ergebenen Verbeugung an. – – Am andern Morgen reisten die Geschwister ab. Sophie geleitete sie an den Zug. Eine tiefe Traurigkeit war in ihr. Nun erst, mit diesem Abschied verlor sie den heimgegangenen Freund ganz und verlor eine schöne Hoffnung. Auch Tulla schien ganz außer sich zu sein ... Sie warf sich in die Arme der Frau, die sie förmlich umworben hatte, um durch die Mutter den Sohn zu erobern. Sie hatte sie auch lieb, ja, von ganzem Herzen. Mit einem Male fühlte sie: da war Wärme und Liebe für sie ... Aber sie hatte nicht hinübergekonnt zu diesen teuren Menschen. Und Tulla dachte: ich begreif es nie! ... Niemals versteh' ich, warum er schwieg! – Von neuem kam Verzweiflung über sie. Und sie meinte: dies sei ein Unglück, das ihr das Leben zerbräche. Die Frau aber, an deren Schulter sie weinte, wußte in ihrem erfahrenen Herzen: du wirst dich trösten. Denn sie hatte gestern abend wohl gespürt, wie der Bruder sie rasch hinüberriß in die gewohnten Anschauungen, wie es gleichsam erwachend durch Tullas Wesen ging. Und weiter dachte sie: eines Tages, zurückdenkend, wirst du ihn plötzlich verstehen und dich sehen, wie du bist – oder wenn du nie erkennst, warum er dir entsagen mußte, dann ist eben dein Leben ganz ins Flache hineingeglitten. Der letzte Kuß – das letzte Winken. – Der Zug fuhr davon – rasch – sacht – ein langer, dunkler, beweglicher Körper im bläulichen Dunst des Frühlingsmorgens. Sophie stand noch eine Weile sinnend unter dem Schmerzgefühl einer großen Leere. Wenn eine Hoffnung unerfüllt abstirbt, das ist beinahe wie das Sterben eines Menschen, eine Lücke entsteht, aus ihr heraus scheint einen Entmutigung anzuwehen. Aber da war die Arbeit – Sophie hatte halb zehn eine Sitzung – der uralte Senior der Familien aller Vierbrincks kam dann, von seinem Diener gestützt, die vielen Treppen herauf, immer stolz, dies noch leisten zu können; immer in der Erwartung, daß Sophie diesen Beweis seiner Jugendfrische mit vielen, bewundernden Worten preise. Sie versuchte vorweg, sich zu sammeln, stellte das feine, kluge, unendlich durchfältete Greisengesicht vor sich hin. – Vergebens – sie dachte zu viel zurück und voraus – Heute abend! Ja, sie ahnte: diese Stunden heute abend konnten über das Herzensleben ihres ältesten Sohnes entscheiden ... Sie kam an einer Anschlagsäule vorbei und sah ein großes Plakat ... Weiß, nur mit kräftigen, schwarzen Buchstaben bedruckt, stand es voll sachlichen Ernstes zwischen all den bunten Flächen, auf denen sich da ein überschlanker Frauenleib in grasgrünem Kleid auf rotem Grunde verrenkte, dort ein Clownkopf mit knalligen Backen und gelber Spitzmütze vor Behagen über eine neue Zigarettensorte grinste – – Das uneheliche Kind und die sexuelle Aufklärung Vortrag von Doktor Marya Möller Und darunter der Saal, die Zeit, der populäre Eintrittspreis. Und tief am schwarzen Rande, gleich einer Unterschrift: Frauenvereinigung zur Hebung der Sittlichkeit. Ihre Gedanken wurden schwerer. Sie wünschte unwillkürlich, daß Allert dies Plakat nicht zu Gesicht bekäme. Aber man mußte ja darauf gefaßt sein, daß es gerade in seiner Gegend, als Ruf an alle Fabrikmädchen, vielfach angeschlagen werden würde. Und obschon kein Name darauf stand außer dem der Vortragenden, würden für Allert sich all diese Buchstaben zu dem einen Namen formen, und dies ganze Plakat würde ihm entgegenschreien: Marieluis – – – – Sie hörte ihn sagen, was er ihr einmal geantwortet hatte: »Das ist alles sehr richtig, Mutter. Aber begreif' doch: mich verletzt das. Nimmt mir so viel Záuber aus dem Leben fort – Sieh mal, ich glaube, da fühl' ich mich eins mit tausend, tausend Männern: das sind zarte Dinge! Wir wollen sie nicht so laut besprochen haben. Wir wollen, daß das unberührte Weib in scheuer Ahnung, in unbewußtem, heiligem Trieb – gehorchend der ewigen Stimme der Natur, zu uns kommt. – Wissend? Nicht wissend? – Das mag verborgen bleiben. – Ja, Mutter, in diesen Dingen wird immer und allezeit die Empfindung des einzelnen gegen das sich auflehnen, was der Verstand für gewisse Schichten als richtig zugibt.« – – Die Mutter konnte zu allen diesen Kämpfen nur bekümmert seufzen. – Das war ja eine schwächliche und unverbindliche Art, an den Strömungen teilzunehmen – Sophie wußte es wohl. Und wie sie nun durch den frischen, nebelig leise durchdunsteten Morgen auf ihre Wohnung zuging, fühlte sie sich recht klein und unsicher. Sie wußte nicht, bei wem das Recht war ... Sicherlich auf beiden Seiten. Aber das sind ja immer die hilflosesten Fälle. Sie selbst, sie war keine Kämpferin und in nichts fanatisch als für das Glück ihrer Kinder. – Aber sie sah nun: auch da kommt der Augenblick, wo das Schicksal einem eine abwartende und machtlose Stellung anweist. – – Es lag in ihrer Natur das Bedürfnis, zu hoffen. Und so versuchte sie ihre Gedanken von dem Plakat abzulenken und ganz gesammelt auf die Ueberraschung des gestrigen Abends zu richten. Neue Rührung über das Vermächtnis des Freundes ergriff sie. Jetzt konnte Allert sich, mit diesem Geld und ihren Ersparnissen zusammengenommen, von dem ihm verächtlich gewordenen