1829, 2. April. Mit Johann Peter Eckermann »Ich will Ihnen ein politisches Geheimniß entdecken,« sagte Goethe heute bei Tische, »das sich über kurz oder lang offenbaren wird. Kapodistrias kann sich an der Spitze der griechischen Angelegenheiten auf die Länge nicht halten; denn ihm fehlt eine Qualität, die zu einer solchen Stelle unentbehrlich ist: er ist kein Soldat. Wir haben aber kein Beispiel, daß ein Cabinetsmann einen revolutionären Staat hätte organisiren und Militär und Feldherrn sich hätte unterwerfen können. Mit dem Säbel in der Faust, an der Spitze einer Armee mag man befehlen und Gesetze geben, und man kann sicher sein, daß man gehorcht werde; aber ohne dieses ist es ein mißliches Ding. Napoleon, ohne Soldat zu sein, hätte nie zur höchsten Gewalt emporsteigen können, und so wird sich auch Kapodistrias als Erster auf die Dauer nicht behaupten, vielmehr wird er sehr bald eine secundäre Rolle spielen. Ich sage Ihnen dieses voraus, und Sie werden es kommen sehen; es liegt in der Natur der Dinge und ist nicht anders möglich.«. Goethe sprach darauf viel über die Franzosen, besonders über Cousin, Villemain und Guizot. »Die Einsicht, Umsicht und Durchsicht dieser Männer,« sagte er, »ist groß; sie verbinden vollkommene Kenntniß des Vergangenen mit dem Geist des 19. Jahrhunderts, welches denn freilich Wunder thut.« Von diesen kamen wir auf die neuesten französischen Dichter und auf die Bedeutung von classisch und romantisch. »Mir ist ein neuer Ausdruck eingefallen,« sagte Goethe, »der das Verhältniß nicht übel bezeichnet. Das Classische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke. Und da sind die Nibelungen classisch wie der Homer, denn beide sind gesund und tüchtig. Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht classisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist. Wenn wir nach solchen Qualitäten Classisches und Romantisches unterscheiden, so werden wir bald imreinen sein.« Das Gespräch lenkte sich auf Béranger's Gefangenschaft. »Es geschieht ihm ganz recht,« sagte Goethe. »Seine letzten Gedichte sind wirklich ohne Zucht und Ordnung, und er hat gegen König, Staat und friedlichen Bürgersinn seine Strafe vollkommen verwirkt. Seine frühern Gedichte dagegen sind heiter und harmlos und ganz geeignet, einen Zirkel froher glücklicher Menschen zu machen, welches denn wohl das Beste ist, was man von Liedern sagen kann.« »Ich bin gewiß,« versetzte ich, »daß seine Umgebung nachtheilig auf ihn gewirkt hat, und daß er, um seinen revolutionären Freunden zu gefallen, manches gesagt hat, was er sonst nicht gesagt haben würde. Euer Excellenz sollten Ihr Schema ausführen und das Kapitel von den Influenzen schreiben; der Gegenstand ist wichtiger und reicher, je mehr man darüber nachdenkt.« »Er ist nur zu reich,« sagte Goethe, »denn am Ende ist alles Influenz, insofern wir es nicht selber sind.« »Man hat nur darauf zu sehen,« sagte ich, »ob eine Influenz hinderlich und förderlich, ob sie unserer Natur angemessen und begünstigend oder ob sie ihr zuwider ist.« »Das ist es freilich,« sagte Goethe, »worauf es ankommt, aber das ist auch eben das Schwere, daß unsere bessere Natur sich kräftig durchhalte und den Dämonen nicht mehr Gewalt einräume als billig.« Beim Nachtisch ließ Goethe einen blühenden Lorbeer und eine japanesische Pflanze vor uns auf den Tisch stellen. Ich bemerkte, daß von beiden Pflanzen eine verschiedene Stimmung ausgehe, daß der Anblick des Lorbeers heiter, leicht, milde und ruhig mache, die japanesische Pflanze dagegen barbarisch, melancholisch wirke. »Sie haben nicht unrecht,« sagte Goethe, »und daher kommt es denn auch, daß man der Pflanzenwelt eines Landes einen Einfluß auf die Gemüthsart seiner Bewohner zugestanden hat. Und gewiß: wer sein Leben lang von hohen ernsten Eichen umgeben wäre, müßte ein anderer Mensch werden, als wer täglich unter lustigen Birken sich erginge. Nur muß man bedenken, daß die Menschen im allgemeinen nicht so sensibler Natur sind als wir andern, und daß sie im ganzen kräftig vor sich hin leben, ohne den äußern Eindrücken so viele Gewalt einzuräumen. Aber so viel ist gewiß, daß außer dem Angeborenen der Rasse sowohl Boden und Klima als Nahrung und Beschäftigung einwirkt, um den Character eines Volks zu vollenden. Auch ist zu bedenken, daß die frühesten Stämme meistentheils von einem Boden Besitz nahmen, wo es ihnen gefiel, und wo also die Gegend mit dem angeborenen Character der Menschen bereits in Harmonie stand. Sehen Sie sich einmal um,« fuhr Goethe fort, »hinter Ihnen auf dem Pult liegt ein Blatt, welches ich zu betrachten bitte.« »Dieses blaue Briefcouvert?« sagte ich. »Ja,« sagte Goethe. »Nun, was sagen Sie zu der Handschrift? Ist das nicht ein Mensch, dem es groß und frei zu Sinne war, als er die Adresse schrieb? Wem möchten Sie die Hand zutrauen?« Ich betrachtete das Blatt mit Neigung. Die Züge der Handschrift waren sehr frei und grandios. »Merck könnte so geschrieben haben,« sagte ich. »Nein,« sagte Goethe, »der war nicht edel und positiv genug. Es ist von Zelter. Papier und Feder hat ihn bei diesem Couvert begünstigt, sodaß die Schrift ganz seinen großen Character ausdrückt. Ich will das Blatt in meine Sammlung von Handschriften legen.«