1821, kurz nach dem 4. November. Mit Felix Mendelssohn-Bartholdy u.a. In den Gesellschaftszimmern Goethes befand sich ein vortrefflicher Streicher'scher Flügel, den ihm Kochlitz besorgt hatte. Dort fanden wir uns am Abend des Tages alle wieder zusammen; denn Goethe hatte eine größere Gesellschaft geladen, um seine Weimarischen Freunde, insbesondere die musikalischen, mit dem staunenswürdigen Talente des Kindes, von dem ihm Zelter den Tag über viel erzählt, auch früher schon manches geschrieben, bekannt zu machen. Unter den Geladenen befand sich auch der Weimarische Regierungsrath Schmidt, der, ein leidenschaftlicher Verehrer Beethoven's, dessen Sonaten sämmtlich mit Feuer und Fertigkeit spielte und sie zum größten Theil auswendig wußte; außerdem, wenn ich mich richtig erinnere, der Musikdirector Eberwein mit seiner Gattin, einer ausgezeichneten Sängerin, Herr v. Knebel, Froriep u. a. Zelter war, als wir andern schon versammelt waren, noch nicht zugegen, wohl aber Felix Mendelssohn, der sich scherzend wie am Morgen mit den Damen des Hauses unterhielt. Zelter wohnte in einem der, an den Gesellschaftssaal stoßenden Zimmer; von dorther trat er ein ..... Jetzt erst erschien Goethe selbst; er kam aus seinem Arbeitszimmer. Gewöhnlich pflegte er, wenigstens habe ich es so bemerkt, erst abzuwarten, daß die Gesellschaft versammelt sei, bevor er sich zeigte; so lange verwalteten sein Sohn und dessen Gattin die Pflichten der Wirthe auf die einnehmendste Art. – Eine gewisse Feierlichkeit war von dem Eintreten des Dichters in den Kreis seiner Gäste kaum zu trennen; denn fast immer befanden sich in demselben einige, die ihn zum ersten Mal sahen, oder ihm doch nur selten nahe getreten waren, und selbst für die, welche nähern oder nächsten Umgang mit ihm pflogen, blieb das Gefühl der Verehrung ihm gegenüber das vorherrschende. Sein ganzes Wesen prägte sich auch in der äußern Erscheinung so aus, daß diese Empfindung die erste, die überwiegende, die bleibende sein mußte. Sein ernster langsamer Gang, die kraftvollen Züge, welche vielmehr die Stärke, als die Schwäche des Alters ausdrückten, die hohe Stirn, das weiße, reiche Haar, endlich die tiefe Stimme und die langsame Redeweise – alles vereinigte sich gerade zu diesem Eindruck. Er stellte sich denn auch an diesem Abend her: eine plötzliche Stille trat ein, als der Dichtergreis die Thür öffnete; jedes Auge wandte sich zu ihm; er wurde mit stummer Verbeugung begrüßt. Sein »Guten Abend!« richtete sich an alle, doch vorzugsweise ging er auf Zelter zu und schüttelte ihm vertraulich die Hand. Es ist allbekannt, daß beide auf dem brüderlichen Fuß des Du in der Unterredung standen. Felix Mendelssohn schaute mit blitzenden Augen zu dem schneeigen Haupt des hohen Dichters hinauf; dieser aber nahm ihn mit beiden Händen freundlich beim Kopf und sagte: »Jetzt sollst Du uns auch etwas vorspielen!« Zelter nickte sein Ja dazu. Goethe trat nun zu uns andern. Eine kurze Unterredung bei der ersten Vorstellung abgerechnet, hatte ich [Kellstab] ihn – obgleich ich mich schon über zwei Monate in Weimar befand – noch nicht weiter gesehen ..... Nach einigen freundlichen Äußerungen gegen mich über die Beziehungen, in die ich zu seinem Sohne und seiner Schwiegertochter getreten, in deren Hause ich seither mehrfach aus- und eingegangen war, und wo namentlich Musik – Frau v. Goethe sang sehr angenehm – uns öfters beschäftigt hatte, lenkte der Dichter das Wort auf Felix Mendelssohn: »Mein Freund Zelter hat mir da seinen kleinen Schüler mitgebracht, den Sie gewiß schon kennen.« Ich bejahte es; Goethe fuhr fort: »Von seinen musikalischen Anlagen soll er uns erst eine Probe geben, aber auch nach jeder andern Seite ist er außerordentlich begabt. Man hat die Lehre von den Temperamenten: jeder Mensch trägt alle vier in sich, nur in verschiedenen Mischungsverhältnissen; bei diesem Knaben würde ich annehmen, daß er vom Phlegma das irgend möglichste Minimum, von dem Gegensatz das Maximum besitze.