Teilhaber befreien. – Dies Wissen hieß für ihn: der Geliebten unbefangen gegenüberstehen. Aber wenn sie sich finden, dachte Sophie ganz eifrig, dann – ja dann braucht Allert mich nicht mehr, und ich kann bald – oh vielleicht schon nächstes Jahr – die Heimat wieder erwerben ... Marieluis wird es gar nicht anders wünschen. – Und sie sah sich schon mit Enkelkindern unter den Bäumen dahinschreiten, aus deren Rauschen die Namen der Vorfahren klangen, sah ihre frauliche Bestimmung erfüllt: als Vermittlerin und Fortzeugerin von Generationen der Vergangenheit und Zukunft die Hände hinzustrecken. So ging ihr der Tag vorüber – in einem Auf und Ab der Hoffnung – dieser ewig schwingenden Schaukel der Seele. Die Dämmerung des Abends sank hernieder, als Allert kam und sie holte. Und sie wanderten in gutem Gleichmaß des Schrittes dahin unter dem wundervollen Aufbau des königlichen Stadtbildes um das flutende Wasser. Schon glühten die rötlichen und bleichen Lichtpunkte der Laternen rings an den Uferstraßen durch das friedvolle Grau. Von diesem Grau ging solche feierliche Stille aus, trotz all dem Getön des Lebens ringsum. Und hoch über den Firsten der Dächer begann die Geisterschrift elektrischer Flämmchen aufzuzucken – huschend erschienen die Namen von Firmen und Waren – liefen gleich feurigen Tierchen ihre Zeile oder ihren Kreis entlang, verloschen, begannen sogleich von neuem ihr gespenstiges Schreiben vor dem Hintergrund des Abendhimmels, hoch über dem Treiben der Straßen, auf die hinaus die vom Zwange der Geschäfte befreite Menge strömte. Der Saal, wo der Vortrag stattfinden sollte, lag in einer der engen Straßen der Altstadt. Da keilte sich in das Gedränge von Geschäftshäusern und Speichern, von schmalen, immer mit Verkehr überlasteten Gassen ein Bau, der Festsäle und Vereinstheater und Geschäftsräume enthielt. Und im Vestibül drängte sich die Menge, trotzdem es noch früh war. Der Saal, oben von einer Galerie mit Logen umgeben, glänzte in der gleichen festlichen Helle wie bei den Konzerten berühmter Dirigenten – aber das Publikum zeigte eine andere Färbung. Es sah gewissermaßen dunkler aus. Denn die Abendkleider und der Prunk von lichter Seide und Chiffon und Schmuck fehlten ganz – die Damen hatten sich in Straßenkleidern eingefunden. Und daß diese Scharen von Frauen, zwischen denen man nur ganz wenige Männer sah, von einer wunderlichen Unausgeglichenheit der Erscheinung waren, bemerkte Allert sofort. Viele Gesichter erkannte er – viele Frauen in der strengen und gediegenen Unauffälligkeit; in sehr kostbaren und sehr einfachen Schneiderkleidern saßen sie da oder standen in Gruppen und unterhielten sich. Und zwischen ihnen drängten sich weibliche Wesen in modischen, billigen Jacken mit flotten Hüten, darauf unechte Federn wogten ... Andere waren von bescheidener, sauberer Dürftigkeit der Kleidung, und sie saßen still und etwas duldend auf ihren Stühlen. Seine Mutter wurde im Vorbeigehen angeredet: »Auch aus Rücksicht auf Frau Senator Amster hier, gnädige Frau?« Und: »Sind Sie nicht auch riesig gespannt? Es kann sehr pikant werden.« Oder: »Na, gottlob, endlich haben wir mal Marya Möller hier, das wird uns weiterbringen.« Dann eine, ärgerlich: »Die Geschichte ist nicht richtig organisiert – man hat zu viel Freibillette verteilt – jetzt hab' ich nur noch ganz hinten einen Platz bekommen.« Als sie ihre Plätze gefunden hatten, fragte Sophie: »Wollen wir die Amsterschen Damen im Vorstandszimmer begrüßen?« »Nein,« sagte er kurz. Er hatte Marieluis schon gegrüßt – heute morgen – auf eine besondere Art – und das sollte sein eigenstes Geheimnis bleiben ... Er hatte ihr in der Frühe Veilchen geschickt – dunkle und dicht gedrängte Sträuße in einem Binsenkorb, den eine blaßblaue Schleife schmückte – und er dachte – daß diese Blumen, diese Farben vielleicht noch beredter zu ihr sprechen sollten als seine Worte, die er dazu schrieb: »Ich erfülle Ihren Wunsch, und heute abend bin ich in der Versammlung. Ich weiß es nicht, ob ich das Recht habe, Sie um etwas zu bitten. Hätte ich es, ich bäte Sie, mit aller Wärme und aller Kraft, deren mein Herz fähig ist: sprechen Sie nicht laut mit in der Oeffentlichkeit von diesen Dingen, die das Plakat nennt. Vielleicht sagen Sie wieder: Vorurteile! Ja, und wenn?! Es gibt Vorurteile, in denen sich die Sorge um Erhabenes verbirgt. Ihr A. v. H.