1822, 6. August. Mit Wenzel Johann Tomaschek Um 8 Uhr Morgens machte ich mich auf den Weg zur goldnen Sonne, wo Goethe während seines Aufenthaltes (in Eger) gewöhnlich wohnte. Mit Beklommenheit näherte ich mich der Thüre seines Wohnzimmers und horchte, ob nicht vielleicht jemand schon bei ihm sei. Kein Laut, kein Tritt ließ sich vernehmen, die tiefste Stille herrschte im Zimmer und doch hatte ich den Muth nicht, an die Thüre zu klopfen; denn es kreuzten sich unzählige Anekdoten über Goethes Stolz und Unfreundlichkeit in meinem Kopfe, die mich für einen Augenblick eingeschüchtert hatten. Endlich dachte ich bei mir: Was kann Dir geschehen? Nur Muth gefaßt! Und ich klopfte ganz manierlich, worauf eine starke Stimme sich mit »Draußen bleiben!« hören ließ. Ich blieb an der Thür stehen, den Erfolg abwartend, auf den ich nun um so begieriger wurde. Es dauerte aber gar nicht lange, als sich die Thüre öffnete und ein junger Mann mit den Worten heraustrat: »Der Herr Geheime Rath erwartet Sie.« Goethe stand in der Mitte des Zimmers, von dichterischer Majestät umstrahlt; er entschuldigte sich und setzte schmunzelnd hinzu, daß er sich in einer lebensgefährlichen Lage, in den Händen des Bartscheerers befunden. Er war, ohne noch zu wissen, wer ich sei, überaus freundlich und widerlegte so alle Lügen, die über ihn so häufig verlauteten. Als ich mich ihm später nannte, wurde er sogar herzlich, äußerte sich über meine Auffassung seiner Gedichte in Ausdrücken, die ich hier zu wiederholen nicht wage .... Ich sah, daß Goethe nicht angezogen sei und vielleicht den Vormittag noch etwas zu thun habe, worauf ich mich mit dem Versprechen von ihm empfahl, ihn, seinem Wunsche gemäß, des Nachmittags 1 auf längere Zeit zu besuchen. Kaum konnte ich den Augenblick erwarten, der mich zu Goethe führte. Ich traf dort den Magistratsrath Grüner .... Goethe, sehr aufgeweckt und munter, bot uns Sitze an, die Worte an mich im Scherz richtend: »Lieber Tomaschek! Sie müssen sich auf das Kanapee setzen; denn Sie sind heute unser Erzbischof.« Ich protestirte gegen eine solche Würde; doch es half nichts, ich mußte folgen. Als wir eine Weile schon saßen, brachte der Kellner eine stattliche Flasche mit süßem ungarischen Wein gefüllt und einen Teller mit Preßburger Zwieback. Es entspann sich ein für mich interessantes Gespräch über die schöne Kunst, wobei Goethe über ihre Formen die herrlichsten Ansichten entwickelte, deren ich mich oft noch mit Entzücken erinnere. Im Verfolge des Gespräches kamen wir auch auf »Wilhelm Meister's Lehrjahre« zu sprechen, wobei ich mir zu bemerken erlaubte, daß ich bei der seligsten Wonne, in die mich dieser Roman, so oft ich ihn las, stets versetzte, dennoch nicht in's Reine damit gekommen sei, ob die Capitel darin dem Romane ihr Dasein verdanken, oder ob der Roman aus dessen Fragmenten entstand. Goethe schmunzelte und stellte die Frage an mich, wie ich auf die Idee gekommen? Ich rechtfertigte sie durch die lockere Haltung der Capitel untereinander, vorzüglich wies ich auf das sechste Buch hin mit der Ueberschrift »Bekenntnisse einer schönen Seele«, das mit dem übrigen in gar keiner Verbindung zu stehen scheint, worauf Goethe mir entgegnete: »Da ich Sie mit Ihrer Idee am rechten Wege finde, will ich Sie vollends zum Ziele führen. Ich hatte die Capitel oder Fragmente, wie Sie es nennen, allerdings einzeln geschrieben und sie auch einzeln nach und nach durch Zeitschriften veröffentlicht 2 ; doch wer kennt nicht das Loos der Zeitschriften! Und so glaube ich nicht, daß sich jemand darüber aufhalten könnte, das früher Zerstreute nun beisammen, aneinandergereiht, als einen Roman vor sich zu sehen; ich wenigstens bedaure nicht, die Mühe darauf verwendet zu haben.« Es kam manches noch zur Sprache, ehe der Abend verging, ja es wurde sogar mineralogisirt, wobei der Magistratsrath Grüner herhalten mußte; ich aber hörte zu und pausirte. Goethe, mein Stillleben gewahrend, machte wieder einen schnellen Übergang zur Kunst, indem er mich fragte, ob es mir nicht möglich wäre, ihm einige seiner, von mir componirten Lieder vorzutragen, hinzusetzend, daß selbst der geübteste Sänger ein Lied doch nicht so zu beleben wisse, als dessen Tondichter; auch meinte er, daß es nicht so sehr auf die Schönheit des Singorgans dabei ankomme, als vielmehr auf die jedesmalige, an gehöriger Stelle angebrachte Betonung, wodurch erst das Lied seine volle Wirkung thue. Ich schlug ihm vor, die Wohnung des Advocaten Frank, der ein gutes Fortepiano hatte, zu besuchen, und versprach, ihn selbst... dahin abzuholen. 