« Es gehört nicht hierher, wäre mir auch kaum möglich, das fernere Gespräch, welches sich hieran knüpfte, genauer zu entwickeln. Der Flügel war geöffnet worden, die Lichte auf das Pult gestellt. Felix Mendelssohn sollte spielen. Er fragte Zelter, gegen den er durchaus kindliche Hingebung und Vertrauen zeigte: »Was soll ich spielen?« »Nun, was Du kannst!« antwortete dieser in dem obenhin streifenden Tone, dessen sich alle erinnern werden, die ihn näher gekannt; »was Dir nicht zu schwer ist.« .... Es wurde endlich festgesetzt, daß er frei phantasiren solle und er bat Zelter um ein Thema. »Kennst Du das Lied: Ich träumte einst von Hannchen etc. ?« fragte ihn dieser. (Diese Worte sind nicht die richtigen; ich habe das Lied musikalisch, wie seinen Wortlaut vergessen; doch war dies ungefähr der Sinn der ersten Zeile...) Felix verneinte. »So will ich es Dir einmal vorspielen.« Zelter setzte sich an den Flügel und spielte mit seinen steifen Händen (er hatte mehre gelähmte Finger) ein sehr einfaches Lied in G-Dur in Triolenbewegung .... Felix spielte es einmal ganz nach und brachte dann, indem er die Triolenfigur in beiden Händen unisono einigemal übte, gewissermaßen seine Finger in das Geleise der Hauptfigur, damit sie sich ganz unwillkürlich darin bewegen möchten. Jetzt begann er, aber sogleich im wildesten Allegro. Aus der sanften Melodie wurde eine aufbrausende Figur, die er bald im Baß, bald in der Oberstimme nahm, sie mit schönen Gegensätzen durchführte, genug: eine im feurigsten Fluß fortströmende Phantasie gab ..... Mit einem ihm schon damals eigenen richtigen Takt dehnte der junge Künstler sein Spiel nicht so lange aus; desto größer war der Eindruck gewesen. Ein überraschtes gefesseltes Schweigen herrschte, als er die Hände nach einem energisch aufschnellenden Schlußaccord von der Claviatur nahm und sie nunmehr ruhen ließ. Zelter war der erste, der die Stille in seiner schon oben erwähnten fahrlässig humoristischen Weise unterbrach, indem er laut sagte: »Na, Du hast wohl vom Kobold oder Drachen geträumt! Das ging ja über Stock und Block!« ..... Das Spiel hatte, wie es nicht anders sein konnte, die höchste Bewunderung aller erregt, und namentlich war Goethe selbst von wärmster Freude erfüllt. Er herzte den kleinen Künstler, in dessen kindlichen Zügen sich Glück, Stolz und Verlegenheit zugleich malten, indem er ihm den Kopf zwischen die Hände nahm, ihn freundlich derb streichelte und scherzend sprach: »Aber damit kommst Du nicht durch! Du mußt noch mehr spielen, bevor wir Dich ganz anerkennen.« – »Was soll ich denn spielen« – fragte Felix – »Herr Professor?« – er pflegte Zelter bei diesem Titel zu nennen – »was soll ich noch spielen?« .... Goethe war ein großer Freund der Bachschen Fugen;... es wurde also auch Felix Mendelssohn die Aufforderung gestellt, eine Fuge des hohen Altmeisters zu spielen. Zelter wählte sie aus dem Notenheft der Bach'schen Fugen, welches herbeigebracht wurde, und der Knabe spielte dieselbe völlig unvorbereitet mit vollendeter Sicherheit ..... Goethes Freude wuchs bei dem erstaunungswürdigen Spiel des Knaben. Unter anderm forderte er Felix auf, ihm eine Menuett zu spielen. »Soll ich Ihnen die schönste, die es in der ganzen Welt giebt, spielen?« – »Nun, und welche wäre das?« – Er spielte die Menuett aus »Don Juan«. Goethe blieb fortdauernd lauschend am Instrument stehen; die Freude glänzte in seinen Zügen. Er wünschte nach der Menuett auch die Ouverture der Oper; doch diese schlug der Spieler rund ab mit der Behauptung, sie lasse sich nicht spielen, wie sie geschrieben stehe, und abändern dürfe man nichts daran. Dagegen erbot er sich die Ouverture zum »Figaro« zu spielen. Er begann sie mit einer Leichtigkeit der Hand, mit einer Sicherheit, Rundung und Klarheit in den Passagen, wie ich sie nie wieder gehört ..... Goethe wurde immer heiterer, immer freundlicher, ja, er trieb Scherz und Neckerei mit dem geist- und lebensvollen Knaben. »Bis jetzt« – sprach er – »hast Du mir nur Stücke gespielt, die Du kanntest, jetzt wollen wir einmal sehen, ob Du auch etwas spielen kannst, was Du noch nicht kennst. Ich werde Dich einmal auf die Probe stellen.