« Den ganzen Tag hatte er gewartet: vielleicht kommt ein Wort, ein Zeichen – Liebe, die trösten und beruhigen will, findet Worte und Zeichen. Aber es war alles stumm geblieben – ein Tag war es gewesen wie alle: er rann ab im hastigen Treiben der Geschäfte. Und nun saß er hier – mit trockenem Munde – vor Spannung wie gelähmt. Es war, als sei sein ganzes Wesen gebunden und erst der Ablauf der nächsten Stunde könne es wieder lösen. Wenn sie seiner Bitte willfahrte! Was sagte sie ihm damit alles. Heißes Glücksgefühl wallte in ihm auf, wenn er sich das vorstellte. Oh, das sagte ihm: Ich will dein sein, und eine Gemeinsamkeit mit dir soll mir fortan die größten Aufgaben bringen – die nächsten – die heiligsten. Nun würde er es bald wissen, ob ihre Zartheit, ihr Geschmack, ihr keusches Empfinden, ihre Mädchenscheu vor ihm, gerade vor ihm, der sie liebte, ob dies alles stärker war als ihr kämpferischer Fanatismus. Wenn es wäre – wenn es wäre! Auf dem Podium in der Mitte vorn an der Rampe stand ein Rednerpult. Rechts und links davon schmale, grün verhangene Tische. Hinter jedem drei Stühle. Für die Schriftführer, Stenographinnen, Vorstandsdamen, vermutete Allert und war nur gespannt, ob dort auch die Senatorin Amster Platz nehmen werde. Aber nein. Da kam sie aus der Tür, die unten, neben dem Podium, aus den Zimmern der Vortragenden in den Saal führte. Rasch und herrisch schritt sie an der ersten Stuhlreihe entlang und nahm auf dem Stuhl an der Ecke des Mittelganges Platz. Da saß sie nun mit erhitztem Gesicht, in imperatorischer Haltung und versuchte ihre Nerven zu beruhigen. Sie hatte hinter den Kulissen mit der erst vor einer Stunde in Hamburg eingetroffenen Doktor Marya Möller einen Punkt der Uebereinkunft gesucht und nicht gefunden! Sie sagte: »Es ist klüger, gerade für meinen Verein, maßvoll, ästhetisch in der Form und vorbereitend aufzutreten.« Doktor Marya Möller sagte: »Ich bin es unserer Sache schuldig, energisch, wahrhaftig und rücksichtslos zu sprechen, und was im Reichstage gerade über mancherlei Hamburger Einrichtungen gesagt wurde, werde ich ja wohl auch noch vorbringen dürfen.« Die Senatorin, durchaus gewohnt, als Befehlshaberin fast in jeder Lage und besonders in den ihren Verein angehenden Dingen aufzutreten, und von dem naiven Anspruch getragen, daß vor ihrer Ansicht Widerspruch zu verstummen habe, fühlte sich sehr gereizt. Schließlich hatte doch der Verein diese Vorträge finanziell unterstützt! Und wenn dies Bewußtsein auch nur Nebenempfindung war: sie spielte mit. Am meisten aber: die Senatorin hatte sich zum Gesetz gemacht, den modernen Bestrebungen mit so viel gutem Geschmack als möglich zu dienen. Und diese Marya Möller sah nicht nach »gutem Geschmack« aus. Die Senatorin dachte still entsetzt: die hat ja was Anarchistisches; obschon ihr die Sachkenntnis fehlte und sie noch nie einen lebendigen Anarchisten gesehen hatte ... Wenn sie auf dem Podium so losdonnerte wie im Künstlerzimmer? Welcher Stoff für die Presse! Das konnte doch fatal werden! Wenn ihr Mann davon läse! Wenn man ihn darauf anspräche! Wenn er sagte, es sei von ihr taktlos gewesen, sich Schulter an Schulter mit Doktor Marya Möller in der Oeffentlichkeit zu zeigen! Der Vorwurf der Taktlosigkeit aus dem Mund ihres Mannes! Der bloße Gedanke machte sie nervös. Allert konnte ja nicht ahnen, was in ihr vorging. Er saß mit seiner Mutter in der dritten Reihe. Und er konnte schräg vor ihm das Gesicht der stolzen, klugen Frau im Profil sehen – es war heiß und rot – ein erstaunlicher Anblick. Nun öffnete sich droben die Tür, die aus dem »Künstlerzimmer« auf das Podium führte. Allerts Herz klopfte so, daß er in seinem Kopf ein Rauschen verspürte – Sturm schien ihn zu umbrausen. Drei weibliche Gestalten kamen zuerst – unscheinbare, sachliche Wesen. Sie setzten sich links vom Rednerpult und legten sich ihre Schreibstifte zurecht. Und dann drei andere Gestalten: die Vizepräsidentin, die Kassenführerin und die Schriftführerin des Vereins. Allert kannte sie alle drei – in ganz einfache, dunkle Kleider hatten sie sich gehüllt – er erriet auch, weshalb die Vizepräsidentin, die alte Frau Ramsburg mit ihrem milden Großmuttergesicht, ihrer Nichte Amster den Vorsitz für heute abgenommen und sich aufgeladen hatte. Wer war Frau Ramsburg? Eine gutmütige, außerhalb ihres Familienkreises gänzlich unbekannte und neutrale Persönlichkeit. Der Sitzredakteur, dachte Allert in einem flüchtigen Blitz seines Humors. Er erkannte auch die Schriftführerin – eine Stellung, die die schöne Frau Julia ein paar Wochen bekleidet gehabt. Nun war es das älteste, beinahe vierzigjährige Fräulein Vierbrinck, eine Großcousine Dorys. Sie trug auch einen Kneifer und hatte auch Grübchen, aber kupferige Wangen und einen scharfen, eifervollen Blick hinter den Gläsern. Neben ihrem dunklen, glatt gescheitelten Haar sah man das blonde Haupt. Duftig und schön geordnet lag das Haar um Stirn und Schläfen – das edle Angesicht schien ein wenig bleich – doch kühl und klar der Ausdruck wie immer. In vielen Kleidern und Farben hatte Allert sie gesehen. Aber die behielt er nicht im Gedächtnis – die sah er nicht, wußte er nicht. Vor ihm stand sie immer in jenem blaßblauen Gewand mit den dunklen, starken Veilchensträußchen – die an der weißen, blühenden Pracht ihrer Schultern lagen. Er suchte ihren Blick zu erzwingen. Und nun sah sie ihn. Ihr Auge schien dunkler, größer zu werden. Sein Blick sprach zu ihr – beredt, eindringlich, seine Nasenflügel bebten. Oh, er hätte sein ganzes Ich in seinen Ausdruck legen mögen. Und er wartete auf ein Zeichen, daß sie ihn verstehe – eine Verheißung – eine Bejahung all der brennenden Bitten, die seine Blicke zu ihr hinübersandten. Und es war, als sei auch in ihren Augen ein besonderes Licht. Was strahlte es ihm zu? Er verstand es nicht. War es der