26/7175. An Anna Rosine Magdalene Städel In Hoffnung daß Sie den theuren Freunden alles getreulich ausrichten werden, wovon ich nicht den tausendsten Theil auszusprechen im Stande bin, schreib ich, liebe Rosette, diesen Brief. Da ich denn gleich, wie bisher, mich in die Poesie flüchten und ausrufen muß: Wo war das Pergament? der Griffel wo? Die alles faßten; doch so war's – ja so! Nachdem uns denn die Freunde verlassen hatten, fingen die bisher nur drohenden Übel an förmlich auszubrechen, es entstand ein Brustweh, das sich fast in Herzweh verwandelt hätte, natürliche Folge der Heidelberger Zugluft und veränderlichen Schloßtemperatur, worüber mir unberufen und ungefragt Herr Dr. Nägeli die genauste Auskunft gab, so daß ich, mit einiger Resignation die gegenwärtigen, mit einiger Vorsicht die künftigen Gebrechen in lauter Heil und Glück umwandeln könnte. Inwiefern es gelingt kann ich vielleicht zukünftig vertrauen. Aus dem Niedergeschriebenen aber ist ersichtlich daß ich mit grundgelehrten Leuten umgehe, welche sich zwar an dem was uns mit äusseren Sinnen zu fassen erlaubt ist gerne ergötzen, zugleich aber behaupten daß hinter jenen Annehmlichkeiten sich noch ein tieferer Sinn verstecke; woraus ich, vielleicht zu voreilig schließe, daß man am besten thäte etwas ganz unverständliches zu schreiben, damit erst Freunde und Liebende einen wahren Sinn hineinzulegen völlige Freyheit hätten. Da jedoch jenes bekannte wunderliche Blat, durch seine prosaische Auslegung einigen Antheil gewonnen; so stehe hier die rhythmische Übersetzung: Dieses Baums Blat, der, von Osten, Meinem Garten anvertraut, Giebt geheimen Sinn zu kosten, Wie's den Wissenden erbaut. Ist es Ein lebendig Wesen? Das sich in sich selbst getrennt; Sind es Zwey? Die sich erlesen, Daß man sie als Eines kennt. Solche Frage zu erwiedern Fand ich wohl den rechten Sinn; Fühlst du nicht an meinen Liedern, Daß ich Eins und doppelt bin? Kaum als ich dieses geschrieben erfreute mich eine lange Unterredung mit Hofr. Kreuzer deren Resultat war: es sey am besten gethan etwas faßliches und begreifliches, gefälliges und angenehmes, ja verständiges und liebenswürdiges vorauszusetzen, weil man viel sichrer sey alsdann den rechten Sinn herauszufinden, oder hineinzulegen. Hiermit nun, liebe Rosette, (Sie erlauben mir doch diesen zierlichen Nahmen, daß ich zugleich meine Neigung und mein Vertrauen ausdrücke) überliefre ich Ihnen, mit den sämmtlichen Geheimnißen der neuern Philologie, auch meine eignen, zu beliebigem Privatgebrauch. Lassen Sie mich bald etwas vernehmen was den Recepten des Herrn Dr. Nägeli zu Hülfe kommen könnte. Immer in Ihrer Nähe. Ungeeignet Heidelb. d. 27. Sept. 1815. Goethe.