1831, 29. Mai. Mit Johann Peter Eckermann Goethe erzählte mir von einem Knaben, der sich über einen begangenen kleinen Fehler nicht habe beruhigen können. »Es war mir nicht lieb, dieses zu bemerken,« sagte er; »denn es zeugt von einem zu zarten Gewissen, welches das eigene moralische Selbst so hoch schätzt, daß es ihm nichts verzeihen will. Ein solches Gewissen macht hypochondrische Menschen, wenn es nicht durch eine große Thätigkeit balancirt wird.« Man hatte mir in diesen Tagen ein Nest junger Grasemücken gebracht, nebst einem der Alten, den man in Leimruthen gefangen. Nun hatte ich zu bewundern, wie der Vogel nicht allein im Zimmer fortfuhr seine Jungen zu füttern, sondern wie er sogar, aus dem Fenster freigelassen, wieder zu den Jungen zurückkehrte. Eine solche, Gefahr und Gefangenschaft überwindende elterliche Liebe rührte mich innig, und ich äußerte mein Erstaunen darüber heute gegen Goethe. »Närrischer Mensch!« antwortete er mir lächelnd bedeutungsvoll, »wenn Ihr an Gott glaubtet, so würdet Ihr Euch nicht verwundern: Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen, Sodaß, was in Ihm lebt und webt und ist, Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt. Beseelte Gott den Vogel nicht mit diesem allmächtigen Trieb gegen seine Jungen, und ginge das Gleiche nicht durch alles Lebendige der ganzen Natur, die Welt würde nicht bestehen können! So aber ist die göttliche Kraft überall verbreitet und die ewige Liebe überall wirksam.« Eine ähnliche Äußerung that Goethe vor einiger Zeit, als ihm von einem jungen Bildhauer das Modell von Myron's Kuh mit dem säugenden Kalbe gesendet wurde. »Hier,« sagte er, »haben wir einen Gegenstand der höchsten Art: das die Welt erhaltende, durch die ganze Natur gehende ernährende Princip ist uns hier in einem schönen Gleichniß vor Augen. Dieses und ähnliche Bilder nenne ich die wahren Symbole der Allgegenwart Gottes.«