unbesiegbare Eigenwille, der mit stolzem Leuchten trotzte: ich tue, was mir richtig scheint? Nun senkte sie die Lider. War es ihr unerträglich, die leidenschaftliche Bitte zu sehen, die auf seinem Gesicht geschrieben stand? Dann eine große, allgemeine Bewegung – auch Marieluis wandte ihr Gesicht Doktor Marya Möller zu. Die trat rasch ein. Ganz und gar vertraut mit der Oeffentlichkeit – gewohnt, mit sachlichem Blicke vielen Hunderten von Gesichtern zu begegnen. Mittelgroß war sie, und zu einem kurzen, schwarzen Rock trug sie eine dunkle Weste, ein Flanellhemd mit Klappkragen und ein dunkles Jackett. Die Kleidung strebte offenbar männlichen Charakter an. Allert dachte: Gegenspiel zu den bunten Schuhen und weißen Flören der Frau Julia – zwei Sorten von Grenzüberschreitungen – welche war ihm fataler? Er hatte keine Zeit, sich diese Frage eingehender vorzulegen. Denn Doktor Marya Möller erhob ihr scharfes Gesicht, das unter dem kurzverschnittenen, graumelierten Haar an einen Predigerkopf amerikanischer Art erinnerte. Diese Kopfbewegung hatte die gleiche Wirkung wie das Emporheben des Dirigentenstabes in der Hand eines berühmten Kapellmeisters: vollkommene Stille trat ein. Und dann hingen die vielen hundert Augenpaare eine Stunde lang gefesselt an diesem ausdrucksvollen Gesicht, und alle Ohren lauschten angestrengt, um nur ja keine Silbe von diesen kunstvoll vorgetragenen, hart dreinfahrenden, kühnen, auch die heikelsten Dinge offen nennenden Worten zu verlieren. Und die fanatischen, brennenden braunen Augen im Gesicht der Rednerin hatten eine hypnotische Macht – da war niemand im Saal, der nicht das Gefühl gehabt hätte: sie sieht mich an. Jedem wußte sie das Gefühl zu suggerieren, daß es schimpflich sein würde, in der Aufmerksamkeit nachzulassen. Welche Kraft war in diesem Weibe. – Allert hörte und erfaßte alles – das ganze Bild des Elends, der Versuchungen, der moralischen Versumpfung in den Unterschichten rollte sie auf, das jedem denkenden Mann, der nicht blind und fühllos durch die sozialen Gärungen der Zeit schritt, wohlbekannt war. Vielen weiblichen Zuhörerinnen erzählte sie damit wohl ihnen bisher unbekannt Gebliebenes. Doktor Marya Möller kannte aber nur einen Schuldigen: den Mann! Es gab für sie keine geschichtlichen Rückblicke, und sie schien nicht zu wissen, daß manche Krankheitserscheinungen, daß Verbrechen aus tollgewordenem Kraftüberschuß so alt waren wie das Menschengeschlecht, und so unabänderlich wie mißgeformte und abfaulende Blätter in der Fülle reich belaubter Wipfel. Sie schien auch gar nichts von wirtschaftlichen Evolutionen, vom Arbeitsmarkt, von der Einwirkung schlimmer Umwelt, vom ererbten Hang zum Liederlichen zu wissen. Der Mann war ihr die Ursache allen Uebels. Oder: durchaus wahrscheinlich: es lag in ihrem Vorsatz und heutigen Programm, alles nur von einer Seite zu beleuchten. Denn als unerhört zielbewußte, kluge Kämpferin wußte sie wohl, welche Gewalt solche Einseitigkeit gibt; wie hell, wie grell, wie den Blick blendend sich die Dinge ausnehmen, wenn ein Scheinwerfer sie bestreicht. Allert hörte sachlich zu. Diese Einseitigkeit hatte etwas Imponierendes. Und diese Keulenschläge trafen oft genug auf den rechten Fleck ... Nur schade, daß gerade die Männer hier nicht zuhörten, die am meisten davon hätten betroffen sein müssen: der rohe, trunkene Kerl der abendlichen Gassen – der frühreife Bengel der Hinterhäuser – ja, diese hörten dem Vortrag von Doktor Marya Möller nicht zu. Und die vielen vornehmen Frauen in der strengen Eleganz unauffälliger Schneiderkleider – die hörten gewiß mit einem schaurigen, brennenden Interesse – so wie Kinder den Robinson Crusoe lesen – gespannt durch die für sie selbst nie erlebbaren Gefahren und Begebenheiten. – Und während Allert hörte, sah er zugleich. Er sah das schöne, blonde, geliebte Haupt. Für ihn trug sie kein düsteres Schwarz. Saß sie nicht da, von blaßblauer Seide umgleißt – mit dunklen lila Veilchen an den herrlichen Schultern – stolz und rein? Ihre Augen hingen an der Rednerin – ihr Gesicht war bleich. Schien es ihm nur so? Hob sie den Kopf auf eine besondere Art – wie kritischer Hochmut tut? Oder war es die Geste der Erhobenheit – des Triumphes für diese Genossin im Kampfe? Wenn er in ihre Seele hätte hineinblicken können! Mit einem Male sah er wieder jene häßliche Szene – sah sie in der abendlich düsteren Straße, die der klebrige Nebel füllte, und er hörte wieder die grölende Stimme des Trunkenboldes, der sie bedrängte – Er fühlte einen bitteren Schmerz in sich aufsteigen. Mußte nicht auch sie daran denken – gerade jetzt? Begriff sie wohl, daß dieses Mannweib da oben ganz andere Zwecke und Ziele hatte? Daß da die Arbeit zur Hebung der Sittlichkeit nur das Mittel war, die Frau in die Front und in die Politik zu bringen? Jetzt schloß die Rednerin, und ihre letzten Worte flammten über die atemlos Lauschenden hin wie eine Fackel über Gase – und züngelnd lohte die Begeisterung und der Jubel ihr zu. Besonders vielleicht jauchzten alle die Herzen, die vom Mann Uebles oder – gar nichts erfahren hatten; und die allgemeine