1831, 9. März. Mit Johann Peter Eckermann Goethe fuhr heute fort mit der höchsten Anerkennung über Walter Scott zu reden. »Man liest viel zu viel geringe Sachen,« sagte er, »womit man die Zeit verdirbt und wovon man weiter nichts hat. Man sollte eigentlich immer nur das lesen, was man bewundert, wie ich in meiner Jugend that, und wie ich es nun an Walter Scott erfahre. Ich habe jetzt den ›Rob Roy‹ angefangen und will so seine besten Romane hintereinander durchlesen. Da ist freilich alles groß: Stoff, Gehalt, Charaktere, Behandlung, und dann der unendliche Fleiß in den Vorstudien, sowie in der Ausführung die große Wahrheit des Details! Man sieht aber, was die englische Geschichte ist, und was es sagen will, wenn einem tüchtigen Poeten eine solche Erbschaft zu Theil wird. Unsere deutsche Geschichte in fünf Bänden ist dagegen eine wahre Armuth, sodaß man auch nach dem ›Götz von Berlichingen‹ sogleich in's Privatleben ging und eine ›Agnes Bernauerin‹ [von v. Törring] und einen ›Otto von Wittelsbach‹ [von v. Babo] schrieb, womit freilich nicht viel gethan war.« Ich erzählte, daß ich ›Daphnis und Chloe‹ [Schäferroman von Longos] lese und zwar in der Übersetzung von Courier. »Das ist auch ein Meisterstück,« sagte Goethe, »das ich oft gelesen und bewundert habe, worin Verstand, Kunst und Geschmack auf ihrem höchsten Gipfel erscheinen, und wogegen der gute Virgil freilich ein wenig zurücktritt. Das landschaftliche Local ist ganz im Poussin'schen Stil und erscheint hinter den Personen mit sehr wenigen Zügen vollendet. Sie wissen, Courier hat in der Bibliothek zu Florenz eine neue Handschrift gefunden mit der Hauptstelle des Gedichts, welche die bisherigen Ausgaben nicht hatten. Nun muß ich bekennen, daß ich immer das Gedicht in seiner mangelhaften Gestalt gelesen und bewundert habe, ohne zu fühlen und zu bemerken, daß der eigentliche Gipfel fehlte. Es mag aber dieses für die Vortrefflichkeit des Gedichts zeugen, indem das Gegenwärtige uns so befriedigte, daß man an ein Abwesendes gar nicht dachte.« Nach Tische zeigte Goethe mir eine von Coudray gezeichnete höchst geschmackvolle Thür des Dornburger Schlosses, mit einer lateinischen Inschrift, ungefähr dahin lautend, daß der Einkehrende freundlich empfangen und bewirthet werden solle und man dem Vorbeiziehenden die glücklichsten Pfade wünsche. Goethe hatte diese Inschrift in ein deutsches Distichon verwandelt und als Motto über einen Brief gesetzt, den er im Sommer 1828 nach dem Tode des Großherzogs bei seinem Aufenthalte in Dornburg an den Obersten v. Beulwitz geschrieben. Ich hatte von diesem Briefe damals viel im Publicum reden hören, und es war mir nun sehr lieb, daß Goethe mir ihn heute mit jener gezeichneten Thür vorlegte ..... Goethe legte den Brief und die Zeichnung in eine besondere Mappe zusammen.