1820, 28. Mai. Mit Joseph Sebastian Grüner Am 28. Mai 1820 traf Goethe wieder in Eger, von Karlsbad kommend, ein... und ließ mich durch seinen Bedienten Stadelmann zu sich einladen. Sein äußerst freundliches Entgegenkommen begeisterte mich noch mehr für den großen Mann; er begrüßte mich mit den Worten: »Was hat uns der problematische Kammerberg gebracht? Was machen die Egerländer? Wir haben viel, lieber Freund, und über manches uns zu besprechen.« – – – – – – – – – – – – – – – [Goethe fuhr dann mit Grüner nach dem Kammerberg.] Auf Goethes, dessen Wißbegierde bewunderungswürdig war, Fragen konnte man mit den Antworten in keine Verlegenheit kommen, weil sie so gestellt waren, daß man sie vollkommen nach Verhältniß des Standes und Wirkungskreises beantworten konnte. Mir war es um so leichter, ihm die gewünschten Aufklärungen über das Egerland zu geben, weil ich seit dem Jahre 1807 als Magistrats- und Criminalrath in Eger diente, und in dieser Zeit das Stadtarchiv und auf jenes Bezug nehmende Bücher und Correspondenzen durchforscht hatte. Hinsichtlich der Stadt Eger erzählte ich ihm, daß das Kastell mit dem Römerthurm wahrscheinlich zur Entstehung derselben Anlaß gegeben habe, da in dessen Nähe ein Gäßchen noch immer die Amöney-Gasse heißt, welches die Wohnungen der Ministerialen in sich begriffen hatte, weil ferner alle Chroniken übereinstimmen, daß auf dem Johannesplatze die alte Pfarrkirche stand, und das alte Rathhaus, das umbaute sogenannte Wagnerhaus Nr. 258, in der Nähe der Burg war. Ferner trug ich in Kürze vor, daß Eger als eine in der Pfalz gelegene deutsche Reichsstadt angesehen wurde, die einen freien Adler im Wappen führte, welcher aber, weil Kaiser Ludwig der Baier die Stadt 1315 an König Johann von Böhmen verpfändete, verkarcerirt, d.h. mit breiten weißen und rothen Streifen bis an den Hals, mit etwas herausragenden Flügeln, umgeben wurde, welches Stadtwappen noch heutigen Tages besteht. Die Stadt gab sich ihre eignen Gesetze, Zoll und Schröderordnung, der Senat bestand aus 100 Mitgliedern, wovon 67 aus der bürgerlichen Gemeinde, welche nur bei außerordentlichen Anlässen, z.B. bei Ausschreibung öffentlicher Abgaben zusammenberufen wurden. Sie hatte ihr Arsenal und Militär, schrieb Kloh-, Bern- und Umgeldsteuer aus, bezog Brücken- und Pflasterzoll, die Tranksteuer, Mauth und das Stempelgefälle. Wenn die Kaiser oder Könige Geldaushülfe zu Kriegen brauchten, so wurden an Stadt und Kreis Postulate gestellt, über welche auf dem Egerer Landtage, bei welchem k. k. Commissarien erschienen, verhandelt wurde. Diese Rechte hat Kaiser Joseph II. von der Gemeinde mit Geld abgelöst, hat auch den Magistrat anders eingerichtet, welcher von da an bis auf die neueste Zeit aus sechs aus der politischen, judiciellen und Criminalgesetzgebung geprüften Räthen, einem geprüften Bürgermeister und zwei Secretären bestand. Das Egerland für sich genommen verursachte dem Criminalamte wenige Geschäfte; denn dasselbe lieferte seit 1807 nur drei angesessene Bauern als Verbrecher. Der Eine hatte im Trunke einem Menschen die Bierkanne an den Kopf und damit todtgeschlagen; der andere hatte zu Pfingsten, wo junge Burschen zum Scherz geräuchertes Fleisch aus den Rauchfängen stehlen, andere Dinge diebisch mitgenommen; der dritte endlich hatte einen Bauernhof vorsätzlich in Brand gesteckt und zwar aus folgender Veranlassung. Er hatte sich einen lebenslänglichen Auszug oder Unterhalt bedungen, dieses Recht aber nicht bücherlich eintragen lassen. Der neue Besitzer seines Hauses gerieth in Schulden, dasselbe wurde im Executionswege verkauft, und der Käufer, der den an die Gläubiger verwiesenen ganzen Kaufschilling zu bezahlen hatte, weigerte sich den Auszug ihm zu verabfolgen. Nach vergeblichen Bitten um Ausfolgung des Auszuges und in große Noth gerathen, drohte der unglückliche Auszügler mit Brandlegung, führte die Drohung aus, und wurde zu lebenslangem schweren Kerker verurtheilt. Er zeigte große Reue über sein Verbrechen, und starb schon im ersten Jahre seiner Haft. Goethe sagte: »Es ist ein wackeres abgeschlossenes Völkchen. Ich habe die Egerländer wegen ihrer beibehaltenen Kleidertracht, die ich in früheren Jahren wahrnahm, lieb gewonnen. Sie haben mit den Altenburgern viele Ähnlichkeit. Ihr Manuscript über ihre Gebräuche wird mich daher sehr unterhalten, doch wünschte ich Ihre Meinung zu hören, wie es kommt, daß bei der angeführten Population so wenige Verbrechen verübt werden, was doch auffallend merkwürdig ist.