Schuld der Männer machte es so viel leichter, dem Mann entsagen zu müssen. Ja, eher könnte man wohl all die vielen spinnwebfeinen Hanffäden eines armdicken Schiffstaues auseinanderwirren als das, was sich hier verflicht und wie einhellige Zustimmung aussieht, dachte Allert. Auf dem Programm war angezeigt: Nach dem Vortrag findet eine Debatte statt; Anfragen werden erbeten und beantwortet. Deshalb blieb man sitzen. Eine Pause ... Die Begeisterung mußte erst abschwellen und sich vom Jubel und Beifallklatschen zum leisen Flüsterton mit der Nachbarin verebben. Das war sehr merkwürdig – gemahnte an das Zurücksinken einer künstlich aufgepeitschten Woge. Die Hüte neigten sich hin und her. Das Licht ließ Reflexe aufblitzen auf den Steinen von Hutnadeln und den Brillanten an Ohrläppchen. Dann stockte die Bewegung der vielen Köpfe. Und es wurde wieder still. Mitten in der Versammlung stand eine Dame auf. Sie fragte mit scharfer Stimme, laut und unbefangen, ob nicht in den Volksmädchenschulen für sexuelle Aufklärung gesorgt würde. Doktor Marya Möller gab einen kurzen Ueberblick, wie weit die bezüglichen Bemühungen Erfolg verhießen. So ging es weiter ... Da und dort in der Versammlung erhob sich ein Arm und eine gespreizte Hand, oder ein Zeigefinger – in Schulgewohnheit – meldete, daß man zu sprechen wünsche. Und mit großer Gewandtheit wußte die Frau vom Rednerpult aus jede der sich Meldenden nach und nach zu Worte kommen zu lassen. Die Stimmen fragten hell und keck, schüchtern und heiser – Doktor Marya Möller antwortete in nie versagender Autorität. Und Allert fühlte immerfort sein Herz pochen – rasch und hart – jeder Nerv in ihm war gespannt. Er dachte: Vieles ist vernünftig – das sind viele Wahrheiten. Ein Bruchteil von dem allem ist durchführbar und kann nützen ... Und doch? ... Bin ich die Reaktion? Es ist mir furchtbar ... Ich möchte allen diesen Frauen zurufen: Halt – besinnt Euch – geht Euch für das, was Ihr nützt, nichts anderes verloren, das vielleicht noch wichtiger ist? ... Hab' ich unrecht? – Versteh' ich die Zeit nicht? – Ich, der Edelmann, der Kaufmann ward – das moderne Leben begreifend – bin ich die Reaktion? Und ein Gefühl war in ihm, das er nicht niederringen konnte. Der feste Glaube: So denke nicht ich allein – so empfinden tausend, aber tausend Männer. – Sind wir Männer nicht vielfach die Benachteiligten – ist dies nicht alles Uebergang – und wir die Erleidenden? Fabelhaft, was für ein fertiges sozialpolitisches Urteil all diese Frauen hatten – wie verwegen sie Dinge beim richtigen Namen nannten, von welchen ehedem die Frauen nur flüsterten. Oder die in einer gewissen naiven Unbefangenheit genommen wurden – wie auf dem Lande, wo das Natürliche weniger verhüllt ist. Warum verletzte es ihn hier so? Etwa, weil man sich so wissenschaftlich und sozialpolitisch gebärdete? Oder weil so viele vor aller Ohren laut davon sprachen? Er wußte es nicht. Er dachte: wenn nur sie – sie – sie nicht mitspricht. Sein Blick hing an ihr. Die Minuten, die verrannen, ohne daß Marieluis ein Zeichen gab, hoben seine Hoffnungen. Wenn sie seiner Bitte, nicht mitzusprechen, nachgab! Seligstes Geständnis durfte es ihm bedeuten. Sein ganzes Wesen war erschüttert von diesem Gedanken ... Nun hörte er die klangvolle Stimme der mannhaften Frau am Rednerpult ausrufen: »Ja, große Entwicklungen sind wie ein Adlerflug ...« Und er dachte: Aber die Adlerflügel werfen ihre Schatten auf das Gelände, über das sie wegfliegen – kann schon sein, daß manch einer sich gerade nur vom Schatten gestreift fühlt. Wie still seine Mutter neben ihm saß. Er ahnte: benommen und zweifelnd – hin und her gerissen. Auch ihre Blicke heften sich an Marieluis und nur an sie. Ihm schien: noch blasser war die Geliebte geworden – in ihren Augen funkelte eine fremde, seltsame Energie – die der Hingegebenheit? Die der Abkehr? Oh, wenn er es wüßte! Würde auch sie gleich ihre Hand erheben, um sich zum Wort zu melden? Ihm schien – ja – sie bewegte schon die Finger – wie voll Ungeduld – zögerte noch – vielleicht, weil so viel andere Hände sich erhoben ... Würde er gleich das Schauspiel erleben, daß die geliebte, schöne Hand sich emporreckte? ... Allert hörte nichts mehr von den Fragen und Antworten – all diese Stimmen waren leeres Geräusch geworden. Er sah nur noch. Er wartete. Er fühlte – an den nächsten Sekunden hing sein Schicksal. – – Zögerte sie, weil sie mit sich kämpfte? Zögerte sie, weil die Raschheit der Anmeldungen zum Wort ihr die Lücke zum Einfallen nicht ließ? Er griff nach der Hand seiner Mutter – Sophie schrak förmlich zusammen – fühlte auf der Stelle, ihrem Sohn war das Wesen aus den Fugen. Sie ahnte seine Spannung – teilte sie – spürte: sein Geschick war in der Schwebe. Ihre Nerven waren krank vor Ungeduld. Wenn doch dies ein Ende nähme – wenn man doch diese Sitzung schlösse – ehe – ja ehe Marieluis auch ihre Stimme erhob. Warum griff Marieluis noch nicht ein? Warum ließ sie die Debatte sich weiter wälzen? Diese mißtönige, gewagte Debatte. Wartete sie, um ein besonders starkes Wort, eine ihr gewichtigste Frage noch zuallerletzt