1832, 11. März. Mit Johann Peter Eckermann Abends ein Stündchen bei Goethe in allerlei guten Gesprächen. Ich hatte mir eine englische Bibel gekauft, in der ich zu meinem großen Bedauern die apokryphischen Bücher nicht enthalten fand, und zwar waren sie nicht aufgenommen als nicht für ächt gehalten und als nicht göttlichen Ursprungs. Ich vermißte den durch und durch edeln Tobias, dieses Musterbild eines frommen Wandels, ferner die Weisheit Salomonis und Jesus Sirach: alles Schriften von so großer geistiger und sittlicher Höhe, daß wenig andere ihnen gleichkommen. Ich sprach gegen Goethe mein Bedauern aus über die höchst enge Ansicht, wonach einige Schriften des Alten Testaments als unmittelbar von Gott eingegeben betrachtet werden, andere gleich treffliche aber nicht, und als ob denn überhaupt etwas Edles und Großes entstehen könne, das nicht von Gott komme und das nicht eine Frucht seiner Einwirkung. »Ich bin durchaus Ihrer Meinung,« erwiederte Goethe. »Doch giebt es zwei Standpunkte, von welchen aus die biblischen Dinge zu betrachten. Es giebt den Standpunkt einer Art Urreligion, den der reinen Natur und Vernunft, welcher göttlicher Abkunft. Dieser wird ewig derselbige bleiben und wird dauern und gelten, solange gottbegabte Wesen vorhanden. Doch ist er nur für Auserwählte und viel zu hoch und edel, um allgemein zu werden. Sodann giebt es den Standpunkt der Kirche, welcher mehr menschlicher Art. Er ist gebrechlich, wandelbar und im Wandel begriffen, doch auch er wird in ewiger Umwandlung dauern, solange schwache menschliche Wesen sein werden. Das Licht ungetrübter göttlicher Offenbarung ist viel zu rein und glänzend, als daß es den armen, gar schwachen Menschen gemäß und erträglich wäre. Die Kirche aber tritt als wohlthätige Vermittlerin ein, um zu dämpfen und zu ermäßigen, damit allen geholfen und damit vielen wohl werde. Dadurch, daß der christlichen Kirche der Glaube beiwohnt, daß sie als Nachfolgerin Christi von der Last menschlicher Sünde befreien könne, ist sie eine sehr große Macht. Und sich in dieser Macht und diesem Ansehen zu erhalten und so das kirchliche Gebäude zu sichern, ist der christlichen Priesterschaft vorzügliches Augenmerk. Sie hat daher weniger zu fragen, ob dieses oder jenes biblische Buch eine große Aufklärung des Geistes bewirke und ob es Lehren hoher Sittlichkeit und edler Menschennatur enthalte, als daß sie vielmehr in den Büchern Mose auf die Geschichte des Sündenfalls und die Entstehung des Bedürfnisses nach dem Erlöser Bedeutung zu legen, ferner in den Propheten die wiederholte Hinweisung auf Ihn, den Erwarteten sowie in den Evangelien sein wirkliches irdisches Erscheinen und seinen Tod am Kreuze, als unserer menschlichen Sünden Sühnung, im Auge zu halten hat. Sie sehen also, daß für solche Zwecke und Richtungen und auf solcher Wage gewogen sowenig der edle Tobias als die Weisheit Salomonis und die Sprüche Sirachs einiges bedeutende Gewicht haben können. Übrigens, ächt oder unächt sind bei Dingen der Bibel gar wunderliche Fragen. Was ist ächt, als das ganz Vortreffliche, das mit der reinsten Natur und Vernunft in Harmonie steht und noch heute unserer höchsten Entwickelung dient! Und was ist unächt, als das Absurde, Hohle und Dumme, was keine Frucht bringt, wenigstens keine gute! Sollte die Ächtheit einer biblischen Schrift durch die Frage entschieden werden, ob uns durchaus Wahres überliefert worden, so könnte man sogar in einigen Punkten die Ächtheit der Evangelien bezweifeln, wovon Marcus und Lucas nicht aus unmittelbarer Ansicht und Erfahrung, sondern erst spät nach mündlicher Überlieferung geschrieben, und das letzte von dem Jünger Johannes, erst im höchsten Alter. Dennoch hatte ich die Evangelien alle vier für durchaus ächt; denn es ist in ihnen der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist. Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, ihm anbetende Ehrfurcht zu erweisen, so sage ich: Durchaus! Ich beuge mich vor ihm, als der göttlichen Offenbarung des höchsten Princips der Sittlichkeit. Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, die Sonne zu verehren, so sage ich abermals: Durchaus! Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind, und alle Pflanzen und Thiere mit uns. Fragt man mich aber, ob ich geneigt sei mich vor einem Daumenknochen des Apostels Petri oder Pauli zu bücken, so sage ich: Verschont mich und bleibt mir mit euern Absurditäten vom Leibe! ›Den Geist dämpfet nicht!