1805, Mitte Februar. Mit Johann Heinrich Voß d. J. Denselbigen Abend kam Stark [Professor der Medicin] aus Jena, (es war am Freitag [den 11. Februar?] Abend) der erklärte, wenn Goethe bis Sonntag früh lebte, so sei Hoffnung da. Aber schon in dieser Nacht hatte die Krankheit umgeschlagen, die Krämpfe hatten nachgelassen, das Fieber war sanfter gewesen und der Geliebte hatte über die Hälfte der Nacht ruhig geschlafen. Um 11 Uhr forderte er mich zu sich, weit er mich in drei Tagen nicht gesehen hatte. Ich war sehr bewegt, als ich zu ihm trat und konnte aller Gewalt ungeachtet, die ich mir anthat, die Thränen nicht zurückhalten. Da sah er mir gar freundlich und herzlich ins Gesicht und reichte mir die Hand und sagte die Worte, die mir durch Mark und Gebein gingen: »Gutes Kind, ich bleibe bei Euch; Ihr müßt nicht mehr weinen.« Da ergriff ich seine Hand und küßte sie wie instinctmäßig zu wiederholten Malen, aber ich konnte keinen Laut sagen ..... Von dem Tage an ist Goethe zusehends besser geworden. Die Nacht vom Sonnabend bis zum Sonntag wachte ich bei ihm, und da hab' ich recht die Fortschritte beobachten können, die er machte. Als er um 12 Uhr zum ersten Mal aufwachte, fragte er mit ängstlicher Stimme: »Hab' ich auch wieder im Schlaf gesprochen?« Wohl mir, daß ich mit gutem Gewissen der Wahrheit gemäß verneinen konnte, was ich jedenfalls gelogen hätte. »Gut!« sagte er nach einer Pause, »das ist wieder ein Schritt zur Besserung.« – Wenn ich ihm dann schmeichelte, so nahm er jedesmal ganz geduldig seine Medicin, aber mit innerer Überwindung. Nun sollte ich ihm aber auch den Leib mit scharfem Spiritus einreiben und, wie der Arzt befohlen hatte, zweimal des Nachts. Dazu konnte ich ihn nur mit Mühe bringen. Wie ich aber gar nicht ablassen wollte und immer mehr schmeichelte, sagte er endlich ganz ruhig: »Nun denn, im Namen Gottes!« Dann wachte er einmal von einem Traum auf, wo er einem Turniere beigewohnt hatte. Diesen Traum erzählte er mir mit großer Freude, und in dem Augenblicke war er an energischem Ausdruck, an Lebendigkeit, ganz Goethe, trotz seiner Krankheit. Über alles rührte mich seine wirklich väterliche und zärtliche Fürsorge für mich (ob ich mir nun nicht den Kaffee machen wollte – nun nicht ein Glas Wein trinken wollte u.s.w.), wobei er mich dann immer sein gutes Voßchen nannte. Wenn er dann wieder einschlief und sein Gesicht matt beleuchtet wurde, schien er mir immer so leidend auszusehen wie einer, der eben anfängt, sich aus einem unermeßlichen Jammer herauszuarbeiten und noch die Spuren davon in seinen Mienen trägt. Da fielen mir denn die Erzählungen von den fröhlichen Thaten seiner kraftvollen Jugend ein, die ich so manches Mal angehört hatte, und ich konnte nicht umhin, beide Zustände mit ihren schärfsten Contrasten zusammenzuhalten ..... Zwei Tage nach jener Nacht stand er zum ersten Mal wieder auf und aß ein gesottenes Ei. Bald darauf fing er auch wieder an, sich vorlesen zu lassen. Nur hielt hier die Befriedigung schwer: Goethe verlangte launige Sachen, und Du weißt, daß die heutzutage niemand schreibt. Ich brachte ihm Luther's »Tischreden« und las ihm daraus vor. Das ließ er sich gefallen eine Stunde lang. Aber da fing er auch zu wettern und zu fluchen an über die verfluchte Teufelsimagination unseres Reformators, der die ganze sichtbare Welt mit dem Teufel bevölkerte und zum Teufel personificirte. Bei der Gelegenheit hielt er ein schönes Gespräch über die Vorzüge und Nachtheile der Reformation und über die Vorzüge der katholischen und protestantischen Religion. Ich gab ihm vollkommen recht, wenn er die protestantische Religion beschuldigte, sie hätte dem einzelnen Individuum zu viel zu tragen gegeben. Ehemals konnte eine Gewissenslast durch andere vom Gewissen genommen werden, jetzt muß sie ein belastetes Gewissen selbst tragen und verliert darüber die Kraft, mit sich selber wieder in Harmonie zu kommen. »Die Ohrenbeichte,« sagte er, »hätte dem Menschen nie sollen genommen werden.« Da sprach der Mann ein herrliches wahres Wort aus, wie mir in dem Augenblick recht anschaulich wurde. Ich selbst bin in dem Fall gewesen. Als im vorigen Sommer sich alles vereinigte, mich von Weimar weg nach Würzburg ziehn zu wollen, da fand ich nirgends Trost, so lang ich auf meinem Zimmer war; jedes Mal aber, wenn ich zu Goethe kam und ihm mein ganzes Herz (selbst alle Schwächen meiner Innerlichkeit) wie einem Beichtvater ausschüttete, so ging ich wie mit neuem Muth gekräftigt in meine Einsamkeit zurück, und ich werde ihm diese Wohlthat an mir mein Leblang danken ..... Den Tag darauf, nachdem Goethe den Luther genossen hatte, ließ er ihn zur Thür heraustransportiren. – Nun liest Goethe die Cervantischen Novellen, die ihm viel Freude machen.