hineinzuwerfen? Was ging in ihr vor? Aufrecht saß sie und sah zuweilen Doktor Marya Möller an und zuweilen ihre Mutter – es schien, als miede sie Allerts Blick. Und ihre Mutter, die Senatorin, erhitzt, nervös, mit einer Haltung, die beinahe etwas gewaltsam Stolzes hatte, hing mit ihren Blicken am Gesicht der Tochter. – Sie hatte keine Zeit gefunden, ehe sie zornig das Vorstandszimmer verließ, der Tochter zuzuraunen: Beteilige Dich um Gottes willen nicht an der Debatte! Und nun zitterte sie in Erinnerung daran, daß sie noch auf der Herfahrt ermutigt hatte: Beteilige Dich nur jedenfalls an der Debatte; es ist die beste Gelegenheit, mal zu versuchen, ob man öffentlich sprechen kann. Wie hatte sie auch ahnen können ... Ihr war ja gerade, als sei dies alles eine Karikatur dessen, was sie gedacht und gewollt. Und wie anders hörte sich das alles in der schrecklichen Oeffentlichkeit an ... Und immer sah sie ihren vornehmen, maßvollen Gatten ... Wenn sie sich vor dem blamiert fühlen müßte! Wenn er ihr Vorwürfe machte! – – Die Demütigung zerbräche ihr Leben. Sie wollte, sie mußte vor ihrem Manne die kluge, taktvolle, ungewöhnliche Frau bleiben. Die Atmosphäre der Hochachtung, in der sie lebten, hatte ihnen ja – unbewußt – das Glück der Herzen ersetzt. Sie fühlte: ging des Gatten Hochachtung in die Brüche, setzte sie sich seinem Tadel, seinem Lächeln aus, so würde sie aus aller Harmonie kommen. Und wie war das noch zu verhüten ... Die Oeffentlichkeit war ja plötzlich in ihr Dasein gekommen, hatte ihre Bestrebungen mit in den großen Strom der sogenannten Frauenbewegung gerissen. Wie noch vorbeugen? ... Plötzlich zuckte ein sehr kluger Gedanke durch ihr Hirn: Ja, vorbeugen, indem man bekennt, so hatte ich's nicht gewollt. Diese Geister dacht' ich nicht zu rufen. – Vorerst tat dieser kluge Gedanke noch weh. Aber er ließ sie nicht los. Wie bleiern die Minuten schlichen! Hörten denn diese plumpen Fragen gar nicht auf? Nun schleuderte wieder eine Stimme diese Worte in den Saal: »Könnte nicht eine Statistik versucht werden über die Zahl der Mädchen, die aus Mangel an sexueller Aufklärung fielen?« Daran schloß sich eine weitere Debatte. Wenn Marieluis nun doch noch das Wort nähme? Die Senatorin hatte eine jähe Erkenntnis: das ertrüge Allert nicht. Da saß er – vielleicht auch gespannt – vielleicht gar schon abgekühlt. Und sie vermochte ihre Begierde nicht zu bezwingen: rasch sah sie schräg zurück. Sie sah den Mann, sein vor Erregung scharfes und bleiches Gesicht. Die Blicke der beiden Mütter trafen sich, und beinahe – ja beinahe wäre das Ungeheuerliche geschehen: die Senatorin mußte ihre äußerste Selbstbeherrschung aufbringen, um einen nervösen Tränenausbruch niederzuzwingen. Und Marieluis saß da oben, in der beherrschten, verschlossenen Haltung, die ihrer Art gemäß war und die Erziehung ihr gefestigt hatte von Jugend an. Sie konnte der Mutter kein Zeichen geben – sie konnte nicht in ihre Blicke legen, was in ihr aufflammte. Vor Hunderten von Zuschauern saß sie ja, und jede Geste wäre ihr schon wie eine Mitteilung an die Oeffentlichkeit vorgekommen; an diese furchtbare Oeffentlichkeit, die sich ihr zum erstenmal in ihrem Leben offenbarte. Und sie begriff, wie in ihrer grellen Helligkeit, in ihrer unwillkürlichen Schamlosigkeit, in ihrer krassen Genauigkeit, in ihrem unabgetönten Lärm sich alles ganz anders darstellte, als man es in stiller Wirksamkeit gedacht. Der Unterschied zwischen dem gelesenen oder vertraut gesprochenen Wort und dem fanatisch hinausgeschrienen ging ihr auf ... Mit Erstaunen hörte sie schon vorhin, daß dieses fremde, geschmacklose Mannweib sich gegen die Bitten und Ratschläge ihrer Mutter wendete – das hatte Marieluis noch nie gehört, daß jemand sich erlaubte, einer Ansicht ihrer Mutter in dieser Art zu trotzen – die schlechte Form verletzte sie. Sie dachte: vielleicht hat Doktor Marya Möller recht, aber sie müßte Mama nicht so niederschreien. Es war ja nur eine Aeußerlichkeit. Aber das stimmte die zitternde Erwartung auf den Vortrag so herab. Und tief in ihrem Herzen war ein heißer Wunsch gewesen ... Der würdige, ernste, sittlich erhebende, begeisternde Verlauf dieses Abends sollte den einen bekehren, ohne den sie sich doch keine Zukunft mehr denken konnte. Diese Stunden sollten ihn zu ihrem Mitarbeiter machen. Und aus dieser Hoffnung heraus hatte sie kein Wort auf seinen Veilchengruß und seine beschwörenden Zeilen geantwortet. Sie küßte die Veilchen, sie war glückselig mit den zarten kleinen Blumen, die von ihm kamen. Und sie hoffte. Und als sie ihn sah, drunten, zwischen den vielen, vielen Frauen er einer der wenigen Männer, da grüßte ihn ihr Auge, und ihre Blicke glänzten. Noch hoffte sie, trotzdem dies Vorspiel so beklemmend gewirkt hatte und all ihr Taktgefühl litt, weil eine Plumpe ihre stolze Mutter niederzankte. Dann begann der Vortrag, und die scharfen, starken Worte, in ihrem verwirrenden Durcheinander von gerechten Klagen und ungerechten Anklagen, schnitten wie Schwerter durch die Luft ... Und was das allerrätselhafteste war: Ansichten, Sätze, Ausdrücke, die