39/191. An Christoph Ludwig Friedrich Schultz Endlich, mein theurer verehrter Freund, muß ich denn doch einmal aussprechen daß mir der gänzliche Mangel von Nachrichten, die so lange unterbrochene Mittheilung jeder Art sehr unbehaglich werden will. Kaum wüßte ich der Zeit mich zu erinnern als ich zum letztenmal ein freundliches Wort von Ihnen vernommen. Möge Gegenwärtiges in einem leidlichen Befinden Sie antreffen; denn wir sind ja auch wohl zufrieden wenn das Leben nur einigermaßen ruhig genutzt und in der Hauptsache ungestört, wenn auch manchmal gehindert und abgelenkt seinen Weg sachte verfolgen kann. Meine neusten Hefte zu Kunst und Alterthum und Naturwissenschaft haben Sie erhalten. Diese Mittheilungen werd ich wohl einige Zeit aufgeben müssen, indem ich der neuen Ausgabe meiner Werke alle Aufmerksamkeit schuldig bin. Ich werde von trefflichen Freunden des ästhetischen und kritischen Fachs hiebey unterstützt; ich dachte Schubarth heranzuziehen, allein es wollte sich denn doch nicht fügen. Mit dem Theaterbrande sind nun alle sinnlichen Documente meiner früheren Thätigkeit dieser Art ver schwunden; denn das Haus nicht allein, sondern auch Bibliothek, Garderobe bis auf die Requisiten herab enthielten noch Spuren meines früheren Antheils. Das wird nun alles neu werden und anders; ich bin zufrieden daß meine Rechnung in diesem Capitel geschlossen ist. Beykommendes Blatt ist merkwürdig genug. Der Zufall hat manchmal Lust sich sibyllinisch zu geberden. Das was ich nicht recht zu nennen weiß, was aber wohl auf ein paar Bände anschwellen möchte sind Notizen aus meinem Leben ; sie gehen durch alle Jahre durch bis auf die neuste Zeit, bleiben dem Sinne nach dieselbigen, der Ausführung nach möchte man sie bald Chronik bald Annalen, Memoiren, Confessionen, und wer weiß wie sonst noch, nicht mit Unrecht benennen; sie streifen in ihrem einfachen Gang an die Weltgeschichte, oder die Weltgeschichte wenn man will streift an sie, und so bewegen sie sich von unbedeutenden Einzelnheiten bis zu dem wichtigsten Allgemeinsten und vielleicht gewinnt grade diese tadelnswerthe Ungleichheit den sonderbaren Heften einige Gunst. Unser Hofrath Meyer hat einen großen Verlust erlitten, seine Gattin ist gestorben die völlig in sein Leben verwachsen war, allen seinen Wünschen zuvorkam und alle seine Bedürfnisse haushälterisch befriedigte. Er hält sich freylich, wie es jeder in solchen Fällen thut, allein ich freue mich denn doch daß er sich entschlossen hat baldmöglichst nach Carlsbad zu gehen, Reise und Wasser wird ihm körperlich, Zerstreuung geistig zusagen. In der Naturwissenschaft habe manches Einzelne gefördert; doch bleibt die Witterungsbetrachtung das Vorzüglichere; der einfache Grund aller atmosphärischen Erscheinungen, dem Sie, als ich ihn gedruckt aussprach, einen freundlichen Beyfall gönnten, wird mir täglich bedeutender und werther. Alles hängt wahrhaft nur an einem Zwirnsfaden, und ich wundere mich täglich (oder ich wundere mich, um recht zu sagen, nicht mehr) wie die Menschen ihr Interesse an die augenblicklichen Erscheinungen verschwenden. Ich habe nach meiner Überzeugung einen umständlichen Aufsatz niedergeschrieben, der nur darum weitläufig geworden weil ich das Mannichfaltigste an das Einfachste heranzuziehen suchte. Leider bedarf dieser Aufsatz noch eines zweyten Durcharbeitens und ich werde ihn deshalb so bald nicht mittheilen können. Von unserem jenaischen meteorologischen Betrieb sende ein vollgültiges Zeugniß; ich lasse dieß seinen herkömmlichen Gang hingehen, und bin sehr vergnügt Angestellte neben mir zu haben, die meine Fragen beantworten und gewisse allgemeine Forderungen im Besondern durchführen mögen; ohne dieß wäre ich nicht so weit vorwärts gekommen. Jetzt würde ich sehr weit von solchen Betrachtungen abgelenkt, müßt ich nicht tagtäglich, wenn ich nur über mich sehe, wieder an alles im Breiten und Tiefen gedenken. In Absicht auf bildende Kunst habe ich eine höchst erfreuliche Erscheinung anzuzeigen. Sie erinnern sich aus Kunst und Alterthum des neugriechischen Gedichtes wo Charon als flüchtiger Reuter, durch Nebel und Wolken saust, die Seelen vor sich hintreibt und andere nachschleppt. Im Stuttgarter Kunstblatte war, auf Anregung in Kunst und Alterthum, ein Preis auf die Ausführung dieses Gegenstandes gesetzt. Fünf mißglückte Versuche liegen vor mir und geben genug zu denken; der sechste aber ist über alle Erwartung fürtrefflich, so daß er nichts weiter zu hoffen und zu erwarten übrig läßt. Ich denke man wird das Bild auf irgend eine Weise vervielfältigen; denn mit Worten ist ihm nicht beyzukommen. Wie sehr wünsche ich es Ihnen zu einsichtiger Theilnahme vorzulegen. Merkwürdig sind die Versuche die man mißlungen nennen muß; ich schildere sie mit wenigen Worten. 1) Irdisch, allzureal, roh, daher widerwärtig. 2) Himmlisch, fromm, weichlich, unbedeutend, also auch auf etwas ganz anders zu deuten. 3) Imaginativ, die einzelnen, gewaltsam sich gebärdenden Figuren nicht glücklich zusammengestellt. 4) Mäßig aber allzuberuhigt, und nicht erfreulich. 5) Etwas belebter, nicht ohne Verdienst, aber unbefriedigend. 6) Fürtrefflich, so daß man es sehen muß, weil nach Worten keine Einbildungskraft sich's erzeugen könnte. Und so kommt denn auch wieder einmal etwas Erfreuliches, das Urtheil in älterem höheren Sinne Aufregendes! Eilig abschließend treulichst Weimar 31. May 1825. Goethe. [Beilage.] Zur Nachricht. Bey Aufräumung des Theaterschuttes fanden sich unter den Trümmern der Bibliothek, aus einem von mir noch selbst redigirten, verbrannten Manuscript des Tasso folgende Stellen, die Blätter ringsum angebräunt noch übrig. Weimar Ende März 1825. G. Erstes Fragment. Wenn ganz was unerwartetes begegnet Wenn unser Blick was ungeheures sieht, Steht unser Geist auf eine Weile still Wir haben nicht womit wir das vergleichen. Zweytes Fragment. Und wenn das alles nun verloren wäre? Wenn einen Freund, den du einst reich geglaubt Auf einmal du als einen Bettler fändest? Drittes Fragment. Zerbrochen ist das Steuer, und es kracht Das Schiff an allen Seiten, berstend reißt Der Boden unter meinen Füßen sich auf! Ich fasse dich mit beiden Armen an! So klammert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.