« Meinem Dafürhalten nach, erwiderte ich, dürfte die Ursache theils in der Erziehung, theils in ihren Gebräuchen zu suchen sein; denn die Jugend wird zur Schule, zur Gottesfurcht und zur Arbeitsamkeit angehalten. Der Egerländer ist ein guter Christ, ein treuer Unterthan und Ehemann, ein sorgsamer, arbeitsamer Hausvater, und so haben die Kinder stets gute Beispiele vor Augen. Insbesondere glaube ich, daß ein Vorgang bei den Leichenbegängnissen auf sie einen tiefen und nachhaltigen Eindruck hervorbringt. Der Verstorbene bleibt nämlich in offenem Sarge in seiner Wohnstube ausgesetzt, um denselben stehen seine Angehörigen und Verwandte, auch Freunde und Nachbarn. Zu Häupten des Verblichenen hält der sogenannte Procurator, Leichenbitter, eine Anrede. Vor Allen stellt er Betrachtungen über die Vergänglichkeit des Lebens, aus den Todten hinweisend, an, und bemerkt, daß dieser nach dem Willen Gottes das Irdische habe verlassen müssen. Er muntert die Angehörigen zur Gottesfurcht, Eintracht und Arbeitsamkeit auf, nimmt im Namen des Verblichenen von Allen einen rührenden Abschied, bittet alle um Verzeihung, wenn er wissentlich oder unwissentlich jemanden beleidigt hätte, und fordert zur Versöhnung auf mit der nachdrücklichen Versicherung, daß, wenn sie bei ihren Handlungen und Unternehmungen immer Gott vor Augen haben, sie sich in jener Welt wiedersehen werden. Der Anblick der Leiche, diese Anrede, alle Nebenumstände wirken außerordentlich auf die Umstehenden. Ich selbst muß gestehen, daß ich als unbetheiligter Zuschauer gar oft zu Thränen geführt worden bin. Der Eindruck ist bleibend, und die Hinweisung auf diesen Vorgang genügt zumeist, einen Verirrten wieder auf den rechten Weg zu bringen. Goethe, der mir aufmerksam zugehört hatte, sagte: »Sie haben recht! dieser Vorgang muß auf den Landmann einen grenzenlosen Eindruck machen.« Inzwischen waren wir an dem Kammerberg angelangt. Goethe stand mit verschränkten Armen geraume Zeit unbeweglich, in tiefe Gedanken und Betrachtungen versunken; endlich sagte er: »Ich kann diesem Hügel noch nichts Bestimmtes abgewinnen.« Verzeihen Ew. Excellenz, versetzte ich, wenn ich, obwohl kein Naturforscher, meine Ansicht auszudrücken wage. Ich bin der Meinung, daß dieser Hügel durch einen Vulkanausbruch nicht entstanden ist, sondern daß die Gesteine, wie sie jetzt daliegen, durch ein unterirdisches Feuer gebrannt wurden. Ich brachte von der Anhöhe aus den obersten Straten einige kleine, kaum zwei Loth schwere abgesonderte Stückchen Lava, dann aus der nämlichen Linie der Straten, nur viel tiefer, große mehrere Pfund schwere Stücke und bemerkte: Wenn der Ausfluß von oben aus dem Krater geschehen wäre, so hätten sich nach physikalischen Gesetzen die schwereren Stücke früher lagern müssen; überdies sind die Kanten wie die feinsten Nadeln spitzig, sie hätten sich bei der geringsten Bewegung abstumpfen müssen. Goethe lächelte. »Freundchen,« sagte er, »wir sind nicht so geschwind damit fertig. Dieser Kammerberg wird so lange problematisch bleiben, bis er nicht von der Sohle des mir gezeigten seinen Glimmersandes aufwärts gegen den vermeintlichen Krater bis zu Tage durchfahren sein wird.« Goethe besah den Versuchsschacht, bestieg die Anhöhe, und betrachtete die Gegend und den Hügel aufmerksam, worauf wir nach Eger zurückfuhren. Die von mir übergebenen Lavastücke wurden schichtenweise angemerkt, in Kisten nebst Anderem gepackt, und zur Übersendung nach Weimar dem damaligen Pächter der Franzensbader Mineralwässer, Hecht, empfohlen. Vor der Abreise beschenkte Goethe mich mit seinem am 1. Juli 1817 zu Jena geschriebenen Werkchen, betitelt: »Zur Kenntniß der böhmischen Gebirge,« und schrieb auf das Titelblatt: »Herren Polizeirath Grüner zum freundlichen Andenken Eger, am 28. Mai 1820. Goethe .«