3 Goethe wurde durch meine Bereitwilligkeit so herzlich, daß ich kein Bedenken trug, ihn zu bitten, mein kleines Stammbuch, das ich deshalb mithatte, nur mit ein paar Worten zu verherrlichen, wozu er gleich zwei Blättchen sich wählte ..... Ich säumte nicht, mich... zur bestimmten Zeit bei ihm einzufinden, um ihn nach dem verabredeten Orte zu begleiten. Nach wechselseitigen Begrüßungen nahm jeder von dem kleinen Publikum seinen Platz ein; es bestand aus Frank und seinem Sohn, dann dem Rath Grüner und dem Apotheker v. Helly aus Prag .... Goethe setzte sich nächst dem Fortepiano mir gerade gegenüber; wahrscheinlich wollte er sehen, ob meine Geberdensprache mit Wort und Ton stets im Einklange stehe. Durch die Gegenwart des Dichters begeistert, begann ich mit dem »Haidenröslein«, das ihn sehr anzusprechen schien, worauf dann die übrigen Lieder folgten, als: »Wer kauft Liebesgötter?« – »Nachgefühl«, – »Mailied«, – »An die Entfernte«, – »Stirbt der Fuchs, so gilt der Balg«, – »Rastlose Liebe«, – »Frühzeitiger Frühling«, – »Trost in Thränen«, wobei er tiefe Rührung nicht bergen konnte; vielleicht gab ein trauriges, dem Dichter einst begegnetes Ereigniß zu diesem letztern Liede die Veranlassung, daß er jetzt noch so sehr sich dabei aufgeregt fühlte. Dem folgten noch: »Am Flusse«, – »Wanderers Nachtlied«, – »Schäfers Klagelied«, – »An dem See«, – »Jägers Abendlied«, – »Mignons Sehnsucht«. Die wenigen Worte – »Sie haben das Gedicht verstanden«, – die Goethe nach Anhören des letztgenannten Liedes zu mir sprach, sagten mir deutlich, daß er mit meiner Auffassung des Liedes ganz zufrieden war, indem er noch weiter bemerkte: »Ich kann nicht begreifen, wie Beethoven und Spohr das Lied gänzlich mißverstehen konnten, als sie es durchcomponirten; die in jeder Strophe auf derselben Stelle vorkommenden gleichen Unterscheidungszeichen wären, sollte ich glauben, für den Tondichter hinreichend, ihm an zuzeigen, daß ich von ihm bloß ein Lied erwarte. Mignon kann wohl ihrem Wesen nach ein Lied, aber keine Arie singen.« – Nun trat eine Pause ein, während Goethe einige Ölgemälde von Frank's zweitem Sohn betrachtete und sich über das Talent des jungen Malers lobend äußerte. Nachdem Goethe sich wieder gesetzt, nahm ich zum Schlusse noch die drei ihm gewidmeten Balladen vor, nämlich: den »Erlkönig«, – »König von Thule« – und »den Fischer«. – Goethe empfahl sich allen Anwesenden und wandte sich zu mir mit den Worten: »Ihnen, lieber Tomaschek, werde ich heute erst des Nachmittags (?) danken, bis Sie sich ihr Stammbuchblättchen abholen werden.« Die Neugierde, wie der große Mann mein Blättchen bedacht, ließen mich nicht säumen, gleich nach Tisch dahin zu gehen. Ich traf ihn herumklaubend unter seinen Mineralien, die er mit Rath Grüner in der Umgegend von Eger gesammelt hatte. Goethe war diesmal noch viel freundlicher, als gewöhnlich; er nahm mich bei der Hand und dankte mir für die musikalische Ausstattung seiner Gedichte mit sehr wenigen, aber um so innigeren Worten, die ich zeitlebens im Gedächtnisse aufbewahren werde. Er nahm die zwei von ihm beschriebenen Blättchen und gab sie mir, indem er lächelnd bemerkte: »Da habe ich Ihnen etwas Diplomatisches 4 zur Erinnerung an unser Zusammentreffen gemacht; es soll mich freuen, wenn Sie beim Anblicke dieser Zeilen sich dessen erinnern. Übrigens hoffe ich, daß wir uns noch im Leben wiedersehen werden.« Ich dankte für das herrliche Andenken, empfahl mich und verließ innig gerührt seine Wohnung. Nicht übergehen darf ich das Gedicht hier, das Goethe auf den zwei Blättchen für mein Stammbuch schrieb. Das Diplomatische daran, wie er sich im Scherz ausdrückte, bestehet darin, daß, wenn man die Überschrift der Rückseite vom Gedicht im Zusammenhange lesen will, man beide Blättchen scharf nebeneinander legen muß. Dasselbe muß geschehen, ehe man zum Lesen der inneren Überschrift vom Gedicht schreitet. Die äußere Überschrift lautet: Für innige Teilnahme an meinen Gesängen dankbar zu freundlichem Erinnern genußreicher Stunden Eger, d. 6. August 1822 Die innere Überschrift lautet: Liebeschmerzlicher Zwie-Gesang unmittelbar nach dem Scheiden. [Nun folgen die zwei ersten Strophen des Gedichts »Äolsharfen«.] 1 Wohl später an demselben Morgen; s. unten. 2 Demnach war auch von den »Wanderjahren« die Rede gewesen. 3 Tomaschek schreibt: »am folgenden Tage nach 10 Uhr Vormittags dahin abzuholen.« Diese Zeitangabe steht jedoch mit Goethes Tagebuchaufzeichnung, sowie mit Grüner's Erzählung über den Verkehr mit Goethe in Widerspruch. Einklang ist nur dadurch herzustellen, daß man den Verkehr mit Tomaschek als an Einem Tage, den 6. August, erfolgt annimmt, und nicht am folgenden Tag, sondern am Nachmittag des 6. August die musikalische Production stattfinden läßt. 4 Problematisches?