« Er ging hinaus, ..... kam nach einigen Minuten wieder in's Zimmer und hatte mehrere Blätter geschriebener Noten mitgebracht. »Da habe ich einiges aus meiner Manuscriptensammlung geholt; nun wollen wir Dich prüfen. Wirst Du das hier spielen können?« Er legte ein Blatt mit klar, aber klein geschriebenen Noten auf das Pult; es war Mozart's Handschrift .... Der junge Künstler spielte mit vollster Sicherheit, ohne nur den kleinsten Fehler zu machen, das nicht leicht zu lesende Manuscript vom Blatt; .... das Stück klang, als wisse es der Spieler seit Jahr und Tag auswendig, so sicher, so klar, so abgewogen im Vortrag. Goethe blieb, da alles Beifall spendete, bei seinem heiteren Ton. »Das ist noch nichts!« rief er; »das könnten auch andere lesen. Jetzt will ich Dir aber etwas geben, dabei wirst Du stecken bleiben. Nun gieb acht!« Mit diesem scherzenden Ton langte er ein anderes Blatt hervor und legte es auf's Pult. Das sah in der That sehr seltsam aus: man wußte kaum, ob es Noten waren, oder nur ein liniirtes, mit Dinte bespritztes, an unzähligen Stellen verwischtes Blatt. Felix Mendelssohn lachte verwundert laut auf. »›Wie ist das geschrieben! Wie Soll man das lesen?‹« rief er aus. Doch plötzlich wurde er ernsthaft; denn indem Goethe die Frage aussprach: »Nun rathe einmal, wer das geschrieben?« rief Zelter schon:... »Das hat ja Beethoven geschrieben! Der schreibt immer wie mit einem Besenstiel und mit dem Ärmel über die frischen Noten gewischt. Ich habe viele Manuscripte von ihm: die sind leicht zu kennen.« .... Bei diesem Namen aber war... Felix Mendelssohn plötzlich ernsthaft geworden, mehr als ernsthaft; ein heiliges Staunen verrieth sich in seinen Zügen. Goethe betrachtete ihn mit forschenden, freudestrahlenden Blicken. Der Knabe hielt das Auge unverwandt auf das Manuscript gespannt und leuchtende Überraschung überflog seine Züge, wie sich aus dem Chaos ausgestrichener, frisch verwischter, über- und zwischengeschriebener Noten und Worte ein hoher Gedanke der Schönheit, der tiefen, edeln Erfindung hervorrang. Das alles währte aber nur Secunden; denn Goethe wollte die Prüfung scharf stellen, dem Spieler keine Zeit zur Vorbereitung lassen. »Siehst Du!« rief er; »sagt' ich's Dir nicht, Du würdest stecken bleiben? Jetzt Versuche! Zeige, was Du kannst!« Felix begann sofort zu spielen. Es war ein einfaches Lied; deutlich geschrieben, eine kinderleichte, gar keine Aufgabe, selbst für einen mittlern Spieler, so aber gehörte doch dazu, um aus den zehn und zwanzig ausgestrichenen, halb und ganz verwischten Noten und Stellen die gültigen herauszufinden, eine Schnelligkeit und Sicherheit des Überblicks, wie sie wenige erringen werden .... Einmal spielte er es so durch, im Allgemeinen richtig, aber doch einzeln innehaltend, manchen Fehlgriff unter einem raschen »Nein, so!« verbessernd; dann rief er: »Jetzt will ich es Ihnen vorspielen!« Und dieses zweite Mal fehlte auch nicht eine Note; die Singstimme sang er theils, theils spielte er sie mit ..... Mit diesem Probestück ließ es Goethe genug sein. Daß der junge Spieler wiederum das reichste Lob erntete, welches sich bei Goethe in den neckenden Scherz versteckte: hier habe er doch gestockt und sei nicht ganz sicher gewesen – darf ich kaum hinzufügen. .... Der Dichtergreis weissagte dem musikalischen Wunderknaben die größte Zukunft; er sprach mit vollem, warmem Glauben davon zu mir, an den er sich in dieser Beziehung öfters wandte. Seine ächte künstlerische Freude über die vielverheißende Erscheinung loderte immer wieder in frischen Flammen auf. Entschieden war der Knabe sein Liebling geworden.