‹ sagt der Apostel [Paulus]. Es ist gar viel Dummes in den Satzungen der Kirche. Aber sie will herrschen, und da muß sie eine bornirte Masse haben, die sich duckt und die geneigt ist sich beherrschen zu lassen. Die hohe reichdotirte Geistlichkeit fürchtet nichts mehr als die Aufklärung der untern Massen. Sie hat ihnen auch die Bibel lange genug vorenthalten, so lange als irgend möglich. Was sollte auch ein armes christliches Gemeindeglied von der fürstlichen Pracht eines reichdotirten Bischofs denken, wenn es dagegen in den Evangelien die Armuth und Dürftigkeit Christi sieht, der mit seinen Jüngern in Demuth zu Fuße ging, während der fürstliche Bischof in einer von sechs Pferden gezogenen Carrosse einherbraust! Wir wissen gar nicht,« fuhr Goethe fort, »was wir Luthern und der Reformation im allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Bornirtheit, wir sind infolge unserer fortwachsenden Cultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christenthum in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Muth, mit festen Füßen auf Gottes Erbe zu stehen und uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu fühlen. Mag die geistige Cultur nun immer fortschreiten, mögen die Naturwissenschaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen, und der menschliche Geist sich erweitern wie er will, über die Hoheit und sittliche Cultur des Christenthums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen! Je tüchtiger aber wir Protestanten in edler Entwickelung voranschreiten, desto schneller werden die Katholiken folgen. Sobald sie sich von der immer weiter umsichgreifenden großen Aufklärung der Zeit ergriffen fühlen, müssen sie nach, sie mögen sich stellen wie sie wollen und es wird dahin kommen, daß endlich alles nur eins ist. Auch das leidige protestantische Sectenwesen wird aufhören, und mit ihm Haß und feindliches Ansehen zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und Schwester; denn sobald man die reine Lehre und Liebe Christi, wie sie ist, wird begriffen und in sich eingelebt haben, so wird man sich als Mensch groß und frei fühlen und auf ein bißchen so oder so im äußern Cultus nicht mehr sonderlichen Werth legen. Auch werden wir alle nach und nach aus einem Christenthum des Worts und Glaubens immer mehr zu einem Christenthum der Gesinnung und That kommen.« Das Gespräch wendete sich auf große Menschen, die vor Christus gelebt, unter Chinesen, Indiern, Persern und Griechen, und daß die Kraft Gottes in ihnen ebenso wirksam gewesen als in einigen großen Juden des Alten Testaments. Auch kamen wir auf die Frage, wie es mit Gottes Wirkungen stehe in großen Naturen der jetzigen Welt, in der wir leben. »Wenn man die Leute reden hört,« sagte Goethe, »so sollte man fast glauben, sie seien der Meinung, Gott habe sich seit jener alten Zeit ganz in die Stille zurückgezogen, und der Mensch wäre jetzt ganz auf eigene Füße gestellt und müsse sehen wie er ohne Gott und sein tägliches unsichtbares Anhauchen zurechtkomme. In religiösen und moralischen Dingen giebt man noch allenfalls eine göttliche Einwirkung zu, allein in Dingen der Wissenschaft und Künste glaubt man, es sei lauter Irdisches und nichts weiter als ein Product rein menschlicher Kräfte. Versuche es aber doch nur einer und bringe mit menschlichem Wollen und menschlichen Kräften etwas hervor, das den Schöpfungen, die den Namen Mozart, Rafael oder Shakespeare tragen, sich an die Seite setzen lasse. Ich weiß recht wohl, daß diese drei Edeln keineswegs die einzigen sind, und daß in allen Gebieten der Kunst eine Unzahl trefflicher Geister gewirkt hat, die vollkommen so Gutes hervorgebracht als jene Genannten, allein, waren sie so groß als jene, so überragten sie die gewöhnliche Menschennatur in ebendem Verhältniß und waren ebenso gottbegabt als jene. Und überall: was ist es und was soll es? – Gott hat sich nach den bekannten imaginirten sechs Schöpfungstagen keineswegs zur Ruhe begeben, vielmehr ist er noch fortwährend wirksam wie am ersten. Diese plumpe Welt aus einfachen Elementen zusammenzusetzen und sie jahraus jahrein in den Strahlen der Sonne rollen zu lassen, hatte ihm sicher wenig Spaß gemacht, wenn er nicht den Plan gehabt hätte, sich auf dieser materiellen Unterlage eine Pflanzschule für eine Welt von Geistern zu gründen. So ist er nun fortwährend in höhern Naturen wirksam, um die geringern heranzuziehen.«