1824, 27. Januar. Mit Johann Peter Eckermann Goethe sprach mit mir über die Fortsetzung seiner Lebensgeschichte, mit deren Ausarbeitung er sich gegenwärtig beschäftigt. Es kam zur Erwähnung, daß diese Epoche seines späteren Lebens nicht die Ausführlichkeit des Details haben könne wie die ›Jugendepoche von Wahrheit und Dichtung‹. »Ich muß,« sagte Goethe, »diese späteren Jahre mehr als Annalen behandeln; es kann darin weniger mein Leben als meine Thätigkeit zur Erscheinung kommen. Überhaupt ist die bedeutendste Epoche eines Individuums die der Entwickelung, welche sich in meinem Fall mit den ausführlichen Bänden von ›Wahrheit und Dichtung‹ abschließt. Später beginnt der Konflikt mit der Welt, und dieser hat nur insofern Interesse als etwas dabei herauskommt. Und dann, das Leben eines deutschen Gelehrten, was ist es? Was in meinem Falle daran etwa Gutes sein möchte, ist nicht mitzutheilen, und das Mittheilbare ist nicht der Mühe werth. Und wo sind denn die Zuhörer, denen man mit einigem Behagen erzählen möchte? Wenn ich auf mein früheres und mittleres Leben zurückblicke, und nun in meinem Alter bedenke, wie wenige noch von denen übrig sind, die mit mir jung waren, so fällt mir immer der Sommeraufenthalt in einem Bade ein. Sowie man ankommt, schließt man Bekanntschaften und Freundschaften mit solchen, die schon eine Zeit lang dort waren und die in den nächsten Wochen wieder abgehen. Der Verlust ist schmerzlich. Nun hält man sich an die zweite Generation, mit der man eine gute Weile fortlebt und sich auf das innigste verbindet. Aber auch diese geht und läßt uns einsam mit der dritten, die nahe vor unserer Abreise ankommt und mit der man auch gar nichts zu thun hat. Man hat mich immer als einen vom Glück besonders Begünstigten gepriesen; auch will ich mich nicht beklagen und den Gang meines Lebens nicht schelten. Allein imgrunde ist es nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, daß ich in meinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt. Es war das ewige Wälzen eines Steins, der immer von Neuem gehoben sein wollte. Meine Annalen werden es deutlich machen, was hiermit gesagt ist. Der Ansprüche an meine Thätigkeit, sowohl von außen als innen, waren zu viele. Mein eigentliches Glück war mein poetisches Sinnen und Schaffen. Allein wie sehr war dieses durch meine äußere Stellung gestört, beschränkt und gehindert! Hätte ich mich mehr vom öffentlichen und geschäftlichen Wirken und Treiben zurückhalten und mehr in der Einsamkeit leben können, ich wäre glücklicher gewesen und würde als Dichter weit mehr gemacht haben. So aber sollte sich bald nach meinem ›Götz‹ und ›Werther‹ an mir das Wort eines Weisen bewähren, welcher sagte: wenn man der Welt etwas zu Liebe gethan habe, so wisse sie dafür zu sorgen, daß man es nicht zum zweitenmal thue. Ein weitverbreiteter Name, eine hohe Stellung im Leben sind gute Dinge. Allein mit all meinem Namen und Stande habe ich es nicht weiter gebracht, als daß ich, um nicht zu verletzen, zu der Meinung anderer schweige. Dieses würde nun in der That ein sehr schlechter Spaß sein, wenn ich dabei nicht den Vortheil hätte, daß ich erfahre, wie die andern denken, aber sie nicht, wie ich.«