1777, Ende Juni. Bei der Herzogin Amalie »Kurz darauf, nachdem Goethe seinen Werther geschrieben hatte« – erzählte mir [Falk] der alte ehrwürdige Gleim – »kam ich nach Weimar und wollte ihn kennen lernen. Ich war Abends zu einer Gesellschaft bei der Herzogin Amalie geladen, wo es hieß, daß Goethe späterhin auch kommen würde. Als literarische Neuigkeit hatte ich den neuesten Göttinger Musenalmanach mitgebracht, aus dem ich eins und das andere der Gesellschaft mittheilte. Indem ich noch las, hatte sich auch ein junger Mann, auf den ich kaum merkte, mit Stiefeln und Sporen und einem kurzen, grünen aufgeschlagenen Jagdrocke unter die übrigen Zuhörer gemischt. Er saß mir gegenüber und hörte sehr aufmerksam zu. Außer einem Paar schwarzglänzender, italienischer Augen, die er im Kopfe hatte, wüßte ich sonst nichts, das mir besonders an ihm aufgefallen wäre. Allein es war dafür gesorgt: ich sollte ihn schon näher kennen lernen. Während einer kleinen Pause nämlich, wo einige Herren und Damen über dies oder jenes Stück ihr Urtheil abgaben, eins lobten, das andere tadelten, erhob sich jener feine Jägersmann – denn dafür hatte ich ihn anfänglich gehalten – vom Stuhle, nahm das Wort und erbot sich in demselben Augenblicke, wo er sich auf eine verbindliche Weise gegen mich verneigte, daß er, wofern es mir so beliebte, im Vorlesen, damit ich nicht allzu sehr ermüdete, von Zeit zu Zeit mit mir abwechseln wollte. Ich konnte nicht umhin, diesen höflichen Vorschlag anzunehmen und reichte ihm auf der Stelle das Buch. Aber Apollo und die neun Musen, die drei Grazien nicht zu vergessen, was habe ich da zuletzt hören müssen! Anfangs ging es zwar ganz leidlich: Die Zephyr'n lauschten, Die Bäche rauschten, Die Sonne Verbreitet' ihr Licht mit Wonne. Auch die etwas kräftigere Kost von Voß, Leopold Stolberg, Bürger wurde so vorgetragen, daß sich keiner darüber zu beschweren hatte. Auf einmal aber war es, als ob den Vorleser der Satan des Übermuthes beim Schopfe nähme, und ich glaubte, den wilden Jäger in leibhaftiger Gestalt vor mir zu sehen. Er las Gedichte, die gar nicht im Almanach standen, er wich in alle nur mögliche Tonarten und Weisen aus. Hexameter, Jamben, Knittelverse und wie es nur immer gehen wollte, alles unter- und durcheinander, wie wenn er es nur so herausschüttelte. Was hat er nicht alles mit seinem Humor an diesem Abend zusammenphantasirt! Mitunter kamen so prächtige, wiewohl nur ebenso flüchtig hingeworfene, als abgerissene Gedanken, daß die Autoren, denen er sie unterlegte, Gott auf den Knien dafür hätten danken müssen, wenn sie ihnen vor ihrem Schreibpulte eingefallen wären. Sobald man hinter den Scherz kam, verbreitete sich eine allgemeine Fröhlichkeit durch den Saal. Er versetzte allen Anwesenden irgendetwas. Auch meiner Mäcenschaft, die ich von jeher gegen junge Gelehrte, Dichter und Künstler für eine Pflicht gehalten habe – so sehr er sie auf der einen Seite belobt – so vergaß er doch nicht auf der andern Seite mir einen kleinen Stich dafür beizubringen, daß ich mich zuweilen bei den Individuen, denen ich diese Unterstützung zutheil werden ließ, vergriffe. Deshalb verglich er mich witzig genug in einer kleinen ex tempore gedichteten Fabel mit einem frommen und dabei überdiemaßen geduldigen Truthahn[!], der eigene und fremde Eier in großer Menge und mit großer Geduld besitzt und ausbrütet, dem es aber en passant wohl auch einmal begegnet, und der es nicht übelnimmt, wenn man ihm ein Ei von Kreide statt eines wirklichen unterlegt. Das ist entweder Goethe oder der Teufel! rief ich Wieland zu, der mir gegenüber am Tische saß. ›Beides‹ – gab mir dieser zur Antwort; – ›er hat heute wieder einmal den Teufel im Leibe; da ist er wie ein muthiges Füllen, das vorn und hinten ausschlägt, und man thut wohl, ihm nicht allzu nahe zu kommen.‹« Gleim ergötzte sich ausnehmend über diesen Schwank, ebenso Wieland, aus dessen Munde ich ebenfalls die bedeutsamen Züge, wie sie hier vorkommen, zum öftern gehört und gesammelt habe.