sie selbst sich erworben, nachgesprochen, unbedenklich gebraucht hatte, nahmen einen ganz andern Sinn und Klang an, nun da alles aus dem Munde der fanatischen Frau wie durch Glut gegangen und umloht kam. Und all dies hörte auch er. Klang ihm nicht ihre Stimme aus den Reden dieser Frau? Der Gedanke ließ Marieluis erzittern ... Sah er nicht ihr Wesen gesteigert in dem Wesen dieser Frau? Und plötzlich sah sie sich wieder in der abendlichen Straße, die der graugelbe Nebel füllte; sie spürte die klebrige Schmutznässe wieder unter ihren Sohlen, und in ihrem Ohr die grölende Stimme des Betrunkenen. – – Schleier zerrissen vor ihren Augen – sie verstand jetzt – erst jetzt und in diesem Augenblick klar, was sie gewagt, welchen Gefahren sie sich ausgesetzt hatte, an welchen Abgründen sie in unbefangener Mädchenwürde dahingegangen. Und sie begriff, wie er, der geliebte Mann, um sie gebangt haben mußte! Wie tief es seine Seele verletzte, daß sie in den Schmutz hinabstieg. Und ihre Ernten? Die ihrer Mutter? Wo waren sie? Man hatte gearbeitet, gesprochen, sich mit den widrigsten Verhältnissen und dem minderwertigsten Menschenmaterial abgegeben. Wußten sie denn gewiß, ob sie irgendwo dauernden Nutzen geschaffen? Diese Fragen tauchten in ihr auf – verwirrten sie. – Ueber all das sie Bedrängende erhob sich die eine große Erkenntnis: es gibt für mich ja nur eine Aufgabe – eine! Die, des teuren, starken, klugen Mannes Weib zu sein – im Glanz seiner Liebe als Frau zu wirken und ihm das Leben tragen zu helfen – in Arbeit und Glück. Aber vielleicht war das verloren. In eigensinnigem Schweigen hatte sie sein zärtliches verstecktes und doch so deutliches Werben hingenommen. Er konnte nicht wissen, daß sie seine Veilchen geliebkost und sich in Glückseligkeit ihrer gefreut. Er sah ja nur: sie hatte keines von den Sträußchen an ihrem Kleid befestigt. Hätt' ich das doch getan – wenigstens das, dachte sie in leidenschaftlicher Reue vergehend. Es wäre doch wie ein Zeichen gewesen. Es hätte ihn vielleicht versöhnt. – Mußte er nicht ganz zurückgestoßen sein? Jetzt – nach diesen Stunden. Saß sie nicht da, in Reih' und Glied mit der anmutlosen Frau, aus deren Mund die unkeuschen Worte und die grellen Anklagen kamen? Mußte er nicht denken, daß sie die Gesinnungsgenossin dieser vor Zorn schäumenden Sprecherin war, die doch tat, als spräche sie im Geist und Namen aller anwesenden Frauen? Und wieder hörte Marieluis mit Entsetzen: Worte wurden hinausgerufen mit wildem Pathos. Worte, die sie selbst zuweilen ausgesprochen. Ansichten, für die sie gegen den Geliebten in eifriger Rede gefochten. – – Er mußte sich doch daran erinnern – jetzt – hier. Und er mußte glauben: sie sei eins mit der Rednerin. Anders konnte es nicht sein. Ah, mit welcher Kälte, mit welcher Feindseligkeit sich sein Herz nun füllte. Darin konnte keine Liebe weiterleben. Sie litt. Sie fühlte: es ist aus! Er geht von dieser Stätte und meidet mich für immer – über diese Stunden kommt er nicht weg – vor seiner Erinnerung sitz' ich nun ewig neben Doktor Marya Möller – eine Kämpferin gleich ihr – aller weiblichen Zartheit entkleidet. Ich habe ihn verloren. – – Wenn nur dies alles ein Ende nähme – wenn sie nur hätte fliehen können. – – Aber die Stimmen erhoben sich immer neu. Marieluis empfand jede wie einen Schmerz – alles zerrte an ihren Nerven. Sie dachte zuletzt wie gehetzt: Ich kann nicht mehr – ich will fort ... Fassungslos war sie und hatte die Empfindung, als werde sie hier gefoltert, und alle lächelten höhnisch dazu – und am meisten er – er! Dort saß er. Unklar sah sie das geliebte männliche Gesicht – die offenen Züge – das Gesicht eines Mannes, der immer wußte, was er wollte ... Sie dachte, noch kaum Herrin ihrer selbst: Und wenn Mama es mir nie verzeiht! – – – Und zugleich erhob sie sich – ohne zu fühlen, daß sie Auffälliges täte. Sie dachte nicht an den Saal, an all diese Menschen, die sich fragen mußten: Was tut sie? – Warum steht sie auf? – Ist ihr nicht wohl? Nichts. Nur an dieses eine: Ich kann nicht mehr so dasitzen vor seinen Augen – seinem Spott – seiner Feindseligkeit. – – Sie wußte nicht, daß sie mit unsicheren Schritten ging. Sie kam an die Tür – öffnete – da waren ein paar Stufen – sie führten hinauf in das Zimmer, wo Künstler oder Vortragende sich aufhielten, bis das Podium rief. Nun war es leer, ganz leer. Welche Wohltat, welche Erlösung. Sie setzte sich in einen der tiefen Lehnstühle, die einen großen runden Tisch umstanden. In ihrem Kopf brauste Lärm – hunderttausend Marya Möllers keiften durcheinander. Sie war nicht ohnmächtig – aber in einer Schwäche, die ein Uebermaß von tödlicher Traurigkeit – von Hoffnungslosigkeit – von grenzenloser Angst war, legte sie ihre Arme verschränkt auf den Tisch und neigte ihr Gesicht in dies Versteck hinab. – Sie weinte nicht. Ihr war, als fragten Stimmen in ihr – lautlose und doch so furchtbar eindringliche Stimmen: Ist nun alles aus? Vorbei? Verloren? Und andere Stimmen schienen zu rufen: Ja – verloren. Ihr Wahn, mit ihren schwachen, reinen Mädchenhänden den Schmutz aus der menschlichen