1815, Januar (?). Bei den Proben der »Zenobia« von Calderon Bei der ersten Theaterprobe zur »Zenobia« sollte Unzelmann, welcher den Soldaten spielte, das Unglück treffen, Goethes Zorn zu erregen. Er war einer der fleißigsten Schauspieler und ein Liebling Goethes, aber er gehörte auch zu denen, die sich durch ein Zorneswort des Meisters nicht einschüchtern ließen. Bei jener Probe nun trat Unzelmann mit der Rolle in der Hand auf die Scene und las dieselbe ab. Sogleich ertönte mächtig Goethes Stimme aus seiner Loge, die sich im Hintergrund des Parterre befand: »Ich bin es nicht gewohnt, daß man seine Aufgaben abliest!« Unzelmann entschuldigte sich mit dem Bemerken, daß seine Frau seit mehreren Tagen krank darniederliege und er deshalb nicht zum Lernen hätte kommen können. »Ei was!« rief Goethe: »der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet.« Unzelmann trat bis in das Proscenium vor und sagte: »Ew. Excellenz haben vollkommen recht: der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet. Aber ebensogut wie der Staatsmann und Dichter der Nachtruhe bedarf, ebensogut bedarf ihrer der arme Schauspieler, der öfters Possen reißen muß, wenn ihm das Herz blutet. Ew. Excellenz wissen, daß ich stets meiner Pflicht nachkomme, aber in solchem Falle bin ich wohl zu entschuldigen.« Diese kühne Rede erregte allgemeines Erstaunen und jeder stand erwartungsvoll, was nun kommen würde. Nach einer Pause rief Goethe mit kräftiger Stimme: »Die Antwort paßt! Weiter!« In dieser Probe sollte noch ein Unglücklicher an die Reihe kommen, und dieser Unglückliche war ich [Eduard Genast]. Ich spielte den Hauptmann der Zenobia, der den Aurelianus gefangen zu nehmen und nur wenige Worte zu sprechen hat. Mit großer Sicherheit trat ich aus der vierten Coulisse heraus und schritt mit Würde, um die Heldenthat, die Gefangennahme des Aurelianus, zu vollbringen. Da ertönte es: »Schlecht! So nimmt man keinen Kaiser gefangen. Noch einmal!« Ich kam also noch einmal, dann zum dritten, vierten und fünften Mal, und immer blieb der Ausspruch derselbe, nur daß er bei jeder Wiederholung markiger wurde. Ganz zerknirscht wagte ich endlich die bescheidene Frage: »Excellenz, wie soll ich's denn nur machen?« – »Anders!« war die belehrende Antwort. Ja, das war leicht gesagt, aber wie? Mein Herr Papa, der seinen Sitz rechts im Proscenium hatte, warf mir schon längst ingrimmige Blicke zu; ja, der hatte gut werfen, ich hätte mich lieber selbst hinauswerfen mögen, um der Qual und Schande zu entgehen. So trat ich denn den schauerlichen Gang zum sechsten Mal an, um dem Willen Goethes nachzukommen und es »anders« zu machen, aber es blieb beim alten. Da rief der Gewaltige: »Ich werde es Dir vormachen.« Nach einer Weile betrat er in seinem langen blauen Radmantel, den Hut halb schräg auf seinem Jupiterhaupte, die Bühne. Er nahm mir das Schwert aus der Hand, stellte mich als Zuschauer in den Vordergrund der Bühne und kam nun mit einem martialischen Gesicht und – ich kann's nicht anders bezeichnen – mit Hahnenschritten im raschesten Tempo auf den Aurelianus losgestürzt, das Schwert drohend über dessen Haupt schwingend. Das war allerdings ganz anders, wie ich es gemacht hatte, aber ich wußte nun, wie er es wollte und ahmte ihm treu nach. Da kniff er mich mit dem Zeige- und Mittelfinger, wie seine Art war, wenn er seine Zufriedenheit zu erkennen geben wollte, in die Backe, daß ich hätte laut aufschreien mögen, und ging dann wieder hinab in seine Loge. Mein Vater wandte sich mit einem sarkastisch-freundlichen Lächeln gegen mich und flüsterte mir über die Achsel zu: »Ich breche Dir den Hals, wenn Du es so machst!« Ich stand da, wie gewisse Thiere am Berge, der Papa aber fuhr fort: »Wenn wir nach Hause kommen, werde ich Dir schon erklären, wie es Goethe meint.« Bei der Hauptprobe sollte Goethe nochmals in Harnisch gebracht werden. Sein Princip war, diese gleichsam als die erste Vorstellung zu betrachten, darum durfte kein Unberufener während der Handlung auf der Scene stehen, oder auch nur den Kopf aus der Coulisse stecken. Letzteres Verbrechen ließ sich in dieser Probe ein ästhetischer Maschinist mit einem gewaltig dicken Schädel zu schulden kommen. Sogleich donnerte Goethe herauf: »Herr G'nast! Schaffen Sie mir den ungehörigen Kopf aus der ersten Coulisse rechts, der mit unanständiger Neugier sich in den Rahmen meines Bildes drängt.«