Gesellschaft hinwegräumen zu können, war verflogen. Und zugleich wußte sie: dieser Wahn hatte sie ihr Glück gekostet ... Oede war das Leben geworden. Wie sollte man es weiter tragen? Sie horchte, matt vor Zerschlagenheit, immerfort, wie ihr Blut schwer rauschte und in den Schläfen hämmerte. Und darüber hörte sie nicht, daß eine Tür sich öffnete – Sie schrak auf: eine Hand legte sich auf ihr Haar – eine Hand ... Sie hob, wie unter einer Last, unter einem Hindernis, ihren Kopf – scheu und doch in jäher Seligkeit. Schon fühlend, wissend – noch ehe sie sah. Und als sie ihr Gesicht emporwandte, sah sie in seine Augen. – – Sie sprachen nichts. Nicht ein Wort. In einem großen, ergriffenen Schweigen sahen sie sich an. Wie viel Liebe, wie viel Güte und Mitleid war in seinen Blicken. Und nichts, gar nichts von Triumph und Spott, der Geschlagene noch verwunden will. Nichts von dem Hochgefühl des Mannes, der es als seinen Sieg empfindet, wenn dem Weibe ein schief erbaut gewesenes Stück Welt zusammenbricht. Nur heiße Liebe. Nur ganz einfach der Trost: nun bin ich Dein ... An der Tür die beiden Mütter wagten erst nicht sich zu rühren. Aber doch: Sophie konnte ihre Glückstränen nicht mehr meistern – ihre Augen strömten ihr über, und sie preßte das Taschentuch an den Mund. Da erhob sich Marieluis – Allert mußte ihr ein wenig helfen – und er hielt ihre Hand fest. Sie wollte auf ihre Mutter zugehen, sich entschuldigen – etwas erklären. Aber diese außerordentliche Frau hatte sich inzwischen ganz gefaßt. Herrin der Lage war sie geworden wie immer, und der kluge Gedanke hatte so sehr gesiegt, daß er nicht nur nicht mehr schmerzte, sondern eine neue Form von Triumph versprach. »Mein Kind!« sagte sie und schloß die Tochter in ihre Arme, »ich verstand Dich! Nun wollen wir nach Hause fahren, und ich werde meinem Mann sagen, daß mir diese Sachen denn doch zu geschmacklos sind ...« Allert küßte ihr die Hand. »Und wie wäre es, wenn Sie Ihrem Gatten gleich einen Schwiegersohn mitbrächten?« Da lachte sie hell und glücklich auf. »O Gott ja, Kinder – wir Mütter haben schon lange genug darauf gewartet ...« »Wollen Sie mich ein wenig liebhaben?« bat Marieluis leise. Ach, was sollte die kleine zärtliche Mutter darauf antworten – was versprechen? Ihr ganzes Leben war ja Liebe, und seit langer Zeit hatte ihr Herz diesem Augenblick entgegengezittert. So konnte sie nichts, wie ihrem neuen Kind mit innigen Küssen sagen: Du bist nun auch mein ... Draußen im Saal brach ein seltsames Geräusch los – ähnlich dem Knattern von Gewehrsalven. Der Beifall. – »Fort!« sagte Allert, »rasch. Ganz einfach: Flucht ...« Und aus der Rührung fühlten sie sich jäh hinübergerissen in jenen Uebermut, der auch die Reifsten und Nüchternsten in seltenen Stunden erfassen kann. Auf irgendeine Weise gelang es ihnen, sich vor allen Menschen hinaus ins Freie zu retten. Und dann gingen die beiden Frauen voran und sprachen sich gründlich und beglückt aus. Die Senatorin klar und voll Verstand alle Punkte beleuchtend, die für diesen Bund sprachen. Sophie nur ganz schlicht gerührt. Ja, der eine von ihren beiden lieben großen Jungen – der hatte die Blüte seiner Liebe hinwelken sehen. Die war dem leeren Boden des törichten Luxusdaseins entwachsen – da konnten für einen Mann wie Raspe keine Früchte reifen. Aber mit dem ernsten Willen zum Großen und Guten, den Marieluis hatte, konnte ein Mann ringen. Irrtümer gibt es, die wie Vorschulen für heilige Wahrheiten sind. Was Sophie aber der andern Mutter, die sich nur ein Kind erworben hatte, die keines von eigenem Blute besaß, nicht sagen konnte, war dies: wunderbar feierlich und beseligend, alles Glück noch übertönend, fühlte sie, als sei nun erst ihre Bestimmung als Weib und Mutter auf dem Wege der Erfüllung. Ihr Dasein sollte nichts ins Leere münden – zwischen den vergangenen Geschlechtern und den kommenden stand sie als Mittlerin. Ihr Haus sollte blühen – sie wurde nicht dieser geheimnisvollen Unsterblichkeit beraubt, die einer Mutter göttliches Teil ist, wenn sie ihr Blut, ihr Wesen in künftigen Generationen weiter wirken sieht. Ihrer Umwelt kaum bewußt, schritten sie weiter durch die laue Frühlingsnacht. So kamen sie aus dem Gewirr der alten engen Straßen heraus. Nun war Helle und Leben um sie. Das Leben des Abends, der immer für Tausende wie ein Fest und ein Gelage scheint. Aus den Fenstern der großen Restaurants glänzten oberhalb der Scheibengardinen die Birnen der elektrischen Kronen. Drüben am Kai des Jungfernstiegs lag der Pfahlbau des Alsterpavillons über dem Wasser. Dann gingen sie den stilleren Alten Jungfernstieg entlang, neben den knospenden Lindenbäumen, hart am Gitter, das das dunkelflutende Wasser umschützte. Hinter den beiden emsig redenden und erregten Müttern schritten die beiden jungen Menschen Arm in Arm. Sie schwiegen. Die grenzenlose, heilige Beglücktheit in ihnen war noch wie ein Bann – Worte durften ihn noch nicht brechen. Und sie wußten es auch ohne Worte, wie schwer sie sich zueinander gekämpft hatten, und daß sie nun völlig eins waren in dem, was für sie Arbeit und Glück bedeutete.